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    eröffnet am 04.02.02 19:11:33 von
    neuester Beitrag 06.11.05 09:46:36 von
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      schrieb am 04.02.02 19:11:33
      Beitrag Nr. 1 ()
      Wirtschaftslage in den USA

      Dr. Kurt Richebächer, früher Chefökonom der Dresdner Bank, hielt die folgende Rede auf einem Seminar der EIR-Nachrichtenagentur am 5. November 2001 in Berlin. Wir haben den Text hier etwas gekürzt. Die ganze Rede wird in einem EIRNA-Bericht zusammen mit den anderen Beiträgen veröffentlicht werden.


      Wahn und Wirklichkeit

      Die tatsächliche Lage der amerikanischen Wirtschaft

      Meine sehr verehrten Damen und Herren,

      -- à propos Generationen. Ich bin groß geworden in einer Zeit, als die Volkswirte die Aufgabe hatten, nachzudenken. Sie müssen bedenken: Die alte Generation hatte wenig Statistik zur Verfügung, und schon das zwang zum Denken. Aber besonders unter amerikanischem Einfluß hat die Statistik so sehr um sich gegriffen, ist so überwältigend geworden, daß das Denken vollkommen aufgehört hat. Das intellektuelle Niveau in der ökonomischen Diskussion ist heute für mich das niedrigste seit 200 Jahren (vor etwas über 200 Jahren erschien Adam Smith mit seinem Wealth of Nations). Die Amerikaner haben schon in den 20er Jahren die Theorie aufgegeben. Es gibt nicht einen großen amerikanischen Nationalökonomen; es gibt jede Menge Nationalökonomen aus England, aus Schweden, aus Österreich -- aber nicht einen aus Amerika. Nun zur Sache.

      Nach herrschender Meinung hat die amerikanische Wirtschaft in den vergangenen Jahren eine große Renaissance erlebt, die Wunder der Produktivität und der Gewinne vollbracht hat. Ich habe die Sache immer im Auge behalten, und ich habe festgestellt, daß die Wunder im Grunde nur in der Statistik, aber überhaupt nicht in der Wirtschaft stattgefunden haben.

      Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Die Gewinnentwicklung der letzten Jahre ist die mieseste der gesamten Nachkriegszeit. Jetzt werden Sie fragen: "Wie ist denn das möglich?" Das kann ich Ihnen sehr einfach sagen: Es gibt in dieser Sache zwei Zahlenreihen -- "Reihe" ist schon übertrieben: es gibt eine Reihe, und das andere ist Stückwerk. Also: Das worauf jeder schaut, was Schlagzeilen macht, das sind die Berichte der Unternehmen. Und diese Berichte sind in einem Maße frisiert, daß sie keinerlei Beziehung zur Realität haben. Die Amerikaner sind heute an dem Punkte, wo die Unternehmen sogenannte Pro-forma-Gewinne mitteilen. Pro-forma-Gewinne sind errechnete Gewinne, bei denen jede beliebige Kostenart weggelassen wird, vor allen Dingen Zinskosten und Abschreibungen, die ausgegliedert werden nach dem Motto, diese Kosten spiegelten nicht die organische Entwicklung wider. Vodafone machte neulich Schlagzeilen: "Gewinnanstieg 40%." Das war aber nur der "EBITDA-Gewinn", das heißt Einnahmen ohne Zinsen, ohne Steuern, ohne Abschreibungen, ohne Amortisation. Außerdem müssen Sie eines bedenken: Warum führen die amerikanischen Unternehmen alle diese Akquisitionen und Mergers durch? Das Ziel besteht darin, Gewinne zu kaufen. Die wollen keine Synergien. Die wollen Gewinne kaufen, und diese werden dann dem eigenen Gewinn zugeschlagen. Das macht man zehn Mal im Jahr. Dann wird das extrapoliert, und Sie erhalten die wunderschönsten Gewinnkurven und bewundern die ungeheure Rentabilität der amerikanischen Wirtschaft. Mich stört, daß nicht ein Mensch aufsteht und sagt: "Das ist doch alles Quatsch."

      Denn es gibt eine andere Zahlenreihe. Und das ist die Zahlenreihe, an die ich mich als Volkswirt halte. Das ist die Zahlenreihe der amtlichen Statistik, der amtlichen Sozialprodukt- und Einkommensstatistik. Die kommt jeden Monat heraus und ist sehr ausführlich. Da können Sie, aufgeteilt nach 20 Branchen, in Details die Zahlen haben -- und dies sind die Zahlen, nach denen ich mich richte. Tatsache ist folgende: Die amerikanischen Gewinne sind scharf angestiegen von 1990, der Rezession, bis 1994. Mehr als 50% dieses Gewinnanstiegs von insgesamt 66% kam von Zinssenkungen. Der Rest kam von fallenden Abschreibungen, die ihren Grund darin hatten, daß die amerikanische Wirtschaft Ende der 80er Jahre aufgehört hatte zu investieren. Und das übersetzte sich jetzt in sinkende Abschreibungen, sinkende Zinsen und explodierende Gewinne. Aber der Gewinnanstieg hörte bereits im Jahre 1994 auf. In den nächsten fünf Jahren bis 2000 stiegen die Gewinne nur noch um 22%. Wie gesagt, das sind die amtlichen Gewinnzahlen. Und danach hatten die Amerikaner in den vergangenen fünf, sechs Jahren für eine "Hochkonjunktur" die mieseste Gewinnentwicklung aller Zeiten. In den Jahren 1998/99 gab es eine leichte Besserung. Aber seit dem 3. Quartal vergangenen Jahres erleben wir den steilsten Gewinnsturz aller Zeiten -- im übrigen auch bei den Gewinnen, welche die Unternehmen berichten. Denn diese Unternehmen haben in der Vergangenheit, aus ihren Akquisitionen, gewaltige Aktivposten in Form von "Goodwill" gebildet. Sie haben ja alle anderen Fabriken aufgekauft zu Überpreisen. Die mußten sie irgendwie in der Bilanz unterbringen, und das geschah, indem man sie auf die Aktivseite als einen immer größeren Posten "Goodwill" einsetzte. Und da nun die Gewinne einfach verschwinden, muß man den "Goodwill" abschreiben. Sie wissen, Nortel hat 49 Mrd. "Goodwill" abgeschrieben und andere Unternehmen 10 Mrd. Es sind unglaubliche Zahlen, sofern sie sich um die Wahrheit bemühen. Aber es gibt kaum jemanden, der sich um die Wahrheit bemüht.

      Was ist mit dem Produktivitätswunder? Produktivitätswunder und Gewinnwunder sind ja in unseren Vorstellungen eng miteinander verkoppelt. Das eine Wunder fand so wenig statt wie das andere. Mir fiel als erstes auf: Es waren ja immer die Zahlen über den gewaltigen Investitionsboom. In den letzten Jahren lag die Investitionsquote der Amerikaner bei 35% der Wachstumsrate. Auf der anderen Seite gab es Null Ersparnisbildung, zusammenbrechende Ersparnisbildung. Für mich ist es logisch ein Unding, daß man zugleich einen Investitionsboom und zusammenbrechende Ersparnisse haben kann. Das ist nicht möglich, denn ich kann nur investieren, wenn ein anderer spart und mir dadurch die Ressourcen freigibt für meine Investition. Das war also von vorneherein ein totaler Unfug. Aber niemand nahm Anstoß daran, denn, wie gesagt, theoretisches Denken ist völlig abhanden gekommen. Als nächstes fielen mir die Computerinvestitionen auf. Es wird dauernd gesagt, gewaltige Computerinvestitionen bringen Produktivität. Ja, das tun sie auch. Aber wie? Ich verglich nominale Ausgaben für Computer und reale Ausgaben in den beiden Sozialproduktrechnungen. In der nominalen Statistik haben die Investitionsausgaben der amerikanischen Unternehmen für Computer in der Zeit von 1997 bis 2000 34 Mrd. Dollar betragen. Das ist gar nichts für eine Volkswirtschaft von 10000 Milliarden Dollar BIP. Aber in der Realrechnung des Sozialprodukts stehen keine 34, sondern 214 Mrd. Dollar. D.h. in der Realrechnung wurden aus einem für Computer ausgegebenem Dollar fast sieben Dollar. Wie ist das möglich?

      Hedonischer Preisindex und andere Operationen

      Die Amerikaner haben in den 80er Jahren beschlossen, bei der Berechnung der Investitionsrate mehr und mehr Qualitätsverbesserungen zu berücksichtigen, und das nennen sie den hedonischen Preisindex. Beim Computer war das nun schon seit Jahren im Gang, aber ab 1995 begann eine förmliche Explosion in den Computerleistungen. Ich bin da ein totaler Laie, aber es geht wohl um Memory (Speicherkapazität) und um Geschwindigkeit und alle diese Dinge. Das explodierte. Und mit der Computerleistung explodierte die Berechnung der Investitions- und Produktionszahlen für Computer: Sie versiebenfachte sich. Aus 34 Mrd. wurden in der Statistik 214 Mrd. Diese 214 Mrd. machten 20% des realen Sozialproduktwachstums aus. Das war also schon ein dicker Posten. Der zweite Schlag kam dann vor zwei, drei Jahren. Da beschlossen die amerikanischen Statistiker, daß Software-Ausgaben eigentlich nicht als Kosten, sondern als Investitionsausgaben zu betrachten seien. Das gab noch einmal 70 Mrd. in die Sozialproduktrechnung hinein. Sie müssen bedenken: Kosten gehen nicht ins Sozialprodukt. Ins Sozialprodukt gehen nur Endausgaben. Aber als Investitionsausgaben gehen sie nun ins Sozialprodukt, und insgesamt ergab sich dann aus hedonischem Preisindex plus Kapitalisierung der Software -- auf dem Papier -- ein Investitionsboom von 25% des Wachstums oder 1% des Sozialprodukts. Dann gab es eine dritte Operation. Im Jahre 1995 empfahl die Boskin-Kommission Verbesserungen der Berechnung der Inflationsraten unter stärkerer Berücksichtigung etwaiger Qualitätsverbesserungen. Da ging es sehr kompliziert zu. Insbesondere die Mieten wurden plötzlich ganz niedrig. Auf diese Weise kamen weitere 0,8% Sozialprodukt zustande.

      Wenn Sie jetzt diese drei Dinge zusammenrechnen, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, daß im Grunde der ganze Investitionsboom überhaupt nicht stattgefunden hat, außer in diesen statistischen Veränderungen.

      Ich persönlich habe vor allen Dingen auch den hedonischen Preisindex abgelehnt. -- Die Idee scheint ja plausibel zu sein: Mehr Leistung muß berücksichtigt werden. Allerdings sind diese hedonischen Dollars, die immerhin eine gute Portion des Wachstums ausmachten, Dollars, die kein Mensch ausgibt, kein Mensch einnimmt und keiner sieht. Es sind Dollars ohne jede Spur von wirtschaftlicher Wirkung. Und deswegen habe ich diese Behandlung immer als groben Unfug betrachtet. Aber es führte zu diesen phantastischen Zahlen, nicht nur beim Sozialprodukt, sondern auch bei der Produktivität. Denn jede statistische Berechnung, die das Sozialprodukt erhöht, geht mit gleicher Menge von Dollars in die Produktivität hinein. Und so hatten sie plötzlich nicht nur ein Wachstumswunder, sondern auch das berühmte Produktivitätswunder.

      Noch ein anderer Punkt: Die Amerikaner bauen keine Fabriken mehr. Der Investitionsboom fand nur auf dem beschriebenen Wege in Computern statt. Das hat nun aber zu einer gewaltigen Veränderung in der ganzen Investitionsstruktur geführt. Es wird immer weniger kurzfristig investiert, und langfristig überhaupt nicht mehr. Das erhöht zwar am Anfang das Sozialprodukt über Bruttoinvestitionen, aber dann kommen die Abschreibungen, und die schießen immer schneller in die Höhe, je länger dieser Prozeß dauert. Wir sind jetzt an dem Punkt, wo die Abschreibungen in Amerika die Investitionen überholt haben. Amerika hat heute negative Nettoinvestitionen, und das gesamte Sozialprodukt, ohne Abschreibungen, ist längst im Minus. Das amerikanische Sozialprodukt ist in den letzten drei Jahren um 14% gestiegen, aber die Abschreibungen sind um 34% gestiegen. Das heißt, Amerika ist hauptsächlich damit beschäftigt, seine Abschreibungen zu verdienen. Das bringt in der Statistik auch noch Wachstum, obwohl es eigentlich nur darauf hinausläuft, alte Maschinen zu ersetzen.

      Produktivitätswunder hat nie stattgefunden

      Was nun die Gewinne betrifft, so muß man bedenken, daß natürlich der hedonische Preisindex keinen einzigen Dollar in die Kasse bringt. Da kommt kein Gewinn zustande. Die Kapitalisierung der Software dagegen ging voll und ganz in die Gewinne. Denn plötzlich werden Kosten weggenommen und als Investitionsausgaben aktiviert. Das hat die Gewinne erhöht. Bemerkenswert ist, daß die Gewinnentwicklung trotz dieser Verschönerung einfach katastrophal ist. Insofern stellt sich die Frage: Wieso verlaufen die Gewinne so schlecht? Eine einfache Antwort ist: Das Produktivitätswunder hat nie stattgefunden. Es hat eben nur in der Statistik stattgefunden, aber nicht in der Wirtschaft. Es gab statistischen Zuwachs, aber keinen echten Produktivitätszuwachs für die Unternehmen. Prosperität kommt nicht von Produktivitätswundern, sondern sie kommt vom Sparen und vom Investieren. Die industrielle Prosperität hatte ihren Grund darin, daß man riesige Fabriken bauen mußte, um diese Maschinen herzustellen. Bedenken Sie, was man investieren mußte, um die Elektrizität herzustellen. D.h. die Prosperität kommt vom Investieren, und nicht ohne weiteres von der Produktivität. Wenn ich zusätzlich Produktivität erhalte, dann ist das prima. Aber die Prosperität kommt von der Kapitalbildung, die stattfindet: vom Bau der Fabriken und dem Bau der Maschinen. Es ist die Tätigkeit, die Einkommen entstehen läßt. Die Prosperität kommt von der Einkommensbildung und nicht automatisch von der Produktivität. Die Kapitalausgaben sind somit der Kernpunkt bei all diesen Dingen. Und die sind eben in Amerika minimal, wenn sie diesen statistischen Hokuspokus wegnehmen. Der andere Punkt ist der, daß in meinen Augen diese berühmte Shareholder-Value-Kultur die schlimmste Mißkultur darstellt, die es je im wirtschaftlichen Denken gegeben hat. Akquisitionen und Mergers sind schließlich kein Ersatz für Kapitalbildung und Investitionen. Diese Unternehmen haben en masse diese Akquisitionen betrieben, um nicht zu investieren. Ich sage immer: "Restrukturing" und "Downsizing" und all diese schönen Worte sind bloß Synonyme für "Nichtinvestieren". Und aus diesem Grunde fehlt es in den USA an Kapitalbildung. In einem Lande, wo nicht gespart wird, kann es ja auch gar keine Kapitalbildung geben, höchstens auf dem Papier.

      Und daher bin ich der Meinung, daß diese Technik, die so gerühmt wird für ihre Produktivität, gar keine Profite generiert. Wenn Sie heute die Nasdaq-Unternehmen nehmen und all die Abschreibungen berücksichtigen, dann haben diese Unternehmen seit 1995 keinen Pfennig verdient. Sie sind alle in den roten Zahlen. Das waren Scheingewinne in der Vergangenheit, die sie großenteils aus dem Aktienmarkt geholt haben. Sie haben ihre Gewinne im Aktienmarkt gemacht, haben dann andere Unternehmen gekauft, und die Gewinne wurden aufeinandergetürmt. Das waren alles Papiergewinne, Scheingewinne, keine Gewinne aus Produktion und Produktivität. Es war alles Betrug. Und insofern sehe ich das Problem in der Technik. Die Amerikaner haben geglaubt, das muß doch eine wunderbare Technik sein, für die man so wenig tun muß. Da kann man 50% mehr produzieren, von heute auf morgen, und dann sind wir alle reiche Leute. Wir haben geglaubt, daß diese Technologie besonders gut sein muß, weil sie so wenig kostet. Aber das ist der Grund, warum sie auch keinen Gewinn bringt. Gewinne können nur über Ausgaben entstehen. Ich sage immer: Die Hauptgewinnquelle sind kapitalisierte Ausgaben. Und wenn ich keine kapitalisierten Ausgaben habe, kann ich keine Gewinne machen. Und diese Quelle fließt nicht bei dieser neuen Technik. Sie fließt auch nicht von dieser neuen Shareholder-Value-Kultur, die ja andere Transaktionen vorzieht. Ich lese immer wieder, was die amerikanische Notenbank alles unternimmt: neun Zinssenkungen, demnächst die zehnte Zinssenkung. Und dann sage ich: Aber liebe Leute, allmählich ist es doch Zeit, einmal darüber nachzudenken, warum diese Zinssenkungen überhaupt keine Wirkung haben -- abgesehen davon, daß sie im Moment den Aktienmarkt hochtreiben. Nebenbei gesagt, die Aktien werden immer teurer, da die Gewinne nämlich noch viel schneller als die Aktienkurse gefallen sind. Im Transportsektor zahlen sie das 800fache für die Gewinne, vielfach sind ja gar keine Gewinne mehr da, und bei Utilities (Versorgungsunternehmen für Wasser, Strom etc.) bezahlen sie das 60fache. Bei Dow-Jones-Firmen zahlen sie das 35fache, und das bezieht sich wohlgemerkt auf die frisierten Gewinne. Die Gewinne sagen mir, wohin die Wirtschaft geht, nicht der dämliche Index von der Michigan University über die Stimmung der Konsumenten. Nicht der Konsument, wie die Amerikaner glauben, sondern die Gewinne und die Investitionen der Unternehmen sind entscheidend. Der Konsum kommt dann von selber.

      Die andere erstaunliche Sache: Alle Rezessionen der Vergangenheit hatten ein und dieselbe Ursache. Steigende Inflationsraten zwangen die Notenbank, die Bremse zu ziehen, und es kam zu drastischen Kreditrestriktionen. Scharf rückläufige Kredite führten zum Abschwung. Das ist die Ursache einer jeden wirtschaftlichen Rezession der Nachkriegszeit in Amerika und in Europa gewesen. In Amerika hat aber überhaupt keine Verlangsamung der Kreditexpansion stattgefunden. In den Boom-Jahren lag die Kreditexpansion des privaten Sektors in Amerika, also der Unternehmen und der Konsumenten, bei über einer Billion Dollar pro Jahr. Bis 1997 waren die Kredite um etwa 700 Mrd. Dollar gewachsen. Seit 1998 wachsen sie pro Jahr um über 1000 Mrd. Dollar. Aber diese tausend Mrd. Dollar bringen gar nichts mehr. Das Komische ist: Sie haben ein scharf rückläufiges Wirtschaftswachstum, sie haben zusammenbrechende Gewinne, sie haben zusammenbrechende Investitionen, aber sie haben eine Geld- und Kreditexpansion, die alle Rekorde schlägt. Die breite Geldmenge wächst um 13,5% -- Kreditwachstum von 1000 Mrd. Dollar im privaten Sektor -- im finanziellen Sektor ist auch noch eine gewaltige Kreditausweitung im Gange. Wir haben die tollste Kreditausweitung aller Zeiten, und dennoch bricht die Wirtschaft einfach zusammen. Es wäre nun an der Zeit, einmal darüber nachzudenken, wie es denn überhaupt zu dieser scharfen Konjunkturabschwächung kommen konnte, während die Kredite und die Geldmengen in unvermindertem Tempo weitergeflossen sind. Wie ist das möglich? Ich will Ihnen sagen, warum: durch den Zusammenbruch der Gewinne. Das ist die einzige plausible Erklärung. In Amerika fehlt kein bißchen Geldmenge, kein bißchen Kredit. Früher, also in den normalen Zeiten, kam auf einen Dollar Wachstum des Sozialprodukts 1,6 Dollar Kreditausweitung. Wir waren schon in den Jahren 1998/99 bei vier, fünf Dollar Kreditausweitung pro Dollar zusätzlichem Sozialprodukt. Heute sind wir bei Milliarden Dollar für nichts. Für mich lautet die ganze Frage daher nicht: "Wie können wir die Kredite ankurbeln?" Ja, wohin wollen sie denn noch mit den Krediten? Wir sind heute bei tausend Milliarden. Wollen sie morgen auf 1500 Milliarden gehen? Der Punkt ist: Die Kredite gehen nicht in die Wirtschaft. Und sie gehen nicht vom Unternehmen in die Wirtschaft, weil die Unternehmen nichts mehr verdienen. Deswegen sehe ich keine Besserung in dieser Beziehung. Der einzige, der bis jetzt noch immer mehr gepumpt hat und die Konjunktur noch einigermaßen hochgehalten hat, war der Konsument. Und die Amerikaner sind ganz stolz darauf, daß der Konsument sein Haus immer mehr bis zum Schornstein verschuldet. In Amerika ruft man seine Bank an und sagt: Der Wert meines Hauses ist wieder um 10% gestiegen, ich möchte meine Hypothek um 10% erhöhen. Drei Tage später haben Sie 30000 Dollar auf dem Konto. So einfach geht das. Abertausende von Amerikanern haben das in den letzten Wochen und Monaten gemacht. Und darauf sind die Amerikaner auch noch stolz.

      Wo ist die Prosperität, wenn sie darin besteht, daß die Konsumenten ihre Ausgaben nur steigern können, indem sie ihre Haus beleihen? Das ist doch Schwachsinn. Ökonomisch ist das unglaublich. Wenn Sie sich die Statistik ansehen, dann stellen Sie fest, daß der amerikanische Konsument seit 20 bis 30 Jahren eine rapide steigende Verschuldung auf sein Haus besitzt. Ich habe noch die Generation der Amerikaner gekannt, die stolz darauf waren, wenn die Hypothek abbezahlt war. Heute sind sie stolz darauf, wenn sie sie erhöhen können. Und das steigt und steigt und steigt. Für mich ist das nun beim besten Willen kein Zeichen von Wohlstand. Es ist das Gegenteil. Greenspan ist im Kongreß gefragt worden: "Sagen Sie mal, ist das nicht problematisch, steigende Häuserpreise, steigende Hypotheken?" Und da sagt Greenspan: "Och, solange die Häuserpreise weitersteigen, steigt ja auch die Equity, das Eigenkapital." Der fand gar nichts dabei. Man muß sich das vorstellen: Die Häuserpreise erlauben steigenden Konsumkredit, und das wiederum soll die Konjunktur retten.

      Heute morgen war von Lösungen die Rede. Ich gehöre zu denjenigen, die sagen: "Die Leute, die uns das eingebrockt haben, sind nicht in der Lage, uns da wieder herauszubringen." Und nebenbei gesagt: Es ist viel schwieriger, als wir glauben. Um nur ein Beispiel zu nennen: Sehen Sie sich Japan an. Da wird immer gesagt, die Japaner weigerten sich, zu restrukturieren. Das Problem Japans besteht darin: Die haben sich in den Bubble-Jahren ihre Investitionsdynamik zerstört. Endgültig zerstört. Aber auf der anderen Seite: Die Konsumenten sparen. Bei Nullzins muß ich ja noch mehr sparen als vorher, um meinen Lebensabend zu sichern. Im Grunde krankt Japan daran, daß es seine Investitionsdynamik nicht mehr in den Griff bekommt. Aber es hat Konsumenten, die noch sparen. Und wir haben sie in gemilderter Form ebenfalls. Wir haben immer noch Sparer, aber immer weniger Investitionen. Die Amerikaner und die Angelsachsen im allgemeinen sind in dieser Beziehung der krasse Gegensatz. Die sparen überhaupt nicht, investieren auch nicht, aber sie haben Kreditsysteme, die bis zum Exzeß darauf eingerichtet sind, Konsumkredit zu finanzieren. Die amerikanischen Banken schicken jedes Jahr in Milliardensummen Kreditkarten aus. Jeder Amerikaner bekommt jedes Jahr mindestens 50 Kreditkarten. Und jede Kreditkarte hat eine Kreditlinie. Die Besonderheit Amerikas besteht also darin, daß es ein Kreditsystem hat, das voll und ganz auf Konsumkredit ausgerichtet ist. Und die Scheinprosperität der Amerikaner besteht darin, daß sie immer weniger sparen, immer weniger investieren, immer mehr konsumieren. Die alten Ökonomen nannten diesen Prozeß Kapitalkonsum. Und das führt zwangsläufig zum wirtschaftlichen Niedergang. Aber die Amerikaner haben soviel dämliche Europäer und Japaner und andere Asiaten, die ihnen das Geld immer jeden Tag von neuem schicken. Insofern geht das weiter. Wenn Sie genau hinsehen, stellen Sie fest: Der Anstieg des Lebensstandards in den USA hat seinen alleinigen Grund in den Auslandskrediten. Das ist die einzige Möglichkeit, den Lebensstandard zu erhöhen. Denn der Durchschnittslohn des Amerikaners geht seit 1973 beständig zurück, und der Reallohn des Amerikaners liegt heute mindestens 25% unter dem Standard von 1973.

      Quelle: Neue Solidarität Jg.28 Nr.46 21.11.2001
      Avatar
      schrieb am 04.02.02 19:18:12
      Beitrag Nr. 2 ()
      Hier ein interessanter Artikel zum Goldstandard. Erst lesen, dann staunen.

      "Gold und wirtschaftliche Freiheit"

      Eine geradezu hysterische Feindschaft gegen den Goldstandard verbindet Staatsinterventionisten aller Art. Sie spüren offenbar klarer und sensibler als viele Befürworter der freien Marktwirtschaft, daß Gold und wirtschaftliche Freiheit untrennbar sind, daß der Goldstandard ein Instrument freier Marktwirtschaft ist und sich beide wechselseitig bedingen. Um den Grund ihrer Feindschaft zu verstehen, muß man zunächst die Rolle des Goldes in einer freien Gesellschaft verstehen.

      Geld ist der gemeinsame Maßstab aller wirtschaftlichen Transaktionen. Es ist der Rohstoff, der als Tauschmittel dient, der von allen Teilnehmern einer Tauschgesellschaft als Bezahlung ihrer Güter und Dienstleistungen akzeptiert wird und der von daher als Bewertungsmaßstab und zur Wertaufbewahrung für das Sparen dient. Die Existenz eines solchen Rohstoffes ist Voraussetzung für eine arbeitsteilige Wirtschaft. Wenn die Menschen keinen objektiv bewertbaren Rohstoff hätten, der allgemein als Geld akzeptiert werden kann, so wären sie auf primitiven Naturaltausch angewiesen oder gezwungen, autark auf Bauernhöfen zu leben und auf die unschätzbaren Vorteile der Arbeitsteilung zu verzichten. Wenn die Menschen kein Mittel zur Wertaufbewahrung, d.h. zum Sparen hätten, wären weder eine langfristige Planung, noch ein Austausch möglich.

      Welches Tauschmittel von allen Wirtschaftsteilnehmern akzeptiert wird, kann nicht willkürlich bestimmt werden. Zunächst sollte das Tauschmittel dauerhaft sein. In einer primitiven Gesellschaft mit geringem Wohlstand könnte Weizen ausreichend „dauerhaft" sein, um als Tauschmittel zu dienen, da alle Tauschvorgänge nur während der Ernte oder unmittelbar danach stattfinden würden, ohne daß große Werte gelagert werden müßten. Aber sobald Wertaufbewahrung bedeutsam wird, wie in zivilisierten und reicheren Gesellschaften, muß das Tauschmittel ein dauerhafter Rohstoff sein, üblicherweise ein Metall.

      Ein Metall wird üblicherweise deshalb gewählt, weil es gleichartig und teilbar ist. Jede Einheit ist die gleiche wie jede andere und es kann in beliebiger Menge verformt und vermischt werden. Wertvolle Edelsteine z.B. sind weder gleichartig noch teilbar. Noch wichtiger ist: der als Tauschmittel gewählte Rohstoff muß ein Luxusgegenstand sein. Das menschliche Bedürfnis nach Luxus ist unbegrenzt und deswegen werden Luxusgüter immer nachgefragt und auch immer akzeptiert. Weizen ist ein Luxusgut in einer unterernährten Gesellschaft, aber nicht in einer Wohlstandsgesellschaft. Zigaretten würden normalerweise nicht als Geld dienen, aber nach dem 2. Weltkrieg wurden sie in Europa als Luxusgut betrachtet. Der Begriff Luxusgut beinhaltet Knappheit und hohen Wert pro Einheit. Da es einen hohen Wert pro Einheit besitzt, läßt sich solch ein Gut leicht transportieren. Eine Unze Gold z.B. hat den Wert von 1/2 Tonne Eizenerz.

      Auf den ersten Stufen einer sich entwickelnden Geldgesellschaft mögen mehrere Tauschmittel benutzt werden, da zahlreiche Rohstoffe die jeweiligen Anforderungen erfüllen können. Mit der Zeit wird jedoch ein Rohstoff alle anderen verdrängen, weil er größere Akzeptanz findet. Die Vorliebe für das, was der Wertaufbewahrung dienen soll, wird sich auf den am meisten verbreiteten Rohstoff konzentrieren, was diesen wiederum noch mehr Akzeptanz finden läßt. Diese Entwicklung wird sich verstärken, bis dieser Rohstoff zum einzigen Tauschmittel wird. Der Gebrauch eines einzigen Tauschmittels hat große Vorteile, und zwar aus den gleichen Gründen wegen deren eine Geldwirtschaft einer Naturaltauschwirtschaft überlegen ist. Es ermöglicht einen Austausch in ungleich größerem Umfang. Ob dieses eine Medium nun Gold ist, Silber, Muscheln, Vieh, oder Tabak, ist beliebig und abhängig von dem Umfeld und der Entwicklung der jeweiligen Gesellschaft. In der Tat wurde dies alles zu verschiedenen Zeiten als Tauschmittel verwendet. Sogar in unserem Jahrhundert wurden zwei bedeutende Rohstoffe, nämlich Gold und Silber, als internationales Tauschmittel benutzt, wobei Gold das beherrschende wurde. Gold, das sowohl künstlerischen als auch funktionalen Gebrauch findet und relativ knapp ist, wurde immer als Luxusgut betrachtet. Es ist dauerhaft, leicht zu transportieren, gleichartig, teilbar und hat deshalb bedeutende Vorteile gegenüber allen anderen Tauschmittel. Seit Beginn des 1. Weltkrieges ist es praktisch der einzige internationale Tauschstandard.

      Wenn alle Güter und Dienste in Gold bezahlt werden müßten, wären große Zahlungen schwierig zu bewerkstelligen und dies wiederum würde bis zu einem gewissen Grade den Umfang der Arbeitsteilung und Spezialisierung einer Gesellschaft begrenzen. Die logische Fortsetzung der Entwicklung eines Tauschmediums ist es daher, ein Banksystem und Kreditinstrument (Banknoten und Einlagen) zu entwickeln, die als Stellvertreter funktionieren, aber in Gold umtauschbar sind. Ein freies, auf Gold gegründetes Banksystem ist in der Lage, Kredit zu gewähren und so Banknoten (Währung) und Guthaben zu schöpfen, entsprechend der Produktionserfordernisse der Wirtschaft. Individuelle Goldbesitzer werden durch Zinszahlungen dazu gebracht, ihr Gold in einer Bank einzulegen, worauf sie Schecks ziehen können. Und da in den seltensten Fällen alle Einleger ihr Gold zur gleichen Zeit abziehen wollen, muß der Bankier nur einen Teil der gesamten Einlage in Gold als Reserve vorhalten. Dies ermöglicht es dem Banker, mehr als seine Goldanlagen auszuleihen (d.h., er hält Forderungen auf Gold statt wirkliches Gold als Sicherheit für seine Einlagen). Aber der Umfang der Ausleihung, die er vornehmen kann, ist nicht willkürlich. Er muß es in ein Gleichgewicht zu seinen Reserven und dem aktuellen Stand seiner Investionen bringen.

      Wenn Banken Geld ausleihen, um produktive und profitable Unternehmen zu finanzieren, werden die Ausleihungen rasch zurückgezahlt und Bankkredit ist weiterhin allgemein verfügbar. Aber, wenn die mit Bankkredit finanzierten Geschäfte weniger profitabel sind und nur langsam zurückgezahlt werden, spüren die Banker schnell, dass ihre ausstehenden Darlehen zu hoch sind im Verhältnis zu ihren Goldreserven und sie fangen an, mit neuen Ausleihungen zurückhaltender zu sein, üblicherweise, indem sie höhere Zinsen berechnen. Dies begrenzt die Finanzierung neuer Unternehmungen und erfordert von den bestehenden Schuldnern, daß sie ihre Gewinnsituation verbessern, bevor sie Kredite für weitere Expansionen bekommen können. Daher wirkt unter dem Goldstandard ein freies Banksystem als Hüter von ökonomischer Stabilität und ausgeglichenem Wachstum.

      Wenn Gold von den meisten oder gar allen Nationen als Tauschmittel akzeptiert wird, so begünstigt und fördert ein ungehinderter freier Goldstandard weltweit die Arbeitsteilung und einen umfangreichen internationalen Handel. Obwohl die Tauscheinheiten (Dollar, Pfund, Franc etc. ) von Land zu Land uneinheitlich sind, so funktionieren die Wirtschaften der einzelnen Länder doch wie eine einheitliche Wirtschaft, wenn die Einheiten alle in Gold definiert sind und sofern es keine Behinderungen für Handel und freie Kapitalbewegungen gibt. Kredite, Zinsen und Preise reagieren dann nach gleichartigen Mustern in allen Ländern. Wenn zum Beispiel die Banken in einem Land zu großzügig Kredit gewähren, gibt es in diesem Land eine Tendenz zu fallenden Zinsen, was die Goldbesitzer veranlasst, ihr Gold zu Banken in anderen Ländern zu verlagern, wo es höhere Zinsen bringt. Dies wird unmittelbar zu einer Knappheit an Bankreserven in dem Land mit den lockeren Kreditbedingungen führen, was wieder zu strengeren Kreditbedingungen und zu einer Rückkehr zu wettbewerbsgerechten höheren Zinsen führt.

      Ein vollkommen freies Banksystem und ein damit übereinstimmender Goldstandard wurde bisher noch nie verwirklicht. Aber vor dem 1. Weltkrieg war das Banksystem in den Vereinigen Staaten (und dem größten Teil der Welt) auf Gold gegründet, und obwohl die Regierungen zuweilen intervenierten, war das Bankgeschäft doch überwiegend frei und unkontrolliert. Gelegentlich hatten sich die Banken, aufgrund zu schneller Kreditexpansion, bis an die Beleihungsgrenzen ihrer Goldreserven exponiert, worauf die Zinssätze scharf anzogen, neue Kredite nicht gewährt wurden und die Wirtschaft in eine scharfe, aber kurze Rezession fiel (im Vergleich zu den Depressionen von 1920 und 1932 waren die Konjunkturabschwünge vor dem 1. Weltkrieg in der Tat milde). Es waren die begrenzten Goldreserven, die eine ungleichgewichtigte Expansion der Geschäftstätigkeit stoppten, bevor sie sich zum Desaster entwickeln konnte, wie es nach dem ersten Weltkrieg geschah. Die Korrekturphasen waren kurz und die Wirtschaft fand schnell wieder eine gesunde Basis für weitere Expansion.

      Aber der Heilungsprozess wurde als Krankheit fehlinterpretiert. Wenn der Mangel an Bankreserven einen Konjunkturabschwung bewirkte - so argumentierten die Wirtschaftsinterventionisten - warum finden wir dann nicht einen Weg, um den Banken zusätzliche Reserven zur Verfügung zu stellen, so daß sie nie knapp werden müssen. Wenn die Banken unbegrenzt fortfahren können, Geld zu verleihen - so wurde behauptet - muß es keine Konjunkturrückschläge mehr geben. Und so wurde 1913 das Federal Reserve System organisiert. Es bestand aus 12 regionalen Federal Reserve Banken, die nominal zwar privaten Bankern gehörten, die aber in Wirklichkeit vom Staat gefördert, kontrolliert und unterstützt wurden. Von diesen Banken geschöpfter Kredit wird praktisch (nicht gesetzlich) von der Steuerkraft der Bundesregierung unterlegt. Technisch blieben wir beim Goldstandard; Privatpersonen war es noch erlaubt, Gold zu besitzen und Gold wurde auch noch als Bankreserve benutzt. Aber jetzt konnte zusätzlich zum Gold auch noch von den Federal Reserve Banken geschöpfter Kredit (Papiergeldreserven) als legales Zahlungsmittel dienen, um die Einleger zu befriedigen.

      Als die Konjunktur in den Vereinigten Staaten 1927 einen leichten Rückschlag erlitt, schöpften die Federal Reserve Banken zusätzliche Papiergeldreserven in der Hoffnung, damit jeder Knappheit von Bankreserven zuvorzukommen.

      Katastrophaler jedoch war der Versuch der Federal Reserve, Großbritannien zu helfen, welches Gold an uns verloren hatte, weil die Bank von England sich weigerte, die Zinsen steigen zu lassen, wie es der Markt erfordert hätte (dies war politisch unerwünscht). Die Argumentationslinie der beteiligten Instanzen war wie folgt: Wenn die Federal Reserve massiv Papiergeldreserven in die amerikanischen Banken pumpt, würden die Zinsen in den Vereinigten Staaten auf ein Niveau fallen, das mit dem in Großbritannien vergleichbar ist. Dies würde dazu führen, daß die englischen Goldabfluesse gestoppt würden und politische Unannehmlichkeiten, die mit einer Zinsanhebung verbunden sind, so vermieden würden. Die „Fed" hatte Erfolg: Sie stoppte die Goldverluste, aber gleichzeitig zerstörte sie fast die Weltwirtschaft. Der übertriebene Kredit, den die Fed. in die Wirtschaft pumpte, floß in den Aktienmarkt - und löste einen fantastischen spekulativen Aktienboom aus. Verspätet versuchten die Federal Reserve Beamten die Überschußreserven abzusaugen und es gelang ihnen schließlich, den Boom zu brechen. Aber es war zu spät: 1929 war das spekulative Ungleichgewicht so überwältigend, daß dieser Versuch einen scharfen Rückgang noch beschleunigte mit einem daraus folgenden Zusammenbruch des Geschäftsvertrauens. Im Ergebnis brach die amerikanische Wirtschaft ein.

      Großbritannien ging es noch schlechter und statt die vollen Konsequenzen der vorherigen Fehlentscheidungen zu akzeptieren, verließ es 1931 den Goldstandard komplett und zeriss so völlig das Netz von Vertrauen, das noch geblieben war, was zu einer weltweiten Serie von Bankzusammenbrüchen führte. Die Weltwirtschaft verfiel in die große Depression der 30er Jahre.

      Mit der gleichen Logik, der sich auch die vorangehende Generation bediente, argumentierten die Interventionisten, daß in erster Linie der Goldstandard verantwortlich war für das Debakel, das zur großen Depression führte. Wenn der Goldstandard nicht existiert hätte, so argumentierten sie, hätte Englands Abgehen von Goldzahlungen in 1931 nicht die Bankzusammenbrüche in der ganzen Welt verursacht. (Die Ironie dabei war, daß wir seit 1913 keinen Goldstandard mehr hatten, sondern so etwas wie einen „gemischten Goldstandard", gleichwohl wurde die Schuld aufs Gold geschoben)

      Aber die Gegnerschaft gegen den Goldstandard in jeder Form - durch eine wachsende Zahl von Wohlfahrtsstaat-Befürwortern - wurde von einer viel subtileren Erkenntnis gespeist - nämlich der Erkenntnis, daß der Goldstandard unvereinbar ist mit chronischen Haushaltsdefiziten (dem Wahrzeichen der Wohlfahrtsstaaten). Wenn man den akademischen Sprachschleier einmal wegzieht, erkennt man, daß der Wohlfahrtsstaat lediglich ein Mechanismus ist, mit welchem die Regierungen Vermögen der produktiven Mitglieder einer Gesellschaft konfiszieren, um zahlreiche Wohlfahrtsprojekte zu finanzieren (unterstützen). Ein großer Teil der Vermögenskonfiskation erfolgt durch Steuereinziehung. Aber die Wohlfahrtsbürokraten haben schnell erkannt, daß die Steuerlast begrenzt werden mußte, wenn sie an der Macht bleiben wollten und daß sie auf massives deficit spending ausweichen müssen, d.h. sie müssen Geld borgen, indem sie Staatsanleihen auflegen, um im großen Stil Wohlfahrtsausgaben zu finanzieren.

      Unter einem Goldstandard wird der Kreditumfang, den eine Wirtschaft verkraften kann, von den realen Sachwerten der Wirtschaft begrenzt, weil jedes Kreditverhältnis letztlich ein Anspruch auf einen realen Sachwert ist. Aber Staatsanleihen sind nicht durch reale Sachwerte unterlegt, sondern nur durch das Regierungsversprechen, aus künftigen Steuereinnahmen zu bezahlen. Sie können daher nicht ohne weiteres von den Finanzmärkten aufgenommen werden. Eine große Menge neuer Staatsanleihen kann der Öffentlichkeit nur zu ständig steigenden Zinssätzen verkauft werden. Deshalb ist staatliche Schuldenfinanzierung unter einem Goldstandard eng begrenzt. Die Abschaffung des Goldstandards ermöglichte es den Verfechtern des Wohlfahrtsstaates, das Banksystem für eine unbegrenzte Kreditexpansion zu mißbrauchen. In Form von Staatsanleihen haben sie Papiervermögen erzeugt, welches die Banken, nach einer komplexen Folge von Schritten, wie Realvermögen als Sicherheit akzeptieren, gleichsam als Ersatz für das was früher eine Einlage in Gold war. Der Inhaber einer Staatsanleihe oder eines auf Papiergeld gegründeten Bankguthabens glaubt, er hat einen gültigen Anspruch auf Realwerte. In Wirklichkeit sind aber mehr Ansprüche auf Realwerte im Umlauf, als Realwerte vorhanden sind.

      Das Gesetz von Angebot und Nachfrage läßt sich nicht aufheben. Wenn das Angebot an Geld (Ansprüchen) im Verhältnis zum Angebot von realen Guetern in der Wirtschaft steigt, müssen die Preise unweigerlich steigen. Das heißt, Erträge, die von den produktiven Teilen der Gesellschaft erspart wurden, verlieren in Gütern ausgedrückt an Wert. Unter dem Strich der Bilanz ergibt sich dann, daß dieser Verlust genau den Gütern entspricht, die von der Regierung zu Wohlfahrts- und anderen Zwecken erworben wurden mit dem Geld aus Staatsanleihen, die über Kreditexpansion der Banken finanziert wurden.

      Ohne Goldstandard gibt es keine Möglichkeit, Ersparnisse vor der Enteignung durch Inflation zu schützen. Es gibt dann kein sicheres Wertaufbewahrungsmittel mehr. Wenn es das gäbe, müßte die Regierung seinen Besitz für illegal erklären, wie es ja im Falle von Gold auch gemacht wurde (Goldbesitz war in Amerika bis 1976 für Privatleute verboten, Anm. d. Verf.). Wenn z. B. jedermann sich entscheiden würde, all seine Bankguthaben in Silber, Kupfer oder ein anderes Gut zu tauschen und sich danach weigern würde, Schecks als Zahlung für Güter zu akzeptieren, würden Bankguthaben ihre Kaufkraft verlieren und Regierungsschulden würden kein Anspruch auf Güter mehr darstellen. Die Finanzpolitik des Wohlfahrtsstaates macht es erforderlich, daß es für Vermögensbesitzer keine Möglichkeit gibt, sich zu schützen. Dies ist das schäbige Geheimnis, daß hinter der Verteufelung des Goldes durch die Vertreter des Wohlfahrtsstaates steht. Staatsverschuldung ist einfach ein Mechanismus für die „versteckte" Enteignung von Vermögen. Gold verhindert diesen heimtückischen Prozess. Es beschützt Eigentumsrechte. Wenn man das einmal verstanden hat, ist es nicht mehr schwer zu verstehen, warum die Befürworter des Wohlfahrtsstaates gegen den Goldstandard sind.

      Alan Greenspan :eek: :eek: :eek:
      ___________________

      Dieser Artikel erschien zuerst 1966 in einem Informationsbrief mit dem Namen „The Objetivist". Er wurde dann wieder abgedruckt in dem Buch „Capitalism the Unknown Ideal" von Ayn Rand, zusammen mit weiteren Artikeln von Alan Greenspan und Robert Hessen. Verlag Signet Books 1967, Seiten 96ff.
      Das Buch ist noch lieferbar und kann u.a. bei Amazon.com bestellt werden
      Avatar
      schrieb am 04.02.02 19:22:42
      Beitrag Nr. 3 ()
      Eine kleine Anmerkung von mir:
      Ich bin selbstverständlich ein absoluter Gegner des Goldstandarts, genau so wie es der Verfasser des obrigen Artikels mittlerweile auch sein dürfte.

      M.f.G. thomtrader
      Avatar
      schrieb am 04.02.02 21:08:36
      Beitrag Nr. 4 ()
      hallo,

      da weiß der st. petersburger doch vielleicht etwas mehr...

      www.bueso.de/nrw/aktuelles/goldrubel.htm

      schön gruß

      highnoon1
      Avatar
      schrieb am 04.02.02 21:08:44
      Beitrag Nr. 5 ()
      hallo,

      da weiß der st. petersburger doch vielleicht etwas mehr...

      www.bueso.de/nrw/aktuelles/goldrubel.htm

      schön gruß

      highnoon1

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      Avatar
      schrieb am 04.02.02 21:08:54
      Beitrag Nr. 6 ()
      hallo,

      da weiß der st. petersburger doch vielleicht etwas mehr...

      www.bueso.de/nrw/aktuelles/goldrubel.htm

      schön gruß

      highnoon1
      Avatar
      schrieb am 05.02.02 18:16:32
      Beitrag Nr. 7 ()
      Ich werde in diesen Thread in Zukunft dazu benutzen, viel interessantes rund um die Börse hier hereinzustellen.

      Vielleicht in das Fundamentalanalyseboard dazu nicht umbedingt das geeignetste, unter Allgemeines würde der Thread aber schnell untergehen.

      M.f.G. thomtrader
      Avatar
      schrieb am 05.02.02 18:18:40
      Beitrag Nr. 8 ()
      Aktives oder passives (Fond-)Investment?


      Larry Swedroe, Buckingham Asset Management

      Investoren sind bei Anlagevorhaben gleich einer Entscheidung ausgesetzt, nämlich der Wahl zwischen einer aktiven und einer passiven Managementstrategie. Hinreichende Beweise lassen darauf schließen, dass mit einem passiven Investment am ehesten höhere Renditen zu erzielen sind.

      Umfangreiche Studien haben ergeben, dass der durchschnittliche, aktiv geführte Fonds langfristig den jeweiligen passiven Benchmark um ca. 1,8% pro Jahr (vor Steuer) verfehlt. Unter Berücksichtigung von Steuern würde sich ein Wert von bis zu 3% ergeben. Trotz dieser Tatsache entscheidet sich die Mehrheit der Privatinvestoren für die aktive Variante. Lediglich 10% aller Privatfonds sind zurzeit in passiven Fonds angelegt.

      Die Winterausgabe des Journal of Private Portfolio Management enthielt eine Studie über die Outperformance-Möglichkeiten aktiver Manager. Die Studie untersuchte alle 307 Large-Cap Fonds mit einer mindestens 10-jährigen Geschichte. Mit dieser Methode ergab sich eine Survivorship-Bias zu Gunsten des aktiven Management. Fonds mit einer geringen Performance schließen auf Grund von Einlösungen durch die Investoren oder werden von ihrer Gründerfirma mit anderen Fonds fusioniert, sodass die Performancedaten nicht weiter vorliegen. Die Renditen der Fonds wurden daraufhin mit der Rendite des Benchmark S&P 500 verglichen. Über einen 20-Jahreszeitraum betrachtet übertraf die passive Strategie mehr als 93% aller überlebenden Fonds. Über einen 15-Jahreszeitraum waren es 99% aller überlebenden Fonds. Über Perioden von 10-, 7-, 5- und 3-Jahren übertrumpfte die passive Strategie nicht weniger als 95% aller überlebenden aktiven Fonds. Bezüglich der 61 aufeinander folgenden 5-Jahreszeiträume lag die passive Strategie 58 Mal (95%) besser als mindestens die Hälfte der aktiven Fonds, und das vor Steuern. Historische Daten unterstützen die Annahme, dass die Ergebnisse noch schlechter ausgefallen wären, wenn eine Berechnung nach Abzug von Steuern stattgefunden hätte.

      Die tatsächlichen Renditen der Investoren aus diesen aktiv geführten Fonds fielen aller Wahrscheinlichkeit nach noch schlechter aus. Der Grund liegt darin, dass die Studie davon ausgeht, die Renditen der Investoren entsprächen denen ihrer Fonds. Mehrere Studien haben gezeigt, dass die Renditen der Investoren weitaus geringer ausfallen als die ihrer Fonds, da die Investoren renditeorientiert handeln. Sie tendieren dazu, einen Fonds bei hoher Performance zu kaufen und umgekehrt wieder zu verkaufen. Was einem hohen Kaufpreis und einem niedrigen Verkaufspreis entspricht und somit nicht unbedingt ein Erfolgsrezept darstellt. Die Untersuchungen haben ergeben, dass Investoren ihre eigenen Fonds zwischen 5 und 10% pro Jahr underperformen.

      Im Durchschnitt wählten die Anleger in aktiv geführte Fonds eindeutig die falsche Strategie. Die einfache Annahme von Marktrenditen hätte zu einer wesentlichen Erhöhung ihrer Renditen geführt. Das übliche Gegenargument der Verfechter des Aktivmanagement: „Nicht der Durchschnittsfonds ist zu kaufen, sondern der Fonds mit einer hohen Performance." Allerdings ist hinreichend nachgewiesen, dass die frühere Performance von aktiven Managern keinen Indikator für zukünftige Performance darstellt. Hier handelt es sich lediglich um einen unzuverlässigen Indikator. Bill Bernstein hat die Unzuverlässigkeit vergangenen Erfolgs beispielhaft dargelegt. An Hand der Micropal Datenbank untersuchte er die Performance der Top 10 Fonds über einen Zeitraum von 5 Jahren ab 1970 und verglich diese anschließend mit der von S&P 500 bis 1998. Hier das Ergebnis seiner Untersuchungen:

      Von 1970 bis 1974 war eine Underperformance des Indexes von 0,99% pro Jahr durch die Top 30 Fonds festzustellen;
      Von 1975 bis 1979 war eine Underperformance von 1,89% pro Jahr durch die Top 30 Fonds festzustellen;
      Von 1980 bis 1984 war eine Underperformance von 2,75% pro Jahr durch die Top 30 Fonds festzustellen;
      Von 1985 bis 1989 war schließlich eine Underperformance von 1,57% pro Jahr durch die Top 30 Fonds festzustellen;
      Von 1990 bis 1994 war schließlich eine Underperformance von 10,9% pro Jahr durch die Top 30 Fonds festzustellen.
      In keinem einzigen Fall war eine kontinuierliche Outperformance durch die Spitzenfonds eines 5-Jahreszeitraums festzustellen. Angesichts der Tatsache, dass die frühere Performance kein Indikator für zukünftige Performance ist, liegt es nahe, dass Investoren lediglich dem Zufall ausgesetzt sind. Bei so vielen Performance-Spekulanten dürfte jeder Zeitraum seine Gewinner haben. Während Investoren bei einem Gewinn gern auf ihr Geschick verweisen, scheint das Ergebnis in Wirklichkeit eher zufallsbedingt und somit nicht wiederholbar zu sein.

      Schlussfolgernd kann gesagt werden, dass eine unsichtige Strategie, die am ehesten höhere Renditen garantiert, die Passivstrategie ist. Das Amerikanische Rechtsinstitut (ALI) kam zu demselben Schluss in seiner dritten Neufassung der Vorschrift über die Sorgfaltspflicht des Investors, in der moderne Portefeuille-Theorie und Passivinvestment als Standard für die Strategie von Vermögensverwaltern bestimmt wurden. Die Neufassung wurde zwischenzeitlich in fast allen Staaten Gesetz. Hier ein paar Schlussfolgerungen des Rechtsinstituts:

      Wirtschaftsdaten belegen, dass die wichtigsten Kapitalmärkte des Landes eine hohe Effizienz aufweisen, d.h. dass verfügbare Informationen schnell gesammelt und in Aktienkurse umgesetzt werden;
      Vermögensverwaltern und anderen Investoren liegen aussagekräftige Beweise dafür vor, dass Fachwissen, Analyse und Sorgfalt in dem Bemühen, „den Markt zu schlagen", normalerweise keinen oder nur geringen Kapitalrückfluss garantieren, bzw. eine negative Amortisation bewirken, wenn wir die Analyse- und Transaktionskosten berücksichtigen;
      Empirische Untersuchungen, die die Theorie effizienter Märkte unterstützen, haben ergeben, dass Experten in diesen Märkten nur selten zu niedrig bewertete Aktien mit einer gewissen Regelmäßigkeit ausfindig machen konnten;.
      Nachweislich besteht kaum ein Zusammenhang zwischen früheren Erfolgen von Fondsverwaltern und deren Fähigkeit, in darauf folgenden Zeiträumen Renditen zu erzielen, die über dem Markt liegen.
      Aktives Management unterliegt der Hoffnung auf Outperformance. Eine Hoffnung, die so von Wall Street und der Finanzpresse verkauft wird. Allerdings sehen die Gewinnchancen dabei so gering aus, dass - es sei denn, man rechnet dem Anstrengungsaufwand einen großen Wert bei („der Anreiz des Schlages" und die damit verbundenen anmaßenden Rechte) -, der Einsatz nicht lohnt. Die Erfolgsstrategie lautet Passivinvestment. Sodass Investoren bei ihrer Entscheidung sich für die (bisher) weniger frequente Variante aussprechen sollten, um so mit größerer Wahrscheinlichkeit ihr Ziel zu erreichen (eine bessere finanzielle Zukunft).

      Larry Swedroe ist Autor von „What Wall Street Doesn`t Want You To Know" und „The Only Guide To A Winning Investment Strategy You Will Ever Need".
      Avatar
      schrieb am 05.02.02 18:26:17
      Beitrag Nr. 9 ()
      Das Schicksal eines Börsenteilnehmers:


      So läßt sich´s leben - Ein Trader Erfahrungsbericht

      Schauen Sie mich nicht so mitleidig an. Ich war reich, bestimmt um einiges reicher als Sie. Jetzt bin ich arm. So können die Dinge laufen. Erinnern Sie sich an den Börsenkrach 2000/2001?

      Fünf Jahre lang war das Glück auf meiner Seite gewesen. Meine Götzen hießen Microsoft und Intel; der Computer war mein Goldenes Kalb. Nach drei Jahren atemberaubender Spekulationsgewinne hatte ich meine Arbeit an der Hochschule aufgegeben. Es war eine befristete Assistentenstelle, eine halbe Stelle, genauer gesagt, und als die Frist abgelaufen war, habe ich einfach nicht mehr versucht, sie zu verlängern. Ich gewann an der Börse fünf bis zehn Mal soviel wie ich Gehalt bekam. Ich hatte die Zeichen der Zeit erkannt.

      1998 gab es dann eine Krise in Asien, und daraus folgte ein weltweiter Aktiencrash. Ich verlor die Hälfte meines Vermögens, aber ich war noch immer wohlhabend, und der Rückgang konnte mich nicht ernsthaft beunruhigen. Und bald ging es auch wieder aufwärts, grenzenlos, ins Unermeßliche, wie es schien. Was an der Börse geschah, hatte religiöse Dimensionen.

      Vor zehn Jahren fuhr ich einen blauen Trabant, und ich machte Urlaub in der Slowakei. Nun besaß ich einen Mercedes, S-Klasse, und ich reiste zum Lachsfang nach Kanada und auf Löwensafari nach Tansania. Und ich war überzeugt davon, daß mir das alles zustand. Mein Reichtum war das folgerichtige Ergebnis meiner Entschlußkraft, meines Charakters, meiner Intelligenz.

      Als Assistent an der Uni hatte ich keine Freundin finden können, obwohl ich auf jeder Wochenenddisko im Schweiße meines Angesichts Jagd auf Studentinnen machte. Außer der Peinlichkeit, gelegentlich furchtbar verkatert in einem unbekannten Zimmer neben einer Fremden zu erwachen, hat das nichts weiter gebracht. Nun aber hatte ich plötzlich eine Freundin, und ihre Eleganz und ihre Klasse standen der Klasse und Eleganz meines Wagens nicht nach.

      Ich wollte mehr. Noch zwei solche fetten Jahre, sagte ich mir, und du bist Euromillionär. Dann kannst du aufhören, und die sieben mageren Jahre mögen kommen.

      Die Zukunft gehörte dem Internet. Das war offensichtlich. Ich investierte alles in Internetaktien und nahm auf meine Aktien noch einen Kredit und legte den ebenfalls in Aktien an. Das Auto, die neue Wohnungseinrichtung, den Brillantenschmuck für meine Freundin hatte ich auch auf Kredit gekauft; wozu gutes Geld ausgeben, wenn man es an der Börse für sich arbeiten lassen kann. Vorm vielgefürchteten Jahr-2000-Problem hatte ich kaum Angst. Ich hatte Zutrauen in die Informatiker, die das neue Goldene Zeitalter der Menschheit programmierten, und wieder hatte ich recht behalten: der Crash kam nicht. Einen Teil meiner Aktien hatte ich dennoch verkauft, ich wollte nicht leichtsinnig sein. Im Frühjahr 2000 gingen die Kurse etwas zurück, doch das konnte mich nicht irritieren. Ich lachte über die Skepsis der kleingläubigen Bankanalysten, die ernsthaft behaupteten, das Internet würde in absehbarer Zukunft keine nennenswerten Gewinne abwerfen. Ich nutzte die Kursrückgänge, um nachzukaufen. Von der kleinen Korrektur würde ich extra profitieren.

      Dann begannen die Aktienkurse der Internetfirmen deutlicher nachzugeben, aber das konnte nur eine zeitweilige Schwäche sein; ich war sicher, spätestens zu Weihnachten würde ich über die wankelmütigen Verkäufer lachen, ich würde die Aktien halten und so um die Spekulationssteuer herumkommen.

      Ich hatte mittlerweile die Hälfte meines Einsatzes verloren und mußte zähneknirschend ein paar Aktien verkaufen, weil mein Kreditrahmen enger geworden war. Aber der Winter würde alles wieder richten.

      Der Winter kam und richtete mich zugrunde.
      Zwei Monate hatten gereicht, mich alles verlieren zu lassen. Bis zuletzt war ich davon überzeugt, daß sich die Lage jäh zum Guten wenden würde. Jedoch der Börsenkrach nahm kein Ende, die Aktienkurse donnerten wie eine Lawine in einen bodenlosen Abgrund.

      An dem Tag, an dem ich meinen Mercedes verkaufte, ging auch meine Freundin. Ich war allein und hatte plötzlich Schulden, wo vorher überquellender Reichtum war. Das Geld vom Auto reichte nicht lange. Ich war gezwungen, die kläglichen Reste meiner wertlos gewordenen Wertpapiere zu verkaufen, samt und sonders.

      Es verblüffte mich, zu sehen, wie schnell die letzten paar tausend Mark aufgebraucht waren. Ich hatte mir zuvor kaum Gedanken darum gemacht, wieviel Geld ich jeden Monat brauchte, um Miete, Versicherungen, Strom, Telefon, Nahrung und Getränke, all diese Selbstverständlichkeiten, zu bezahlen. Das heißt, als Student und junger Assistent hatte ich dies alles sehr wohl gewußt und konnte mit dem wenigen, was ich damals besaß, gut haushalten. Aber der Wohlstand der letzten Jahre hatte einen anderen Menschen aus mir werden lassen. Ich hatte verlernt, einzuschätzen, ob ein Stück Käse teuer oder billig war, ich hatte vergessen, daß man seinen Durst auch vom Leitungswasser stillen konnte.

      Ich zog in eine billige Altbauwohnung. Lebt wohl, Parkett und Fußbodenheizung, Wintergarten und schöne Aussicht! Doch trotz der billigen Wohnung konnte ich die Kreditraten bald nicht mehr bezahlen.

      Auf dem Arbeitsamt konnte man mir nicht helfen. In meinem Beruf gebe es keine Arbeit, nicht hier im Osten, sagte man mir. Drei Jahre seit meiner letzten Arbeit, warum ich mich denn damals nicht arbeitslos gemeldet hätte? Jedes Anrecht auf Arbeitslosengeld sei inzwischen verfallen.

      Ich versuchte, aus meiner privaten Krankenversicherung in eine gesetzliche zu wechseln. Die Gesetzliche nahm mich nicht, weil ich kein Arbeitslosengeld bekam. Ich verzichtete auf die Krankenversicherung.

      Früher hatte ich sehr viel gelesen, aber als ich an der Börse so erfolgreich wurde, hatte sich mein Interesse an Büchern stark vermindert. Jetzt, wo ich Sorgen hatte wie nie zuvor in meinem Leben, fehlte mir die innere Ruhe zum Lesen. Ich bot einem Antiquariat an, meine Büchersammlung zu erwerben. Der Antiquar war interessiert. Er kam zu mir, inspizierte eine halbe Stunde lang meine Bücherregale, blätterte in dem einen oder anderen Buch und bot mir schließlich 300 Mark für alles, für ungefähr 500 Bücher. Ich war beinahe so schockiert wie vom Börsenkrach. Ich rief, aber 300 Mark haben allein meine Dostojewski-Bände gekostet! Und das hier sind Erstausgaben von B. Traven! Und hier steht eine vollständige Thomas-Mann-Ausgabe aus den 50er Jahren! Und Shakespeares sämtliche Werke, illustriert, von 1870! Der Antiquar zuckte mit den Schultern. Ich müsse ihm die Bücher schließlich nicht verkaufen, wenn ich nicht wolle. Aber Dostojewski sei heute kaum noch gefragt, und Traven werde praktisch nicht mehr verlegt, weil er in Vergessenheit geraten sei. Was nützten da Erstausgaben? Und Shakespeares Werke seien bei ihm Meterware und leider nichts als nutzlose Staubfänger. Er als Bücherliebhaber bedauere das alles sehr, doch müsse er in erster Linie als Geschäftsmann denken, sonst käme er sehr schnell an den Bettelstab. 500 Mark seien sein letztes Angebot.

      Mit dem Gefühl, überfallen und ausgeraubt worden zu sein, willigte ich ein. Der Antiquar rief seinen Gehilfen an, und eine Stunde später besaß ich kein Buch mehr.

      Ich durchsuchte Anzeigenblätter nach freien Stellen, fand jedoch nur eindeutig unseriöse Angebote, oder es wurden hochspezialisierte Handwerker gesucht. Nichts, was mir ermöglichen konnte, meine Schuldenlast abzutragen. Ich stellte die Zahlungen ein und ignorierte alle Mahnungen. Wenige Wochen später kam der Gerichtsvollzieher. Man transportierte meine Stereoanlage, den Computer, die Gemälde und die meisten Möbel ab. Den Fernseher ließ man mir. Mir war das alles gleichgültig, denn ich war betrunken, als das geschah.

      Ich wollte wenigstens die Wohnung behalten, und so beantragte ich Wohngeld. Da ich jedoch nicht nachweisen konnte, wovon ich lebte, denn ich hatte weder ein Einkommen noch verfügte ich über Ersparnisse, verwies man mich ans Sozialamt. Dort hatte ich bislang nicht hingehen wollen, denn es stand für mich als Symbol für endgültige Selbstaufgabe.

      Im Wartezimmer stank es. Das heißt, die Menschen, die dort warteten, stanken. Ich hatte nie zuvor einen vergleichbaren Geruch wahrgenommen. Es war der Gestank der Armut, der Hoffnungslosigkeit, der Demütigung. Ich mußte mehrere Stunden ausharren in diesem Raum, in dem alles abstoßend und trostlos wirkte. Gelbliche Wände mit Wasserflecken, die Stühle aus Sperrholz und Stahlrohren, das Linoleum stumpf und fleckig. Ich sah kein Lächeln; Gespräche wurden gemurmelt oder geflüstert. Eine alte Frau mit Bandagen an den Beinen versuchte, auf dem Gang eine Angestellte etwas zu fragen. Die fuhr ihr gleich über den Mund. Sie solle sich sofort wieder hinsetzen und warten, bis sie dran sei. Ein Alkoholiker mit stierem Blick saß neben einer Mutter mit Kleinkind, eine Asylantenfamilie aus Serbien neben zwei bäurisch wirkenden Leuten, einem wolgadeutschen Ehepaar. Ein Mädchen mit Punkfrisur nickte im Takt zur Musik ihres Walkmans, einem Mann in meinem Alter zuckte unaufhörlich das linke Augenlid und von Zeit zu Zeit der ganze Kopf. Zwei ältere Männer trugen absurde Kleidungsstücke, nichts paßte farblich zueinander, die Hosen waren zu kurz, die Jacketts zu lang und zu weit. Eine Frau in mittleren Jahren war unter den Wartenden, der man die Armut nicht ansah, noch nicht, vielleicht. Sie war gut gekleidet und wirkte wie eine Geschäftsfrau. Manchmal schloß sie eine Weile die Augen und schüttelte leise den Kopf. Wahrscheinlich war ihre Firma war pleite gegangen.

      Ich war an der Reihe. Eine übertrieben geschminkte Dame hörte sich meine Geschichte ungerührt an. Ich legte ihr all meine Papiere, Kontoauszüge, Pfändungsbescheide, Mietvertrag und so weiter, vor. Ich solle in 14 Tagen wieder vorsprechen, erklärte sie schließlich. Ich bekam allerdings sofort einen Gutschein über 300 Mark ausgestellt, den ich auf der Stadtkasse einlösen konnte.

      Zwei Wochen später teilte mir dieselbe Angestellte mit, daß mein Anliegen abgelehnt worden sei, weil ich weder krank noch zu alt sei, um zu arbeiten. Die 300 Mark müsse ich allerdings erst zurückzahlen, wenn ich eine Arbeit gefunden hätte. Und ich hätte jede, sie betonte das Wort genüßlich, einfach jede Arbeit anzunehmen. Wenn ich allerdings glaubhaft nachweisen könne, daß ich mich ernsthaft um Arbeit bemüht hätte und dennoch keine bekommen haben sollte, könnte ich den Antrag erneut stellen.

      Meine Wohnung habe ich aufgegeben. Ich habe mir ein Zimmer in einem leerstehenden Haus eingerichtet. Davon gibt es gottlob genug bei uns. Ich habe übrigens zwei meiner Bücher zurückgestohlen aus dem Antiquariat. "Schuld und Sühne" und "Der Idiot" von Dostojewski. So habe ich wieder eine kleine Bibliothek. Der unverschämte Antiquar wollte 20 Mark für jeden Band.

      Ich hatte eigentlich Arbeit suchen wollen, doch ich vermochte es nicht. Ich war in hoffnungslose Lethargie gestürzt. Ich hatte in der Zeitung gelesen, daß der Crash vorüber sei und neue Euphorie an den Märkten herrsche. Jetzt tanzten sie wieder ums Goldene Kalb, nur ich war nicht mehr dabei. Die sinnlosen Wörtchen ‚hätte` und ‚wenn` regierten meine Gedanken, ich durchlebte meinen Abstieg wieder und wieder und sah all meine Fehler, meine Dummheit, meine maßlose Verblendung. Aber das ist jetzt vorüber. Meine Schulden existieren nach wie vor wie ein stetig wachsendes Gebirge aus Zins und Zinseszins, und fände ich Arbeit, würde ein guter Teil des Lohns gepfändet werden, und das auf unabsehbare Zeit. Das dämpft die Lust auf Arbeitssuche noch mehr.

      Wenn ich bedenke, daß ich es beinahe bis zur Promotion geschafft hätte. Dann wäre ich jetzt promovierter Penner. Lustig, nicht wahr.

      Aber wissen Sie, man verhungert hierzulande nicht als Armer. Auf der Bahnhofsmission haben sie immer etwas zu essen. Und jeder von uns hat sein Terrain, wo er sammelt. Sie glauben ja nicht, was die Leute so alles an nützlichen Sachen wegwerfen! Sogar leere Pfandflaschen! Dann gibt es noch diesen Broilerstand am Brühl. Der Besitzer hört den ganzen Tag Beatlesmusik, und er hat ein Herz für Penner. Er schickt uns in die Kaufhalle nach Mineralwasser oder nach Paprika oder einer Tüte Salz. Das Wechselgeld können wir behalten, und abends, wenn noch ein paar Hähnchen übrig sind, verteilt er sie unter uns. So läßt sich`s leben.

      Aber mal was anderes. Sie haben nicht zufällig ein bißchen Kleingeld einstecken?

      Copyright Martin Herbst 2001


      ____________________________________________________________
      Ich weiß zwar nicht ob die Geschichte wahr ist, bezweifle es eher, aber zumindest in etwas abgemilderter Form, wird es in den letzten Jahren zigtausenden Börsianern so ergangen sein.


      M.f.G. thomtrader
      Avatar
      schrieb am 05.02.02 18:42:54
      Beitrag Nr. 10 ()
      Folgendes ist genauso unglaublich wie die obige Geschichte, nur ist es aber auf jeden Fall war:

      Wenn eine Großbank mit "erfahrenen Analysten" ein Zertifikat auflegt das in "Zukunftswerte" investiert, und kein Wert dabei höher als 10% gewichtet wird, dann erwartet doch der zeichnende Kleinanleger das sich selbst im schlimmsten Fall der Wertverlust in Grenzen hält.(Es sei den die Großbank wird zahlungsunfähig, dies ist aber eine andere Geschichte)

      Ich bin nun zufällig auf ein Zertifikat gestossen das die Societe Generale vor knapp zwei Jahren aufgelegt hat. Es ist das B2B-Zertifikat mit der WKN 452126. Das Allzeithoch des Zertifikats war bei 139Euro. Im September 2001 sank das Zertifikat auf einen Tiefstkurs von 1,45 Euro :eek: :eek::eek: :eek: :eek: :eek::eek: :eek:





      Perf. seit Auflegung: -97,11 %
      Tages-Hoch: 3,03
      Tages-Tief: 3,03
      52-Wochen-Hoch: 27,48
      52-Wochen-Tief: 1,45
      Jahres-Hoch: 3,93
      Jahres-Tief: 2,89
      Allzeit-Hoch : 139,00
      Allzeit-Tief : 1,45



      M.f.G. thomtrader
      Avatar
      schrieb am 07.02.02 11:59:11
      Beitrag Nr. 11 ()
      :) Den Banken ist völlig egal, ob all diese Produkte, die sie an die Börse bringen investmenttauglich sind, entscheidend sind die Provisionen und Transaktionsgebühren, die sie damit erzielen. Meine Bank bringt z.b. jeden Tag ein neues Produkt hervor, da sind den Phantasien keine Grenzen gesetzt. Fragwürdig ist natürlich auch das Geschäft der Börsen mit all ihren Indizes und 11stündigem Intradayhandel. Dabei ändert sich ein Unternehmenswert innerhalb von Minuten oder Tagen fast nie.

      Das was Richebächer da wieder schreibt kann man so nicht stehen lassen. Auch was dieser Herr Meier heute in der Welt ablässt, finde ich diskussionswürdig. Er tut gerade so, als ob Luftbuchungen, die ja seiner Meinung nach bei 10 % der großen Firmen vorkommen, nicht kriminell seien. Denn genau darum ging es bei Enron: Vor krimineller Buchführung ist kein Anleger geschützt. Und dann wieder der Hinweis auf die überforderten Privatanleger...es werden m.W. keine gesonderten Bilanzen für Instis geschrieben. Also entweder die KPMGs, PWCs, Andersens usw prüfen vernünftig, entweder die Banken prüfen ihre Angaben im Verkaufsprospekt und ihren Analysen so ein bißchen oder man steckt eben tatsächlich 10 % der S&P-Firmen ins OTC-Board. Dem Fondsmanager kann das ja aber alles egal sein, solche Fälle kommen ja schließlich überall mal vor und letzten Endes ist es ja nicht das Geld der Union Investment oder gar das eigene mit dem man herumwurschtelt.


      "Enronitis ist kein Kurzzeit-Infekt"
      Fondsmanager: Jede zehnte Firma des S&P-500 hat zu sportlich bilanziert- Interview
      Die Verunsicherung an den Börsen ist immens. Die durch die Enron-Pleite ausgelöste Vertrauenskrise lässt bei den Investoren die Hoffnungen auf eine konjunkturelle Wende in den Hintergrund treten. Und weitere böse Überraschungen in Sachen Bilanz-Akrobatik sind wahrscheinlich, warnt Thomas Meier, Manager des rund 2,5 Mrd. Euro schweren Fonds UniGlobal. Mit ihm sprach Thomas Exner.

      DIE WELT: Wie nachhaltig sind die Folgen der so genannten Enronitis?

      Thomas Meier: Ich bin überzeugt, dass es sich nicht um einen Kurzzeit-Infekt handelt. Denn Luftbuchungen in den Bilanzen hat es sicherlich auch bei anderen US-Gesellschaften gegeben. Diese sind zwar nicht unbedingt in ihrer wirtschaftlichen Substanz bedroht. Denn im Fall Enron haben auch kriminelle Aktivitäten eine wichtige Rolle gespielt. Aber zweifellos wird es weitere böse Überraschungen geben. Ich vermute bei 50 bis 60 Unternehmen des S&P-500 eine zu sportliche Bilanzierungspraxis. Viele Anleger werden ihre Investments daher dauerhaft mit einem sehr viel konservativeren Blick unter die Lupe nehmen.

      DIE WELT: Bedeutet dies, dass nun auch die Gewinnschätzungen für US-Aktien auf den Prüfstand müssen?

      Meier: Im Prinzip schon. Ich gehe allerdings nicht davon aus, dass die Überprüfung der Bilanzen zu aggressiven Gewinnrevisionen führen wird. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte lautet: Die Enronitis ist nicht nur ein US-Phänomen, sondern ein internationales Problem. Auch in Europa sind die Bilanzen vieler Unternehmen nicht immun. Das gilt gerade für den Telekommunikationssektor und Technologiewerte.

      DIE WELT: Wie können Anleger erkennen, bei welchen Firmen es heikel wird?

      Meier: Theoretisch muss man in jedem Einzelfall die Bilanzstrukturen genau prüfen. Dies überfordert die meisten Privatanleger jedoch. Es gibt allerdings auch einige relativ leicht zu diagnostizierende Warn-Indikatoren. Dazu zählt ein starker Expansionsdrang während des New-Economy-Booms, wo der Wert der zugekauften Unternehmen zu hoch angesetzt wurde, sowie eine hohe Verschuldung. Dies allein bedeutet zwar nicht zwangsläufig, dass etwas faul ist. Es signalisiert aber ein erhöhtes Risiko.

      DIE WELT: Bedeutet der Fall Enron, dass die Bilanzierungsregeln des US-GAAP versagt haben?

      Meier: Die ultimativ richtige Bilanzierung gibt es nicht. Das deutsche Bilanzrecht nach HGB etwa ist nicht nur sehr konservativ, sondern teilweise übervorsichtig. Hier ist oft kaum mehr zu erkennen, ob das vorhandene Eigenkapital auch effizient genutzt wird. Das US-Recht ist sehr viel stärker am Informationsbedürfnis der Investoren orientiert, kann aber auch missbräuchlich genutzt werden.

      DIE WELT: Was also ist zu tun?

      Meier: Zum einen zeigt die Misere, wie dringend wir einen international einheitlichen Bilanzierungsstandard brauchen. Zum anderen werden aber auch die Mängel in der Wirtschaftsprüfung deutlich. Es hat sich erneut als verhängnisvoll erwiesen, dass Prüfungsgesellschaften zugleich auch das lukrative Mandat als Unternehmensberater übernommen haben.
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      schrieb am 21.02.02 17:34:01
      Beitrag Nr. 12 ()
      The odds are against stock pickers

      By Paul Merriman



      Millions of investors think they, or somebody they hire, can successfully pick individual stocks.

      But this is a challenge that eludes even the best and brightest of investors -- for reasons that aren`t hard to find.

      Q. I keep reading about how great index funds are, but I know people who`ve beaten the market year after year by picking good stocks. It doesn`t take a rocket scientist to find great companies, invest in them and then hang on for the long term. Why don`t you and other advisers admit that index funds are only average?

      It`s inevitable that every year some stock pickers will beat the market. That`s a matter of random events, otherwise known as luck. But it`s rare to find anybody, including professionals, who can beat the market year after year.

      Only one mutual fund manager has beaten the Standard & Poor`s 500 Index every year since 1990: Bill Miller at Legg Mason Value Trust (LMVTX: news, chart, profile). Even Miller, one of the best stock pickers of our time, lost money in his fund in 2000 and 2001. And he lagged 95 percent of other value funds in 2000 and was beaten by 74 percent of them in 2001.

      Most mutual fund managers are highly compensated, highly motivated and backed by highly trained research staffs. These people are clearly some of the best brains in the country. You`d think they could succeed by picking the best companies and holding them.

      But if it were that easy, everybody would do it. Why isn`t it that easy?

      Changes that can`t be predicted are now common in American business. In 1957, there were 500 stocks in the Standard & Poor`s 500 Index. Forty years later, in 1997, only 74 of those companies were still in the index. The rest are gone. Some were merged into other companies, but many just couldn`t keep up with the rapid pace of change and were shoved aside by newer competitors.

      Now imagine that in 1957 you had somehow been smart enough to pick the 74 surviving companies and invested in them. Your results would have been disappointing: You would have underperformed the index by more than 20 percent, according to Richard Foster and Sarah Kaplan in their book, "Creative Destruction."

      Why? Perhaps it`s the luck of the draw. Of those 74 companies only a dozen outperformed the index from 1957 through 1998, according to these authors. That`s 12 companies out of 500, or 2.4 percent of the total, that were above average for 42 years.

      That, of course, is the past. Before these two business experts published their book last year, they looked into the future with a huge amount of knowledge and insight that wasn`t available in 1957. Their book focuses on "companies that are built to last." So their ideas might be useful to anybody trying to pick stocks today that will stand the test of time.

      Early in the book, Foster and Kaplan state that "no more than a third of today`s major corporations will survive in an economically important way over the next 25 years." Those survivors, they say, will have to be masters at re-creating themselves and their businesses.

      "Never again will American business be as it once was. The rules have changed forever," they wrote. "Some companies have made the crossing." The authors then cite four U.S. companies as examples of the new leaders: General Electric, Johnson & Johnson, Corning and Enron:eek:.

      Enron? Yes, Enron.

      The company that`s now the center of one of the largest corporate scandals in U.S. history "has made strong progress by transforming itself from a natural gas pipeline company to a trading company," the authors wrote. Of the four companies, they said, "These are the exceptions. Few have attempted the journey. Fewer still have made it to the other side successfully."

      This is not meant to pick on these authors. In fact, quite the contrary: They were working from the best information and insights they had. And in less than a year, one of their prime examples makes them look silly. The point is that picking tomorrow`s business winners is tougher than it seems, even with all the time and resources of experts writing a book.

      Investors who try to pick the best long-term investments run the risk of falling into the exact same trap.

      Investors can try to overcome this problem in many possible ways. The most common way is to try to pick the smartest stock pickers. But just as today`s most promising stock can become an embarrassment, today`s smartest stock-picking guru is likely to become tomorrow`s average manager.

      But the best way to overcome this problem is to accept the constantly changing nature of the business world. It`s easy and inexpensive to let the market itself do the work. The vehicle is a Standard & Poor`s 500 Index fund, the biggest of which is Vanguard 500 Index Fund (VFINX: news, chart, profile).

      In the case of Enron, the index automatically protected investors through a very basic technique: diversification. Even at its peak, Enron made up less than 2 percent of the index.

      Some people think the S&P 500 Index is only "average." But of the thousands of mutual funds in business, only one has beaten that index in each of the past 12 calendar years. That certainly makes the index good enough for me.
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      schrieb am 21.02.02 17:35:51
      Beitrag Nr. 13 ()
      Equities have benefit of history
      By Philip Coggan


      Equities outperform bonds over the long term. That principle is absorbed by modern investors with their mother`s milk.

      Historical analysis makes the figures crystal clear. The book Triumph of the Optimists, sponsored by ABN Amro and written by three academics from the London Business School (LBS)*, shows that equities have beaten bonds over the past century in all 16 countries studied. At the global level, equities have delivered an annualised real return of 5.5 per cent compared with just 1.2 per cent from bonds.

      But it is worth examining just why that outperformance has occurred. In most countries (the exceptions are South Africa, Australia, Germany and Italy) the outperformance was more marked in the second half of the 20th century than the first.

      This is hardly surprising, given that the first half of the century included two world wars and a great depression.

      The past 50 years have also seen two significant developments. The first was a worldwide surge in inflation, which had a devastating effect on bond portfolios. The second was the development of the "cult of the equity" as pension funds and insurance companies, having noticed the historical outperformance of shares, built up diversified equity portfolios.

      Part of the reason for the outperformance of equities has thus been their re-rating, both in absolute terms and relative to bonds, over the past 50 years. That suggests the need for caution about the scale of future outperformance by shares. Unless one is suggesting that equities will get a further relative re-rating, the gap between equity and bond performance is likely to narrow.

      At the world level, the LBS academics estimate that re-rating has added around 1.1 percentage points a year to equity returns, contributing about a quarter of equities` historic outperformance.

      A further element of return has come from unexpected good news - dividend growth has been higher than investors might have reasonably expected. This good news has added around 0.6 of a percentage point to the performance of equities worldwide (and a remarkable 1.6 percentage points in the UK).

      It would clearly be trusting much to luck to assume that such unexpected good news would continue in future, especially as analysts` forecasts for long-term profits growth are as high as they have ever been.

      Stripping out those factors and the annualised outperformance of global equities over bonds over the past 100 years has been around 2.9 percentage points (2 percentage points in the UK). The academics say that might be a reasonable expectation for future equity outperformance, a figure known in investment jargon as the equity risk premium.

      This looks quite a low figure to compensate investors for the very real risk of holding equities - a risk that has been amply demonstrated by the falling stock markets of the last two years.

      It also suggests that annualised nominal returns from equities will be around 7-8 per cent, much lower than the figures to which investors have become accustomed. Remember, also, that such a figure does not allow for any downward rating of equities, or for dividends to grow at a lower rate than investors are expecting.

      This low margin for error suggests that the ultimate heresy is possible - that bonds could outperform equities over an extended period. Jamil Baz, head of global fixed-income research at Deutsche Bank, has recently published a paper suggesting that the chance of US equities outperforming bonds over the next 20 years is just 37 per cent.

      Baz arrives at very similar figures for the equity risk premium as the LBS academics, albeit by a different route. He works on the old equation that the dividend yield plus the real dividend growth rate is equal to the real returnfrom equities. This return is therefore equal to the government bond yield plus the equity risk premium.

      Taking the dividend yield on the Standard & Poor`s 500 of 1.3 per cent, adding on a real dividend growth rate of 3.4 per cent (based on the 50-year average growth rate of the US economy) gives Baz an expected real return from equities of 4.7 per cent. Given that the real yield on US index-linked bonds is 3.5 per cent, that suggests an equity risk premium of 1.2 per cent.

      Even adjusting for share buy-backs and the possibly over-generous index-linked yield, Baz can only come up with an equity risk premium of 2.1 per cent.

      But equities are much more volatile than bonds. Once that factor is figured into the equation, Baz reckons it is more likely than not that US bonds will outperform over the next 20 years (and his conclusions also hold for UK and German government bonds).

      Could this be possible? Most of those involved in the investment industry would dismiss the idea out of hand. But the LBS study shows that 13 of the 16 countries analysed experienced 20-year periods when equities underperformed Treasury bills. And the UK may already be half way through such a sequence - over the 10 years to end-2001, the returns from equities and from long gilts were exactly the same - 11.6 per cent a year.

      At the very least, this suggests that the recent blind adherence to the cult of the equity needs to be questioned and that the strategic weighting of bonds in institutional portfolios should be increased.

      * Triumph of the Optimists: 101 years of global investment returns by Elroy Dimson, Paul Marsh and Mike Staunton, published by Princeton University Press, £69.

      Philip Coggan
      Avatar
      schrieb am 10.03.02 11:58:58
      Beitrag Nr. 14 ()
      Hier noch ein sehr interessanter Artikel zum Thema Indexing:


      The Future of Fund Management

      Is Conventional Wisdom Wrong?


      By Alan J. Brown, Group Chief Investment Officer, State Street Global Advisors


      Introduction
      It is a great pleasure to be with you today and an honour to have the opportunity of starting the conference with the keynote talk. I plan on using the next twenty minutes to introduce four short, and only loosely related, cameo pieces. My intent is to be somewhat provocative. I want to challenge what I believe are four generally accepted mantra and ask the question "Is Conventional Wisdom Wrong"?

      I will have succeeded if at least some of you are on the edge of your seats at the end ready and eager to dish out brickbats or bouquets, either way! The four questions I want to ask are:

      Is it time to stop indexing?

      Does tight tracking help investment performance?

      What really is the role of the consultant?

      And finally, should we go back to balanced management?

      Time is ticking away so lets get cracking.

      It is Time to Stop Indexing ….. It is Time to Go Passive!
      Is it time to stop indexing? For many clients, particularly the more sophisticated, the answer has to be yes. Instead, clients should go passive. I know you all thought that indexing was the same thing as passive management, but I have to come out of the closet and tell you that it isn`t, and I am not sure that it ever was.

      The ideas behind passive management laid out by Bill Sharpe in CAPM were very simple. The basic beliefs behind CAPM are that investors are rational, risk averse, and do not make persistent mistakes in their efforts to maximise utility. This basic belief in investor rationality, together with the assumptions that investors are price-takers in frictionless markets and have the same time horizon and expectations, leads us directly to the well-known and compelling CAPM conclusion that holding the market portfolio will maximise your expected (risk-adjusted) return. The assumptions behind CAPM may be an abstraction of reality but no one has come up with a better equilibrium asset pricing model.

      Beyond the theoretical foundations behind passive investing though, we have the empirical evidence that active managers find it difficult to outperform benchmarks, and we have the certainty that true passive management saves a lot in costs, both management fees and also turnover related expenses.

      When you take a look at indexing though you readily see that we have been getting away from the basic concepts behind passive management.

      First, passive management is supposed to be all about owning the world market portfolio in (float adjusted) capitalisation weights. It says nothing about making arbitrary distinctions between say, domestic and international equities, developed and emerging, or growth and value. All of these categorisations are implicitly suggesting that prices are not at equilibrium; they are in effect either inefficient expressions of an active view, or expressions of "prejudice" in favour of say, domestic assets.

      The Vodaphone/Mannesman acquisition highlighted one of the absurdities that can result. As Vodaphone acquired Mannesman, Mannesman`s capitalisation "migrated" from Germany to the UK. As UK institutional funds have a large domestic bias, managers "had" to increase their weight to Vodaphone. On the other hand, if Mannesman had acquired Vodaphone, the reverse would have been true, and yet the business of Vodaphone/Mannesman and all of its cash flows would have been exactly the same irrespective of whether it was listed in Frankfurt or London. Why would you want to own a different amount just on the basis of a security`s listing?

      The second area where indexing has got away from passive management is in the way index managers have to slavishly follow changes to the indices in order to minimise tracking variance. There is nothing in the principles of passive management that says that one person`s abstraction of the investable world is better than another. When the S&P500 committee makes a change to its constituents in order to ensure that it has 500 names in its index, or MSCI decides to exclude BMW in favour of Porsche, what has that got to do with owning the world market portfolio?

      Does Tight Tracking Help Investment Performance?
      This takes me to my second topic: Does tight tracking help investment performance? The answer has to be no, and the reason comes in two parts. The first is related to my indexing topic and the second to my follow on questions relating to consultants and balanced management.

      First things first.

      The growth in passive investing, the popularity of particular equity indexes, and acceptance of tracking variance as the primary, or sole indexing performance metric have all combined to create temporary intense liquidity demand when index providers change a popular index`s composition.

      Unusually high demand for securities that become new constituents in some popular equity indexes drives prices of those securities significantly higher. On average, prices of securities added to the S&P 500, FT or MSCI indexes rise 7% to 9%. Much of the average price appreciation reverses shortly after index additions become effective. Some price appreciation appears to be permanent.

      Index investors who demand minimum tracking relative to the S&P 500 and MSCI EAFE equity benchmarks give up an average of 10 - 20bp annually in wealth to achieve that goal. The cost of achieving minimum tracking variance is implicit in benchmark returns and is difficult to measure. Your manager may be spot on in terms of matching the index, but the index itself has paid the price as securities get included precisely at the moment of peak pricing pressure, closing price on the day of inclusion. The 10 - 20bp implied cost is effectively the price clients pay to have one very simple performance metric by which to judge their manager.

      Some of you will perhaps remember the admittedly unusual example of when Dimension Data was included in the UK indices. The stock, which had been trading at around £6, shot up to about £10 in the closing minutes and then sank back to where it had started a couple of days later. An index manager buying at the close would show no tracking error, whereas a passive manager who bought intelligently around the entry date would have some "out-performance" to explain away!

      For some, paying 10 - 20bp to keep life simple will be a price worth paying. For others, with a greater governance budget, assessing their passive managers under a somewhat more complex metric should build extra wealth to pay benefits.

      There are then just two key recommendations for those who really believe in passive management.

      First, throw away all arbitrary definitions. Simply decide on the broadest definition of the investable world that you feel comfortable with and buy the lot in (float adjusted) capitalisation weights.

      Second, lie back and think of England. Get real passive. Stop responding to other people`s changes to their particular representation of the world. Wherever possible be a provider, not a taker of liquidity.

      Our estimate is that doing just those two things will improve long-run returns by about 15bp for additional tracking error of around 30bp. 15bp of return may not sound much, but it compounds over time, and with only 30bp of associated noise, that is an information ratio of ½. Any consultant will tell you that an IR of ½ is a first quartile result.

      But what about the second reason for why tight tracking doesn`t help investment performance? Here I am particularly thinking about pension plans, but the same would be equally true of any long-term fund with liabilities to meet. These days, now that pension liabilities are re-valued in line with changes to market rates, we are finally getting to see what really matters, and in the grand scheme of things it isn`t the tracking error of your index fund, or even your active portfolios.

      1999 was nirvana for US pension plans. Interest rates rose so liabilities fell as they got discounted at higher rates. Meanwhile equity markets also rose. Result, ecstasy. Assets rose, liabilities fell and surpluses exploded. In 1999, GE took $1.38 billion through its P&L account from its pension plan. That`s real money. Of course, as we now know, 2000 saw exactly the reverse, yields fell so liabilities rose, and equities fell. Liabilities up, assets down and the surplus collapses. Result, as Mr Micawber knew all to well, misery.

      The question I ask is who was looking at the really important tracking error, the mismatch between assets and liabilities? It is all very well spending one`s governance budget on checking that your index fund is tracking to the last few basis points, and checking that your active managers have appropriate risk levels, but all of this is dwarfed by the thousands of basis points of risk taken by the fund in the mismatch between its assets and liabilities. Who is minding the store here and are those in charge focusing on this issue closely enough?

      I would suggest that consultants are well aware of the risks being taken and, in general, they have paid off handsomely for most of the last twenty years. I suspect that trustees, in general, and corporate management as well are much less well aware. And, if equities do go through a sustained period of poor performance as some fear, this issue will come centre stage very quickly indeed. The day the corporation finds that its contribution holiday is over is the day that management will sit up and take notice.

      What Really is the Role of the Consultant?
      This takes me neatly to my next topic: What really is the role of the Consultant? We all know what consultants do today. In the broadest sense they help those charged with managing long-term pools of assets to meet their fiduciary duties. More specifically, they carry out asset/liability studies, recommend implementation strategies and help in manager selection and monitoring.

      I suggest that the reason why Anglo Saxon pension plans have generally had a good last twenty years is because trustees, on the advice given by their consultants, took the decision to hold lots of things called equities. They implemented this in a way which pretty much guaranteed to give them a b of 1 to their benchmark and they hoped that their managers would give them some positive a. The result generally was that they captured the market`s risk premia but more often than not failed to get the positive added value promised.

      The credit then really should go to the funds and their consultants, not their portfolio managers. But what if equity markets prospectively have nothing like the same risk premia attached to them? Who then will manage this risk? As it stands, in reality it is the consultants who have that advisory role with the funds. But do they get paid for it and are they able to take responsibility for the end result? At least one well known consultant would say "no" to both questions and I agree with them. It remains to be seen though whether any funds will take up their offer to delegate this function to them at an appropriate price.

      But, if they don`t, most funds are ill equipped to take this on themselves and, currently, their managers are excluded from the process.

      Should We Go Back to Balanced Management?
      This takes me to my final topic: Should we go back to balanced management? This is not a facetious question, although you won`t be surprised to find that I don`t mean balanced management quite as it was carried out in the past. Indeed, we as a firm have benefited enormously from the move to specialist management, to core-satellite structures.

      It does seem to me though that the only alternative to consultants taking more direct responsibility for strategic asset allocation and the management of the mismatch between assets and liabilities, is for fund managers to do so. Now I am not suggesting here that fund managers take over the existing turf of the consultants, but I am saying that they have significant knowledge and expertise that should be brought to bear on this the most critical issue that any long-term fund in reality faces.

      If managers were to be involved here, it could happen in a couple of ways. First, it would be possible merely to include one or more managers with the consultant in discussion with the fund.

      But a more radical alternative would be to give a manager a mandate of managing a portfolio of assets and liabilities, with the express goal of managing the surplus. A mandate of this form would have some natural attractions.

      First, the mandate would now directly reflect the real goal of the fund. Trustees should not necessarily be interested in whether assets go up or down. They should be interested in whether they go up faster than the liabilities, or go down more slowly.

      A mandate of this type would also lend itself to linking the reward of the manager to whether or not the fund is successful. No longer would a manager be paid more just because asset values went up. Higher remuneration would only come if the surplus grew.

      Now there would be many issues to be addressed before anyone in reality would want to go down this route. All sorts of limits would have to be agreed to eligible assets for investments, exposure limits both long and short, but none of these should be insurmountable.

      And this mandate is one which is inherently balanced, at least in the sense that it is multi-asset class. The liabilities represent basically a short exposure to fixed income and the assets would presumably, at a minimum, have to include the possibility of owning both fixed income, a natural hedge to the liabilities, and equities.

      Conclusion
      So what am I saying? I am trying to make four points, each of which I think goes against conventional wisdom.

      First, I am saying that indexing isn`t really passive investing and probably never was, useful though it might be. For those who really buy in to the idea of passive management, it is time to get rid of artificial distinctions such as domestic and international. It is time to stop chasing every index change. Instead, pick a broad reference index, cap-weighted and float-adjusted, and go own the world. Be a provider not a taker of liquidity.

      Second, while it is fine to monitor tracking errors in index funds and risk levels in active funds, let`s not take our eye off the main event, the tracking error between the fund`s assets and its liabilities.

      And if you agree that this really is the most important issue that a fund faces and that most funds are not set up to handle this well, then it is time do something about it.

      That something could be to expand the role of the consultant and maybe involve the managers in an advisory process as well. This is the route that Watson Wyatt have talked about, and I think they are right that if a fund were to actually delegate this decision to them then the reward system needs to change too.

      An alternative, not necessarily mutually exclusive, would be to actually give out mandates to managers which directly address the real problem a pension fund faces: managing the surplus of assets over liabilities, and this is a multi-asset class problem.

      Enough. I hope that I have provoked enough interest to have a brickbat or bouquet or two launched at me in the five minutes we have left for questions. Thank you.

      The information contained in this speech does not constitute investment advice and it should not be relied on as such. It should not be considered a solicitation to buy or an offer to sell a security. It does not take into account any investor`s particular investment objectives, strategies, tax status or investment horizon. Past performance is no guarantee of future results. We encourage you to consult your tax or financial advisor. The views expressed are the views of Alan Brown only through the period ended February 7, 2002 and are subject to change based on market and other conditions.

      February 7, 2002


      M.f.G. thomtrader
      Avatar
      schrieb am 04.04.02 18:18:50
      Beitrag Nr. 15 ()
      The Value Line Anomaly &
      "Implementation Shortfall"
      Value Line is a service that ranks stocks from 1 to 5 for timeliness. As a group, each rating has historically outperformed the next lowest rated group (the ones have outperformed the twos, which outperformed the threes, etc.). The impressive performance of the rating system led many to refer to it as the "Value Line Anomaly" or the "Value Line Enigma."

      Some researchers have argued that Value Line`s outperformance resulted from their use of earnings surprises and price momentum while others have suggested that the model portfolio`s outperformance resulted from assuming higher risk. Regaining the Edge is an article in Worth magazine (2/97) about Value Line`s recent performance and its new strategy.

      The initial Value Line results were so impressive that Value Line was the subject of a complimentary 1973 article in the Financial Analysts Journal by highly respected economist Fischer Black titled "Yes, Virginia, There is Hope: Tests of the Value Line Ranking System." In the article, Black confessed that previously he had been a strong believer in the efficient market hypothesis and passive management. Yet his research of Value Line`s rating system, confirmed that the system did produce significant excess returns over a five year period. Excess returns would have resulted even after taking two percentage points out for round trip transactions costs (turnover in the rankings is high).

      In an attempt to match the returns of the top rated stocks, Value line established a mutual fund. The results of the Value Line Centurion fund (which invested in 100 Group 1 stocks and the top 100 of 300 Group 2 stocks) may serve as an important lesson for investors. Not only didn`t the real-money fund keep pace with the paper returns from the top rated stocks (which continued to outperform on paper), it didn`t even outperformed the market. On the other hand, Value Line continues to be one of the highest ranked newsletters by the Hulbert Financial Digest which does account for costs.

      According to David J. Leinweber ("Using Information From Trading in Trading Portfolio Management," The Journal of Investing, Summer 1995), from 1979 to 1991, the ValueLine paper portfolio had an annualized return of 26.2%, but the real ValueLine fund had an annualized return of only 16.1%. In other words, while Value Line seems to have an ability to pick stocks well, the paper returns weren`t realizable by the mutual fund (and likely Value Line subscribers). As Robert S. Salomon Jr. states in Value Line`s self-defeating success" (Forbes - 6/15/98), "Value Line`s rankings are a prisoner of their own success: They work so well that too many people try to act on them."

      Some have theorized that the failure of the Value Line fund to keep up with the model portfolio demonstrates what is known as "implementation shortfall." Transactions costs can significantly reduce returns particularly in portfolios with high turnover. Investors must also account for the bid-ask spread and mutual funds typically have the added burden of not being 100% invested because of the need to maintain cash reserves. Its also important to note that a court order in the 1960`s mandated a delay between publication of Value Line rating changes and trading in the portfolio. Investors may interpret this as an example of how difficult it may be to profit from an anomaly.

      The term "Implementation Shortfall" was coined by Andre Perold. Perold has written extensively on implementation shortfall and how to measure it. Strategies that seem to offer an investor an advantage may not work in real world conditions because of transactions costs and other costs. Perold has also argued that the larger a portfolio is, the harder it is to exploit any informational advantage. Plexus Group is a consulting firm that specializes in these issues and advises institutional investors on controlling costs. The Plexus Group web site includes further information on the topic.

      The difference between paper portfolios and real-money portfolios is an entirely seperate issue from the question of whether past outperformance will continue in the future. Investors that attempt to implement strategies going forward based on back-tested models must deal with both "implementation shortfall" and the performance persistence issue. Strategies that continue to outperform with real money after being initially discovered via back-testing are perhaps the exception rather than the rule.


      M.f.G. thomtrader
      Avatar
      schrieb am 04.04.02 18:25:19
      Beitrag Nr. 16 ()
      Data Mining
      The rapid evolution of computer technology in the last few decades has provided investment professionals (and amateurs) with the capability to access and analyze tremendous amounts of financial data. Additionally, the world wide web, email, and bulletin boards make it possible for people around the globe to access this information quickly, as well as providing a means for individuals to voice their opinions and interact. As a result, some of the more intriguing topics of debate in recent years have revolved around the practice and consequences of "data mining."

      Data mining involves searching through databases for correlations and patterns that differ from results that would be anticipated to occur by chance or in random conditions. The practice of data mining in and of itself is neither good nor bad and the use of data mining has become common in many industries. For instance, in an attempt to improve life expectancy researchers might use data mining to analyze causes and correlations with death rates. Data Mining is also used by advertisers and marketing firms to target consumers. But possibly the most notorious group of data miners are stock market researchers that seek to predict future stock price movement. Most if not all Stock Market Anomalies have been discovered (or at least documented) via data mining of past prices and related (or sometimes unrelated) variables.

      When market beating strategies are discovered via data mining, there are a number of potential problems in making the leap from a back-tested strategy to successfully investing in future real world conditions. The first problem is determining the probability that the relationships occurred at random or whether the anomaly may be unique to the specific sample that was tested. Statisticians are fond of pointing out that if you torture the data long enough, it will confess to anything.

      In what is becoming an infamous example David Leinweber went searching for random correlations to the S&P 500. Peter Coy described Leinweber`s findings in a Business Week article titled "He who mines data may strike fool`s gold" (6/16/97). The article discussed data mining, Michael Drosnin’s book The Bible Code (much more on this topic later), and the fact that patterns will occur in data by pure chance, particularly if you consider many factors. Many cases of data mining are immune to statistical verification or rebuttal. In describing the pitfalls of data mining, Leinweber "sifted through a United Nations CD-ROM and discovered that historically, the single best predictor of the Standard & Poor`s 500-stock index was butter production in Bangladesh." The lesson to learn according to Coy is a "formula that happens to fit the data of the past won`t necessarily have any predictive value."

      Back testing has always been a suspect class of information . . . When you look backwards, you`re only going to show what`s good.

      Barry Miller (SEC) in What`s the Stock Market Got to Do with the Production of Butter in Bangladesh? from Money (March 1998)
      Anomalies discovered through data mining are considered to be more significant as the period of time increases and if the anomaly can be confirmed in out of sample tests over different time periods and comparable markets (for instance on foreign exchanges). If an anomaly is discovered in back tests, its also important to determine how costs (transactions costs, the bid-ask spread, & impact costs for institutional traders) would reduce the returns. Some anomalies are simply not realizable. See the value line anomaly and implementation shortfall for more on this topic. Additionally, strategies that have worked in the past may simply stop working as more investors begin investing according to the strategy. See the Efficient Market Hypothesis for more on this topic.

      The Motley Fool has been praised by many for offering educational advice to individual investors (for instance, the Motley Fool offers sound recommendations in advising investors to buy and hold stocks, to be wary of stock brokers and analysts conflicts of interest, and to be wary of unrealistic performance claims). But the Motley Fool’s "Foolish Four" stock strategy and its underlying rationale have drawn criticism.

      In 1997, BYU Professors Grant McQueen and Steven Thorley coathored a paper in the Financial Analysts Journal (FAJ) that questioned the immensely popular Dogs of the Dow Strategy (Abstract). Having already gathered the data to analyze the Dow Dogs, the Professors followed up by making a case study in data mining out of the Motley Fool’s Foolish Four. McQueen and Thorley analyzed the Foolish Four as described in The Motley Fool Investment Guide (MFIG), but the Fools actually have multiple variations of the Foolish Four (See also the Foolish Four explained and Foolish Four History). That research resulted in another article published in the March/April 1999 issue of the Financial Analysts Journal titled "Mining Fool`s Gold." In the spirit of the Fool`s entertaining and creative writing style, the professors have posted a "lighthearted" version of the paper (in Wordperfect) on the BYU server. The data used in the study can be downloaded here.

      McQueen and Thorley include a full explanation of the potential pitfalls of data mining and they conducted out of sample tests on the Foolish Four. The Professors reason that data mining can be detected by the complexity of the trading rule, the lack of a coherent story or theory, the performance of out-of-sample tests, and the adjustment of returns for risk, transaction costs, and taxes. Additionally, they argue that the Foolish Four and Dow Ten trading rules have become popular enough to impact stock prices at the turn of the year.

      The Motley Fool has posted a spirited response to the FAJ paper in their Foolish Four portfolio reports which are accessible in their 1999 archives. See reports dated 5/10, 5/11, 5/12, 5/13, 5/14, 5/17, 5/18, 5/19, 5/20, and 5/21. Included in these responses are several counter arguments to the FAJ paper and as well acknowledgements of valid issues discussed in the paper.

      While many of the issues are debatable, the real acid test and critical finding of the FAJ paper was an out of sample test for the Foolish Four returns from 1949 to 1972. For that period the Foolish Four barely beat the Dow 30 by an average of 0.32% per year with substantially more risk. Not only did the strategy underperform the Dow Dogs for the period, but after transactions costs and accounting for risk it clearly would have lagged the DJIA for the period. This critical issue was discussed briefly in the report dated 5/14.

      To put this issue in perspective, consider an investor at the start of 1973 looking back at the DJIA performance over the preceding 24 years. It`s difficult to rationalize how an investor could have known at that time that the Foolish Four would produce market beating returns going forward.

      In another out of sample test, McQueen and Thorley used the base 1973 -1996 period discussed in MFIG, but used July for rebalancing rather than January. Under those conditions the Foolish Four returns beat the DJIA by only 2.95% per year on average, substantially lower than the 12.23% advantage over the DJIA with January rebalancing.

      In defense of the Fools, several disclosures were at least made in MFIG and on the web site. In the Foolish Four report dated 8/7/98, they disclose that returns were lower when rebalancing occurred in months other than January. Additionally, in MFIG a 25.5% return figure from a twenty year period is used many times, but they do at least mention that they researched the numbers back to 1961 and for the longer time period, the returns dropped to 18.35%. On the other hand, once it is disclosed that a longer period of time was studied, continuing to cite the stronger shorter term numbers and basing arguments on that data certainly can be viewed as suspect. Disclosing and focusing on longer term results tends to increase the credibility of a data miner`s argument.

      Jason Zweig voices his opinion of the Foolish Four and shares his own data mined "Very Stupid" and "Extra Dumb" portfolios in False Profits from Money magazine (August, 1999). On the Morningstar web site you can also read John Rekenthaler`s opinion in Just foolin’ around as well as Investment Advisor William Bernstein`s opinions in an article titled Mined: All Mined (see also James O`Shaughnessy`s response and the ensuing debate). Of course, predicting the future is a perilous business and we`ll just have to wait and see whether the Foolish Four outperforms the DJIA and/or the Dogs of the Dow in the future.

      Moving on to another data mining debate, William Brock, Josef Lakonishok, and Blake LeBaron (BLL) published an article titled "Simple Technical Trading Rules and the Stochastic Properties of Stock Returns," in the December 1992 edition of the Journal of Finance. The study is one of the few academic papers to document a successful trading strategy based on technical analysis (See Technical Anomalies for a complete discussion of the article). The Professors demonstrated that both moving averages and support and resistance tools had predictive value relative to the Dow Jones Industrial Average for the period from 1897-1986.

      Data-Snooping, Technical Trading Rule Performance, and the Bootstrap is an article that revisits the BLL paper and will appear in the October 1999 Edition of Journal of Finance. In the article, Ryan Sullivan, Allan Timmermann, and Halbert White (STW) attempt to determine the effect of Data-Snooping on the BLL results. They also use data collected from the period following the original study (BLL data ran through 1986) in order to provide an out of sample test. Adding the recent years provided a full 100 years of data. STW calculated a break even transaction cost level of 0.27% percent per trade for the best performing trading rule for the full period.

      Since the original BLL data covered an extremely long period of almost 90 years, one might expect the strategies to perform well in the out of sample tests. But the study`s conclusions may end up being used as another potential example of the Efficient Market Hypothesis. STW found "that the results of BLL appear to be robust to data-snooping . . . However, we also find that the superior performance of the best trading rule is not repeated in the out-of-sample experiment covering the period 1987-1996" and "there is scant evidence that technical trading rules were of any economic value during the period 1987-1996." This may offer another caveat for stock market data miners and active investors. Even if an anomaly worked in the past over very long periods of time, and even if results do not appear to suffer from the pitfalls of data snooping, once the anomaly is discovered it may cease to work going forward.

      Reasonable people can have a reasonable difference of opinion without it becoming an issue of ethics or faith.

      Leigh Steinberg in Winning With Integrity
      As interesting as the Foolish Four and Technical Analysis debates are they take a back seat to the international debate that was ignited in 1997 with the release of Michael Drosnin’s controversial best seller "The Bible Code." The book itself has been criticized and dismissed by many mathematicians and professionals including Ronald Kahn of BARRA (see Bible Code Review and Data Mining is Easy). Kahn offered four guidelines for back-testing integrity (Intuition, Restraint, Sensibility, and Out-of-sample testing) and argued that the book ignores all four of those guidelines.

      The serious debate quickly moved from the book to a study that was included in the book and is cited as proof that the codes exist. The study titled Equidistant Letter Sequences in the Book of Genesis (HTML version) by Doron Witztum, Eliyahu Rips and Yoav Rosenberg was originally published in the August 1994 issue of the respected journal Statistical Science. At the time The Bible Code was released, the study had not been challenged. Interestingly, the authors of the study quickly distanced themselves from the book and rejected some of Drosnin`s claims. For instance, see Doron Witztum on Drosnin`s Book and Eliyahu Rips` Statement. The codes research had been publicized to attempt to bridge apparent contradictions between the Bible and science (for instance, another interesting article in this context is The Age of the Universe). And codes research was the subject of much media attention including a Wall Street Journal article. But before long, the spotlight resulted in serious challenges to the original study.

      When the study was originally published, Statistical Science Editor Robert Kass wrote that the "referees were baffled" by the results of the study and the fact that the effects persisted through additional analyses and checks. The article was thus included in the journal as a "challenging puzzle." Brendan McKay, Dror Bar-Natan, Maya Bar-Hillel, and Gil Kalai think they have refuted the original study and their article Solving the Bible Code Puzzle (in Adobe Acrobat or here) appears in the May 1999 issue of Statistical Science.

      The debate is emotionally charged and involves many complicated statistical factors, translation issues, and other complex considerations. The original Statistical Science study authors and the critics continue to produce commentary, criticisms, responses, as well as new research, and the debates continue. The critics are even circulating a Mathematicians` Statement on the Bible Codes (maintained by Barry Simon) that includes signatures of mathematicians who are not convinced that the Codes theory is valid. The statement is careful to note that among the signatories "are some who believe that the Torah was divinely written." Additional links are included at the bottom of this article for those interested in seeing more on the codes debate, including articles critical of the original study as well as responses from the original study authors.

      Returning to the financial world, Alarming Efficiency (RR) from Dow Jones Asset Management (5-6/99) is an interesting article that discusses data mining and the problem of "overfitting." Included are comments from investment industry veterans David Shaw, Ted Aronson, and Robert Arnott. The article argues that given a finite amount of historical data and an infinite number of complex models, uninformed investors might be lured into "overfitting" the data. Patterns that are assumed to be systematic may actually be sample-specific and therefore of no value.

      People are coming to us all the time with trading strategies that reportedly make very large excess returns . . . But the vast majority of the things that people discover by taking standard mathematical tools and sifting through a vast amount of data are statistical artifacts.

      David Shaw in Alarming Efficiency (RR) from Dow Jones Asset Management (5-6/99)
      Aronson argues that the market is "nearly totally efficient" and that "You`re fooling yourself if you think you`ll outguess the other guy by more than about 51% or 52% of the time." Aronson believes that investors searching for market inefficiencies have reduced the potential to profit from those anomalies to the equivalent of transactions costs. If that is the case, minimizing transactions costs is critical in attempting to beat the market.

      So are there any anomalies that have been confirmed in out of sample tests? In another forthcoming Journal of Finance article, James L. Davis, Eugene F. Fama, and Kenneth R. French argue that the answer is a definite yes. Companies with low price to book value ratios outperform and the pattern has been documented in both US and foreign markets. In Characteristics, Covariances, and Average Returns: 1929 to 1997 the authors go a big step further in documenting returns of low price to book value stocks from 1929 to 1963. For the earlier period, the value premium was even larger (.50% per month) than the more recent July 1963 to June 1997 period (.43% per month).

      In the end, do we ever really know for sure what strategies will outperform in the future? Opinions on that question definitely vary, but the standard disclaimer applies as always. Past performance is no guarantee of future performance.




      ___________________________________________________________

      Die letzten beiden Artikel rufen wieder in Erinnerung das einem an der Börse nichts geschenkt wird. Wer denkt das er die Börse schlagen kann ohne sein Hirn einzuschalten der steht auf verlorenen Posten. Sollte nur ein Hinweis an alle Backtester, O´Shaugnessyanhänger, Wunderfondskäufer und an sonstige Lemminge sein.


      M.f.G. thomtrader
      Avatar
      schrieb am 29.04.02 19:21:36
      Beitrag Nr. 17 ()
      Ein Dauerabonnement auf Erfolg gibt es nicht

      Kolumne von Marc Faber(20. 12. 1999)



      Langfristigkeit gilt durchweg als wichtiger Erfolgsfaktor bei Finanzanlagen. Gerade jetzt zur Jahrtausendwende liegt es nahe, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, um die Rentabilität von verschiedenen Anlagen in die richtige Perspektive zu stellen.

      Nehmen wir einmal an, dass wir im Jahre 1000 einen Dollar oder eine andere gleichwertige Währungseinheit zu fünf Prozent mit Zinseszinsen angelegt hätten. Heute wäre dieser eine Dollar auf 1546 Quintillionen (eine 1 mit 30 Nullen) angewachsen. Würde diese Summe wiederum zu einem Zins von sechs Prozent angelegt, ergäbe sich jährlich eine Rente von 93 Quintillionen, eine Zahl, die etwa vier Millionen mal größer als das aktuelle Weltsozialprodukt von rund 25 Billionen Dollar ist. Schon diese kurze Rechnung zeigt, dass über lange Zeiträume eine Rendite von jährlich auch nur fünf Prozent völlig unrealistisch ist. Reichtum, Ersparnisse und Investitionen wurden in der Vergangenheit wiederholt von Naturkatastrophen, Kriegen, Enteignungen, Steuern, Hyperinflationen, Staatsbankrotten, Konkurrenz und der kreativen Zerstörung auf Grund technischen Fortschrittes total zerstört.

      Das heißt aber nicht, dass es im Laufe der letzten 1000 Jahre keine glänzenden Anlagemöglichkeiten gegeben hätte. Im Gegenteil, es gab immer wieder hoch gewinnbringende Anlagen, dies vor allem nach den Entdeckungsreisen am Ende des 15. Jahrhunderts und mit dem Anbruch der Industriellen Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Aber bis heute haben alle glänzenden Anlagen nur temporär große Gewinne abgeworfen und die Prüfung des sehr langfristigen Zeitraums nicht bestanden.

      Dies gilt selbst für die Eroberung Mexicos durch Cortez und die des Inka-Reiches durch Francisco Pizzaro, die durchaus zu den historisch lukrativsten Investitionen gezählt werden können. Insbesondere wies Pizarro eine gewaltige Arbeitsproduktivität auf, nachdem er den Inka-Halbgott Atahuallpa mit nur 168 Soldaten besiegt hatte und dafür nicht nur ein großes Zimmer voll Gold in Besitz nahm, sondern auch die Silberminen von Potosi, die im 16. Jahrhundert die Welt mit gewaltigen Mengen an Silber versorgten. Die hohen Gewinne, die Spanien aus diesem Unternehmen zog, waren jedoch kurzfristiger Natur. Zwischen 1535 und 1560 nahmen die Gold- und Silber-Zuflüsse nach Spanien rasch zu und führten in Spanien zu einem gewaltigen Boom. Als dann aber, die Edelmetalllieferungen nicht mehr stiegen und später zu fallen begannen, musste die spanische Krone mehrmals den Bankrott erklären, und der Boom wurde durch eine Depression abgelöst, von der sich das Land nie wieder voll erholte.

      Auch die Industrielle Revolution im letzten Jahrhundert versprach gewaltige Gewinne. Wiederholt kam es zu wahren Anlagemanien etwa bei Baugesellschaften, Banken, Plantagen oder Elektrizitätsgesellschaften. Aber alle diese Anlagen brachten nur temporär große Gewinne mit sich. Der wahrscheinlich erfolgreichste Kanal beispielsweise, der im Jahre 1825 fertiggestellte Erie-Kanal, litt mit der Zeit unter der Konkurrenz von Eisenbahnen, und die Eisenbahnen wurden ihrerseits von dem Automobil verdrängt.

      Und auch im 20. Jahrhundert haben sich die jeweiligen Wachstumsindustrien allenfalls zeitweise erfolgreich erwiesen. Tatsächlich scheint es ein eisernes Gesetz, dass übermäßige Renditen nur in einem mehr oder minder kurzen Zeitraum möglich sind. Langfristig haben die Konkurrenz von Nachahmern oder neuen Erfindungen, Preiskontrollen und andere Staatsinterventionen, oder die mit Fortschritt unvermeidliche technologische Veraltung die Renditen verringert oder ganz eliminiert. Zudem kam auf jedes erfolgreiche Unternehmen eine Vielzahl von erfolglosen Gesellschaften.

      Die einzigen "Unternehmungen", die sich über tausende von Jahren bewährt haben, waren paradoxerweise "Gesellschaften", die ihr "Geschäft" nicht auf das Materielle aufbauten: die großen Religionen Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus. Und von ihnen gibt es keine Aktien.
      Avatar
      schrieb am 29.04.02 19:22:30
      Beitrag Nr. 18 ()
      22. April 2002, 03:06, Neue Zürcher Zeitung


      Sind Aktien Obligationen wirklich überlegen?
      Grosse Bedeutung des Einstiegszeitpunkts
      Seit einiger Zeit herrscht allgemein die Ansicht vor, dass Aktien langfristig eine höhere Rendite abwerfen als Obligationen. Es wird argumentiert, auf lange Sicht spiele der Einstiegszeitpunkt dabei keine Rolle. Empirische Untersuchungen zeigen jedoch, dass es sehr wohl darauf ankommt, wann ein Anleger sein Kapital investiert. (Red.)


      Von Dr. Heinz Schiltknecht, Henrich Datel und Stacho Mudrak*

      Seit gut zehn Jahren dominiert in den Medien die Ansicht, dass Aktien Obligationen vorzuziehen seien. Als eines der Hauptargumente wird angeführt, mit Aktien könne langfristig eine höhere Rendite erwirtschaftet werden. Mit grafischen Darstellungen wie der folgenden wird die Überlegenheit von Aktien «bewiesen»:

      Die Kurve «Aktien» stellt den Index des S&P 500 Composite auf der Basis einer Investition von 100 anno 1915 dar, während die «Obligationen»- Kurve den Indexstand eines Bondportfoliowertes wiedergibt. Dieses Portfolio entstand aus einer Basisinvestition von 100 sowie der konstanten Anlage der Zinszahlungen in den US-10-year Bond (Constant Maturity Yield). Betrachtet man diese beiden Kurven, so scheint klar zu sein, dass Geldanlagen in Obligationen keinen Sinn machen - jedenfalls für den Fall, dass die Geldanlage vor mehr als 85 Jahren getätigt wurde und das Geld erst heute zur Rückzahlung kommt.

      Zeitpunkt der Investition entscheidend
      Für die Bewertung einer Anlageform müssen jedoch der Zeitpunkt der Anlage (Anfangsjahr) und die beabsichtigte Anlagedauer (Planungshorizont) berücksichtigt und getrennt voneinander betrachtet werden. Der Einfluss beider Faktoren auf die Wertentwicklung von Aktien- und Obligationenportfolios wurde im Rahmen einer langfristigen Studie eingehend und systematisch untersucht. Ausgehend von einem Anfangsjahr wurde die Rendite von Aktien und Obligationen nach unterschiedlichen Planungshorizonten von 3, 5, 10 oder 20 Jahren berechnet. Bei Aktien wird im jeweiligen Anfangsjahr eine Investition von 100 getätigt. Die Rückzahlung erfolgt nach dem Planungshorizont in der Höhe, welche dem Stand des S&P 500 Composite entspricht. Aus der Investition und der Rückzahlung wird der interne Zinsfuss (IRR) der Investition berechnet.

      Im Falle der Obligationen wird im Anfangsjahr eine Investition von 100 in den US-10-year Bond getätigt. Alle Zinszahlungen werden wieder in den gleichen Bond investiert. Am Ende des Planungshorizonts wird das gesamte, bis dahin entstandene Bondportfolio nach finanztechnischen Regeln bewertet und «verkauft». Aus der Investition und dem Erlös wird der interne Zinsfuss (IRR) der Investition berechnet. Dabei ist zu beachten, dass alle Analysen ohne Berücksichtigung der Steuern gemacht wurden. Bei Obligationen hat man eine direkte Rendite, die Privatpersonen nicht, aber z. B. Pensionskassen versteuern müssen. Daher sind die folgenden Aussagen nicht direkt auf Privatpersonen anwendbar. Die Bedeutung des Anfangsjahres wird zunächst exemplarisch für einen Planungshorizont von 20 Jahren verdeutlicht. Hier ergibt sich das folgende Bild:

      Der Mittelwert (µ) der Rendite bei den Aktien beträgt 5,82%, bei den Obligationen wird im Mittel eine Rendite von 4,75% erzielt. Die Standardabweichung () - die Streuung der Rendite um den Mittelwert - bei den Aktien beträgt 3,99%, gegenüber 2,57% bei den Obligationen. Dies spricht trotz höherem Risiko zunächst für eine Anlage in Aktien. Betrachtet man jedoch die Anzahl der Fälle (Anfangsjahre), in denen Aktien nach 20 Jahren eine höhere Rendite als die Obligationen erwirtschafteten, so erhält man ein erstaunliches Resultat: In nur 51% aller Fälle war in der Vergangenheit die Aktienrendite höher als die der Obligationen.

      Keine signifikanten Renditeunterschiede
      Das in der hohen Standardabweichung ablesbare Anlagerisiko bei den Aktien gab Anlass, mit Hilfe von drei unterschiedlichen statistischen Tests zu prüfen, ob die Mittelwerte, d. h. die durchschnittlich erwirtschaftete Rendite der Aktien und der Obligationen, überhaupt signifikant unterschiedlich sind. Diese Untersuchung führte zu einem weiteren erstaunlichen Ergebnis: Statistisch gesehen gibt es keinen Unterschied zwischen der durchschnittlich erreichten Rendite der Aktien und derjenigen der Obligationen.

      Deshalb ist die Frage berechtigt, warum Obligationen gegenüber Aktien einen schlechteren Ruf haben. Historisch betrachtet ist es nämlich ein reiner Zufall, wenn Aktien oder Obligationen über einen bestimmten Zeitraum eine bessere Performance erreichten; ausschlaggebend war letztlich immer nur das Startjahr.

      * Dr. Heinz Schiltknecht, Henrich Datel und Stacho Mudrak arbeiten bei der Math Consulting Group AG.


      M.f.G. thomtrader
      Avatar
      schrieb am 30.04.02 03:09:01
      Beitrag Nr. 19 ()
      Avatar
      schrieb am 13.05.02 18:42:12
      Beitrag Nr. 20 ()
      Pensionspläne gefährden Dax-Werte

      Quelle Handelsblatt


      jab/tmo DÜSSELDORF/FRANKFURT/M. Seit der Pleite des US-Energieriesen Enron suchen Analysten fieberhaft nach verdeckten Risiken in den Firmenbilanzen. Die Strategen der Privatbank Sal. Oppenheim wurden fündig: Nach ihren Angaben klafft bei einigen Titeln im Deutschen Aktienindex (Dax) eine Lücke zwischen Pensionsverpflichtungen und dem aktuellen Wert der dafür vorgesehen Mittel.

      „Hier gibt es ein Problem, das bislang nicht am Markt diskutiert wird“, sagt Oppenheim-Stratege Ralf Zimmermann. Die Lage könnte sich noch verschärfen. Denn mancher Konzern rechnet sich bei der Pensionsvorsorge mit gewagten Renditezielen reich. Sollten sich die Vermögensanlagen schlechter entwickeln als geplant, dann müssen die Firmen mehr Mittel ertragsmindernd zurücklegen. Das könnte die Aktienkurse von Siemens, Infineon und Fresenius Medical Care (FMC) drücken. Denn der Anpassungsbedarf dürfte viele Anleger böse überraschen.

      Wie gravierend die Schieflage ist, hängt vom künftigen Börsentrend ab. Denn ein Gutteil der für Pensionszahlungen vorgesehenen Mittel ist in Aktien angelegt. „Steigt der Dax wieder, dann wächst auch das Vermögen der Pensionsfonds“, sagt Professor Wolfgang Förster, geschäftsführender Gesellschafter der auf Vorsorge- und Vergütungsfragen spezialisierten Unternehmensberatung Dr. Dr. Heissmann. Andernfalls müssten einige Konzerne ihre Pläne korrigieren.

      Brisant ist die Lage laut Oppenheim bei Siemens. Zum Bilanzstichtag Ende September 2001 fehlten dem Elektrogiganten 3,988 Mrd. Euro im Pensionsfonds. Der Grund: Die Wertentwicklung der Fondsgelder blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Die Lücke ist im Ergebnis nicht berücksichtigt. Hätte der Konzern sie auf einen Schlag schließen müssen, wäre der Gewinn pro Aktie in den Keller gegangen: Aus einem geschätzten Plus von 2,62 Euro wäre ein Minus von 1,61 Euro geworden, so Zimmermann. Siemens will den Fehlbetrag künftig jährlich neu ermitteln und in kleinen Schritten von 63 Mill. Euro je Quartal abschreiben.

      ....Lebensversicherer stellen ihren Kunden nur 6 bis 7 % Rendite in Aussicht. „Bei einem Anhalten der Niedrigzinsphase und einem eher moderaten Wachstum der Aktienmärkte dürfte diese Größe auch für Pensionskassen gelten“, sagt Vorsorge-Experte Förster. Einige Konzerne wollen jedoch weit besser abschneiden. Analyst Oliver Wojahn von der Berenberg- Bank findet solche Prognosen denn auch „ziemlich ambitioniert“. Erweisen sich die Renditeziele als zu optimistisch, drohen den Firmen höhere Aufwendungen. Und die drücken den Gewinn. Gefährdet sind vor allem Dax- Firmen, die nach US-Regeln (US- GAAP) bilanzieren. Denn diese müssen laut Oppenheim eine bestehende Lücke schließen, sobald sie als „dauerhaft“ gilt. Bislang klassifiziert zum Beispiel Siemens seine Milliardenlücke nur als kurzfristig. „Doch wenn man die Differenzen weiter als nicht dauerhaft einordnen will, muss man das schon sehr gut begründen“, sagt Zimmermann.

      Womöglich haben die genannten Firmen aber nicht einmal die größten Probleme. Nur Dax-Firmen, die nach US-GAAP-Regeln bilanzieren, müssen detailliert über das Verhältnis der Pensionsverpflichtungen zu den dafür vorgesehenen Mitteln informieren – rund ein Drittel der Index-Mitglieder. Bei vielen anderen können Außenstehende eine drohende Pensionslücke kaum erkennen. Somit drohen Anlegern möglicherweise neue, böse Überraschungen – und zwar dort, wo es derzeit niemand erwartet.



      Diese Probleme dürften die amerikanischen Firmen in noch viel größeren Dimensionen besitzen. Die dort immer noch praktizierte "Kreative Buchhaltung" hat inzwischen einige Leute aufgeschreckt. Man findet immer mehr Stellungnahmen zu diesen ungeheuerlichen Vorgängen.

      Die Aktienmärkte werden davon nicht unbeeinflusst bleiben.

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      Erwähnen möchte ich noch das japanische Firmen meiner Meinung nach, vor mindestens ebensolchen Pensionsproblemen stehen wie die amerikanischen Firmen.


      "....Lebensversicherer stellen ihren Kunden nur 6 bis 7 % Rendite in Aussicht. „Bei einem Anhalten der Niedrigzinsphase und einem eher moderaten Wachstum der Aktienmärkte dürfte diese Größe auch für Pensionskassen gelten“, sagt Vorsorge-Experte Förster"

      Ich meine das man eher mit 5% sowohl für LV als auch für die Pensionskassen rechnen sollte! Sollten allerdings Aktien sehr stark korregieren, dann könnten sowohl LVs als auch Pensionskassen eine Überrendite erzielen in dem sie Aktien relativ stark übergewichten. Auf dem derzeitigen Aktienkursniveau scheint eine signifikante Überrendite, durch Aktienübergewichtung, aber eher unwahrscheinlich.

      M.f.G. thomtrader
      Avatar
      schrieb am 14.05.02 04:30:00
      Beitrag Nr. 21 ()
      Japanische Pensionskassen ? Meines Wissens nach befindet sich die japanische Gewerkschaftsbewegung immer noch im Aufbau. Vielleicht ist die betriebliche Altersvorsorge dort aber trotzdem etabliert, dazu kenne ich das System dort nicht genau genug. Jedenfalls gibt es bei amerikanischen Firmen sehr große Unterschiede in Bezug auf Pensionsfinanzierungen. Das hängt nach den Stichproben, die ich vorhin mal gemacht habe auch von der Arbeitnehmerstruktur ab. GE z.b. hat viele höher qualifizierte Ingenieure und da fallen die Pensionspläne viel großzügiger aus als bei Mc Donalds. Bei Siemens gibt es auch eine umfangreiche betriebliche Altersvorsorge und weil ihre Pensionskasse im letzten Jahr wohl einiges im Neuen Markt versenkt hat und im April auch noch Infineon-Aktien im Wert von 5 Mrd € hinzugenommen hat, gab es wohl dieses Disaster. Etwas intransparent wird es, wenn GE z.b. Adjustierungen über die durchschnittliche Restlaufzeit der Pensionen abschreibt. Viele Firmen wie z.b. GE, IBM oder Pepsi rechnen tatsächlich immer noch mit etwa 9-10 % Rendite auf das verwaltete Vermögen. Weil die US-Börse in letzter Zeit aber recht stabil war, gab es auch keine besonderen Korrekturen. Auch die eventuellen Berichtigungen, die aus erhöhten Betreuungskosten entstehen könnten sind ziemlich gering. Nichtsdestotrotz ist es interessant zu sehen, was bei einigen alles als vorübergehender Buchverlust aus der G+V ausgeklammert wird. Mc Donalds hat z.b. bei einem Jahresgewinn von zuletzt 1.6 Milliarden 1.7 Milliarden Devisenverlust angehäuft und es im comprehensive income akkmuliert. Das war auch bei einigen anderen Firmen so und ist wohl auf den bis dato starken $ zurückzuführen. Mich würde mal interessieren, ab welcher Größenordnung solche Positionen in die G+V geschoben werden müssen.
      Avatar
      schrieb am 14.05.02 13:24:32
      Beitrag Nr. 22 ()
      Ich glaube die Größenordnung spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist ob die Verluste Dauerhaft sind.

      "Gefährdet sind vor allem Dax- Firmen, die nach US-Regeln (US- GAAP) bilanzieren. Denn diese müssen laut Oppenheim eine bestehende Lücke schließen, sobald sie als „dauerhaft“ gilt. Bislang klassifiziert zum Beispiel Siemens seine Milliardenlücke nur als kurzfristig. „Doch wenn man die Differenzen weiter als nicht dauerhaft einordnen will, muss man das schon sehr gut begründen“, sagt Zimmermann"

      mfg thomtrader
      Avatar
      schrieb am 14.05.02 17:31:31
      Beitrag Nr. 23 ()
      Die SEC hat warscheinlich bestimmte Richtlinien dafür, ab welcher Größenordnung Unterdeckungen im Comprehensive Income als vorübergehend ausgewiesen werden müssen, denn es kann nicht sein, daß ein Pensionsfonds jahrelang im Vergleich zur erwarteten Rendite underperformt und die Bilanz davon unberührt bleibt. Solch einen vorübergehenden Ausweis habe ich bislang aber auch nur bei Pepsi finden können. Einmalige Aufwandsbuchungen in der G+V wird es aber in keinem Fall geben. Das Pensionsvolumen in Relation zum Geschäftsvolumen ist insofern wichtig, als daß Firmen mit wenigen oder wenig qualifizierten Mitarbeitern auch kaum pensionsberechtigte Leute bedienen müssen. Weil die Ergebnisauswirkungen durch Planänderungen o.ä. dann nur gering sind, werden die Pensionspläne auch nicht im Geschäftsbericht in der Ausführlichkeit beschrieben wie es z.b. GE macht. Im Artikel steht ja auch, daß Siemens mit der Abschreibung beginnt, sie sind ja erst im 2. Jahr der US-GAAP-Buchführung. Nach dem was ich weiß, ist die Abschreibung ungedeckter Pensionsverpflichtungen dabei sogar die Regel. Es ist eine etwas komplizierte Sache. Es gibt immer einen Pensions-Buchwert, der sich anhand der erwarteten Rendite jedes Jahr fortbildet. Dann gibt es einen Soll-Betrag, bei dem man die eigentlichen Verpflichtungen anhand eines Diskonts und anderen Projektionen von Pensionsverpflichtungen ermittelt. Und dann gibt es noch den Ist-Betrag, der dem eigentliche Vermögen der Pensionskasse entspricht. Beispielsweise hat GE im letzten Jahr mit 9.5 % Rendite auf das Pensionsvolumen gerechnet. Diese erwartete Rendite wurde am Jahresende auf den Buchwert heraufgesetzt, unabhängig davon wie sich die Fondsperformance oder die Vorsorgeerwartungen entwickelt haben. Für den Sollbetrag wurde aber nur ein Diskont von 7.25 % angesetzt. Das hatte zur Folge, daß GE im letzten Jahr grob gesagt 2.25 % des Pensionsvolumens als Gewinn verbuchen konnte, weil Unterschiede zwischen Buchwert und Soll-Betrag sofort ausgeglichen werden müssen. Das waren im letzten Jahr 1.48 Milliarden Dollar. Differenzen zwischen Buchwert und Ist-Wert werden aber amortisiert, damit das Net Income nicht durch die starken Renditeschwankungen jedes Jahr verzerrt wird. Wenn der Pensionsfonds nun tatsächlich nur 5 % Performance erzielte, müssen 9.5 % - 5 % = 4.5 % über die durchschnittliche Restlaufzeit der Pensionen abgeschrieben werden. Wenn die durchschnittliche Restlaufzeit etwa 45 Jahre betragen hat, hätte GE nur 0.1 % des Pensionsvolumens unter SG&A als Amortisation buchen müssen, aber 45 Jahre lang mit zwischenzeitlichen Anpassungen. Bei andauernder Underperformance wird GE die Renditeerwartung für den Buchwert anpassen müssen und irgendwann werden sie die Rendite unter der Diskontverzinsung von 7 % anlegen müssen oder sie handeln sich langfristig immer höhere Amortisationskosten ein. Daraus werden dann Verluste oder langfristig steigende Abschreibungen entstehen. Bislang treibt GE durch eine hohe Renditerwartung die Gewinne kurzfristig deutlich nach oben. Das Ganze ist zwar etwas intransparent, aber immerhin werden so ungedeckte Pensionsbeträge laufend ergebniswirksam und bei den stark schwankenden Kapitalmarktrenditen durch Amortisation geglättet. Abgesehen von der Zuverlässigkeit der Fondsperformance wäre es deshalb wünschenswert, wenn die Renditeerwartung den angewandten Diskontzins nicht übersteigt. Vielen Dank noch für den interessanten Artikel. Zum Nachdenken wird man hier ja nicht oft angeregt.
      Avatar
      schrieb am 14.05.02 19:42:38
      Beitrag Nr. 24 ()
      @thomtrader und andere Kopierer.

      Nett, dass ihr meine Marktberichte plündert. Aber setzt bitte den Link dazu.

      Denke das kann man erwarten.

      Gruß Kveite
      Avatar
      schrieb am 15.05.02 11:41:01
      Beitrag Nr. 25 ()
      @Kveite:
      Wieso hab ich deine Marktberichte geplündert? Ich verstehe deine Aussage nicht.
      Wenn ich einen der Artikel durch stöbern in einem Aktienboard finde, dann gebe ich die Quelle nicht an, falls es sich um einen ebenfalls kopierten Artikel handelt. Wenn die Ursprungsquelle mit angegeben ist dann werde ich die Ursprungsquelle mit angeben.
      Für alle sonstigen Artikel werde ich die Quelle(den Link) in Zukunft immer angeben.
      Ist das ok für dich?

      mfg thomtrader
      Avatar
      schrieb am 15.05.02 12:49:21
      Beitrag Nr. 26 ()
      #20 z.B.
      Avatar
      schrieb am 15.05.02 14:05:05
      Beitrag Nr. 27 ()
      ok, der Artikel stammt wie bereits angegeben aus den Handelsblatt. Den Artikel hat dann Kveite irgendwo in wallstreet-online-board gestellt,(ich weiß nicht mehr genau wo) er hat dabei einen Abschnitt weggelassen und zum Schluss ein paar Sätze hinzugefügt.

      Hier noch mal der vollständige Artikel aus dem Handelsblatt:



      Milliarden-Löcher

      Pensionspläne gefährden Dax-Werte

      Quelle: Handelsblatt

      Die Pensionspläne einiger Dax-Konzerne weisen hohe Fehlbeträge auf. Nur wenn die Börsen bald steigen, schließt sich die Lücke wieder. Sonst müssen die Firmen ihre Pläne anpassen, was die Aktien belasten dürfte.


      jab/tmo DÜSSELDORF/FRANKFURT/M. Seit der Pleite des US-Energieriesen Enron suchen Analysten fieberhaft nach verdeckten Risiken in den Firmenbilanzen. Die Strategen der Privatbank Sal. Oppenheim wurden fündig: Nach ihren Angaben klafft bei einigen Titeln im Deutschen Aktienindex (Dax) eine Lücke zwischen Pensionsverpflichtungen und dem aktuellen Wert der dafür vorgesehen Mittel.

      „Hier gibt es ein Problem, das bislang nicht am Markt diskutiert wird“, sagt Oppenheim-Stratege Ralf Zimmermann. Die Lage könnte sich noch verschärfen. Denn mancher Konzern rechnet sich bei der Pensionsvorsorge mit gewagten Renditezielen reich. Sollten sich die Vermögensanlagen schlechter entwickeln als geplant, dann müssen die Firmen mehr Mittel ertragsmindernd zurücklegen. Das könnte die Aktienkurse von Siemens, Infineon und Fresenius Medical Care (FMC) drücken. Denn der Anpassungsbedarf dürfte viele Anleger böse überraschen.

      Wie gravierend die Schieflage ist, hängt vom künftigen Börsentrend ab. Denn ein Gutteil der für Pensionszahlungen vorgesehenen Mittel ist in Aktien angelegt. „Steigt der Dax wieder, dann wächst auch das Vermögen der Pensionsfonds“, sagt Professor Wolfgang Förster, geschäftsführender Gesellschafter der auf Vorsorge- und Vergütungsfragen spezialisierten Unternehmensberatung Dr. Dr. Heissmann. Andernfalls müssten einige Konzerne ihre Pläne korrigieren.

      Brisant ist die Lage laut Oppenheim bei Siemens. Zum Bilanzstichtag Ende September 2001 fehlten dem Elektrogiganten 3,988 Mrd. Euro im Pensionsfonds. Der Grund: Die Wertentwicklung der Fondsgelder blieb weit hinter den Erwartungen zurück. Die Lücke ist im Ergebnis nicht berücksichtigt. Hätte der Konzern sie auf einen Schlag schließen müssen, wäre der Gewinn pro Aktie in den Keller gegangen: Aus einem geschätzten Plus von 2,62 Euro wäre ein Minus von 1,61 Euro geworden, so Zimmermann. Siemens will den Fehlbetrag künftig jährlich neu ermitteln und in kleinen Schritten von 63 Mill. Euro je Quartal abschreiben.

      „Das ist ein rein buchhalterischer Vorgang, der nicht cash-wirksam ist“, betont Sprecher Constantin Birnstiehl. Dennoch: Der Gewinn wird dadurch belastet. Analystin Swantje Conrad von J.P. Morgan sieht dies gelassen: „Man muss die schlechte Situation auf den Aktienmärkten im September bedenken.“ Zudem habe Siemens einen großen Pensionsfonds. Der relative Fehlbetrag sei im Vergleich zu anderen Firmen nicht außerordentlich. „Uns ist die Unterdeckung bewusst und wir beziehen sie in die Bewertung der Aktie bereits ein“, sagt die Analystin.

      Neben Siemens weisen laut der Oppenheim-Studie weitere Dax-Unternehmen hohe Deckungslücken auf: Epcos (114 Mill. Euro), Infineon (74 Mill. Euro) und FMC (51 Mill. $, bezogen auf Zusagen für US- Mitarbeiter). Alle Angaben gelten für den jeweils letzten Bilanzstichtag. Zwar dürfte sich die Lage inzwischen verbessert haben, weil die Aktienkurse zuletzt stiegen. „Aber das Problem bleibt der Tendenz nach bestehen“, so Zimmermann. Hinzu kommt, dass einige Dax-Firmen mit gewagten Renditezielen für ihre Vermögensanlagen arbeiten. Nicht ohne Grund: Je höher die erwartete Rendite, desto weniger Gelder müssen die Konzerne für künftige Pensionszahlungen zurücklegen. Am optimistischsten ist der Halbleiterhersteller Infineon mit einer langfristigen Ertragsprognose von 10 % für seinen internen Pensionsfonds. Es folgen FMC (9,7 %), Siemens (8,8 %) und BASF (8,6 %).

      Lebensversicherer stellen ihren Kunden nur 6 bis 7 % Rendite in Aussicht. „Bei einem Anhalten der Niedrigzinsphase und einem eher moderaten Wachstum der Aktienmärkte dürfte diese Größe auch für Pensionskassen gelten“, sagt Vorsorge-Experte Förster. Einige Konzerne wollen jedoch weit besser abschneiden. Analyst Oliver Wojahn von der Berenberg- Bank findet solche Prognosen denn auch „ziemlich ambitioniert“. Erweisen sich die Renditeziele als zu optimistisch, drohen den Firmen höhere Aufwendungen. Und die drücken den Gewinn. Gefährdet sind vor allem Dax- Firmen, die nach US-Regeln (US- GAAP) bilanzieren. Denn diese müssen laut Oppenheim eine bestehende Lücke schließen, sobald sie als „dauerhaft“ gilt. Bislang klassifiziert zum Beispiel Siemens seine Milliardenlücke nur als kurzfristig. „Doch wenn man die Differenzen weiter als nicht dauerhaft einordnen will, muss man das schon sehr gut begründen“, sagt Zimmermann.

      Womöglich haben die genannten Firmen aber nicht einmal die größten Probleme. Nur Dax-Firmen, die nach US-GAAP-Regeln bilanzieren, müssen detailliert über das Verhältnis der Pensionsverpflichtungen zu den dafür vorgesehenen Mitteln informieren – rund ein Drittel der Index-Mitglieder. Bei vielen anderen können Außenstehende eine drohende Pensionslücke kaum erkennen. Somit drohen Anlegern möglicherweise neue, böse Überraschungen – und zwar dort, wo es derzeit niemand erwartet.
      http://www.handelsblatt.com/hbiwwwangebot/fn/relhbi/sfn/buil…
      __________________________________________________________
      Dieser Abschnitt stammt von kveite:

      Diese Probleme dürften die amerikanischen Firmen in noch viel größeren Dimensionen besitzen. Die dort immer noch praktizierte "Kreative Buchhaltung" hat inzwischen einige Leute aufgeschreckt. Man findet immer mehr Stellungnahmen zu diesen ungeheuerlichen Vorgängen.

      Die Aktienmärkte werden davon nicht unbeeinflusst bleiben.

      __________________________________________________________
      Zufrieden?

      mfg thomtrader
      Avatar
      schrieb am 15.05.02 14:12:25
      Beitrag Nr. 28 ()
      Folgender Artikel hat zwar nichts direktes mit der Börse zu tun ist aber trotzdem recht "lesenswert":



      Wir wollen getäuscht werden

      Von Friedrich Heinemann

      Differenzen zwischen ökonomischer Realität und Parteiprogrammen sind in Wahlkampfzeiten normal. Selten war aber wohl die Kluft so groß wie im Jahr der Bundestagswahl. Studiert ein Kenner der deutschen Wirtschaftslage die Wahlprogramme der Parteien, dann kann er eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass diese für ein anderes Land geschrieben wurden – denn zu den deutschen Bedingungen passen diese Wahlversprechen nicht. Da leistet sich Deutschland in diesem Jahr nach Prognose der EU-Kommission mit einer Größenordnung von 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts das höchste Defizit aller 15 EU-Staaten und liegt damit nur noch wenige Milliarden unter der Obergrenze des Stabilitätspakts von drei Prozent. Und gleichzeitig überschlagen sich die Parteien in Steuersenkungsversprechen.

      Da hat Finanzminister Eichel nur mühsam dadurch eine Abmahnung aus Brüssel abgewendet, dass er für 2004 ein nahezu ausgeglichenes Budget versprochen hat. Und gleichzeitig wetteifern der Kanzler und sein Herausforderer um die üppigste Ausweitung der Transfers an Familien. Da quantifizieren die Institute in ihrem Frühjahrsgutachten den Umfang der notwendigen jährlichen Einsparungen bis 2004 auf sechzehn Milliarden Euro, ganz zu schweigen von den langfristigen Konsolidierungserfordernissen einer alternden Gesellschaft. Und gleichzeitig versprechen alle Kandidaten zumindest vage mehr Geld für Bildung, Sicherheit und Verteidigung.

      Wieso können es sich die Parteien eigentlich leisten, einen Wahlkampf zu führen, dessen Inhalte vielleicht zum Nirwana, aber nicht zur Situation der deutschen Volkswirtschaft passen? Warum können sich die Kandidaten Debatten über die Schwerpunkte von Ausgabenzuwächsen leisten, wenn die finanzpolitische Realität eigentlich einzig und allein Diskussionen über die Inhalte von Sparpaketen zulassen sollte? Warum haben Programme Erfolg, die versprechen, im Wesentlichen alles beim Alten zu lassen, obwohl Deutschland ein umfangreiches Reformprogramm benötigt?

      Bei der Suche nach einer Antwort muss der Blick von den Anbietern wirtschaftspolitischer Programme zur Nachfrageseite – also den Wählern – gelenkt werden. Denn ganz offensichtlich zwingt der politische Wettbewerb um Mehrheiten dazu, derartige Luftschloss-Programme zu formulieren. Offenbar kann heute eine Partei in Deutschland keine Wahl gewinnen, die dem Wähler ökonomisch die Wahrheit sagt. Dieser Befund ist gerade für Ökonomen beunruhigend, spielt doch in den Wirtschaftswissenschaften die Annahme der Rationalität eine zentrale Rolle.

      Wie kommt es also eigentlich, dass der Bürger, der sich auf Märkten doch meistens als „homo oeconomicus“ verhält, bei der Grundlage seiner Wahlentscheidung lieber die Verdrängung unbequemer Wahrheiten praktiziert?

      Hier existieren zwei fundamental verschiedene Gruppen von Antworten. Die eine Gruppe verteidigt die Annahme der Rationalität des Wählers, während die andere Phänomene begrenzter Rationalität berücksichtigt, die in der psychologischen Literatur inzwischen gut belegt sind.

      Die Erklärungsansätze, die an der Rationalitätsannahme festhalten, setzen vor allem auf Informations- und Verteilungsprobleme. Erfolg versprechende wirtschaftspolitische Programme können demnach deshalb abgelehnt werden, weil die Wähler schlecht informiert über deren Folgen sind oder aber sich ausrechnen, dass sie zu den Verlierern dieser Programme zählen.

      Sicherlich haben diese Ansätze einigen Erklärungswert. Die wenigsten Wähler haben die Ausbildung und die Zeit, wirklich eine differenzierte Beurteilung der ökonomischen Probleme vornehmen zu können. Auch der Verteilungsaspekt kann den Widerstand von bestimmten Gruppen gegen eine rationale Wirtschaftspolitik erklären: Die Eltern einer kinderreichen Familie werden die Ausweitung von Familientransfers ebenso begrüßen wie der Landwirt die Beibehaltung der Agrarsubventionen, selbst wenn sich die Finanzierung am Ende gesamtwirtschaftlich negativ auswirkt.

      So nützlich diese Ansätze aber auch sein mögen, die im Grundsatz an der Rationalität der Wähler festhalten: Sie sind doch insgesamt immer weniger in der Lage, die allgemeine Realitätsverweigerung des politischen Prozesses wirklich zufrieden stellend zu erklären. Zwar kann man tatsächlich nicht unterstellen, dass die Masse der Bürger die ökonomischen Probleme Deutschlands im Detail nachvollziehen kann. Ein zumindest intuitives Verständnis für die Zwänge einer staatlichen Budgetrestriktion dürfte man inzwischen jedoch voraussetzen können. Jeder Privatmann weiß aber aus eigener Erfahrung, dass die Differenz zwischen Ausgaben und Einnahmen der Zunahme der Verschuldung entspricht. Hier bietet das Argument unvollständiger Information also eine nur wenig überzeugende Erklärung, warum eigentlich Politiker einen Wahlkampf mit Ausgabenprogrammen ohne Gegenfinanzierungskonzeption machen können.

      Auch die Verteilungswirkungen von Sparmaßnahmen erklären keinen erfolgreichen Widerstand gegen Konsolidierungskonzepte, deren positive Wachstumsfolgen am Ende auch eine Kompensation der Verlierer erlauben würde.

      Folglich sind zusätzlich auch die Erklärungsansätze mit in Betracht zu ziehen, die sich von der Annahme vollständig rationaler Wähler verabschieden. Schließlich hat ein Bürger, der vielleicht als Konsument oder Geldanleger völlig rational agiert, an der Wahlurne keinerlei Anreiz, sein Kreuzchen auf dem Wahlzettel rational zu setzen. Faktisch hat die Wahlentscheidung des Einzelnen in einem 80-Millionen-Volk keinen Einfluss auf den Ausgang einer Wahl. Ein extrem rational agierender Wähler bekommt am Ende dieselbe Wirtschaftspolitik serviert wie einer, der sich in der Wahlentscheidung den uralten Instinkten des Jägers und Sammlers überlässt. Im Grunde ist also die Wahlentscheidung in der modernen Welt einer der wenigen Orte, wo der Mensch individuell ungestraft seine Irrationalität ausleben kann. Die Wirtschaftspsychologie hat inzwischen eine Reihe von Spielarten begrenzter Rationalität identifiziert, die zum Verständnis von Nirwana-Wahlkämpfen nützlich sind.

      Ein wichtiges Beispiel betrifft die so genannte Status-quo-Präferenz. Damit ist gemeint: Empirische Studien belegen, dass in vielen Entscheidungssituationen eine ausgeprägte Präferenz für eine Option existiert, nur weil diese zufällig als Status quo definiert ist. Sie korrespondiert mit einer instinktiven Abneigung gegen alle Veränderungen.

      Diese um Irrationalitäten der menschlichen Psyche erweiterte Ursachenforschung ist hilfreich: So lässt sich abschätzen, wann in Zukunft beim Wähler mit größerem Erfolg auch rationale Wirtschaftsprogramme verkauft werden können.

      Dieser Moment dürfte dann gekommen sein, wenn der breiten Öffentlichkeit bewusst wird, dass der Status quo keine verfügbare Handlungsoption mehr ist. Im ungünstigen Fall tritt diese Situation erst ein, wenn sich der Reform- und Konsolidierungsstau krisenhaft zuspitzt. Im günstigeren Fall kann diese Situation auch durch bindende externe Vorgaben etwa seitens der EU eintreten. Diese Analyse macht noch einmal deutlich, wie nützlich ein Regelwerk wie das des europäischen Stabilitätspakts sein könnte, wenn es nur konsequent zur Anwendung käme.

      Friedrich Heinemann ist „Senior Researcher“ am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim.

      HANDELSBLATT, Mittwoch, 15. Mai 2002, 11:20 Uhr

      http://www.handelsblatt.com/hbiwwwangebot/fn/relhbi/sfn/buil…

      mfg thomtrader
      Avatar
      schrieb am 15.05.02 14:27:31
      Beitrag Nr. 29 ()
      Die Aprilausgabe der Zeitschrift "Bild der Wissenschaft" enthält das extrem interessante und lesenswerte Titelthema: "30Jahre nach "Grenzen des Wachstums" - Die neue Zukunftsformel"

      Die Ausgabe ist nicht mehr im Handel. Sie kann unter Tel. 08105388204 oder einer E-mail an bdw@verlegerdienst.de nachbestellt werden. Die meisten Bücherreien dürfte die Ausgabe auch haben.

      M.f.G. thomtrader
      Avatar
      schrieb am 28.06.02 20:56:52
      Beitrag Nr. 30 ()
      Ich stelle jetzt mal einen Text hier rein, desen Inhalt ich nur 100%ig unterstreichen kann. Die Inhalt des Textes dürfte allen Valueinvestoren zwar bereits bekannt sein. Der Text ist eine schön kompakte Zusammenfassung über Valueinvesting. Den Text stammt von www.valueinvesting.de/pdf/sonderausgabe.pdf
      _________________________________________________________________

      Value-Investing: Auf den Spuren
      von Warren Buffett
      Keine Frage, durch die Aktienhausse der 90er Jahre ist die Strategie des Value-Investing etwas in Vergessenheit geraten. Zu leicht war es eine Zeit lang, Aktien – speziell Technologieaktien – ungeachtet des Kaufpreises und der fundamentalen Situation der dahinter stehenden Unternehmen gewinnbringend an Dritte zu verkaufen, die schlichtweg bereit waren, noch höhere Preise zu zahlen. Diese Aufwärtsspirale mündete Anfang 2000 in einer historisch beispiellosen Spekulationsblase. Fast zwangsläufig kam es dann in den letzten zwei Jahren zu einem drastischen Kursverfall.
      Seitdem hat sich bei vielen Anlegern eine gewisse Orientierungslosigkeit breit gemacht. Das Depot zusammengeschmolzen, das mühsam angeeignete Wissen über die Technologien der Zukunft entwertet, stellt sich so mancher die Frage, ob es überhaupt noch erfolgversprechende Strategien gibt, um an der Börse Geld zu verdienen. In dieser Situation empfiehlt sich ein Blick zurück. Denn über Jahrzehnte hinweg ist es erfolgreichen Anlegern wie Warren Buffett, Peter Lynch, Benjamin Graham oder Philip Fisher gelungen, eine weit über dem Marktdurchschnitt liegende Performance zu erzielen. Allen gemeinsam ist die Anwendung einer rationalen, systematischen und disziplinierten Anlagephilosophie, die sich unter dem Schlagwort Value-Investing zusammenfassen lässt. Trotz unterschiedlicher Vorlieben und Schwerpunkte weisen ihre (niedergeschriebenen) Erfahrungen viele gemeinsame Verhaltens- und Analysegrundsätze auf, die zusammengenommen eine schlüssige Anlagestrategie ergeben.
      Die Aktie als Unternehmens(an)teil Einer der zentralen Grundgedanken des Value-Investing ist es, die Aktie nicht als beliebiges Rohmaterial für kurzfristige Spekulation zu behandeln, sondern in ihrer ursprünglichsten Funktion zu begreifen: als verbrieften Anteil an einem Unternehmen, an dessen Kapital und Wachstum man teilhaben kann. Daher gilt es, sich bei der Anlageentscheidung ausschließlich auf die wirtschaftliche Situation des Unternehmens, seine Wettbewerbsposition, die Qualität des Managements und nicht zuletzt auf den Kaufpreis zu konzentrieren. Darauf kommen wir später zurück. Die Börse als solche ist für Value-Investoren nur Mittel zum Zweck, nie Ratgeber. Graham umschrieb den Gesamtmarkt treffend mit dem Bild des Mr. Market, einem nützlichen Burschen, der jeden Tag bereit ist, für seine Aktien einen Verkaufspreis und für die Aktien anderer einen Kaufpreis zu nennen. Der Kerl hat allerdings unheilbare emotionale Probleme. Er schwankt ständig zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. In euphorischen Phasen sieht er nur das Positive für die Zukunft und nennt entsprechend überschwängliche Preise. Ist er hingegen depressiv, will er von all dem nichts mehr wissen und verschleudert sämtliche Aktien zu sehr niedrigen Preisen. Es liegt auf der Hand, dass es wenig Sinn macht, Mr. Market als Ratgeber für seine Anlageentscheidungen zu befragen, geschweige denn, eine Strategie zu verfolgen, die die Stimmungen von Mr. Market fortwährend voraussehen will. In der Tat stehen die Wetten schlecht, wenn man auf kurzfristige Spekulation setzt. Das US-Magazin Forbes hat ermittelt, dass amerikanische Online-Trader ihr Depot durchschnittlich einmal im Monat vollständig umschlagen – und 70 Prozent dieser Trader verdienen damit kein Geld.
      Ursächlich hierfür sind neben den unberechenbaren Launen von Mr. Market auch die hohen Tradingkosten. Man darf sich nicht täuschen lassen von den winzigen Prozentsätzen, die beim Wertpapierhandel hier und da abgezwackt werden. Im Vergleich zu dem, was es insgesamt zu verteilen gibt, häufen sich immense Summen an. Betrachten wir es einmal ganz grundsätzlich. Letztlich kann der Investor aus einem Unternehmen nur so viel Geld entnehmen, wie dieses über seine verbleibende Lebensdauer noch an Überschüssen erwirtschaften wird. Der Kuchen, um den sich alle Anleger rangeln, hat also eine bestimmte, feste Größe, und zwar unabhängig davon, wie häufig die Rechte an Kuchenstücken hin und her gehandelt werden. Im Jahr 2000 beispielsweise hatte allein der Handel mit DAX-Aktien ein Volumen von rund 900 Mrd. Euro. Dieses muntere Treiben ist keineswegs kostenlos. Es bedarf diverser Helfer, um die vielen Transaktionen durchzuführen. Nehmen wir einmal an, dass bei jedem Handel vorsichtig geschätzt 1 Prozent Transaktionskosten (z. B. jeweils bei Verkäufer und Käufer Maklercourtagen, Provisionen und Depotgebühren sowie die Geld-Brief-Spanne) anfallen, also 9 Mrd. Euro. Bezogen auf die Mrd. 36 Mrd. Euro, die die DAX-Unternehmen im Jahr 2000 gemeinsam verdienten, gaben demnach allein die Besitzer der DAX-Aktien ein Viertel des Kuchens nur für ihr Gerangel um den Kuchen her. Die Spekulationssteuer ist da noch gar nicht eingerechnet. Die Value-Strategie schaltet solche Performance- Räuber weitgehend aus. Sie setzt nicht auf die kurzfristigen Schwankungen der Börse, sondern auf die langfristigen wirtschaftlichen Fortschritte einiger ausgezeichneter Unternehmen, deren Anteile dort gehandelt werden. Um die wirtschaftlichen Fortschritte möglichst gut abschätzen und voraussagen zu können, konzentriert sich der Value-Investor auf einige wenige Unternehmen, um diese möglichst gut im Griff zu haben. Fisher bringt es auf den Punkt: „Beschränke dich auf Weniges, aber das mache gut!“ Man muss weder zu jeder Aktie eine Meinung haben, noch wird man gezwungen, jedes noch so verzwickte Problem zu lösen. Vielmehr empfiehlt es sich, nur in den eigenen Kompetenzbereich zu investieren und – mindestens genauso wichtig – dessen Grenzen genau zu kennen. Das soll nicht heißen, dass man nicht ständig bemüht sein sollte, das eigene Wissen zu vertiefen und zu erweitern. Dafür steht jedem Investor allerdings nur ein mehr oder weniger begrenztes Kontingent an Zeit zur Verfügung. Gefragt ist also ein effizientes Wissensmanagement, d. h. die möglichst dauerhafte Verwertbarkeit der angeeigneten Kenntnisse. Auch deshalb ist häufiges Trading, also das Springen von Aktie zu Aktie, wenig vernünftig. Der Investor verschlechtert damit zwangsläufig seine Prognosesicherheit.
      Das gleiche gilt für eine breite Diversifikation des Portfolios, von vielen Finanzexperten als eine Grundregel der Aktienanlage gepriesen. Zwar sinken durch eine breite Streuung tatsächlich die Verlustrisiken, allerdings – da die Recherchezeit und -tiefe für jedes einzelne Unternehmen sinkt – auch die Gewinnchancen. Das Resultat ist dann meist eine nur durchschnittliche Performance, was wiederum die Frage aufwirft, warum man überhaupt in einzelne Aktien investieren sollte, anstatt auf den Gesamtmarkt zu setzen, etwa indem man Indexzertifikate kauft.
      Die Value-Strategie versucht, das Chance-Risiko- Verhältnis durch die Konzentration auf einige wenige Unternehmen zu optimieren. Für ein konzentriertes Portfolio eignen sich aber nicht alle Unternehmen gleich gut. In die engere Auswahl kommen vor allem solche Unternehmen, deren Geschäftsmodell und Branche einfach zu verstehen sind und die ihren Erfolg bereits über einen längeren Zeitraum nachgewiesen haben. Die Informationsbeschaffung gestaltet sich hier in der Regel problemlos und das angeeignete Wissen bleibt über einen langen Zeitraum nutzbar.
      Ganz anders bei jungen Wachstumsunternehmen: Ihr Geschäftserfolg ist in der Regel noch ungewiss. Selbst Experten und Insider können die Entwicklung neuer Branchen oft nicht hinreichend genau vorhersagen, wie man unlängst an den krassen Fehlprognosen vieler renommierter Marktforschungsinstitute hinsichtlich der Marktpotenziale im E-Commerce-Sektor erkennen konnte. Als außen stehender Anleger ist man solchen Unwägbarkeiten noch in viel stärkerem Maße ausgesetzt. Hinzu kommt, dass die Preise junger Wachstumsunternehmen – offenbar wegen der großen Faszination, die sie auf viele ausüben – oft schon in luftige Höhen geschnellt sind. Mithin erkauft sich der Anleger seine zugegebenermaßen erhöhten Renditechancen mit ebenfalls erhöhtem Risiko – oftmals unverhältnismäßig hohem Risiko.
      Um als Erster ins Ziel zu kommen, muss man erst mal ins Ziel kommen.
      Kennzeichen der Value-Strategie ist hingegen ein äußerst hohes Sicherheitsbewusstsein, oder wie Buffett sagt: „There are two rules to investing. Number one: don`t lose money, and number two: don`t forget rule number one.“ Diese Erkenntnis basiert nicht etwa auf übermäßiger Ängstlichkeit, sondern auf völlig rationalen Überlegungen, wie wir an folgendem Beispiel zeigen möchten: Nehmen wir zwei Investoren, die beide mit einem Depotwert von 1.000 Euro starten. Investor A verfolgt eine risikoaverse Strategie. Er strukturiert sein Depot so, dass er jedes Jahr 30 Prozent an Wert hinzugewinnen dann, wenn seine Prognosen hinsichtlich der (positiven) Entwicklung seiner Unternehmen zutreffen.
      Falls er falsch liegt, verliert er 23 Prozent (1- 100/130) an Depotwert. Seine Prognosesicherheit soll bei 75 Prozent liegen. Investor B hingegen ist spekulativer veranlagt. Er hat sein Depot so strukturiert, dass er jedes Jahr 50 Prozent gewinnen kann, sofern er richtig liegt, aber auch 33 Prozent (1-100/150) verlieren kann, falls er sich irrt. Seine Prognosesicherheit soll bei 55 Prozent liegen. Tabelle 1 gibt Auskunft darüber, wie sich die Depotwerte beider Investoren nach 10 Jahren entwickelt haben könnten. Auf den ersten Blick erscheint die Strategie von B deutlich attraktiver. Hat er alles richtig gemacht, also in 10 Jahren zehnmal richtig gelegen, so wären aus seinen 1.000 Euro gut 57 Tsd. Euro geworden, wohingegen Investor A sich „nur“ mit knapp 14 Tsd. Euro begnügen müsste. Nun lässt es die Realität selten zu, dass man alles richtig macht. Bezieht man den Faktor Wahrscheinlichkeit mit in die Betrachtung ein, ändert sich das Bild: So liegt die Gefahr, dass Investor B in 10 Jahren über die Hälfte seines Einsatzes verliert, bei 26 Prozent – ein für Value-
      Investoren inakzeptables Risiko. Die Gefahr, dass er sein Startkapital nicht vermehren kann, liegt bei fast 50 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass er sein Depot mit mehr als 10 Prozent jährlich, also über dem Marktdurchschnitt, verzinsen kann, liegt bei nur 27 Prozent. Seine durchschnittlich zu erwartende Performance liegt bei 12,5 Prozent p. a.
      Ganz anders bei Investor A: Die Gefahr, dass er sein Startkapital nicht vermehren kann, liegt bei nur 8 Prozent. Die Gefahr, einen Teil des Einsatzes zu verlieren, beträgt weniger als 2 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass er sein Depot mit mehr als 10 Prozent jährlich verzinsen kann, liegt bei 78 Prozent. Seine durchschnittlich zu erwartende Performance beläuft sich auf 16,73 Prozent p. a.
      Auch wenn diese (wie jede) Modellrechnung stark vereinfachend ist, verdeutlicht sie doch einen für Value-Investoren essentiellen Grundsatz: Man geht lieber unnötigen Risiken aus dem Weg, anstatt überzogenen Renditeerwartungen hinterherzulaufen. Schließlich kann man die Zeit nicht zurückdrehen, wenn einem das Glück einmal nicht hold war. Daher sollte man einen irreversiblen Vermögensschaden mit größtmöglicher Sicherheit auszuschließen versuchen.
      Auf der Suche nach der idealen Aktie
      Welche Unternehmen sind es nun, die das Prädikat Value-Investment verdienen? Zugegeben: Das Etikett wird häufig benutzt. Manche verwenden es als Gattungsbegriff für sämtliche konservativen (soll wohl heißen langweiligen oder renditeschwachen) Anlageformen, andere für altgediente Großkonzerne und wieder andere für substanzstarke Nebenwerte. Bisweilen werden aber auch hoch spekulative Penny-Stocks damit dekoriert. Nichts von dem lässt sich jedoch ernsthaft mit der Anlagestrategie in Verbindung bringen, die Investoren wie Buffett zu Reichtum verholfen hat. Es gibt auch keine festen Checklisten, mit denen man Value-Investments quasi mechanisch ermitteln könnte. Nicht einmal ein besonders niedriges Kurs-Umsatz-, Kurs-Gewinn- oder Kurs-Buchwert-Verhältnis ist isoliert betrachtet ein Garant für die richtige Wahl. Leider sind jegliche einfachen Faustregeln mehr irreführend als hilfreich, in jedem Fall nicht entscheidend dafür, ob es sich um ein Value-Investment handelt oder nicht.
      Schon eher ist es eine Anhäufung vieler begünstigender Faktoren, die in ihrer Kombination dazu führen, dass ein Unternehmen seinen Aktionären über einen langen Zeitraum einen außergewöhnlich hohen Wertzuwachs bescheren kann. Aus den Veröffentlichungen von Buffett kristallisieren sich vier Fragen heraus, die auf der Suche nach geeigneten Unternehmen zu beantworten sind:
      (1) Befindet sich das Unternehmen in einer ausgezeichneten wirtschaftlichen Verfassung?
      (2) Besitzt das Unternehmen eine Wettbewerbsposition, die auch in Zukunft eine positive Entwicklung ermöglicht?
      (3) Wird das Unternehmen von aufrichtigen Managern geleitet, die wie Eigentümer handeln?
      (4) Kann die Aktie des Unternehmens zu einem Preis gekauft werden, der deutlich unter dem inneren Wert liegt?
      Zweifellos wird man nur selten auf Unternehmen treffen, bei denen alle vier Fragen eindeutig und uneingeschränkt mit „Ja“ beantwortet werden können.
      Die Börse ist in der Regel nicht so irrational, dass sie derartige Gelegenheiten eröffnet, erst recht nicht über einen längeren Zeitraum. Das sollte den Investor jedoch nicht davon abhalten, Unternehmen zu suchen, bei denen möglichst viele Value-Kriterien erfüllt sind. Auch damit lassen sich überdurchschnittliche Anlageergebnisse erzielen.
      Im Einzelfall können sogar Unternehmen lukrativ sein, bei denen nur wenige Value-Merkmale erfüllt sind, die aber umso ausgeprägter. Zu denken wäre beispielsweise an Unternehmen, die zwar wirtschaftlich angeschlagen, dafür aber besonders niedrig bewertet sind, oder an Unternehmen, die eine besonders starke Wettbewerbsposition innehaben und deshalb nicht mehr ganz billig sind.
      Im folgenden möchten wir die wichtigsten Merkmale eines Value-Investments etwas näher erläutern. Most wanted: Ein Unternehmen in einer ausgezeichneten wirtschaftlichen Verfassung ...
      Das erste Kriterium für ein Value-Unternehmen ist eine ausgezeichnete wirtschaftliche Verfassung. Das Unternehmen sollte profitabel sein und seine Umsätze und Gewinne bereits über einen längeren. Um eine mögliche Schwächeperiode – und die wird mit Sicherheit kommen – problemlos überstehen und Gelegenheiten flexibel wahrnehmen zu können, sollte es sich in einer soliden finanziellen Situation befinden, also möglichst schuldenfrei und mit ausreichend Liquidität ausgestattet sein.
      Ganz zentral für die Werthaltigkeit und Wachstumsfähigkeit eines Unternehmens ist seine Kapitalrendite, also das Verhältnis von Gewinn zu eingesetztem Kapital, im Angelsächsischen „return on invested capital“ genannt, kurz ROIC. Der ROIC ist ein Maß dafür, wie effektiv das gesamte im Unternehmen gebundene Kapital (der Eigen- und Fremdkapitalgeber) verzinst wird. Je höher der ROIC, desto weniger Kapital benötigt ein Unternehmen, um zu wachsen.
      Nehmen wir zwei Unternehmen: Unternehmen A hat ein Kapital von 100 und einen jährlichen Gewinn von 20, der ROIC beträgt also 20 Prozent. Unternehmen B erzielt den gleichen Jahresgewinn von 20, benötigt dafür aber ein Kapital von 200, hat also einen ROIC von 10 Prozent. Um den Gewinn auf 40 zu verdoppeln, muss B (bei gleich bleibendem ROIC) sein Kapital um 200 steigern, während A nur 100 zusätzliches Kapital benötigt. B braucht also doppelt so viel neues Kapital, um genauso schnell wachsen zu können wie A. Oder anders gesagt: Bei gleichem Kapitaleinsatz kann A doppelt so schnell wachsen wie B.
      Der ROIC ist somit ein Maß für die Innenfinanzierungskraft eines Unternehmens. Ohne zusätzliche Außenfinanzierung kann ein Unternehmen maximal mit einer Rate in Höhe des ROIC wachsen. Beispielsweise kann ein Unternehmen mit einem ROIC von 20 Prozent ohne weitere Kapitalzufuhr maximal mit 20 Prozent wachsen. Eine geringe Kapitalrendite bzw. hohe Kapitalbindung wirkt also wie ein Bremsklotz auf das Unternehmenswachstum.
      Hinzu kommt, dass kapitalintensive Betriebe in stärkerem Maße von inflationären Tendenzen betroffen sind. Sie haben meist einen erheblichen Anteil ihres Kapitals in materiellem Anlagevermögen, z. B. in Fabriken und Maschinen, gebunden und müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben, ständig einen Teil ihres operativen Cashflows dafür verwenden, das Anlagevermögen auf dem neuesten Stand zu halten. Dieser Teil des Cashflows steht weder für organisches Wachstum noch für Akquisitionen zur Verfügung.
      Für die Eigentümer verfügbar ist letztlich nur der freie Cashflow – das ist vereinfacht gesagt der Cashflow nach Abzug aller Investitionsausgaben. Nur er kann dem Unternehmen entnommen werden, ohne dass es in der Expansion behindert wird oder gar an wirtschaftlicher Substanz verliert.
      ... mit nachhaltigen Wettbewerbsvorteilen ...
      Wichtig ist nicht nur die aktuelle wirtschaftliche Verfassung eines Unternehmens, sondern auch seine Fähigkeit, diese Verfassung in Zukunft aufrecht zu erhalten und weiter zu verbessern. Ein erstes Indiz hierfür sollte sein, dass das Unternehmen bereits eine langjährige erfolgreiche Geschäftsentwicklung vorweisen kann. Das gibt berechtigten Anlass zu der Vermutung, dass es auch in Zukunft so weitergehen kann. Der Blick in den Rückspiegel allein reicht aber nicht aus. Es sollte auch erkennbar sein, dass das Unternehmen noch genügend Raum hat, um weiter wachsen zu können. Voraussetzung hierfür ist zum einen, dass die Nachfrage weiter gesteigert und die Produktion problemlos ausgedehnt werden kann, und zum anderen, dass die Konkurrenz nicht allzu viel gegen die Expansion tun kann.
      Jedes Unternehmen befindet sich in irgendeiner Form von Wettbewerb, der seine Marktposition angreift.
      Die Intensität dieses Wettbewerbs hat nichts mit Zufall oder Pech zu tun. Sie beruht auf dem Zusammenwirken verschiedener Wettbewerbskräfte, die in ihrer Summe die Rentabilität und das Ertragspotenzial einer Branche und der darin agierenden Konkurrenten bestimmen. Grundsätzlich lassen sich fünf Arten von Wettbewerbskräften unterscheiden:
      – Die Konkurrenz innerhalb der Branche
      – Die Verhandlungsmacht der Lieferanten
      – Die Verhandlungsmacht der Abnehmer
      – Die Bedrohung durch neue Konkurrenten
      – Die Bedrohung durch Ersatzprodukte
      Sind eine oder mehrere dieser Kräfte besonders intensiv, hat dies entsprechend negative Auswirkungen auf die gesamte Branche. Man denke nur an die Krise der deutschen Textil-oder Stahlindustrie durch die Billigkonkurrenz aus Fernost, an die starke Abhängigkeit der Tankstellenbetreiber von den Ölmultis oder der Autozulieferer von den großen Autokonzernen, an die geringen Eintrittsbarrieren für neue Content-Anbieter im Internet oder an die Bedrohung der Börsenmakler durch elektronische Handelssysteme. Regelmäßiges Kennzeichen eines intensiven Wettbewerbs ist ein harter Preiskampf und die Unfähigkeit einzelner Akteure, Preiserhöhungen durchzusetzen.
      Eine überlegene Wettbewerbsposition erkennt man meist daran, dass ein Unternehmen problemlos und flexibel seine Preise auch über die Inflation hinaus erhöhen kann, ohne dass dadurch die Nachfrage merklich sinkt. Die Ursachen für eine überlegene Wettbewerbsposition sind vielfältig, sei es z. B. ein unverzichtbares Produkt, ein starker Markenname, eine kluge Vertriebsstrategie oder Größenvorteile, die kaum noch einzuholen sind. Nicht selten ist es eine Kombination vieler Vorzüge.
      Struktur und Intensität des Wettbewerbs sind aber keineswegs statisch, sondern von ständiger Veränderung geprägt. Je verlockender die Rendite einer Branche oder einzelner Akteure, desto stärker sind die Kräfte, die diese „Überrendite“ abschöpfen wollen.
      Daher ist auch ein Unternehmen, das zu einem bestimmten Zeitpunkt eine komfortable Wettbewerbsposition innehat, nicht vor einem Verlust derselben gefeit. Es bedarf schon einer ausgeklügelten Strategie und perfekt aufeinander abgestimmter Aktivitäten, um eine einmal erlangte Position über einen langen Zeitraum, vielleicht sogar über Jahrzehnte, verteidigen und ausbauen zu können. Unternehmen wie Coca-Cola, McDonald’s oder Microsoft mögen hier als leuchtende Vorbilder dienen.
      ... einem aufrichtigen und eigentümerorientierten Management ...
      Glaubwürdigkeit und Qualität des Managements sind weitere wichtige Merkmale bei der Beurteilung der Werthaltigkeit und Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens.
      Zugegebenermaßen sind sie nicht leicht zu überprüfen. Wann erhält man schon einmal die Gelegenheit zu einem ausführlichen Zwiegespräch mit einem der viel beschäftigten Unternehmenslenker einer börsennotierten Aktiengesellschaft? Bei Publikumsgesellschaften wäre dies schlicht unpraktikabel (und auch nicht wirklich im kollektiven Eigentümerinteresse).
      Man muss also andere Kriterien suchen, um das Management zu beurteilen. Im Grunde lässt es sich auf folgende Forderung reduzieren: „eigentümerorientierte Geschäftsführung“. Was können Sie als Eigentümer von dem Vorstand Ihrer Gesellschaft erwarten? Sie haben zum einen Anspruch darauf, dass Ihnen in angemessener und ehrlicher Weise über die aktuelle Situation des Unternehmens berichtet wird, und zum anderen, dass zukünftige Entscheidungen in Ihrem wohl verstandenen Interesse gefällt werden.
      Ersteres klingt selbstverständlich, ist es aber leider nicht. Ob um der eigenen Selbstdarstellung willen, auf Anraten findiger Investor-Relations-Berater oder im Angesicht der nächsten Kapitalmaßnahme: Vorstände zeichnen nicht selten ein zu positives Bild der Geschäftslage, etwa mittels intensiver „Bilanzpolitik“.
      Aktivierte Entwicklungskosten oder fiktive Steuergutschriften auf den Verlustvortrag sind nur die Spitze des Eisberges. Viel unauffälliger lassen sich Aufwendungen durch unterlassene oder zu geringe Abschreibungen auf längst entwertete Aktiva, wie Firmenwerte (Goodwill), Beteiligungen und Immobilien oder auch Vorräte und Forderungen, in die Zukunft verschieben.
      Auch Stock-Options-Programme für die Belegschaft haben den „angenehmen“ Nebeneffekt, dass – je nach Ausgestaltung und Rechnungslegung – Teile des Personalaufwands in die Zukunft verschoben werden oder sogar ganz unter den Tisch fallen und via Kapitalverwässerung durch die Aktionäre bezahlt werden.
      Bei den Verlautbarungen des Unternehmens, wie Emissionsprospekten, Geschäftsberichten oder Ad-hoc-Meldungen, sollte man ebenfalls auf der Hut sein. Bei Phrasen wie „gigantische Marktpotenziale neuer Geschäftsfelder“, „enormer technologischer Vorsprung gegenüber der Konkurrenz“ oder „die eigenen Schätzungen deutlich übertroffen“ ist höchste Vorsicht geboten. Bei kleinsten Zweifeln an der Glaubhaftigkeit von derlei Anpreisungen sollte man eher Abstand von einem Investment nehmen.
      Ebenso wichtig wie die Aufrichtigkeit sind der Wille und die Fähigkeit des Managements, bei allen Entscheidungen die Interessen der Eigentümer im Blick zu haben. Auch das klingt eigentlich selbstverständlich.
      Aber gerade bei großen Publikumsgesellschaften herrscht oft ein wahres Durcheinander verschiedenster Interessen und Interessenten, von den Banken über Staat und Öffentlichkeit, Kunden und Lieferanten bis hin zur Belegschaft. Nicht zuletzt das Management selbst hat oft einen Zielkonflikt zwischen den eigenen Interessen und denen der Eigentümer.
      Zentraler Maßstab für die Eigentümerorientierung des Managements ist eine effiziente Verwendung des Aktionärskapitals. Jede Maßnahme sollte darauf gerichtet sein, die Kapitalrendite des Unternehmens zu maximieren. Das gilt insbesondere für Investitions- und Akquisitionsentscheidungen. Umsatz- oder Marktanteilswachstum alleine reichen als Zielvorgaben nicht aus. Auch Gewinne und Gewinnsteigerungen müssen immer in Relation zu dem eingesetzten, also im Unternehmen gebundenen Kapital gesehen werden. Ein Management, das nur deshalb Gewinnsteigerungen erzielt, weil es jedes Jahr die Gewinne einbehält und dadurch die Kapitalbasis verbreitert, hat aus Aktionärssicht noch keine besonders lobenswerte Leistung vollbracht. Schließlich würde man auch nicht applaudieren, wenn die thesaurierten Gewinne jedes Jahr auf ein Sparbuch gelegt und dadurch eine (bescheidene) Verzinsung einbringen würden. Ein aktionärsorientiertes Management wird deshalb nur so viel Kapital im Unternehmen behalten, wie es mit einer Verzinsung investieren kann, die über der einer urchschnittlichen Alternativanlage (vergleichbaren Risikos) liegt. Jeden Euro, den das Management nicht mehr so rentabel investieren bzw. verzinsen kann, sollte es den Eigentümern mittels Ausschüttungen oder Aktienrückkäufen zukommen lassen.
      Die Verzinsung des Aktionärskapitals wird grundsätzlich über die Kennzahl der Eigenkapitalrendite gemessen, englisch „return on equity“ oder kurz ROE.
      Diese Kennzahl hat allerdings die Tücke, dass sie nicht unabhängig von der Finanzierungsstruktur des Unternehmens ist. Wenn zwei Unternehmen die gleiche Verzinsung ihres gebundenen Kapitals (ROIC) aufweisen, ein Unternehmen aber vollständig eigenfinanziert und das andere zur Hälfte fremdfinanziert ist, so besitzt letzteres eine doppelt so hohe Eigenkapitalrendite.
      Ein an sich renditeschwaches Unternehmen lässt sich somit allein dadurch aufpeppen, dass die Verschuldung erhöht oder Eigen- in Fremdkapital umgeschichtet wird. Von dieser Art der Hebelung – auch Leverage-Effekt genannt – machen heutzutage leider allzu viele börsennotierte Unternehmen in allzu großem Umfang Gebrauch. Das Ganze geht so lange gut, wie ein Unternehmen rentabel arbeitet, und zwar mit einem ROIC über dem Fremdkapitalzins. Wenn sich die wirtschaftliche Situation verschlechtert und der ROIC unter den Fremdkapitalzins fällt, also das zusätzliche Fremdkapital mehr kostet als es erwirtschaftet, vernichtet der Hebel bereits Unternehmenswert.
      Nicht selten werden dann die Schulden zu einer schweren, wenn nicht existenzbedrohenden Belastung.
      Andererseits ist die Finanzierung über Fremdkapital nicht grundsätzlich abzulehnen. Wie zuvor erwähnt, führt sie bei einem rentablen Unternehmen prinzipiell zu einer Steigerung der Eigenkapitalrendite und damit zu einem Mehrwert für die Aktionäre. Es gilt daher im Einzelfall abzuwägen, ob der Verschuldungsgrad eines Unternehmens angemessen ist oder unkalkulierbare Risiken mit sich bringt. Aspekte wie Bonität und Krisensicherheit spielen hierbei eine entscheidende Rolle. So kann man Unternehmen mit hohem freien Cashflow und wenig zyklischem Geschäft (z. B. Energieversorgern oder Nahrungsmittelherstellern) eine höhere Verschuldung zubilligen als Unternehmen aus kapitalintensiven und konjunktursensitiven Branchen (z. B. Chemie oder Maschinenbau).
      ... und einem Preis unter dem inneren Wert
      Die Bewertungsfrage ist mit Sicherheit die Gretchenfrage. Denn was nützt einem das beste Unternehmen, wenn man es nicht zu einem akzeptablen Preis kaufen kann. Aber wie ermittelt man den inneren Wert eines Unternehmens? Zumindest theoretisch lässt sich diese Frage eindeutig beantworten. Der innere Wert ergibt sich aus der Summe der BarmittelÜberschüsse (freie Cashflows), die ein Unternehmen seinen Eigentümern über die noch verbleibende Lebensdauer (einschließlich Liquidation) ausschütten kann. Diese zukünftigen Überschüsse müssen auf die Gegenwart abgezinst werden, denn die Eigentümer könnten ja ihr Geld auch in anderer Form rentierlich anlegen. Der Abzinsungsfaktor, auch Diskontierungszins genannt, bemisst sich nach der Rendite, die die Eigentümer von einer durchschnittlichen Alternativanlage vergleichbaren Risikos erwarten können. Wenn der aktuelle Börsenwert eines Unternehmens genau der Summe der abgezinsten zukünftigen Überschüsse entspricht, so können seine Eigentümer jedes Jahr eine Wertsteigerung in Höhe des Diskontierungszinses erwarten.
      So viel zur Theorie. In der Praxis fangen die Probleme hier leider erst an. Es liegt auf der Hand, dass sich weder die zukünftigen Überschüsse noch der Diskontierungszins genau und objektiv bestimmen lassen. Bei beiden handelt es sich um Schätzgrößen, die mit mehr oder weniger großen Unsicherheiten behaftet sind. Daran ändern auch die ausgefeiltesten Modelle nichts. Manchmal behindern sogar allzu viele Annahmen und Parameter die sorgfältige und fundierte Abschätzung der wirklich wertentscheidenden Faktoren.
      Die Value-Strategie versucht, den Schätzunsicherheiten nicht mit ausgefeilten Formeln und komplizierten Modellen zu Leibe zu rücken, sondern mit ausreichend Spielraum für Schätzfehler. Graham erwiderte einmal auf die Frage, wie er seine Anlagephilosophie in drei Worte fassen würde, mit „margin of safety“.
      Das „Konzept der Sicherheitsmarge“ besagt, dass man eine Aktie nur dann kaufen sollte, wenn der Preis, also der Kurs, deutlich unter dem inneren Wert liegt. Dazu sollte man zunächst einmal die künftigen freien Cashflows so konservativ schätzen, dass sie das Unternehmen mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest erreichen wird. Wenn die Summe der diskontierten Cashflows dann noch eindeutig über dem aktuellen Börsenwert liegt, so existiert eine komfortable Pufferzone für Schätzfehler und unvorhergesehene Ereignisse.
      Wer derart komplizierte Berechnungen nicht anstellen möchte, der kann auch mit einfacheren Kennzahlen eine intuitive Abschätzung vornehmen: Regelmäßig lässt schon ein niedriges KGV in Verbindung mit einem zumindest etwas höheren ROIC auf eine günstige Bewertung schließen. Betrachten wir ein Unternehmen mit einem KGV von 10 und einem (gleich bleibenden) ROIC von 15 Prozent. Wenn das Unternehmen sämtliche Gewinne einbehält, kann es aus eigener Kraft jedes Jahr um 15 Prozent wachsen.
      Selbst bei einem konstant niedrigen KGV von 10 würde das Ertragswachstum dann zu Kurssteigerungen von ebenfalls 15 Prozent pro Jahr führen. Sollte das Unternehmen aufgrund der Marktgegebenheiten nur noch mit 7,5 Prozent pro Jahr wachsen, dann kann die Hälfte der Gewinne ausgeschüttet werden. In diesem Fall erwachsen dem Anleger (bei konstantem KGV) Kurssteigerungen von 7,5 Prozent pro Jahr.
      Hinzu kommt noch eine Dividendenrendite von 5 Prozent pro Jahr, macht insgesamt 12,5 Prozent jährlich. Ein derartiges Unternehmen wäre mit einem KGV von 10 solide nach unten abgesichert, auch wenn man die Sicherheitsmarge nicht genau beziffern kann.
      Ohnehin gibt es keine feste Regel, wie hoch die Sicherheitsmarge sein muss, damit eine Aktie kaufenswert ist. Value-Investoren, die ihre Strategie rigide auslegen, mögen eine Sicherheitsmarge von 30 bis 50 Prozent fordern, was allerdings gerade in Zeiten allgemein hoher Börsenbewertungen viel Geduld und Disziplin bei der Unternehmensauswahl erfordert.
      Buffett selbst sieht es weniger dogmatisch: „Ihr Ziel als Investor sollte es einfach nur sein, zu einem vernünftigen Preis einen Teil eines leicht verständlichen Unternehmens zu kaufen, dessen Gewinne in 5, 10 und 20 Jahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beträchtlich höher sein werden als heute“. Im Zweifel sollte man eher Kompromisse beim Preis als bei der Qualität eingehen. „Unser Ziel ist es, herausragende Unternehmen zu einem vernünftigen Preis zu finden und nicht mittelmäßige Unternehmen zum Sonderpreis“, so Buffett. Dahinter steht die Erkenntnis, dass ein wirklich ausgezeichnetes Unternehmen durch seine dynamische Entwicklung den inneren Wert ständig steigern und damit schnell in den gezahlten Preis hineinwachsen kann. Bei einem weniger dynamischen Unternehmen besteht hingegen die Gefahr, dass eine einmal angestaute Unterbewertung über einen langen Zeitraum bestehen bleibt, weil der innere Wert nicht nachhaltig zunimmt.
      Zu guter Letzt: Welche Performance lässt sich mit der Value-Strategie erzielen?
      Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass sich mit der Value-Strategie über einen längeren Zeitraum bestmögliche Anlageergebnisse erreichen lassen.
      Warren Buffett, seines Zeichens zweitreichster Mann der Welt (hinter Bill Gates), hat es seit 1956 auf eine durchschnittliche jährliche Performance von ca. 25 Prozent gebracht. Peter Lynch erzielte zwischen 1977 und 1990 etwa 30 Prozent pro Jahr. Beide gehören zu den absolut Besten ihres Faches und markieren unzweifelhaft die obere Grenze dessen, was langfristig erreichbar ist. Wer Ihnen mehr verspricht, etwa werbewirksame „100 Prozent pro Jahr“, der hat entweder mangelnden Realitätssinn oder unlautere Absichten. Mit einem Startkapital von 100 Tsd. Euro und einer jährlichen Performance von 100 Prozen würde Ihnen in knapp 30 Jahren das gesamte private Geldvermögen der Deutschen – aktuell 8 Billionen und dann vielleicht 20 Billionen Euro – gehören.
      Kommentar überflüssig.
      Bleibt die Frage, was unter „bestmöglicher Performance“ für die nächsten Jahre zu verstehen ist. In den letzten 50 Jahren lag die durchschnittliche Aktienperformance an den wichtigsten Börsen immerhin bei etwa 10 Prozent p. a. Nun entspricht die Zukunft nicht zwangsläufig der Vergangenheit. Zumindest für die nähere Zukunft sind erhebliche Zweifel angebracht, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird. Buffett selbst prophezeit über die nächsten ein bis zwei Jahrzehnte im besten Fall eine Marktperformance von 6 bis 7 Prozent pro Jahr, und das auch nur, wenn die Zinsen weiterhin niedrig bleiben.
      Woher dieser Pessimismus? Im Grunde liegt es an dem immer noch sehr hohen Bewertungsniveau, das die Aktienmärkte trotz nunmehr zweijähriger Baissephase aufweisen. Betrachten wir exemplarisch die Leitbörse in den USA. Auf dem Höhepunkt der Aktienhausse der 90er Jahre, im März 2000, betrug der Marktwert aller dort gehandelten Aktien etwa 190 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Der historische Durchschnitt (seit 1924) liegt hingegen bei nur knapp 60 Prozent. Seit Mitte 2000 wurde zwar die oberste Spitze dieses Eisberges abgeschmolzen, jedoch befinden wir uns aktuell immer noch bei 150 Prozent.
      In Europa war die Entwicklung noch rasanter. Seit 1980 hat sich das Verhältnis von Börsenkapitalisierung zu Bruttoinlandsprodukt in den wichtigsten europäischen Ländern im Schnitt etwa verzehnfacht, in Deutschland immer noch mehr als versiebenfacht. In den USA hat sie sich im gleichen Zeitraum „nur“ verdreifacht. Zwar ist der Vergleich von Börsenkapitalisierung zu Bruttoinlandsprodukt insofern unscharf, als er nicht der gestiegenen Anzahl börsennotierter Gesellschaften Rechnung trägt. Doch auch die durchschnittliche Marktkapitalisierung je gelistetem Unternehmen hat sich rasant entwickelt.
      Allein zwischen 1990 und 1999 hat sie sich in Europa und an der New Yorker Börse in etwa verdreifacht. An der Nasdaq hat sie sich sogar mehr als verzehnfacht.
      Eine andere Kennzahl passt in dieses Bild und ist nicht minder beunruhigend. Aktuell werden amerikanische Aktien, gemessen am S&P 500, mit einem KGV von etwa 30 auf Basis 2002 bewertet. Der historische Durchschnitt liegt indes nur bei 15. Es mag müßig sein, aus solchen makroökonomischen Kennzahlen die Entwicklung des Gesamtmarktes auf Sicht von einem Jahr oder für einen noch kürzeren Zeitraum voraussagen zu wollen – und Value-Investoren werden dies am allerwenigsten versuchen. Aber längerfristig lassen sich die volkswirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten nicht mehr ausschalten. Wie Robert J. Shiller in seinem viel beachteten Buch „Irrational Exuberance“ zeigt, gibt es einen signifikanten historischen Zusammenhang zwischen dem aktuellen KGV des Aktienmarktes, gemessen am breiten S&P-Composite-Index (jetzt S&P 500), und seiner Performance über die jeweils nächsten 10 Jahre. In der folgenden Grafik markieren die einzelnen Einträge die Jahre zwischen 1881 und 1990 (wobei die Jahrhundertangaben weggelassen und die Jahre des 19. Jahrhunderts mit einem Stern versehen sind). Auf der X-Achse ist das KGV des Marktes im Januar eines bestimmten Jahres und auf der Y-Achse die durchschnittliche Jahresperformance (einschließlich reinvestierter Dividenden und bereinigt um Inflation) für die jeweils nächsten 10 Jahre abgetragen.
      Beziehung zwischen KGV und nachfolgender 10-Jahres-Performance des Aktienmarktes; Quelle: Robert J. Shiller, „Irrational Exuberance“
      Auch wenn die einzelnen Einträge der Punktwolke nicht wie an der Perlenkette aufgezogen sind, lässt sich doch ein klarer Trend erkennen: Je höher das Anfangs-KGV, desto magerer die Performance der nachfolgenden 10-Jahres-Periode. So gab es bislang kein Jahr, von dem aus mit einem Anfangs-KGV von
      über 20 eine Performance von mehr als 6 Prozent über die nächsten 10 Jahre erzielt wurde. Ein Anfangs-KGV von mehr als 25 gibt es überhaupt nur einmal, und zwar in 1929, dem Boomjahr vor der großen Depression der 30er Jahre. Die Performance der dann folgenden 10 Jahre lag nahe dem Nullpunkt.
      Aus diesem Blickwinkel lässt das aktuelle KGV des S&P 500 von 30 Schlimmes befürchten. Zumindest aber relativiert es die Performanceerwartungen für das nächste Jahrzehnt ganz erheblich. Mit der Buffett’schen Prognose von bestenfalls 6 bis 7 Prozent Marktperformance könnte man wohl hoch zufrieden
      sein. Wer den Markt schlagen möchte, der sollte ebenfalls seine Ziele anpassen. 10 bis 15 Prozent jährliche Performance könnten für Value-Investoren eine anstrebenswerte Zielvorgabe sein. Das mag auf den ersten Blick nicht spektakulär erscheinen, jedoch darf man sich nicht von den vermeintlich geringen Prozentaufschlägen zum Gesamtmarkt täuschen lassen. Über die Jahre entfaltet der Zinseszins-Effekt
      einen enormen Hebel. Nehmen wir zwei Depots mit einem Startkapital von 50 Tsd. Euro. Das eine soll entsprechend der Marktperformance mit 7 Prozent pro Jahr wachsen. Das andere – nennen wir es einfach Value-Depot – soll es auf 13 Prozent pro Jahr bringen.
      Nach 20 Jahren hat das Marktdepot dann einen Wert von 193 Tsd. Euro, also eine knappe Vervierfachung des Einsatzes. Das Value-Depot hat aber bereits einen Wert von 576 Tsd. Euro, das ist eine gute Verzehnfachung.
      Es macht sich also im wahrsten Sinne des Wortes bezahlt, auf die richtige Strategie zu setzen!
      Empfehlenswerte Basisliteratur für Value-Investoren:
      Copeland, Tom / Koller, Tim / Murrin, Jack: „Unternehmenswert“,
      3. Auflage, Frankfurt a. M. (2002)
      Cunningham, Lawrence A.: „Die Essays von Warren
      Buffett“, dt. Erstauflage, Berlin (2001)
      Fisher, Philip A.: „Die Profi-Investment-Strategie“, dt.
      Erstauflage, Rosenheim (1999)
      Graham, Benjamin: „Intelligent investieren“, 6. Auflage,
      München (2001)
      Lynch, Peter / Rothchild, John: „Der Börse einen
      Schritt voraus“, 4. Auflage, Kulmbach (1997)
      Porter, Michael E.: „Wettbewerbsstrategie“, 10. Auflage,
      Frankfurt a. M. (1999)
      Shiller, Robert J.: „Irrationaler Überschwang“, dt.
      Erstauflage, Frankfurt a. M. (2000)
      Avatar
      schrieb am 30.07.02 03:57:31
      Beitrag Nr. 31 ()
      thomtrader,

      der BdW-Artikel war gut, auch die Statistiken und andere Artikel darin.


      Hier mal einige Hintergründe zum Telco-Disaster. Faszinierend finde ich bei dem Ganzen vor allem, daß es sich aus meiner Sicht bei Worldcom oder Qwest nicht um Bilanzmanipulationen handelte sondern um Fälle der kreativen Buchhaltung, weil es die Regeln erlaubten, daß man Kosten bzw. Umsätze nicht periodengerecht verbuchen konnte. Worldcom schrieb Aufwendungen nicht sofort ab sondern aktivierte sie und ließ sie über längere Jahre amortisieren. Qwest betrieb u.a. mit Partnern Drehtürgeschäfte, bei denen gegenseitig Netzwerkkapazitäten ausgetauscht wurden und sofort Umsätze gebucht wurden, obwohl die Verträge längere Laufzeiten hatten. Bush fordert nun eidesstattliche Erklärungen der Firmen über die Richtigkeit der Abschlüsse, obwohl die SEC besser ihre Hausaufgaben machen sollte.




      Inside the Telecom Game

      How a small group of insiders made billions as the industry collapsed

      Telecom has been a disaster for just about everyone. Investors have lost some $2 trillion as stock prices have tumbled 95% or more from their highs. Half a million workers have lost their jobs during the past two years. Dozens of debt-laden companies, from Winstar Communications to Global Crossing, have collapsed into bankruptcy. And on July 21, the sector sank to a once-unimaginable low when WorldCom Inc., the company that embodied the industry`s power and promise, filed the largest bankruptcy claim in U.S. history.

      Yet a small group of CEOs and financiers managed to save the family silver before the house burned to the ground. Philip F. Anschutz, founder of ailing local and long-distance upstart Qwest Communications International Inc. (Q ), reaped $1.9 billion from company stock sales since 1998. Former Qwest CEO Joseph P. Nacchio sold $248 million worth of stock before he was pushed out of the scandal-plagued company in June. Global Crossing founder Gary Winnick sold $734 million of his shares before his company filed for bankruptcy in January. And former WorldCom CEO Bernard J. Ebbers borrowed some $400 million from his company before he was ousted in April--and that loan remains to be repaid.

      What do these execs have in common? They were all central players in a tight-knit telecom clique that dominated the communications industry in the second half of the last decade. Individually, some of these men were well known, but the ties among them are little understood even today. The group was linked through Salomon Smith Barney`s telecom analyst Jack B. Grubman, the son of a Philadelphia municipal worker who rose from his blue-collar roots to become one of the most powerful players on Wall Street. He helped raise money for Qwest, Global Crossing, and WorldCom, recommended their stocks to investors, attended board meetings, and was elbows-deep in working with them to plot strategy.

      Grubman`s influence stretched far beyond the three companies that have collapsed in scandal in recent months. According to Thomson Financial Securities Data, Salomon helped 81 telecom companies raise $190 billion in debt and equity since 1996, the year the Telecommunications Act was passed to deregulate the telephone industry. In return, Salomon, part of Citigroup (C ), received hundreds of millions in underwriting fees and tens of millions more for advising its stable of telecom players on mergers and acquisitions. Grubman himself was paid about $20 million a year.

      So powerful was Grubman in his heyday that he could direct development of the telecom industry. Like junk-bond king Michael Milken at the height of his power in the 1980s, Grubman`s word was good as gold. He could raise millions for startup players, win investor support for a proposed acquisition, or boost a company`s stock price. On Mar. 14, 2000, for example, he raised his price target for Metromedia Fiber Network, which Salomon had taken public, and its shares surged 16%, to about $46. MFN filed for bankruptcy in May. "Jack orchestrated the industry," says analyst Susan Kalla of investment company Friedman, Billings, Ramsey Group Inc.

      Individual investors may have jumped at Grubman`s picks because they thought he was doling out impartial advice on his favorite stocks--the traditional job of Wall Street analysts. But Grubman`s interests were deeply conflicted, and he came to personify the blurred lines between research and investment banking in the boom. More than any other telecom analyst, he was actively involved with the companies he covered. Many critics felt that made it impossible for him to be objective about those companies` prospects. For example, he helped Anschutz recruit Nacchio as Qwest`s chief executive in 1997, and he aided Global Crossing`s Winnick in his $11 billion acquisition of Frontier Communications in 1999. Could Grubman then step back and make critical assessments about Qwest and Global Crossing for investors?

      In the wake of the telecom meltdown, Grubman is facing more intense scrutiny than ever before. As the telecom bubble began deflating in 2000 and 2001 and other analysts began to warn that the industry was straining under the weight of excess capacity and enormous debt, he continued urging investors to load up on shares of Qwest, Global Crossing, WorldCom, and others. In March, 2001, Grubman issued a "State of the Union" report in which he wrote: "We believe that the underlying demand for network-based services remains strong. In fact, we believe that telecom services, as a percentage of [gross domestic product], will double within the next seven or eight years." Now, investors are questioning whether Grubman was motivated by his true opinions--or by the millions of dollars he received from supporting his telecom clique.

      Grubman, 48, knew he was crossing a line few analysts dared traverse. But he forcefully defended his dual roles. In a 2000 profile in BusinessWeek, he said he was the model of the modern Wall Street analyst. "What used to be a conflict is now a synergy," he said at the time. "Someone like me, who is banking-intensive, would have been looked at disdainfully by the buy side 15 years ago. Now, they know that I`m in the flow of what`s going on." At the time, Sanford Weill, Citigroup`s chairman, voiced support for Grubman`s activities, though he said analysts have to maintain their objectivity as stockpickers or "they will lose their credibility." Both men declined to comment for this story.

      Grubman`s credibility was strained even at the time. In the 2000 article, BusinessWeek reported for the first time that Grubman had lied on his official Salomon biography for years--claiming he had graduated from the prestigious Massachusetts Institute of Technology when his alma mater was really Boston University. He admitted the discrepancy at the time. "At some point, I probably felt insecure, and it perpetuated itself," he said. He also claimed to have grown up in South Philadelphia when he really was from Oxford Circle in the northeast part of Philadelphia. Both are blue-collar neighborhoods. But South Philly is a more historic neighborhood, the stomping grounds of singer Frankie Avalon and movie boxer Rocky Balboa, and would hold more appeal for a one-time amateur boxer like Grubman.

      Despite such issues, Grubman was able to wield his influence in the telecom industry, which benefited his inner circle. When analyst Vik Grover of Kaufman Bros. LP questioned Winstar`s prospects in January, 2001, Grubman blasted him in a research note issued later that day. "We believe this is highly irresponsible of the analyst since they do not have coverage of [Winstar], nor did they speak with senior management," he wrote. He also chastised Grover during Winstar`s quarterly conference call on Feb. 1. That helped buoy Winstar`s stock--but only for several weeks. Short of cash, the company, under CEO William Rouhana, filed for bankruptcy two months later, in April. The National Association of Securities Dealers is investigating whether Grubman`s recommendations on the stock violated its standards for stock analysts.

      Nowhere was Grubman`s loyalty more evident than with WorldCom. Other Wall Street analysts, including Daniel P. Reingold of CS First Boston, stopped recommending the stock last year because of its deteriorating long-distance business and slowing growth rate. Yet Grubman reiterated his "strong buy" regularly in 2001 because, he said, it had the "best assets in the telecom industry." Grubman didn`t downgrade WorldCom to a "neutral" until Apr. 22, when the company slashed its revenue targets for 2002. By that time, WorldCom`s shares had dropped about 90% from their peak, to $4.

      Grubman`s allies may have benefited from his actions in other ways. According to a lawsuit filed by David Chacon, a Salomon broker who was fired in 2000, Grubman doled out shares in hot initial public offerings to Ebbers, Nacchio, and several other telecom executives to win investment banking business. Ebbers allegedly received stock in broadband provider Rhythms NetConnections Inc. at the time of its initial public offering in 1999. When the upstart`s stock soared 229% in the first day of trading, Ebbers cashed out for a $16 million profit, according to the suit. If Chacon`s allegations are true, Salomon may have violated securities regulations that bar investment banks from paying individuals for banking business. Salomon denies the assertion.

      Now, Grubman`s entire network is unraveling. The Securities & Exchange Commission is investigating Qwest for alleged accounting improprieties in what has become a criminal probe. Global Crossing is under investigation by the Securities & Exchange Commission, the FBI, and two congressional committees. WorldCom faces scrutiny from the SEC, the Justice Dept., and the House Energy & Commerce Committee. WorldCom has admitted to a $3.8 billion accounting error in its financial statements. A spokesman says the company "supports the investigators and wants them to get to the bottom of things so we can all move forward." Qwest and Global Crossing have denied any wrongdoing. Global Crossing execs were not available for comment. A spokesman for Qwest says, "We worked with [Grubman] as we would any analyst."

      Grubman is under the microscope, too. Besides the NASD, he is being investigated by New York Attorney General Eliot Spitzer and U.S. Attorney James B. Comey in Manhattan. He was called before the House Committee on Financial Services on July 8 to explain his role in the WorldCom accounting scandal--and was hammered by legislators. "We have an independent analyst who is neither independent and apparently can`t analyze," said Michael E. Capuano (D-Mass.). "My major fear is that you`ll get away with it." Salomon has supported Grubman, although Citigroup said in July that it would support a ban on analysts participating in many investment banking activities.

      Grubman has defended his actions before Congress and elsewhere. He said that he helped Qwest, Global Crossing, WorldCom, and others raise billions of dollars because he saw a brilliant future for the telecom industry. He thought a rapid deployment of broadband connections to businesses and consumers around the country would lead to a surge in Internet traffic that would require the creation of new networks with vast amounts of capacity. He admits he was wrong in his analysis. But he says he was not motivated by conflicted interests. "I am saddened by the events that have brought us here," he told congressional probers on July 8. "I am sorry to see investors suffer losses. I am sorry to see employees laid off."

      No question, the damage caused by Grubman and his circle of insiders is threatening to undermine the health of the telecom industry. While Grubman and his allies encouraged investors to cough up the billions of dollars needed to make huge new capital investments in fiber-optic networks and broadband connections, it`s now clear that that vision of the future was wildly hyped. Billions in investments are going to waste, as little as 3% of new long-distance networks are being used, and investors are fleeing the sector. Even once-stable players are suffering. On July 23, local-phone giant BellSouth said WorldCom owes the company $75 million to $160 million, contributing to a 15% drop in BellSouth`s stock price that day.

      The crisis could relegate the U.S. to second-class status in the communications industry. In the 20th century, U.S. phone services were the envy of the world, reaching 95% of the population and operating with 99.999% reliability. They played a crucial role in the U.S.`s economic development and even served as a strategic asset in World War II, thanks to innovations such as early wireless communications. But in recent years, the rollout of high-speed Net access and other services has been led by other nations, such as South Korea and Japan. As telecom companies cut back on capital spending, it will be harder to catch up. "The U.S. is already behind, and will likely fall further behind as telecom companies find it extremely difficult to raise funds in the near term," says James Glen of Economy.com.

      Already, the fallout is brutal. The $2 trillion in losses that telecom investors have suffered is twice the damage caused by the bursting of the Internet bubble and on a par with the savings- and-loan crisis of the late 1980s. Bank exposure to the telecom mess is tens of billions of dollars. Worse, the investigations into WorldCom, Global Crossing, and Qwest, layered on top of the Enron scandal, are dealing a huge blow to investor confidence. They`ve led the entire stock market down as the Standard & Poor`s 500-stock index has tumbled 29% drop so far this year.

      It wasn`t supposed to turn out this way. The incestuous telecom players had a legitimate business idea: making the U.S. industry the most competitive in the world. Deregulation in 1996 allowed any company, including long-distance players such as AT&T (T ) and WorldCom, to move into the local telephone business and compete against the Bells. One of the first success stories was MFS Communications Co., which was started in the early 1990s by execs from construction giant Peter Kiewit & Sons in Omaha. MFS built local phone networks around the country. After WorldCom decided to move into the local business in 1996, it bought MFS for the then-unheard-of price of $10 billion.

      It was a windfall for everyone involved. Top MFS execs, such as James Q. Crowe and Royce J. Holland, made tens of millions apiece. WorldCom`s banker, Salomon Smith Barney, reaped tens of millions in fees. Even WorldCom shares rose, which is unusual for a company that plays the acquiring role in a deal. But the company had a key supporter: Grubman, who endorsed the deal.

      The temptation to keep using the formula was irresistible. MFS execs left WorldCom to set up new telecom companies. Crowe created long-distance data upstart Level 3 Communications Inc. (LVLT ), and Holland created local-service competitor Allegiance Telecom Inc. (ALGX ), both of which received funding from Salomon and glowing recommendations from Grubman. "These guys decided they should all jump on the Net bandwagon. They were all trying to tap markets as quickly as possible before others jumped in first," says telecom analyst Glenn Waldorf of UBS Warburg.

      Grubman and the telecom execs argued that the market could easily absorb all the new capacity. At one road show after another, from the meeting halls of San Jose, Calif., to the dining rooms of plush Manhattan hotels, Crowe stood before audiences, charming them with the bearing and voice of a senior military official. He argued that the telecom sector was going through the same sort of changes that had spawned successful startups in the software and computer industries. He said that "Silicon economics" would allow upstarts such as Level 3 to offer more capacity at lower prices than mature rivals such as AT&T. And the demand for these networks would soar as voice communications gave way to e-mail, pictures, video--even holograms, Crowe said. Investors ate it up, and the shares of these companies soared.

      Before long, the line of entrepreneurs waiting for funding stretched out the door. Salomon funded upstarts Qwest, Global Crossing, Teligent, Winstar, Rhythm, Williams Communications, Focal, and dozens more. "WorldCom delivered such success that Grubman had [other telecom executives] mimic [WorldCom`s approach]," Kalla says. "He would put them up on the pulpit at his conferences, where they were the keynotes. It was just very well orchestrated."

      Meantime, Grubman was becoming a star. He rose from humble roots--his father was a construction manager for the city of Philadelphia, and his mother worked in a dress shop. A math whiz, he worked at AT&T from 1977 to 1985, doing quantitative research, among other things, and then jumped to Wall Street. But it was moving to Salomon in 1994 that gave him the chance to become the most powerful analyst in his field.

      His formula for his success was to grow increasingly close to the managers at the telecom companies he was covering. He recruited execs, helped plot strategy, and advised on mergers. For example, he helped Ebbers launch WorldCom`s hostile bid for MCI in 1998, which resulted in the $43 billion acquisition. In his congressional testimony on WorldCom, Grubman revealed that he had attended "two or three" board meetings at WorldCom at the company`s headquarters in Mississippi. Rival analysts chafed at Grubman`s chumminess with the execs he was covering. "He`d get on a company`s conference call and just start talking about what he thought about the company," says one analyst. "We all had questions for the company, and he was asking them `so, how about that dinner last night, huh?"`

      The relationships in Grubman`s network go back years. Clark McLeod sold his long-distance upstart to MCI in 1990 for $1.25 billion, pocketing $50 million. Then, in the mid-1990s, Grubman and the bankers at Salomon helped him launch a new company called McLeod Communications, raising $3.4 billion for construction of a 31,000-mile telephone network. McLeod, a Midwesterner who handed employees copies of his book This Way Up, boldly promised that revenues would hit $11 billion by 2007. Grubman maintained a buy rating on the company--right until it declared bankruptcy in January of this year with $1.8 billion in revenue.

      At first, no one ever worried about whether these telecom upstarts were making money. Even older telecom players, such as MCI and Sprint (FON ), needed years to invest in their network. MCI didn`t turn profitable for more than a decade. When Grubman helped them raise money in the late 1990s, the Internet bubble was in full swing, and claims that rising data traffic would allow them to become profitable someday sounded believable. The unspoken assumption was that they would be acquired anyway by the likes of WorldCom, AT&T, or one of the Bells.

      These assumptions were shaken when the Internet bubble burst in March, 2000. As one dot-com after another went bust, the growth of data traffic slowed. Network utilization on all the new optical telecom networks fell to just 3%, and prices started plunging 50% a year. The capital windows quickly slammed shut.

      Telecom executives realized that they could never deliver on their promises of revenue growth of 20% or more. But rather than come clean to investors, an alarming number of them resorted to misleading accounting practices to preserve the illusion of stability. In the first six months of 2001, Qwest sold $857 million worth of network capacity to Global Crossing and other carriers. It also bought $450 million worth from Global Crossing and other carriers. That helped Qwest`s revenue rise 12% for the first half of the year. Without those deals, Qwest revenue would have increased only 7%.

      Such deals may have allowed senior management to cash out before the bubble finally burst. In May of last year, Winnick sold $123 million worth of Global Crossing stock. That same month, Anschutz sold $230 million worth of Qwest stock. The SEC is investigating both companies.

      With investors losing trillions of dollars and dozens of telecom players in bankruptcy, there are growing calls for tough action against those responsible. Grubman, certainly, will face more scrutiny. New York Attorney General Spitzer has subpoenaed his research records, e-mail, and other documents. If Spitzer finds wrongdoing, Salomon may have to pay a fine or even discipline Grubman. The U.S. Attorney`s investigation could even result in criminal charges.

      Two years ago, Grubman claimed he was creating a new model for Wall Street analysts. Today, it`s a model that Grubman--and most telecom investors--may wish they had never heard of.


      By Steven Rosenbush in New York, with Heather Timmons in New York, Roger O. Crockett in Chicago, Christopher Palmeri in Los Angeles, and Charles Haddad in Atlanta
      Avatar
      schrieb am 31.07.02 13:33:56
      Beitrag Nr. 32 ()
      Hallo Thomtrader, du Alleinunterhalter ;)

      Schöner Artikel, der das Wesentliche eines Aktienengagments darstellt.



      1) Befindet sich das Unternehmen in einer ausgezeichneten wirtschaftlichen Verfassung?
      (2) Besitzt das Unternehmen eine Wettbewerbsposition, die auch in Zukunft eine positive Entwicklung ermöglicht?
      (3) Wird das Unternehmen von aufrichtigen Managern geleitet, die wie Eigentümer handeln?
      (4) Kann die Aktie des Unternehmens zu einem Preis gekauft werden, der deutlich unter dem inneren Wert liegt?
      Zweifellos wird man nur selten auf Unternehmen treffen, bei denen alle vier Fragen eindeutig und uneingeschränkt mit „Ja“ beantwortet werden können.



      Vor lauter Charttechnik, Sentiment e.t.c. vergißt man häufig, das obige Fragen die entscheidenden sind.

      Meine Frage an dich als vermutlich erfahrener value-Anleger: ich beabsichtige trotz sinkendem Dollarkurs in Johnson & Johnson zu gehen, und zwar eher langfristig als kurzfristig. Die Punkte 1 + 2 (wirtschaftliche Verfassung + künftige Entwicklung würde ich als "gut" bezeichnen). Punkt 3 (Vertrauen in managment) könnte ich nicht beantworten und Punkt 4 "Bewertung" würde ich als historisch attraktiv (allerdings kein ausgesprochenes Schnäppchen) bezeichnen. An der J&J gefällt mir besonders ihre weitgehende Konjunkturunabhängigkeit und das sie nicht die Probleme der reinen Pharmafirmen (auslaufende Patente) hat. Insofern halte ich J&J für eines der "sichersten" Invests, die man tätigen kann. Würde mich mal interessieren, wie du dazu stehst! Anregungen und Kritik erwünscht. :)


      MfG Ignatz


      PS. ich merke, wie ich z. Zt. doch reichlich verunsichert bin.
      By the way, der link zu "valueinvest" funktioniert leider nicht!
      Avatar
      schrieb am 05.08.02 01:04:27
      Beitrag Nr. 33 ()
      Hallo zusammen,

      DimStar,

      Ich sehe die ganze Krise um Worldcom & Co. mittlerweile posiv, das die Krise die Marktbereinigung sehr schön beschleunigt. Das kreative Buchführung im Rahmen der Legalität betrieben wurde, war ja schon lange vor der Pleitewelle bekannt. Dank der Pleiten wird nun diese Praxis, zumindest etwas eingeschränkt werden.
      Ohne der Krise wären auch mit Sicherheit nie die unverschämten Stock-Options-Programme, in der Offentlichkeit unter Beschuss geraten. Es besteht nun die berechtigte Hoffnung das bei vielen Firmen die Optionsprogramme als Aufwand verbucht werden. Hättest du dir das vor ein paar Monaten vorstellen können? - Ich nicht.
      Ich weiß, wenn nun die Option nach BlackScholes verbucht werden, ist daß dann auch nicht die optimale Lösung.


      Ignatz,

      (4) Kann die Aktie des Unternehmens zu einem Preis gekauft werden, der deutlich unter dem inneren Wert liegt?

      Das ist der für mich, mit weiten Abstand am wichtigste, ja sogar alles entscheidende Punkt! Kein Valueinvestor kauft eine Aktie über ihren inneren Wert, tut es denoch, ist er kein Valueinvestor.


      Als erfahrenen Valueanleger würde ich mich noch nicht bezeichnen. Dazu müssen schon noch viele erfolgreiche Börsenjahre vergehen.

      Zu JNJ:
      Eigentlich ein sehr gutes Unternehmen.(Kennzahlen wie Wachstum, ROE, Eigentkapitalquote,......... alle erste Klasse.) Bei Unternehmen mit ähnlich hohen Marktkapitalisierungen zählt JNJ mit zu dem besten was man kriegen kann. Ich würde die Aktie aber trotzdem nicht kaufen. Die von mir erwartete Rendite ist mir zu gering. Ich erwarte von der JNJ-Akie ein Rendite von ca. 8% p.a.
      Das liegt unter den von vor mir geforderten 10%p.a. Deshalb kein Kauf.
      Wie komme ich auf die 8%. Ganz einfach die 8% setzen
      sich zusammen aus:

      4% Gewinnrendite(KGV ca. 25)

      + 5% Gewinnwachstum(Das liegt sehr sehr deutlich unter dem langjährigen Durchschnitt. Die Einschätzung kommt daher, das ich unter anderem für den Pharmasektor und für Konsumartikel wie JNJ sie vertreibt, nicht sonderlich optimistisch bin. Außerdem hat JNJ mittlerweile eine Größe erreicht, mit der ein flottes Wachstum immer schwieriger wird. JNJ wird, wenn sie die Wachstumsrate aufrechterhalten wollen, verstärkt andere Firmen übernehmen. Die funktioniert aber nur gut´, falls die eigene Aktie auf hohem Niveau gehalten werden kann, und somit eine gute Aquisitionswährung ist.

      -1% Verwässerung der Aktienanzahl aus der Begebung von Aktienoptionen.


      Ein weiterer Grund warum ich die Aktie nicht kaufen, und das Research intensieveren würde ist, das JNJ ein riesiges Unternehmen mit mehreren Geschäftsfeldern und hunderten Produkten ist, und eine genaue Analyse sehr, sehr zeitaufwendig ist.



      Ich weiß nicht was aus der Web-Site www.valueinvesting.de und dem dazugehörigen Börsenbrief geworden ist?? Ist er wegen mangelder Nachfrage eingestelllt???



      mfg thomtrader
      Avatar
      schrieb am 05.08.02 13:01:05
      Beitrag Nr. 34 ()
      @ thomtrader

      Danke für deine Einschätzung. J&J gefiel mir wegen ihrer hervorragenden Marktstellung und konjunkturunabhängigen Produkten. Kritisch ist hier sicherlich die hohe MK, die kein überdurchschnittliches Wachstum mehr zuläßt.

      Mein Hauptfavorit ist und bleibt allerdings die koranische Samsung, ein diversifizierter Technologiekonzern mit einem aktuellen KGV von 3-5 :). Ist zwar Technologie, aber mit emerging-markets- und Zyklikerabschlag.


      Gruß Ignatz
      Avatar
      schrieb am 05.08.02 22:53:00
      Beitrag Nr. 35 ()
      Valueinvesting wurde eingestellt. Vielleicht erinnerst du dich an Stisweekly und Performaxx. Die hatten mal 24.000 Gratisabonennten, von denen aber nicht mal eine Handvoll das optisch teure Angebot von dem "Nachfolger" wahrnehmen wollten. Es ist wohl extrem schwierig derzeit sowas an den Mann zu bringen, das rechnet sich auch dann nicht, wenn man gar keine Personal- und Reisekosten hätte. Ich bin mir sicher, daß das Konzept langfristig richtig gewesen wäre (siehe OID), aber derzeit will keiner von Aktien was lesen sondern seine Reibungskosten minimieren. Ich habs ja auch nicht abonniert. Schließlich gibt es auch jede Menge anderer Literatur im Internet für lau und um zu wissen wo ich investieren soll brauche ich nichts weiter als Geschäftsberichte.
      Avatar
      schrieb am 14.08.02 23:19:48
      Beitrag Nr. 36 ()
      Der Tycoon-Faktor


      Die Zeit der Celebrity-Vorstände ist abgelaufen.

      Unternehmenslenker mit hohem Unterhaltungswert wurden in den USA als Celebrity-Vorstände bezeichnet. Nach Auswertung von 1435 TV-Auftritten kam der US-Autor Jim Collins vor kurzem zu dem Ergebnis, dass die Aktien-Performance eines Unternehmens umso schlechter ist, je häufiger der Vorstandsvorsitzende im Fernsehen auftritt.

      Zusätzlich hat eine wissenschaftliche Studie der britischen Beratungsfirma Oliver, Wymen & Company nachgewiesen, dass prominente und schillernde Vorstände die größten Unternehmenspleiten hinlegen. Der von diesem Haus entwickelte Tycoon-Faktor misst, wie stark der Umsatz nach dem Einstieg eines neuen Chefs angezogen hat. Ausschlaggebend für die rasanten Umsatzzuwächse seien vor allem Übernahmen und Fusionen gewesen, mit denen der jeweilige Firmenchef immer weiter in den Blickpunkt der Öffentlichkeit bzw. der Medien rückte. Im Ergebnis wird Gary Winnick, dem Chef von Global Crossing, der höchste Tycoon-Faktor zugebilligt. Auf den nächsten Plätzen folgen Bernard Ebbers von Worldcom, Richard Notebeart von Qwest, Jeff Skilling und Kenneth Lay von Enron und Dennis Kozlowsky von Tyco.

      Diesen Herren und dutzenden anderen dürfte es jetzt mächtig an den Kragen gehen, nachdem die Stimmung in der Öffentlichkeit massiv gedreht hat. Früher wurden die Manager für ihre Leistungen bewundert, während heute niemand mehr dafür Verständnis hat, wie Manager von Pleiteunternehmen zu Multimillionären werden konnten. So hat Gary Winnick ein Privatvermögen von 512 Millionen Dollar, und Kenneth Lay kommt auf 247 Millionen. Das Management von Qwest verdiente zusammengenommen nicht weniger als eine halbe Milliarde Dollar.

      Umfragen zufolge liegt die Wertschätzung von US-Top-Managern noch unter der katholischer Priester, die durch Pädophilen-Skandale aufgefallen sind. Da es aber nur einige wenige „Betrüger“ sind, die quasi das Gesicht der gesamten Wirtschaft ruinieren, arbeitet der US-Gesetzgeber mit hohem Druck an neuen Regularien. Nach dem Entwurf des Repräsentantenhauses sollen leitende Beschäftigte, die mit Absicht Bilanzen fälschen, zukünftig bis zu 20 Jahre hinter Gitter! Zudem soll es Strafen bis zu 5 Millionen Dollar geben, wenn der US-Börsenaufsicht vorsätzlich falsche Angaben gemacht werden.

      In den USA ist zwar immer alles ein wenig mächtiger, doch auch in Deutschland ist die Ära der Celebrity-Manager beendet. Gerhard Schmid von MobilCom und - als unbestrittener Star-Tycoon - Thomas Haffa von EM.TV sind Geschichte. So gesehen, müsste die Deutsche Telekom mit ihrem 72 Jahre alten neuen Chef Helmut Sihler jetzt eigentlich wieder ganz gute Chancen haben...

      12.08.2002

      http://nachrichten.boerse.de/anzeige.php3?id=4288a841
      Avatar
      schrieb am 14.08.02 23:22:26
      Beitrag Nr. 37 ()
      Vorsicht, Globalisierungslügner!

      Mit einer Mischung aus Staat und Markt sind die reichen Industrienationen zu ihrem Wohlstand gelangt. Diesen Weg verwehren sie heute den Entwicklungsländern, indem sie überall in der Dritten Welt auf offene Grenzen pochen

      Von Wolfgang Uchatius



      Armut verkauft sich gut. Wenn einer sagt, die Reichen seien noch nicht reich genug, hört ihm keiner zu. Aber wenn während irgendwelcher Wirtschaftsgipfel junge Leute durch die Straßen laufen, im Kampf gegen das Elend in Lima, Lagos und Jakarta, dann kommen Zehntausende mit. Dann antworten Konzernchefs und Finanzminister, auch ihnen läge nichts näher, als den Hunger zu mindern. Dann buhlen Steinewerfer und Anzugträger auf einmal um die Freundschaft derselben 1,2 Milliarden Menschen. So hoch beziffert die Weltbank die Zahl derer, denen nicht einmal ein Dollar am Tag zum Leben bleibt. "Die Armen dieser Welt stehen inzwischen im Mittelpunkt der Globalisierungsdebatte", sagt der Ökonom Dani Rodrik von der Harvard-Universität.

      Das ist insofern seltsam, als die Kinder in der Dritten Welt auch vor zehn Jahren schon arm waren. Damals mussten sogar 1,3 Milliarden Menschen mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen. Aber im Norden interessierte das kaum jemanden - abgesehen von den Kirchen und einigen Hilfsorganisationen. 1992 fand in Rio de Janeiro die große Weltkonferenz Umwelt und Entwicklung statt, aber wer damals Teil einer Jugendbewegung sein wollte, sorgte sich weniger um Armut als um die Sicherheit der Atomkraftwerke.

      Vorbei. Ende August trifft sich die Welt in Johannesburg zur Folgekonferenz Rio plus 10, und plötzlich rollt das, was Jörn Kalinski von der Hilfsorganisation Oxfam "eine neue Welle des Interesses" nennt: Diplomaten wie Demonstranten - alle reden von Armut und Gerechtigkeit. Als ob die Welt sich verändert hätte.

      Sie hat sich verändert. Wo einst der angelsächsische Freimarkt, die deutsche soziale Marktwirtschaft, der skandinavische Wohlfahrtsstaat und der japanische Korporatismus nebeneinander existierten, machte sich in den vergangenen Jahren der Glaube breit, es gäbe unter den Wirtschaftssystemen so etwas wie einen Big Mac: ein allen Konkurrenten überlegenes Einheitsprodukt, das jedem schmeckt, überall auf der Welt gleich aussieht und alle Menschen satt macht.

      Dieser Glaube fand seinen Ausdruck in den Kreditauflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, in den Vereinbarungen der Welthandelsorganisation (WTO) - und nach Angaben der Vereinten Nationen allein in den neunziger Jahren in weltweit 1200 Gesetzen und Verordnungen. Mit jedem dieser neuen Paragrafen veränderten die Regierungen den Regulierungsgrad ihrer Volkswirtschaften. Und egal, ob Amerika, Europa, Afrika oder Asien - in 95 von 100 Fällen war das Ziel dasselbe: deregulieren und liberalisieren. Die Grenzen öffnen für ausländische Güter und Kapital! Das kann man Globalisierung nennen. Aber auch einfach: freie Marktwirtschaft weltweit.

      Oder: Turbo-, Casino- und Raubtierkapitalismus. Um diese Wörter mit Leben zu füllen, haben die Demonstranten von Seattle und Genua die alten Armutszahlen neu entdeckt, die ihnen zu Zeiten des streng regulierten Marktes ein schlechtes Gewissen bereiteten, aber nichts weiter. "Aus Antikapitalisten sind Antiglobalisierer geworden", meint Jagdish Bhagwati, Ökonom an der New Yorker Columbia-Universität. Demnach fühlen sich Globalisierungsgegner weniger durch den alljährlichen Tod von rund zehn Millionen Kindern provoziert, deren Eltern das Geld für Medikamente fehlt. Sondern eher von einer Wirklichkeit gewordenen Vision. Von der Entfesselung der Marktkräfte.

      Den Menschen in Lateinamerika, Afrika und Asien kann solcherlei Scheinheiligkeit allerdings egal sein. Wichtig für sie ist, dass die aus dem Norden endlich nach Süden schauen. Zwar ist der klaffende Unterschied zwischen Arm und Reich seit Jahrzehnten in der Welt, ihn aber als normal zu deklarieren - das traut sich niemand. So sind die Armutszahlen zu einer Art ökonomischen Tachometer geworden: Ihre Veränderung zeigt an, ob der globale Kapitalismus seine sozialen Versprechen hält.

      Zwischen 1980 und 1995 erhöhte sich das Gesamtvermögen der 100 größten transnationalen Konzerne dieser Welt um 700 Prozent. Jetzt müssen sich die Konzernchefs die Frage gefallen lassen, wem das hilft: Ist die Globalisierung, ist die weltweite Befreiung der Marktkräfte der rechte Weg, die Armut in der Welt zu mindern?

      Auf den ersten Blick lautet die Antwort: Nein! Die neunziger Jahre waren das Jahrzehnt, in dem die Globalisierung so richtig in Schwung kam, und die Neunziger waren für die meisten armen Länder eine lange Enttäuschung. Der Abstand zwischen Erster und Dritter Welt wuchs weiter. In Lateinamerika lag das Wirtschaftswachstum deutlich unter dem Durchschnitt früherer Jahre. In großen Teilen Osteuropas war das Pro-Kopf-Einkommen am Ende des Jahrzehnts niedriger als am Anfang. Selbst in einem der ökonomisch erfolgreicheren Länder wie Polen ist die Armutsrate heute höher als unter der kommunistischen Regierung. Und Afrika? Der kleine Inselstaat Mauritius meldet überraschende Prosperität. Aber sonst? In Afrika nichts Neues.

      Schlechte Nachrichten für Globalisierungsfans. Der weltweite freie Markt hat die Armen nicht reicher gemacht. Oder doch? Zwar ist in vielen Entwicklungsländern die Wirtschaft nur schwach gewachsen, hat sich das Elend kaum vermindert. Aber nicht alle haben sich gleichermaßen in die Weltwirtschaft integriert.

      Vergangenes Jahr unterteilten die Weltbankökonomen David Dollar und Aart Kraay in einer Studie mehrere Dutzend Entwicklungsländer in "Globalisierer" und "Nichtglobalisierer", je nachdem, ob sie in den vergangenen 20 Jahren zunehmend mehr Güter aus dem Ausland im- und dorthin exportierten oder nicht. Das Ergebnis: Die Globalisierer verzeichnen ein deutlich höheres Wirtschaftswachstum und niedrigere Armut als die Nichtglobalisierer. Vietnam übertrifft Burma, Bangladesch schlägt Pakistan, Costa Rica steht besser da als Honduras, und ganz oben auf der Liste der Erfolgreichen rangieren Indien und China. Die beiden größten Länder der Welt haben auch ökonomisch mächtig an Stärke gewonnen. Die chinesische Wirtschaft wuchs seit 1990 um jährlich 8,1 Prozent, die indische um 3,4 Prozent.

      Das wirkte sich auf die ganze Welt aus. Denn das hohe Wirtschaftswachstum ließ die Armut sinken, und jeder zweite Arme dieser Welt lebt in Indien oder China. So kommt es, dass die Zahl der Menschen, die mit weniger als einem Dollar am Tag überleben müssen, von 1,3 auf 1,2 Milliarden sank - bei gleichzeitig wachsender Weltbevölkerung. Die chinesischen und indischen Exporte zahlten sich aus. Jene Antiglobalisierer, die wie der Amerikaner David Morris vom Institute for Local Self-Reliance behaupten, Handel sei prinzipiell schädlich, geraten durch diese Zahlen schwer in Erklärungsnot.

      Allerdings auch jene Globalisierungsgläubige, die für das Gute stets den Markt und für das Schlechte den Staat verantwortlich machen.

      Denn die starken Im- und Exporteure sind keineswegs Länder, die ihre Wirtschaft besonders stark liberalisiert haben. Auch die Weltbank räumt das offiziell ein. Weder weisen Indien oder Malaysia eine besonders niedrige Staatsquote auf, noch haben Vietnamesen, Indonesier oder Chinesen ihre Importzölle besonders weit gesenkt.

      Für jeden überzeugten Wirtschaftsliberalen ist China ein Albtraum. Dort regieren nicht Freimarktfreunde, sondern Kommunisten, die sich langsam für eine verhaltene Form des Kapitalismus erwärmen. Nach wie vor gehört das riesige Land zu den am meisten abgeriegelten Volkswirtschaften der Welt, erst im vergangenen Jahr ist es überhaupt der WTO beigetreten. "China hat nicht einmal im größeren Stil private Eigentumsrechte eingeführt, nicht zu reden von der Privatisierung von Staatsunternehmen", sagt Harvard-Ökonom Dani Rodrik.

      Ganz ähnlich Indien. Auch dort liegen die Zollsätze und andere Importbarrieren noch immer auf relativ hohem Niveau. Bis heute hat Indien sich nicht den Weltfinanzmärkten geöffnet - und blieb prompt von der Asienkrise verschont. Eine böse Ironie der Geschichte also: Knapp 15 Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus erzielen ausgerechnet zwei noch immer halb sozialistische Nationen außergewöhnlich hohe Wachstumsraten.

      Die übrigen asiatischen Aufsteiger folgten einem ähnlichen Muster: Egal, ob Taiwan, Thailand, Korea, Malaysia oder Vietnam - mit Ausnahme der Stadtstaaten Hongkong und Singapur sind diese Länder nicht gerade mit der Freimarktdoktrin zu Wohlstand gelangt. Zwar bedienten sie sich der Märkte, schränkten diese aber ein, durch Kontrollen, Regularien und Subventionen.

      So ergibt sich ein für die groben Augen vieler Globophober und Globophiler unangenehm schattiertes Bild. Einerseits haben arme Länder, die auf den Weltmarkt setzen und Exportgüter produzieren, gute Chancen, zu weniger armen Ländern zu werden. Deshalb irren die Globalisierungsgegner. Schaut man andererseits, welche Entwicklungsländer auf dem Weltmarkt Fuß fassen konnten, dann waren das "ausgerechnet jene, die gegen fast alle Paragrafen des wirtschaftsliberalen Regelbuches verstießen", so Entwicklungsforscher Rodrik. Deshalb liegen auch die Globalisierungsanhänger daneben.

      Umso merkwürdiger ist es, wie rechtsliberale Ökonomen den dauerhaften Misserfolg in Afrika und großen Teilen Lateinamerikas erklären. Die dortigen Regierungen hätten ihre Wirtschaft nicht liberalisiert, bemängelt das amerikanische Cato-Institut in einer Studie. Wirklich? Der IWF berechnet regelmäßig, wie sehr einzelne Länder ihre Grenzen für ausländische Produkte geöffnet haben. Demnach gehören Staaten wie Uganda, Peru und Haiti zu den am schnellsten liberalisierten Volkswirtschaften der Welt. Mosambik, Sambia und Mali sind offener als Großbritannien, Frankreich oder Deutschland. Trotzdem ist Afrika ein ökonomischer Trauerfall. Das ist auch keine große Überraschung. Zum einen blieben in dem von Tyrannen geschlagenen Kontinent seit 1945 nur vier Länder von bewaffneten Konflikten verschont. Und zum anderen ist Afrika das Paradebeispiel für eines der ältesten Missverständnisse in der Ökonomie.

      Im Jahr 1817 erfand der englische Wissenschaftler David Ricardo die Theorie des "komparativen Kostenvorteils". Demnach fährt jede Volkswirtschaft am besten, wenn sie sich auf bestimmte Produkte spezialisiert - und zwar auf jene, die es unter allen Produkten am effizientesten herstellen kann. Dort ist der komparative Vorteil für dieses Land am größten. Den Rest kauft es im Ausland, weshalb Handelsbarrieren aller Art nur schädliche Hindernisse sind, angelegt zum Schutz der Unbeweglichkeit.

      Nach diesem Ansatz müssten die Entwicklungsländer vor allem Agrarprodukte und Rohstoffe herstellen, die Industrieländer dagegen Industrieprodukte. Daran haben sich die meisten afrikanischen Länder durchaus gehalten. Ghana etwa exportiert seinen Kakao nach England, importiert von dort Schokolade - und ist immer noch ein Entwicklungsland. "Die Afrikaner sind auf den Ricardo-Gütern hängen geblieben", sagt der Leipziger Ökonom und Afrikanist Robert Kappel.

      Mit Kakao allein lässt sich auf Dauer kaum Geld verdienen, sondern nur mit höher verarbeiteten Produkten - die inzwischen 75 Prozent des Welthandels ausmachen. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Paul Krugman hat das schon Mitte der Achtziger betont, als er sagte, Handel allein sei nicht ausreichend, entscheidend sei die Industrialisierung.

      Man könnte auch sagen, entscheidend ist, nicht bei den Champignons stehen zu bleiben. Auf deren Produktion hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg das verarmte Taiwan spezialisiert - und wäre arm geblieben, hätte es nicht die Einnahmen aus dem Champignonexport in den Aufbau einer eigenen Industrie gesteckt. Und hätten die Taiwanesen diese Industrie nicht am Anfang mit hohen Zöllen vor der Konkurrenz aus dem Ausland geschützt und die ersten Exporte mit massiven Subventionen gefördert.

      Anstatt sich mit dem bestehenden komparativen Kostenvorteil zu begnügen, schufen sie neue. Zunächst produzierten die Taiwanesen Handbohrer und Kaffeemaschinen, später Plattenspieler und Kassettenrekorder. So stiegen sie vom Entwicklungsland zum Industrieland auf und bauten langsam die Handelsbarrieren ab. Die Taiwanesen folgten damit dem Entwicklungspfad der Europäer und Amerikaner, die ebenfalls mit wachsendem Wohlstand dem Markt wachsenden Raum gaben. Womit sich ein weiteres Mal ein jahrzehntealtes Muster bestätigte: dass offenbar kein Land mit den Marktkräften allein zu Reichtum kommt. Und sich dann zunehmend des freien Marktes bedient, um seinen Wohlstand zu erhalten.

      Ein möglicher Weg auch für Afrika? Theoretisch ja, praktisch nein. Nicht, weil die Demokratie in Afrika schwach ist. "Auch in Taiwan, Korea oder Malaysia waren es Entwicklungsdiktatoren, die ihre Länder nach vorn brachten", sagt der Duisburger Entwicklungsexperte Franz Nuscheler. "In Afrika aber haben wir Diktatoren ohne Entwicklung." Herrscher, denen viel am eigenen Profit liegt und wenig am Fortschritt des Landes.

      Selbst wenn südlich der Sahara demnächst zu Dutzenden "gute Regierungen" anträten - der asiatische Weg wäre ihnen versperrt. Die dort so nützlichen Schutzinstrumente wie Exportsubventionen und Importzölle auf Konkurrenzprodukte sind den armen Ländern heute durch die Vereinbarungen der WTO und die Kreditauflagen des IWF zum großen Teil untersagt. Ihre eigene kleine Industrie jedoch ohne Schutzzölle der Konkurrenz aus den USA, Deutschland, Japan, inzwischen auch China auszusetzen - "das ist Selbstmord", sagt Nuscheler.

      So verlieren viele Länder selbst dann die Chance, ihren eigenen Entwicklungspfad zu mehr Wachstum und weniger Armut zu gehen, wenn ihre korrupten Regierungen es wollten. Dennoch folgen WTO und IWF weiter der Big-Mac-Strategie: Alle sollen liberalisieren, unabhängig von Entwicklungsstand und Tradition. Selbst bei einstigen Gesinnungsgenossen wie dem Amerikaner Jeffrey Sachs stoßen sie heute auf Gegenwehr. Der Wissenschaftler von der Columbia-Universität propagierte einst die Radikalreformen in Osteuropa. Inzwischen meint er: "Die Ökonomen müssen endlich die Kunst der unterschiedlichen Diagnose lernen."

      Die Hilfsorganisation Oxfam fügt in einem aktuellen Report hinzu, es komme eben darauf an, ob die Regierungen mithilfe von Schutzzöllen die Gewinne brasilianischer Viehzüchter und französischer Großbauern verteidigen wollen. Oder die schmalen Umsätze kleiner Industriebetriebe in Afrika.

      Anders gesagt: Globalisieren reimt sich auf differenzieren, und nur wer differenziert, kann erfolgreich die Armut bekämpfen. Den Satz muss man jetzt nur noch verkaufen.

      http://www.zeit.de/2002/31/Wirtschaft/200231_globalisierung.…
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      schrieb am 15.08.02 01:12:37
      Beitrag Nr. 38 ()
      Hamburg - Laut einer von "Bild am Sonntag" (BamS) veröffentlichten Studie zweier Hamburger Wissenschaftler wird weniger als die Hälfte der Lotto-Einnahmen von den Gesellschaften tatsächlich als Gewinn wieder ausgezahlt. Wie das Blatt berichtet, werden nach Berechnungen der Ökonomen Michael Adams und Till Tolkemitt vom Toto- Lotto-Block nur 45 Prozent der Spielereinsätze wieder als Gewinne ausgeschüttet. Bei Pferdewetten flößen dagegen 75 Prozent zurück an die Spieler, in Spielkasinos sogar 91 Prozent.

      "Auf Kosten der unteren Einkommensschichten"

      Nach Einschätzung von Tolkemitt werden "durch unübersichtliches Regelwerk" die Lotto-Spieler "bewusst in die Irre geführt". Adams betont: "Durch verwirrende Werbung und fehlleitende Spielstrukturen verschafft sich der Toto-Lotto-Block unberechtigte Gewinne auf Kosten der unteren Einkommensschichten."

      Wolfgang Angenendt, Lotto-Chef Sachsen-Anhalt und Sprecher des Lotto-Blocks betont: "In unseren Teilnahmebedingungen kann jeder die Auszahlungsquote nachlesen." Darin werde die Quote von 50 Prozent genannt. Was nicht bedeute, dass wirklich die Hälfte des vom Kunden gezahlten Gelds im Gewinntopf lande, schreibt das Blatt.

      212 Millionen Mark zu wenig ausgezahlt

      "Die Lotto-Gesellschaften sind nach dem eigenen Regelwerk dazu verpflichtet, 50 Prozent der Einsätze als Gewinne wieder auszuschütten. Tatsächlich werden aber vor der Ausschüttung von den Gesamteinnahmen Bearbeitungsgebühren abgezogen - 424 Millionen Mark im letzten Jahr. Dabei ist es so, dass Lotto-Gesellschaften die entstehenden Kosten schon vom Staat erstattet werden. Die Bearbeitungsgebühren müssten deshalb mit in den Ausschüttungstopf kommen es hätten im letzten Jahr 212 Millionen Mark mehr an die Lotto-Spieler ausgezahlt werden müssen", sagt Tolkemitt. Das entspricht gut 108 Millionen Euro.

      Kosten-Erstattung nur in einigen Ländern

      Lotto-Sprecher Angenendt: "Es stimmt, dass die Bearbeitungsgebühren nicht mit in die Gewinnausschüttung fließen. Damit decken wir unsere Kosten. Das ist nicht ungesetzlich. Die Kosten-Erstattung durch die öffentliche Hand gibt es zudem nur in einigen Bundesländern wie Hessen, in anderen nicht."

      Überschüsse nicht für gemeinnützige Zwecke

      Die milliardenschweren Überschüsse aus dem Lotto-Geschäft flößen keinesfalls ausschließlich in gemeinnützige Zwecke - wie oft behauptet werde. Tatsächlich würden mit ihnen vor allem die Portemonnaies von Lotto-Managern gefüllt, Löcher in öffentlichen Haushalten gestopft und luxuriöse Prestigeobjekte finanziert, hieß es weiter. (häg/dpa)
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      Offenbar ausufernde Mogelei beim Euro-Stabilitätspakt
      Hamburg (AP) Euro-Länder versuchen laut einem Bericht der «Zeit» zunehmend, mit Mogeleien das Ausmaß ihrer Haushaltsdefizite zu verschleiern und damit eine Befolgung des Stabilitätspaktes vorzutäuschen, demzufolge das Defizit bei öffentlichen Ausgaben drei Prozent nicht überschreiten darf. Unter Berufung auf Dokumente der EU-Kommission berichtete die Wochenzeitung am Mittwoch vorab: «Tricksen, Schönen und Wegsehen sind Disziplinen, die inzwischen in vielen EU-Ländern geübt werden.»

      Die EU-Kommission könne nur wenig dagegen tun, hieß es. Unter anderem berichtete das Blatt:

      --- Griechenland habe künftiges Einkommen verpfändet. Die Regierenden in Athen hätten Firmen namens Atlas und Ariadne gegründet, die auf dem Luxemburger Kapitalmarkt Geld aufnähmen. Als Sicherheit dienten Einnahmen, «die der Regierung irgendwann einmal aus dem EU-Strukturfonds zustehen.»

      --- Italien habe die Lottoeinkünfte der Zukunft verkauft, aber die künftigen Einnahmen daraus jetzt schon verbucht. Damit sei die EU-Kommission zunächst getäuscht worden, aber «vor wenigen Wochen flog das Ganze auf». Es handle sich jedoch nicht um ein echtes Vergehen, denn bisher gebe es keine Regeln gegen solche Buchungstricks.

      --- Die niederösterreichische Landesregierung habe künftige Zinseinnahmen aus 150.000 Hausbaukrediten an die Immmobilienfirma Blaue Donau verkauft und daraus 2,3 Milliarden Euro für ihren Haushalt verbucht. Es habe sich jedoch um ein Scheingeschäft gehandelt, denn die Firma habe dem Staat gehört, der damit weiter das Risiko zu tragen hatte. Die Manipulation sei ohne Not geschehen, da Österreich von einem Dreiprozentdefizit weit entfernt sei; vielmehr habe man dem Wahlvolk eine massive Senkung der Schulden präsentieren wollen.

      Bei der EU fielen «nur ganz krasse Versuche auf», schreibt die Zeitung. Zum einen dürfe das statistische Amt der EU (Eurostat) in Luxemburg nur gesicherte Daten aus der Vergangenheit prüfen, aktuelle Schätzwerte müssten von der EU einfach geglaubt werden. Zudem fehle es an Personal. Abteilungsleiter Dieter Glatzel wurde mit der Erklärung zitiert: «Wir rennen immer hinterher».
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      schrieb am 27.08.02 15:52:33
      Beitrag Nr. 39 ()
      SPIEGEL ONLINE - 26. August 2002, 16:17
      http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,211081,00.html

      Aktien-Optionen

      Ohrfeige für Telekom und Daimler

      Die Fondsgesellschaft Union Investment übt harsche Kritik an der Art und Weise, in der deutsche Top-Unternehmen ihre Manager mit Aktienoptionen belohnen. Viele Chefs erhielten selbst bei dürftigen Leistungen fürstliche Prämien.


      DPA

      Schieflage: Telekom-Chefs können selbst dann extra führ Leistung entlohnt werden, wenn sich die Konkurrenz besser entwickelt


      Frankfurt am Main - In ihrer am Montag veröffentlichten Studie hat die Fondsgesellschaft der Volks- und Raiffeisenbanken die Vergütungsprogramme für Manager der Dax-30-Unternehmen untersucht. Viele Manager, so das Fazit, profitieren auch dann, wenn der Aktienkurs ihres Unternehmens nur geringfügig steigt - und selbst dann, wenn andere Unternehmen derselben Branche besser dastehen. Die Autoren der Studie konstatieren daher eine "Tendenz zur Selbstbedienung".

      Schlechte Noten erhielten unter anderem die Vergütungsprogramme von Deutscher Telekom und DaimlerChrysler. Beide wurden - auf einer Skala von eins bis fünf - mit 4,4 bewertet. Das Optionsprogramm der Telekom, das eine Laufzeit von zehn Jahren habe, verlange in diesem Zeitraum lediglich eine Wertsteigerung der T-Aktie um insgesamt 20 Prozent. Wird dieses Ziel erreicht, könnten die Manager ihre Optionen ausüben.

      "Dies bedeutet, dass bereits bei einer Rendite von weniger als zwei Prozent jährlich für die Begünstigten die Sektkorken knallen", monierte Union-Sprecher Rolf Drees. Hinzu komme, dass die Entwicklung der T-Aktie nicht mit einem repräsentativen Branchenindex verglichen werde. Negativ bewertet wurde drittens, dass die Telekom die Kosten der Optionszahlungen nicht in ihrer Bilanz ausweise.

      Auch bei DaimlerChrysler hängt die Latte, an der der Erfolg der Manager gemessen wird, nach Auffassung der Fondsgesellschaft "unangemessen niedrig". Hier werde ebenfalls eine jährliche Kurssteigerung von nur zwei Prozent erwartet. Die Kosten der Entlohnungsprogramme berücksichtige DaimlerChrysler in seiner Gewinn- und Verlustrechnung nur teilweise. Schlechte Noten erhielten auch die Deutsche Bank (4,3), deren Programme künstlich kompliziert seien, sowie Epcos (4,2), Siemens (3,9) und Volkswagen (3,8).

      Am besten schneidet laut Jens Wilhelm, dem Leiter des Union-Aktienfondsmanagements, die Lufthansa mit einer Gesamtnote von 1,2 ab. Positiv sei, dass die Fluglinie ihren Managern im Rahmen der Optionsprogramme nur einen Kaufrabatt von 20 Prozent einräumt - also müssen die Führungskräfte 80 Prozent des Aktienpreises aus eigenen Mitteln bezahlen. Zudem erhielten sie eine Option, die nur dann zu einer zusätzlichen Vergütung führe, wenn die Lufthansa-Aktie sich besser entwickele als die Aktien wichtiger Wettbewerber.

      Auf den weiteren Gewinner-Plätzen folgen BASF, RWE und Schering sowie Adidas. Bei RWE zum Beispiel könnten Manager die zusätzlichen Leistungsentgelte nur dann in Anspruch nehmen, wenn die RWE-Aktie jährlich um sechs Prozent im Wert steigt, bei Adidas seien es mehr als acht Prozent. Der Sportartikel-Hersteller verlange in seinen Optionsbedingungen zudem, dass die Adidas-Aktie die ihrer Konkurrenten um jährlich ein Prozent übertrumpft.

      Union Investment hat für die Untersuchung vier Kriterien für die Benotung formuliert. Ein Maßstab ist das absolute Renditeziel, das laut Wilhelm bei mindestens acht Prozent liegen sollte. Ein weiterer Punkt sei der nachhaltige Branchenvergleich: "Erst wenn sich eine Aktie langfristig besser entwickelt als die Kurse der wichtigen Wettbewerber, verdienen die Manager eine zusätzliche Vergütung. Andernfalls würden die Manager für den Rückenwind einer günstiger Branchenkonjunktur entlohnt."

      Auch die langfristige Ausrichtung - mindestens fünf, besser zehn Jahre - mit einer entsprechenden Sperrfrist sei ein wichtiges Kriterium. Viertens wurde auch die bilanzwirksame Erfassung der Programme von Union Investment unter die Lupe genommen. Die Fondsgesellschaft fordert, dass Aktienoptionsprogramme in der Gewinn- und Verlustrechnung ausgewiesen werden, weil sonst die tatsächliche Ertragslage der Unternehmen falsch dargestellt werde - eine Forderung, die nach den jüngsten Bilanzskandalen auch in den USA immer öfter und lauter geäußert wird.
      Avatar
      schrieb am 27.08.02 16:11:50
      Beitrag Nr. 40 ()
      Aus der FTD vom 26.8.2002 www.ftd.de/kapital

      Das Kapital: Die Mär von renditeträchtigen Aktienrückkäufen

      Hören wir nicht unentwegt, wie viele eigene Aktien die US-Firmen doch kontinuierlich zurückkaufen - und wie wenig Sinn es ergibt, überhaupt noch auf Dividenden zu achten, falls das je Sinn ergeben hätte.

      Wie kommt es dann aber, dass die Gewinne pro Aktie im S&P 500 zwischen 1995 und 2001 gerade um kümmerliche drei Prozent gestiegen sind, während die Gewinne absolut um 26 Prozent von 278 auf 351 Mrd. $ zulegten? Und wie kommt es, dass die Gewinne je Aktie seit 1988 nur um 61 Prozent anzogen, während sie insgesamt um 110 Prozent wuchsen?

      Die Antwort liegt auf der Hand. Es werden mehr Aktien frisch gedruckt als zurückgekauft, quer durch die Sektoren. GE etwa hat 2001 eigene Aktien im Wert von 3,1 Mrd. $ erworben. Dennoch ist die Zahl der ausstehenden Aktien im Jahresdurchschnitt sogar leicht gestiegen. Die Firma sammelt seit Jahren massenweise eigene Aktien ein. Trotzdem ist ihre Zahl seit 1997 per saldo leicht gewachsen. Ähnliches gilt für Pfizer oder die Citigroup, wobei die Aktienzahl seit 1997 im ersten Fall etwas zulegte und im zweiten Fall ganz leicht abnahm. Aber dann gibt es ja noch die Microsofts, Ciscos und Intels. All diese Firmen kaufen ungestüm eigene Aktien zurück. An den jeweiligen Jahresberichten abgelesen, ist ihre Zahl bei Microsoft seit 1997 dennoch um 13 Prozent und bei Cisco um 22 Prozent angeschwollen. Eine Ausnahme ist Intel, wo die Aktienzahl zwischen 1997 und 2001 um 4,2 Prozent gefallen ist. Aufs Jahr gerechnet entspricht das aber gerade einer Rendite von etwa einem Prozent.


      Natürlich sind die Rückkäufe besser als nichts. Aber auf den Saldo kommt es an. Zwar macht es qualitativ einen Unterschied, ob Aktien zurückerworben werden, die zuvor zur Bedienung von Mitarbeiteroptionen neu gedruckt wurden - oder im Zuge von Übernahmen ausgegeben wurden. Die stagnierenden Gewinne je Aktie aber zeigen: Entweder wurden vor allem Mitarbeiteroptionen ausgeglichen. Oder das Gros der Akquisitionen hat bisher nicht gelohnt.


      Wie die Dinge empirisch stehen, bleiben den Anlegern als handfester Kapitalrückfluss bisher nichts als Dividenden. Und die sind seit 1995 im Schnitt gerade um 2,3 Prozent jährlich gestiegen. Im S&P 500 bringen sie momentan eine Rendite von kläglichen 1,65 Prozent. Wenn man bedenkt, dass Dividenden historisch ein Drittel des Aktienerfolgs ausgemacht haben, ist das für die Zukunft kaum verheißungsvoll. Klar kann man sagen, dass die Dividenden angehoben werden, sobald die Wirtschaft besser läuft. Bloß würde es die S&P-Firmen schon 86 Mrd. $ kosten, die Dividendenrendite nur um ein Prozent zu steigern. Für eine Dividendenrendite von 3,44 Prozent wie im Schnitt seit 1970 müssten sie 154 Mrd. $ zusätzlich hinblättern.


      Wenn Georg W. Bush der Börse etwas Gutes tun will, sollte er die steuerliche Bevorzugung von Optionen und Rückkäufen gegenüber Dividenden beenden. Am Ende könnte man wenigstens wieder rechnen.

      http://www.ftd.de/bm/bo/1030192778839.html?nv=se" target="_blank" rel="nofollow ugc noopener">http://www.ftd.de/bm/bo/1030192778839.html?nv=se



      ____________________________________________________________
      Ich will mit dem Reinstellen dieses Artikel gewiss nicht gegen Aktienrückkaufe protestieren, auch nicht gegen die steuerliche Behandlung von Aktienrückkäufen und Dividenden in den USA oder anderswo, das steht mir auch nicht zu. Ich will mit den Artikel nur zeigen welche unglaubliche Vermögensverwässerung den Aktionären trotz Aktienrückkäufen zugemutet wird.


      mfg thomtrader
      Avatar
      schrieb am 27.08.02 16:15:31
      Beitrag Nr. 41 ()
      Nur der Immobilienmarkt verhindert in Amerika vorderhand einen tieferen Fall

      VON NIKLAUS VONTOBEL UND MARTIN SUTER

      Zürich - Die Ökonomen der Credit Suisse First Boston (CSFB) stehen vor einem Rätsel. Sie haben die Entwicklung der japanischen und der US-Wirtschaft zehn Jahre vor und zwei Jahre nach dem Platzen der Börsenblase verglichen. Das erstaunliche Resultat: «Die jeweiligen Entwicklungen sind sowohl für den Aktien- und Obligationenmarkt als auch für den privaten Konsum und die Investitionen überraschend ähnlich.»
      Wie ist das möglich, wo doch ständig hingewiesen wird auf die riesigen kulturellen und institutionellen Unterschiede, die flexibleren amerikanischen Arbeits- und Kapitalmärkte und die bessere Geldpolitik der US-Notenbank? Für die CSFB-Ökonomen gibt es nur eine plausible Erklärung: Es müsse eine Gemeinsamkeit in der menschlichen Psychologie geben. Diese treibe die Konjunkturzyklen an und beeinflusse die Bewertung von Aktien, die erwarteten Kapitalrenditen sowie Konsum- und Investitionsentscheidungen.

      Japan wappnete sich nicht früh genug gegen eine Deflation

      Falls die US-Wirtschaft weiterhin der japanischen nachzieht, drohen zehn Jahre mit deflationären Tendenzen, einer Börsenbaisse und einem durchschnittlichen Wachstum von einem Prozent pro Jahr. Die US-Notenbank will dies verhindern und hat deshalb die Entwicklung der japanischen Wirtschaft nach dem Ende des Börsenbooms untersucht. Wichtigste Erkenntnis: Der grösste Fehler der japanischen Zentralbank sei es gewesen, sich nicht früh genug durch eine Erweiterung der Geldmenge gegen das Risiko einer Deflation gewappnet zu haben.
      Allerdings hat auch die US-Notenbank nicht mehr allzu viel Raum, um die Zinsen weiter zu senken. Die Zentralbankzinsen stehen bereits auf 1,75 Prozent - dem tiefsten Niveau seit 40 Jahren. Das sieht auch der US-Ökonom und «New York Times»-Kolumnist Paul Krugman so. Vor etwa vier Jahren hat er sich eine persönliche Checkliste erstellt mit Gründen, warum die US-Wirtschaft nicht zehn Jahre lang in Stagnation verfallen wird wie die japanische.
      Erstens: Die US-Wirtschaft leidet nicht unter einem Vertrauensverlust, weil die Corporate Governance in den USA besser ist. Zweitens: Die US-Notenbank hat immer noch genügend Raum, um die Zinsen zu senken. Drittens: Die langfristige Budgetposition der US-Regierung ist stark. Sie hat daher genügend Raum für staatliche Stimulierungsprogramme, falls tiefere Zinsen nicht ausreichen. Viertens: Die USA haben vielleicht eine Börsenblase, aber keine Blase im Markt für Immobilien. Inzwischen zweifelt Krugman: «Die drei ersten Punkte musste ich nun streichen, und über den vierten, den Immobilienmarkt, mache ich mir langsam Sorgen.»
      Die US-Wirtschaft hat sich nach dem Ende des Börsenbooms besser gehalten, als viele Beobachter erwartet hatten. Vor allem die Konsumenten haben mit ihrer anhaltend grossen Kauflust eine tiefere Rezession verhindert. Viele Ökonomen hatten befürchtet, der Haushaltkonsum werde sinken, weil der Kurszerfall an der Börse die Vermögen der Haushalte verkleinert. Allerdings hält ein durchschnittlicher US-Haushalt viermal mehr Vermögen in Immobilien (meist das eigene Haus) als in Aktien. Die Entwicklung der Häuserpreise ist deshalb für die US-Konsumenten und damit für den Haushaltskonsum wichtiger als jene der Börse.

      US-Notenbankchef Greenspan: Keine Überhitzung des Immobilienmarktes

      Nach Angaben der Zürcher Kantonalbank (ZKB) ist der Preis für ein neues Einfamilienhaus in den USA seit Ende des Börsenbooms um rund 11 Prozent gestiegen, jener für ein bestehendes Haus um etwa 21 Prozent. Dank dieser Preissteigerung konnten die US-Konsumenten zusätzliche Hypotheken auf ihre Häuser aufnehmen und mit dem Geld den Konsum ankurbeln. Der «Mortgage Refinancing Index», der das Wachstum an Zweithypotheken misst, liegt zurzeit auf dem zweithöchsten je erreichten Stand.
      Der Immobilienmarkt ist derzeit also eine wichtige Stütze der US-Konjunktur. Bleibt die Frage, wie stabil diese Stütze ist. Das britische Wirtschaftsmagazin «The Economist» spricht von einer Blase im Immobilienmarkt, welche die Börsenblase ersetzt habe. Eine Studie des amerikanischen Zentrums für wirtschaftspolitische Forschung (CEPR) glaubt ebenfalls an eine «housing bubble». Die Inflation der Immobilienpreise um 30 Prozent in den letzten sieben Jahren lasse sich einzig mit einer Blase im Immobilienmarkt erklären.
      Der Vorsitzende der US-Notenbank, Alan Greenspan, sieht hingegen keine Anzeichen für eine Überhitzung des Immobilienmarkts. Ein Zusammenbruch sei unwahrscheinlich, sagt er, weil der Immobilienmarkt regionalisiert sei und durch Immigration sowie Baulandknappheit genährt werde. Irrt Greenspan, könnte das für die US-Konjunktur dramatische Konsequenzen haben.

      Quelle: Sonntagszeitung
      Avatar
      schrieb am 27.08.02 16:34:31
      Beitrag Nr. 42 ()
      Aus der FTD vom 16.8.2002 www.ftd.de/jobserie
      Attraktive Arbeitgeber (VI): Johnson & Johnson weiß, was Frauen wünschen
      Von Christine Mai, Düsseldorf

      Erstens ist Simone Pick eine erfolgreiche Frau. Und zweitens Mutter. Und drittens war sie die erste Mitarbeiterin in einer höheren Position bei Johnson & Johnson, die nach der Geburt eines Kindes zurückkam.

      Möglich gemacht hat dies die konsequente Frauenförderung des Health-Care-Unternehmens. "Es war beruhigend zu wissen, dass ich Beruf und Familie hier so gut kombinieren kann", sagt Pick. Pick ist bei Johnson & Johnson verantwortlich für das Marketing im Intra- und Internet. Nach der Geburt ihres Sohnes im September 1999 nahm Pick sechs Monate Erziehungsurlaub. Während dieser Zeit war sie per Laptop mit dem Unternehmen verbunden - ein Teil des Konzepts. "Wir versuchen, während der Elternzeit an den Mitarbeitern dranzubleiben, damit der Kontakt nicht abreißt", sagt Personalchef Markus Bonsels. Im April 2000 fing Simone Pick an, wieder voll zu arbeiten - drei Tage im Büro, zwei von zu Hause aus. Seit Anfang 2001 arbeitet sie nur noch vier Tage, die Hälfte der Zeit als Telearbeit. Diese Modelle hat sie mit dem Unternehmen für ihre individuellen Bedürfnisse entwickelt.

      Johnson & Johnson ist ein Beispiel dafür, wie Förderung von Chancengleichheit aussehen kann. Insgesamt betrachtet sieht es da in der deutschen Wirtschaft eher schlecht aus. Wie viele - oder besser wie wenige - Frauen hier Führungspositionen innehaben, ist schwer in Zahlen zu fassen, denn was zu welcher Managementebene gehört, legen die Betriebe fest. In Aktiengesellschaften geht die Zahl aber jedenfalls gegen null; in der obersten Führungsebene bei großen Unternehmen sind etwa vier bis fünf Prozent der Manager Frauen. Rechnet man die zweite und dritte Ebene dazu, kommt man auf einen Frauenanteil von 15 Prozent. Bei der Firma Johnson & Johnson arbeiten in den obersten beiden Führungsebenen etwa gleich viel Männer und Frauen.


      "Man erkennt zunehmend, welche Potenziale in gut ausgebildeten Frauen schlummern", sagt Eva-Maria Roer, Vorsitzende von Total E-Quality. Der Verein setzt sich für die Gleichstellung von Frauen und Männern in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik ein und zeichnet regelmäßig Unternehmen aus, die mit ihrer Personalpolitik langfristig Chancengleichheit fördern. Johnson&Johnson hat diesen Preis vor wenigen Wochen bereits zum zweiten Mal erhalten.


      Fachkräfte halten

      Das ist das Resultat einer gezielten Personalpolitik. Denn: "Es wird immer schwieriger, Talente zu bekommen und auch zu halten", sagt Jean-Paul Rigaudeau, Vorsitzender der Geschäftsführung. Für den Health-Care-Hersteller kommt es insbesondere wegen der noch jungen Mitarbeiter darauf an, Fach- und Führungskräfte zu halten. "Wir haben einen Altersdurchschnitt von 37", sagt Personalchef Markus Bonsels. "Da ist es entscheidend, die Expertise im Unternehmen zu halten."


      Ein weiterer Grund für die starke Frauenpräsenz liegt in den Produkten von Johnson & Johnson: Carefree, o.b., Bebe und Penaten - Marken, die hauptsächlich von Frauen gekauft und genutzt werden. "Bei den Produkten wäre es unmöglich, nicht auf Frauen einzugehen", sagt Personalchef Bonsels. Zumal der Betrieb bei seinen Mitarbeiterinnen auch kostenlose Marktforschung betreiben kann: "Da sieht man, was ankommt", so Bonsels.


      Das Unternehmen profitiert in jedem Fall von einem höheren Managerinnen-Anteil: "Männer und Frauen haben unterschiedliche Blickwinkel", sagt Eva-Maria Roer von Total E-Quality. "Daher ergänzen sie sich prima in Teams." Dorothea Assig, Management-Coach, sagt, dass sich auch die Unternehmenskultur dadurch verbessere: "Sobald der Frauenanteil im Topmanagement etwa 15 Prozent erreicht, spürt man in den Betrieben eine eklatante Änderung des Klimas. Es wird entspannter, unkomplizierter."


      Individuelle Modelle

      Alles gute ökonomische Gründe, Frauen ein attraktiver Arbeitgeber zu sein. Was tut Johnson & Johnson für seine weiblichen Fach- und Führungskräfte? Es gibt individuelle Arbeitszeitmodelle, Teilzeitkonzepte und Telearbeit.


      Personalchef Bonsels spricht nicht gern von Frauenförderung. "Chancengleichheit ist gelernt", sagt er. Die Angebote der Firma richten sich an alle, kommen aber insbesondere denen zugute, die Erziehungsverantwortung tragen - und das sind wegen der immer noch vorherrschenden traditionellen Rollenbilder eben meist Frauen. Das Konzept zeigt Wirkung: Drei Viertel der Frauen kehren nach der Elternzeit ins Unternehmen zurück.


      Seit einiger Zeit haben neben Johnson & Johnson auch einige andere deutsche Großunternehmen die Möglichkeiten entdeckt, die in einer Förderung der Chancengleichheit stecken: Lufthansa, VW und die Telekom. Und glaubt man der Total-E-Quality-Vorsitzenden Eva-Maria Roer, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Frauen auch die oberen Führungsebenen erobern, zumal sie immer besser ausgebildet sind. "Das ist eine Lawine, die da rollt", sagt Roer. "Frauen arbeiten sich hoch, ob gefördert oder nicht."

      http://www.ftd.de/pw/ka/1029268900413.html?nv=5wn
      Avatar
      schrieb am 27.08.02 16:37:00
      Beitrag Nr. 43 ()
      ftd.de, So, 28.4.2002, 8:00
      Das dämliche Geschlecht
      Von Barbara Bierach

      Die Frauen sind selbst schuld, wenn es mit der Karriere nicht klappt, behauptet die Journalistin Barbara Bierach. Die FTD veröffentlicht exklusiv einen Auszug aus ihrem Buch "Das dämliche Geschlecht."


      Warum stehen zehn Jahre nach den Trainee-Programmen - die jedes ordentliche deutsche Unternehmen mittlerweile mit einem Frauenanteil von 50 Prozent startet - die dort teuer ausgebildeten Frauen den Unternehmen nicht mehr zur Verfügung? Die meisten Frauen glauben, die Männer sind schuld. Am Krieg, an der Kälte im Unternehmen, an der Abwesenheit der Frauen in allen wichtigen Funktionen des öffentlichen Lebens.

      Ich glaube das nicht. Meine These ist: Frauen sind nicht unterprivilegiert in diesem Land und unterdrückt, sondern Frauen verhalten sich häufig einfach saublöd. Gegen Frauen muss Mann sich nicht verschwören, Frauen erledigen sich schneller und gründlicher selber, als Männer das je könnten.


      Hier sei so viel gesagt: Frauen lernen das Falsche, lesen das Falsche, wollen das Falsche und benehmen sich falsch. In dem alten Kalauer "Herren sind herrlich und Damen dämlich" steckt ein dickes Korn Wahrheit.



      Ab an den Stadtrand


      Dabei rede ich nicht von den schlecht ausgebildeten Frauen, die sich als alleinerziehende Mütter mit Sozialhilfe durchschlagen. Gemeint sind die Akademikerinnen, die alle Voraussetzungen mitbringen, ihre Position in der Wirtschaft, Politik und Wissenschaft dieses Landes auszufüllen. Die Frauen, die nach dem Studium in einer Kanzlei, einem Krankenhaus, einem Konzern anfangen, sich nach oben durchzukämpfen - und mit Mitte 30 in einer Villa am Standrand verschwinden. Wo sind ihre Ambitionen geblieben? Und warum sind sie so unzufrieden und voller Komplexe?


      Hand aufs Herz: Wer hat den größten Einfluss auf den Verlauf Ihres Lebens? Die einzig mögliche Antwort "Ich" ist eine der schmerzhaftesten überhaupt. Aber auch eine der schönsten: Das Wissen, für das eigene Leben selber verantwortlich zu sein, birgt eine gewaltige Chance.


      Es ist nicht die Aufgabe Ihres Mannes, Ihrer Kinder, Ihres Arbeitgebers, Ihres Chefs, Sie glücklich zu machen. Es ist Ihre eigene. Niemand wird dafür sorgen, dass Frauen was zu sagen haben. Es sei denn, die Frauen tun es selber.



      Frauenanteil: verschwindend


      Eigentlich muss man nur mal Business Class fliegen, um den wirklichen Stand der Dinge zu erforschen. Jede Menge langweiliger, alter Männer in Anzügen, Frauenanteil vielleicht bei fünf Prozent. Oder offenen Auges in die Zeitung gucken: Warum findet sich in den 100 größten börsennotierten Unternehmen Deutschlands kein weibliches Vorstandsmitglied?



      Der Anteil der Führungsfrauen in den Topetagen liegt dem europäischen Statistikamt Eurostat zufolge hier zu Lande bei ärmlichen 3,7 Prozent - dabei sind 61 Prozent der deutschen Arbeitnehmer Frauen. Chefinnen auf der zweiten, dritten Ebene? Weitgehend Fehlanzeige, die Frauenquote dümpelt seit Jahren zwischen zehn und zwölf Prozent. Mittlerweile haben die Frauen im Ausbildungsniveau gewaltig nachgeholt, schon jede Dritte in der Altersgruppe zwischen 20 und 30 hat heute Abitur. Doch wenn es um die entscheidenden Jobs geht, jenseits der 30, sinkt der Frauenanteil an den Entscheidern ins Bedeutungslose.


      Lange hielt sich die Hoffnung, dass sich Frauen doch wenigstens im Mittelstand durchsetzen, weil es da einfach persönlicher zugeht und der Chef schneller kapiert, was er an wem hat. Auch dieses zarte Pflänzchen ist verblüht: Der Anteil weiblicher Chefs im Mittelstand ging in den vergangenen Jahren leicht zurück auf 10,8 Prozent.



      Die Mär vom Netzwerk


      Auch das Geschwätz, dass Frauen dabei wären, sich über Netzwerke selber an die Macht zu befördern, darf ins Reich der Märchen verbannt werden: Selbst in der Türkei haben die Rotarier mehr weibliche Mitglieder als hier. Dass auch das schönste Vitamin B nichts bringt, liege an den Frauen selber, so zumindest äußern sich die Netzwerkerinnen: "Die Frauen wollen oft gar nicht Karriere machen", ist von Gabriele Reich-Gutjahr, der deutschen Vorsitzenden des Netzwerks European Women’s Management Development zu hören.


      Würden Frauen entschlossen Frauen wählen, wäre längst jede Demokratie fest in weichen Händen. Und entsprechend gestaltbar wären die Regeln zu Mutterschutz und Erziehungsurlaub. Frauen stellen die leistungsfähigere Mehrheit - und gelten immer noch als das schwache Geschlecht. Warum?



      Verschwörungstheorie


      Die übliche Antwort auf diesen bemerkenswerten Teil der deutschen Gegenwart ist eine Verschwörungstheorie: Schuld am miesen Schicksal der Frauen sind die Männer. Genauer, das Netz der alten Jungs in Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft, das dafür sorgt, dass Frauen in der Schlacht um die Karrierejobs den Kürzeren ziehen, von Scheidungsrichtern benachteiligt und in der Politik nur per Quotenregelung gehört werden.


      Ich finde: Frauen sind nicht schwach, Frauen sind nur dämlich, faul und unaufrichtig. Die akademisch vorgebildete Weiberschaft in diesem Land könnte längst die Hälfte der Chefsessel in den Ämtern, Universitäten und Unternehmen unter dem Hintern haben, wenn sie endlich handelte, statt dem Spielfeld beleidigt den Rücken zu kehren und mit einem "Die lassen uns nicht" von dannen zu ziehen.


      Dämlich sind Frauen, weil sie sich nicht einfach die Hälfte des Himmels nehmen. Was wohlmeinende Studien zum weiblichen Führungsverhalten als Stärke attestieren, grenzt in vielen Fällen eher an eine "Déformation sexuelle". Sanft, einfühlsam und teamorientiert lassen sich Frauen immer noch mit den Krümeln von den Tellern der Macht abspeisen. Es reicht in vielen Fällen, einer Frau vorzuhalten, sie sei egoistisch und machtgeil, um sie zu stoppen.



      Frauen stilisieren sich zu Opfern


      Wenn Frauen über ihre Interessen wachen, gelten sie als intrigant und herrschsüchtig, wenn Männer dasselbe tun, sind sie durchsetzungs- und führungsstark. Was für Männer ein Kompliment ist, beleidigt Frauen.


      Noch immer stilisieren sich Frauen zur behinderten Minderheit, die besonderen Schutzes bedarf, und verbringen ganze Seminartage mit ideologischem Geplänkel über die Abschaffung des Patriarchats, anstatt sich - weniger visionär, aber umso wirkungsvoller - endlich pragmatisch einen möglichst großen Batzen vom Kuchen der Macht zu sichern. Frauen "verlangen zu wenig" ist auch das Fazit von Sonja Bischoff, Professorin an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Sie weiß, wovon sie spricht. Seit Mitte der 80er Jahre diagnostiziert sie in regelmäßig wiederholten Großbefragungen von Chefs und Chefinnen den Stand der Geschlechterfrage in deutschen Unternehmen.



      Mommy kann es besser


      Das Traurige ist: Anderswo kriegen die Frauen ihren Anteil. Die Situation der Frauen im europäischen Ausland und in den USA ist wesentlich besser als die deutscher Frauen. Ob das wohl daran liegt, dass dort nettere Männer verständnisvollere Unternehmen leiten? Unsinn.


      Die Frauen jenseits unserer Grenzen verhalten sich einfach anders. Was also kann Mommy besser als Mamma? Warum gibt es in England 11,2 Prozent weibliche Topmanager und hier nur 3,7? Warum schaffen auch Jahrzehnte mit Frauenbeauftragten, Quotenregelungen und Förderprogrammen immer noch keine amerikanischen Verhältnisse? Und warum lassen sich deutsche Frauen wahnsinnigerweise immer noch mit einem Viertel weniger Gehalt für die gleiche Arbeit abspeisen?


      In einer europaweiten Befragung von 1114 Frauen aus dem mittleren und oberen Management durch das Institut Lieberman Research Worldwide geben 53 Prozent der Befragten an, im Job schon mal gehindert zu werden - durch die Übertragung anspruchsloser Aufgaben beispielsweise oder Missachtung bei Beförderungen. Leider hat niemand vergleichbar viele Männer in vergleichbar guten Positionen befragt - das Ergebnis wäre nämlich dasselbe. Alle Arbeitnehmer erleben in regelmäßigen Abständen Zurücksetzung und Ungerechtigkeit. Die Welt ist leider schlecht - aber mitnichten nur für Menschen mit Eierstöcken.


      Die neigen in Deutschland nur offenbar besonders dazu, jeden Mist der ihnen widerfährt, mit ihrem Geschlecht in Verbindung zu bringen. Seien wir ehrlich, das Leben in deutschen Unternehmen ist knallhart und es wird jährlich härter. Sich in der Industrie durchzusetzen, ist kein Zuckerschlecken - auch nicht für die Männer. Auch von all den hoffnungsfrohen männlichen Einsteigern endet nur ein Bruchteil in einem Vorstandsbüro. Erfolg hat viele Voraussetzungen und Hindernisse, für Männer und Frauen gleichermaßen. Unternehmen sind letztlich nur daran interessiert, ordentliches Wachstum und noch bessere Gewinne zu erzeugen. Wer ihnen die herbeischafft, ist ihnen egal.



      Kinder als "Heldennotausgang"


      Nicht nur Frauen scheitern an dieser Aufgabe, auch jede Menge Männer. Aber ein Mann verfügt nicht über den Heldennotausgang: "Ich kriege jetzt ein Kind". Ein Mann hat nur die Wahl, sich als Verlierer zu disqualifizieren oder sein Berufsleben irgendwie durchzustehen. Frauen jedoch benutzen ihre Familien, um sich zurückzuziehen, ohne zugeben zu müssen, dass ihnen letztlich ein Job in der City zu anstrengend war.


      Denn "Karriere" klingt glamourös, ist aber in Wirklichkeit zuvörderst harte Arbeit. Eine verantwortliche Position wirklich auszufüllen, bedeutet in den meisten Branchen 50 Stunden Arbeit die Woche, jede Menge Ringkämpfe mit Kollegen und Konkurrenten und massiven Verzicht aufs Privatleben. Vielen Frauen wird das spätestens mit Mitte 30 zu anstrengend und zu politisch. Entnervt von dem ständigen Ringkampf um Positionen und Budgets ziehen sie sich in Vorstädte zurück und werden Mutter.



      Gleiche Regeln


      Anstatt die Ärmel hochzukrempeln und genauso hart zu arbeiten wie die Männer, flüchten sie sich in die Mär von der Glasdecke. Die besagt, dass es in jedem Unternehmen eine unsichtbare aber undurchdringliche Ebene gibt, die Frauen den Zutritt in die Chefetage verwehrt. So wahren sie ihr Gesicht als moderne Karrierefrau, obwohl sie sich ins Privatleben verdrücken. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, es muss jeder nach seiner Fasson selig werden.


      "Meine Erfahrungen im Unternehmen und als Personalberaterin haben mich davon überzeugt, dass nicht die Diskriminierung am Arbeitsplatz den Frauen das Fortkommen schwer macht", sagt Ulrike Wieduwilt, die bei dem Headhunter Russel Reynolds nach Führungsfrauen fahndet. "Frauen müssen wissen und damit rechnen, dass mit dem Eintritt in eine ,Männerwelt‘ für sie die gleichen Regeln zu gelten beginnen wie für die Männer auch. Viele mögen das nicht glauben und fordern für sich eine Art Frauenbonus. Den wird es und kann es auch nicht geben." Das Problem sind also offenbar nicht machtgeile Männer, sondern Frauen, die sich entweder nichts zutrauen oder meinen, Frau sein alleine reiche schon.


      Unaufrichtig ist dieses Verhalten nur dann, wenn Frauen nicht zugeben, dass sie sich bewusst gegen Macht und Verantwortung entschieden haben. Sich erst zurückzuziehen und dann zu lamentieren, dass andere weitermachen, ist kindisch. Dieselben Frauen würden das übrigens jederzeit ihren Kindern sagen, wenn die das Fußballfeld verlassen und dann anschließend greinen, dass andere jetzt die Tore schießen. Dennoch finden 47 Prozent der westdeutschen Frauen, es sei "für alle viel besser, wenn der Mann voll im Berufsleben steht und die Frau zu Hause bleibt und sich um den Haushalt und die Kinder kümmert". Dieselben Frauen beschweren sich anschließend, dass dieses Land von Männern regiert wird.



      Keinen Bonus für Frauen


      Erfolg im Unternehmen oder im Amt unterliegt harten Regeln und Gesetzen, denen alle ausgeliefert sind: Männer und Frauen. Sich erst zu drücken und dann zu jammern, dass die Macht anderswo sitzt, ist zumindest unsportlich. Wer mitreden will, muss die Voraussetzungen dafür erfüllen. Weiblich zu sein, ist einfach nur eine nette kleine Ausrede, die Arbeit nicht zu machen.


      Wann immer eine Frau an der Uni oder im Job scheitert, lag es an einem Professor, Ehemann oder Vorgesetzten, der in seiner männlichen Borniertheit schuld ist und die Frau in ihrem Schaffensdrang an die Wand gespielt hat. Wenn die Kinder dann aus dem Haus sind, und frau sich langweilt, sind wieder die Männer schuld: Und Dir habe ich meine Karriere geopfert!


      Dieses anhaltende Gejammer derselben Frauen, die vorher jahrelang das Weibchen gaben, bringt sogar eingefleischte Feministinnen auf die Palme. Die englische Auflagenmillionärin Fay Weldon sagt: "Ich kenne viele Frauen, die glauben, dass die Männer sie vom wahren und guten Leben abhalten. Und sobald die Kinder aus dem Haus sind, trennen sie sich, leben allein - nur um festzustellen, dass das wahre Leben weiter auf sich warten lässt."


      Männer finden dieses selbstzerstörerische Verhalten übrigens ausgesprochen praktisch - eine Verschwörung gegen das schwächere Geschlecht ist völlig überflüssig, denn Frauen erledigen sich in der Regel selber. Schneller und gründlicher als irgendein Männerbund das könnte.


      "Die Welt ist leider schlecht - aber nicht nur für Menschen mit Eierstöcken."


      © Wiley


      "Das dämliche Geschlecht" von Barbara Bierach, Wiley-Verlag


      http://www.ftd.de/pw/ka/1014399047785.html?nv=se
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      schrieb am 31.08.02 09:33:09
      Beitrag Nr. 44 ()
      dpa-AFX-Nachricht (USA)

      Freitag, 30.08.2002, 13:26

      GoingPublic Kolumne: Immo-Insider bringen ihre Schäfchen ins Trockene

      WOLFRATSHAUSEN (GoingPublic.de) - Die vom Aktienmarkt geläuterten US-Bürger konnten dem invertierten Wohlstandseffekt noch einigermaßen dadurch entrinnen, dass sich der Immobilienmarkt zu neuen Höhen aufschwang. Insiderverkäufe in diesem Sektor sprechen eine andere Sprache.

      Die Vorstände von Heimwerker- und Homebuilding-Märkten in den USA haben ganz offensichtlich keine allzu hohe Meinung mehr von der zukünftigen Entwicklung in ihrer Branche. Ihre Verkäufe von Aktien nahmen im laufenden Jahr ein Rekordtempo an. In einigen Fällen haben Vorstände gleich 50 % ihrer Aktienbestände abgegeben.

      Wie eine neue Erhebung zeigt, haben sieben der 16 höchstkapitalisierten Homebuilder in den Staaten ihre Anteile um den größten Betrag in den letzten 20 Jahren abgebaut. Das dürfte wohl kaum Zufall sein. Die Papiere dieser Branche haben alle anderen Indizes in den letzten beiden Jahren outperformt und im Frühsommer ihren Hochpunkt erreicht.

      In einigen Gegenden der USA sind die Hauspreise innerhalb eines Jahres um 20 % angestiegen, in New Yorker Stadtbezirken teilweise 25 bis 30 %. Insgesamt legten die Hauspreise mit einem abnormen Tempo zu, in den letzten Jahren drei- bis viermal so schnell wie die persönlichen Einkommen. Es scheint einzuleuchten, dass diese Entwicklung nicht durchzuhalten ist und schon zum Aufblähen einer neuen Blase geführt hat, nachdem am Aktienmarkt seit Anfang 2000 nichts mehr zu holen ist. Sobald die überproportionale Nachfrage nachlässt - was absehbar ist, wenn die Einkommen nicht hinterherkommen - werden viele Hausbesitzer auf Hypotheken sitzen, die den Wert ihrer Häuser übersteigen.

      Notenbankchef Alan Greenspan leistet allen mal wieder einen Bärendienst, wenn er in seinen Statements betont, dass er in den USA keine Blase am Wohnungsbaumarkt sehe. Doch was bleibt ihm auch übrig? Es sei in Erinnerung gerufen, daß er Ende der 90er allerdings auch eine "New Economy" ausgemacht haben wollte. Sie war auch tatsächlich neu - allerdings nur virtuell.

      Historische Parallelen zeigen ganz klar, wie gefährlich es ist, wenn man die Zukunft schon heute kauft - denn wer soll dann morgen kaufen? Muss man nur deshalb ein Haus bauen oder kaufen (das man sich normal nicht leisten würde), nur weil die Finanzierungszinsen gerade günstig sind? Muss man sich ein neues Auto zulegen (das man sich eigentlich erst in einigen Jahren leisten wollte), nur weil es gerade eine 0 %-Finanzierung gibt? Die Rechnung geht nur solange auf, wie sich der Konsument relativ wohlhabend fühlt (Einkommen, Immobilienbesitz, Aktien). Wenn die Hauspreise erst einmal zu fallen beginnen, wird sich eine verhängnisvolle Spirale aus Ursache und Wirkung in Bewegung setzen, die dem Platzen der Asset Bubble in nichts nachsteht.

      Insiderverkäufe haben gemeinhin einen Vorlauf von ein bis zwei Quartalen. Am Aktienmarkt läuteten diese Signale zuletzt immer neue Tiefststände an den Märkten ein (2000 bis dato), Vorstände dürften wohl noch am besten beurteilen können, wie es um das Geschäft bestellt ist. Dies darf man getrost auch den Insidern im Wohnungsbaumarkt unterstellen. Es soll also später bitte niemand sagen, dass er von der Entwicklung mal wieder überrascht wurde.
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      schrieb am 25.09.02 17:23:54
      Beitrag Nr. 45 ()
      ...

      "The term `housing bubble` is a generalized and overused term spouted by people who don`t understand the housing market," said analyst Carl Reichardt of Banc of America Securities. It`s a "simplistic label" some use to try to characterize a runup in stock prices.

      Housing remains robust, thanks to strong fundamentals. Historic low mortgage rates, available credit, and tax advantages associated with home ownership are making homes affordable and attractive.

      Also, rising land prices and longer, tougher zoning approval procedures have kept new construction in check. As a result, the glut of new homes that pushed the industry over a cliff in past recessions isn`t there this time around.

      "In 1991, there was more than a nine-month supply of housing inventory in the market. Today, there`s less than four months," said D.R. Horton Inc. (NYSE: DHI - News) Chief Executive Don Tomnitz, during a Banc of America Securities conference.

      But that doesn`t mean certain individual markets, such as New York City, Boston and San Francisco - which saw prices shoot up, might not see home prices take a tumble. "These markets are directly correlated to stock market wealth," said Jolson Merchant Partners analyst James Wilson. In these markets, prices shot up dramatically as people cashed out of their stocks and exercised options in the booming stock market days of 1998 to 2000 to purchase homes. But today, with the depressed unpredictable stock market and financial-services firm layoffs, prices could come down, Wilson said.

      "I think most of the analysts (who are talking about a housing bubble) live in New York or Boston and think it`s the same across the country and it`s not," said Gordon Milne, chief financial officer of Ryland Group Inc. (NYSE:RYL - News) .

      ...

      Low mortgage rates have helped drive the stalwart demand. But even as the economy recovers and rates tick up, analysts and homebuilding executives aren`t expecting demand to change. "Job growth has an even stronger correlation" with housing demand, said Hovnanian Enterprises Inc. (NYSE:HOV - News) Chief Financial Officer Larry Sorsby. "I`d trade higher rates for a stronger economy and job growth ( anyday)," he said. He speculates mortgage rates would have to climb to 8% or 8.5% before demand would be affected.

      A slow economic recovery, which doesn`t trigger a sudden jump in interest rates, is an "ideal greenhouse for the growth of homebuilding stocks," concurred Reichardt.

      http://biz.yahoo.com/djus/020925/1013000514_1.html

      Auf der letzten Analystenkonferenz von LEN sagte der Vorstand, daß es in den 90ern mal einen Zinsanstieg von über 3 % gegeben hätte und das Geschäft trotzdem gut gelaufen wäre. Die Zinsen steigen eben nur, wenn Geldmenge und Preise aufgrund von Wirtschaftswachstum steigen. Wenn es Wirtschaftswachstum gibt, werden zunächst mehr Leute eingestellt, die sich ein Haus bauen mögen, bevor die Geldmenge soweit wächst, so daß die Zinsen erhöht werden, was wieder Leute vom Kauf abhält. Es findet deshalb jederzeit eine Ausbalancierung zwischen sehr vielen Marktteilnehmern statt und wenn man auf die landesweiten Statistiken schaut, sind die Preisentwicklungen auch nicht rasant oder extrem sondern ziemlich daherdümpelnd. Bei den Telcos haben 2 Dutzend wichtige Leute für Boom und Depression gesorgt, das wird hier nicht passieren. Interessant ist dabei auch, daß Aktien sogenannter zyklischer Branchen oft im Keller liegen, wenn die Geschäfte toll laufen und jeder den Abschwung erwartet. Wenn man merkt, daß gar kein Zyklus vorhanden ist oder es die Geschäfte nicht beeinflußt, dann werden ein paar Leute aufwachen. Oder ich wache auf und les mir die Going-Public-Kolumne in ein paar Jahren nochmal durch.
      Avatar
      schrieb am 09.10.02 04:26:02
      Beitrag Nr. 46 ()
      Interview: Deutschland altert

      Nach Modellrechnungen der UN steigt die Weltbevölkerung weiterhin stark an. In Europa und Deutschland gehen die Bevölkerungszahlen hingegen zurück. Wissenschaft.de fragt Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz nach Ursachen und Folgen dieser Entwicklung.



      Rainer Münz lehrt an der Humboldt-Universität Berlin Bevölkerungs-wissenschaften. Er war Mitglied der Zuwanderungskomission des Bundes.



      Nach Angabe der UN Population Division wird die Weltbevölkerung um die Mitte des 21. Jahrhunderts etwa 9 Milliarden Menschen betragen. Wie verlässlich sind diese Rechnungen?

      Das sind relativ verlässliche Zahlen, denn ein Gutteil der Menschen, die dann leben werden, sind bereits unter uns. Wenn keine Großkatastrophe über uns hereinbricht, tritt das ein.

      Wie könnte es danach weiter gehen? Sinkt die Weltbevölkerung dann wieder?

      Bis Ende des Jahrhunderts werden etwa 10 bis 12 Milliarden Menschen auf dieser Welt leben. Danach könnte die Weltbevölkerung abnehmen, aber das können wir nicht sicher wissen.

      Modellrechnungen, die einen Rückgang der Bevölkerung ergeben, setzen voraus, dass die Fertilität – also die Anzahl der Kinder pro Frau – unter 2,1 sinkt. Die Fertilität ist derzeitig in allen Teilen der Welt rückläufig mit wenigen Ausnahmen. Aber es könnte auch anders kommen: Eine Demokratisierung in China könnte dazu führen, dass die Ein-Kind-Politik aufgegeben wird und die Chinesen wieder mehr Kinder bekommen. In Indien ist die Kinderzahl pro Familie zumindest im letzten Jahr nicht mehr zurückgegangen.

      Anders als weltweit ist die Fertilität in Europa bereits jetzt sehr niedrig. Was hat das zur Folge?

      Die Entwicklung ist in Europa regional unterschiedlich. Die Fertilität ist in Deutschland, Süd- und Osteuropa sehr niedrig. In Frankreich, Skandinavien und Irland liegen die Kinderzahlen pro Familie höher. Eine Fertilität von 1,3 wie in Deutschland bedeutet, dass sich jede Generation um ein Drittel verringert. Das ist eine Schrumpfungsspirale, die sich so lange fortsetzt, bis wieder eine Generation mehr als zwei Kinder bekommt. Ein solcher Umschwung ist in Deutschland derzeit allerdings nicht absehbar.

      Wie werden sich also die Bevölkerungszahlen Deutschlands in den nächsten 50 Jahren entwickeln?

      Für Deutschland sind Vorhersagen schwieriger als für die Welt, denn wir kennen die Größe der Zuwanderung nicht. Die letzten 50 Jahre haben wir eine Nettozuwanderung von etwa 10 Millionen Menschen gehabt. Ob wir das so in die Zukunft extrapolieren können, wissen wir nicht.

      Ohne Zuwanderung stünden wir im Jahr 2050 bei etwa 59 Millionen Einwohnern. Man bräuchte ungefähr eine Netto-Zuwanderung von 460.000 Menschen jährlich, um das gegenwärtige Bevölkerungsniveau zu stabilisieren. Das sage ich nur zur Verdeutlichung: Es müssen in Deutschland ja nicht 83 Millionen Menschen leben.

      Wie wird sich die deutsche Gesellschaft verändern?

      Die Gesellschaft wird altern: Es wird weniger Menschen unter 60 Jahren geben und mehr über 60 Jahre. Selbst bei einer Netto-Zuwanderung von 300.000 Personen pro Jahr – das wären etwa 15 Millionen zusätzliche Zuwanderer bis 2050 – würde der Anteil der über 60-Jährigen an der Bevölkerung auf über ein Drittel steigen.

      Kommt es zu einem Zusammenbruch der Sozialsysteme?

      Diese Ideen von plötzlicher Schrumpfung oder Zusammenbruch sind völlig falsche Bilder. Sie haben mehr mit der Vorstellung zu tun, irgend etwas ändere sich von heute auf morgen wie das Wetter. Man sollte betonen: Diese Veränderungen gehen langsam vor sich. Wir haben es mit gut absehbaren Entwicklungen zu tun, die man seit Jahrzehnte voraussieht, auf die die Politik unter anderem deshalb nicht reagiert, weil sie so weit weg liegen. Für Politiker ist es wichtiger, die nächste Wahl zu gewinnen, als zwanzig Jahre später sagen zu können, sie hätten Recht gehabt.

      Man kann sagen, das Gesundheitssystem wird dadurch belastet, dass es immer mehr alte Leute gibt. Es gelingt uns, immer älter zu werden, weil wir Zivilisationskrankheiten wie Krebs und Herzinfarkt zurückdrängen. Dadurch wird es mehr Menschen geben, die unter chronisch degenerativen Prozessen wie Altersdemenz, Altersdepression, Parkinson oder Diabetes im fortgeschrittenen Stadium leiden. Das erzeugt einen Betreuungsbedarf.

      Wie sieht es mit dem Rentensystem aus?

      Wenn der Staat ein bestimmtes Rentenniveau garantiert, könnte er gefordert werden. Bisher setzen wir einfach den Beitragssatz in die Höhe, wenn es teurer wird. Nachhaltig kann man jedoch nur etwas verändern, wenn man die Zahl der Beitragszahler stabil oder in einer bestimmten Relation zu den Beitragsempfängern hält.

      Wir haben drei Wege, um das Verhältnis der arbeitenden zu den nicht arbeitenden Menschen zu beeinflussen: Längere Lebensarbeitszeit, mehr Zuwanderung und eine höhere Frauenerwerbsquote.

      Dies sind die drei Alternativen?

      Das sind nicht drei Alternativen, sondern man sollte jede der drei Möglichkeiten nutzen.

      Das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentenempfängern könnte beispielsweise stabilisiert werden, in dem man die statistisch letzten zwölf Jahre des Lebens seine Rente erhält und bis dahin arbeitet. Angenommen, die Lebenserwartung eines 60-Jährigen läge dann bei 80 Jahren, müsste er noch bis zum 67. Lebensjahr arbeiten. Das ist aber nur die Andeutung eines möglichen Auswegs.

      Das Problem ist: Wir haben derzeit keinen funktionierenden Arbeitsmarkt für die älteren Menschen, weil sie teurer sind und eine veraltete Qualifikation besitzen. Da passt der Preis und die Leistungsfähigkeit – das Humankapital – nicht zusammen. Das schafft den Anreiz für Betriebe, alte Menschen durch junge zu ersetzen, denn sie sind billiger, haben frisches Wissen und sind motivierter. Diese Strategie kann in Zukunft nicht mehr verfolgt werden.

      Skandinavien und Frankreich haben eine höhere Frauenerwerbsquote und eine höhere Fertilität als wir. Es gibt die Ansicht, dass Frauen deshalb weniger Kinder bekommen, weil sie heute über eine bessere Ausbildung verfügen und häufiger einen Beruf ergreifen – umgekehrt sich die Männer aber nicht intensiver bei der Kindererziehung engagieren. Haben die französische und skandinavische Männer dazu gelernt?

      Ich glaube nicht, dass es die Männer sind, die umgelernt haben. In Skandinavien und Frankreich gibt es einfach bessere Kinderbetreuungssysteme. Wir bräuchten Ganztagskindergarten und Ganztagsschulen und eine Betreuung der Kinder, wenn die Schulen geschlossen haben, also während der Ferien. Die beste Familienpolitik ist die, die es den Müttern ermöglicht, trotz Kinder ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften und sich eine eigene Rente zu sichern.

      Zur letzten Möglichkeit: Wird man sich neue Zuwanderer in das Land holen?

      Zum ersten Januar 2003 bekommt Deutschland ein neues Einwanderungsrecht, da sind alle Instrumente für eine aktive Einwanderungsgspolitik gesetzlich definiert. Dann könnte man beginnen, attraktive Migranten anzuwerben. Diese Entwicklung wird früher oder später eintreten.

      Zwischen Deutschland und den anderen Ländern wird es zu einer Konkurrenz um gute Köpfe kommen. Die begabten Menschen aus Indien und China werden mehr Wahlmöglichkeiten haben.

      Wie sieht es mit Afrika aus?

      In den meisten Ländern Afrikas gibt es kein funktionierendes Bildungssystem. Afrika produziert für den Eigenbedarf nicht genügen Akademiker. Auch die hohen AIDS-Infektionsraten bei den jungen Leuten stehen einer vermehrten Zuwanderung entgegen.

      Nein, die Einwanderer werden aus Ländern mit einem entwickelten Bildungssystem kommen, wo das Lebensniveau niedriger ist. So werden sie für uns attraktiv sein und einen Anreiz haben, zu uns zu kommen. Im Wesentlichen geht es um Indien und China.



      http://warpsix.dva.de/sixcms/detail.php?id=127942



      Eine Welt der Kinderlosen

      Die Weltbevölkerung wächst und wächst und wächst. Doch in Zukunft könnte dieser Trend sich umkehren, wenn nach dem "Baby-Boom" die "Baby-Pleite" kommt. Denn weltweit entscheiden sich immer weniger Frauen dafür, mehrere Kinder zu bekommen – und das nicht nur in den reichen Ländern.



      Das klingt wie eine gute Verheißung, würde es doch den armen Ländern den Weg aus der Überbevölkerung weisen. Aber eine Welt mit immer weniger Kindern wird eine andere sein als unsere heutige. Sie wird von alten Menschen und vom Mangel an jungen Arbeitskräften geprägt sein.

      Seit 1965 hat sich die mittlere Kinderzahl pro Frau – die sogenannte Fertilität – von 5 auf 2,7 fast halbiert. Dieser Trend scheint sich fortzusetzen. Bei 2,1 Kindern pro Frau liegt jedoch eine entscheidende Grenze: Ist die Fertilität geringer, ersetzt die Generation der Kinder nicht mehr die der Eltern und die Bevölkerungszahl schrumpft. Bisher nahmen Bevölkerungswissenschaftler an, dass sich die weltweite Fertilität bei dieser Grenze stabilisieren würde. Nun wird diese Annahme aber bezweifelt.

      Anfang März dieses Jahres verkündeten Experten auf einer Konferenz der UN Population Division in New York: Zahlreiche Staaten, die im vergangenem halben Jahrhundert Schrittmacher des Bevölkerungswachstums waren, werden voraussichtlich innerhalb von 20 Jahren unter der entscheidenden Grenze liegen. Zu ihnen gehören China, Indien, Brasilien, Indonesien und Mexiko. Der Trend hat die unterschiedlichsten Länder erfasst: steinreiche und bettelarme, katholische und islamische, solche mit einer rigiden Familienplanung und andere ohne.

      Ob dieser Entwicklung ungebrochen anhält, ist ungewiss. In vielen afrikanischen Ländern liegt die Fertilität nach wie vor sehr hoch. Der Rückgang der Kinderzahlen pro Familie hat sich dort in vielen Regionen wieder verlangsamt. In anderen Ländern hat sich die Fertilität auf einem hohen Niveau stabilisiert. Argentinien und Uruguay liegen seit 50 Jahren bei 2,5 bis 3 Kindern pro Frau.

      Was aber geschieht, wenn die Fertilität weiter sinkt? Nach einem der verschiedenen Szenarien, die auf der Konferenz präsentiert wurden, erreicht die Weltbevölkerung im Jahre 2050 mit 7,5 Milliarden Menschen ihr Maximum. Anschließend geht es abwärts: Im Jahre 2150 leben danach nur noch 5,3 Milliarden Menschen auf der Erde, soviel wie in den neunziger Jahren. Nach Schätzungen der UN, die noch von einem moderateren Sinken der Fertilität ausgehen, werden dann 33 Prozent der Menschen 60 Jahre oder älter sein, heute sind es lediglich rund 10 Prozent. Niedrigere Fertilitäten werden diese Situation noch verschärfen.

      Für die Welt mag dies noch ein ungewisses Zukunftszenario sein. In Europa steht diese Entwicklung bereits vor der Tür. Hier sind die Kinderzahlen pro Frau schon seit geraumer Zeit niedrig. Im Jahre 2050 werden nach UN-Schätzung noch etwa 600 Millionen Menschen leben, 100 Millionen weniger als zurzeit. Von diesen Menschen werden rund 37 Prozent 60 Jahre oder älter sein, derzeit sind es etwa 20 Prozent.

      Die Gründe für den weltweiten Kinderschwund sind vielschichtig. Heute leben rund die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, in Zukunft werden noch wesentlich mehr sein. Während Kinder auf dem Land eine Hilfe sein können, stellen sie in Städten eher eine Belastung dar. Frauen sind zunehmend besser ausgebildet und übernehmen mehr und mehr Verantwortung in Beruf und Gesellschaft. Für Kinder bleibt da keine Zeit. "Die Frauen stimmen mit ihren Bäuchen ab", charakterisiert das britische Wissenschaftsmagazin "New Scientist den Zusammenhang.

      Die nordeuropäischen Länder kennen vielleicht einen Ausweg. Dort haben Frauen europaweit die höchsten Kinderzahlen. Die durchschnittliche Schwedin bekommt wie die Durchschnitts-Britin im Schnitt 1,6, die Norwegerin gar 1,8 Kinder. Das Geheimnis: Die männlichen Partner beteiligen sich häufiger an der Kindererziehung, der Staat stellt Kinderhorte und Teilzeitstellen zur Verfügung. "Die beste Familienpolitik ist die, die es den Müttern ermöglicht, ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften", sagt Rainer Münz Bevölkerungswissenschaftler an der Humboldt-Universität in Berlin.

      Lesen Sie hierzu auch das Interview von Wissenschaft.de mit dem Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz .

      http://warpsix.dva.de/sixcms/detail.php?id=127921
      Avatar
      schrieb am 02.11.02 12:58:58
      Beitrag Nr. 47 ()
      Aus Thread: Wir alle - finanzielle Analphabetengeklaut:

      DIE ZEIT

      Wirtschaft 45/2002

      Wir alle - finanzielle Analphabeten


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      Ersparnisse weg, Versicherungen unsicher, Rente gefährdet: In der Krise merken die Menschen, dass sie von Geld nichts verstehen. Und dass niemand ihnen hilft

      von Marc Brost und Marcus Rohwetter

      Acht von zehn Deutschen rechnen immer noch in Mark statt in Euro. Sieben von zehn verstehen das gesetzliche Rentensystem nicht. Die meisten zahlen zu viel für ihre privaten Versicherungen.

      Und Sie? Glauben Sie wirklich, sich mit Geld auszukennen?

      Wenn die Lebensversicherer demnächst wieder Post verschicken, lesen es Millionen Kunden schwarz auf weiß: Es gibt einen Unterschied zwischen Garantiezins und Gewinnbeteiligung. Wer aber weiß, dass eine gekürzte Gewinnbeteiligung gleich mehrere zehntausend Euro ausmachen kann?

      Wenn elf Millionen deutsche Aktionäre in diesen Tagen ihr Depot kontrollieren, sehen sie vor allem eines: rot. Kaum eine Aktie, die nicht abgestürzt ist, kaum ein Investmentfonds, der noch Gewinn abwirft. Binnen 18 Monaten wurden in Deutschland fast 600 Milliarden Euro Aktienkapital vernichtet. Verführt hat die Anleger der Werbespruch der Investmentgesellschaften, man müsse nur monatlich Fondsanteile kaufen, dann würden über die Jahre hinweg selbst schwere Kursschwankungen ausgeglichen. Ein teurer Irrtum. Verstehen wir tatsächlich, wie die Börse funktioniert?

      Dabei ist Geld doch nur Papier, und es zusammenzuhalten gar nicht so schwer. Dachten wir. "Es gibt keine finanzielle Allgemeinbildung", sagt Jürgen Steiner, Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Passau. "Nur Einbildung."

      So ergeht es uns wie Analphabeten auf dem Bahnhof. Solange es Lautsprecherdurchsagen gibt und Schaffner uns den Weg weisen, finden wir den richtigen Zug - selbst wenn wir die Schilder nicht lesen können. Was aber, wenn die Lautsprecheranlage ausfällt? Wenn uns der Schaffner zum falschen Gleis schickt?

      Erst in der Krise merken wir, wie abhängig wir von anderen sind. Dass wir uns selbst nicht helfen können. Weil wir Analphabeten sind: finanzielle Analphabeten.

      Wer den richtigen Zug nicht gefunden hat, landet bei Menschen wie Wolfgang Römer. Der 66-Jährige war früher Richter am Bundesgerichtshof, heute ist er so etwas wie der offizielle Beschwerdeonkel der Versicherungskunden. Ombudsmann nennt sich Römer, und jeder, der mit einer Versicherung streitet, kann sich an ihn wenden. Bis zu tausend Leute im Monat schreiben oder rufen in seinem Berliner Büro an. Manchmal hat sie ihr Versicherungsvertreter falsch beraten, manchmal sträubt sich einfach nur der Sachbearbeiter in der Zentrale, ihnen zu helfen. Im Grunde aber haben die frustrierten Kunden alle das gleiche Problem: Sie durchschauen ihre Versicherung nicht. "Eine Versicherung", sagt Römer, "übersteigt den Verständnishorizont jedes Durchschnittsmenschen."

      Das allein ist schlimm genug. Schlimmer ist, dass es den Menschen bei allen anderen Finanzprodukten genauso geht. Weil inzwischen niemand mehr durchblickt: Turbo-Bull-Zertifikate, Click-Optionen, Schatzbriefe Typ A oder B, Dynamik-Garant-Fonds und unzählige Varianten der Riester-Rente - wer kennt da noch die Details?

      Dabei sollten wir alle den Durchblick haben. Unbedingt. Da die gesetzliche Rente nicht mehr ausreicht, muss jeder privat vorsorgen. Was in Deutschland lange Zeit nur Gedankenspiele waren, wird jetzt bittere Realität: Die staatlichen Rentenreserven sind so niedrig wie nie, die Regierung erhöht die Rentenbeiträge, die Opposition ruft "Wahlbetrug!", und die meisten Bürger verstehen nur, dass sie heute mehr zahlen und künftig weniger haben werden. Wer kann schon in einem Satz erklären, was die Beitragsbemessungsgrenze ist? Die Probleme fangen gerade erst an.

      Vielen Menschen fehlen die Voraussetzungen, um Geld auch nur ansatzweise zu verstehen. Vor Einführung des Euro tourte ein Student mit dem Infomobil der EU-Kommission durchs Land, um die Deutschen über die neue Währung zu informieren. "Es war schon schwierig, ihnen die Faustregel zu erklären, dass ein Euro etwa zwei Mark sind", sagt er.

      Mit Zahlen, sagt Gerhard Rupprecht, hätten viele Anleger und Verbraucher nichts am Hut. Der Mann muss es wissen: Rupprecht ist Mathematiker - und Vorstandschef der Allianz Lebensversicherung. Mehr als neun Millionen Policen verantwortet der 53-Jährige, so viel wie kein anderer in Deutschland. "Man muss kein Genie sein, um zu verstehen, wie eine Lebensversicherung funktioniert", sagt er. "Ein gewisses Verständnis für Zins und Zinseszins reicht schon aus." Aber wer hat das tatsächlich? "Es gibt Abiturienten, die können nicht mal Prozentrechnen", sagt Rupprecht.

      Wie viel Prozent muss eine Aktie zulegen, um 50 Prozent Verlust wieder auszugleichen? 50? Falsch! Es sind 100.

      Wir leben in einer Welt, die in vielen Bereichen ziemlich kompliziert geworden ist - und dennoch scheitern die Verbraucher fast ausschließlich in der Disziplin Geld. Beispiel Autokauf: Die technischen Details von Achtzylinder und Fünfganggetriebe verstehen die wenigsten. Dennoch treffen sie meistens die richtige Wahl. Ein Ehepaar mit zwei Kindern und Hund schafft sich einen Kombi an und kein Sportcoupé. "Ein Auto kauft man eben nur für die nächsten vier oder fünf Jahre", sagt Jan Evers von der Hamburger Finanzforschung Evers & Jung, "eine Lebensversicherung dagegen rechnet sich erst nach 30 Jahren". Und wer kann diesen Zeitraum schon überblicken?

      Weil Geld ein Tabuthema ist, können wir uns auch nicht gegenseitig helfen. Über Geld spricht man nicht einmal in der Familie. Nur die wenigsten wissen, was ihre Eltern genau verdienen. Oder wie diese ihr Vermögen aufgebaut und angelegt haben. Und anders als ein Auto ist der Umgang mit Geld auch kein Lifestyle-Thema, über das man auf Partys plaudert - es sei denn, man kokettiert mit Börsenverlusten. Ein Bausparvertrag passt eben nicht zu Canapés.

      Im Idealfall müsste jeder Haushalt seine Finanzen genauso organisieren, wie das ein Unternehmen macht: mit einer Übersicht aller Einnahmen und Ausgaben und dem genauen Vermögensstand. Volker Looman weiß, dass die Realität anders aussieht. Viele seiner Kunden, erzählt der freie Finanzanalytiker aus Reutlingen, haben den Überblick über ihre Finanzen längst verloren. Und das wird zum Problem. "Bei der Geldanlage ist die ehrliche Selbsteinschätzung das Allerwichtigste", sagt Looman. Bloß: Wenn man nicht weiß, was man hat, weiß man auch nicht, was man braucht.

      Falsche Freunde. Finanzielle Analphabeten brauchen Schaffner, die ihnen im Durcheinander des Bahnhofs den Weg weisen. Doch guter Rat ist Glückssache. Die meisten Finanzberater arbeiteten mit Standardkonzepten, haben die Forscher von Cap Gemini Ernst & Young ermittelt. Meist versuchten sie alles, um den Kunden andere als die von ihnen gewünschten Produkte zu verkaufen, heißt es in der Studie. Im Klartext: Man setzt uns alle in den gleichen Zug - und für viele ist es der falsche. "Die Anleger sind nicht wirklich aufgeklärt", sagt der Passauer Wirtschaftsprofessor Steiner. "Deshalb kann man sie auch so leicht über den Tisch ziehen."

      Wie die Zahl der Finanzprodukte ist auch die Zahl der Verkäufer rasant gestiegen. 450 000 Versicherungsvertreter, weit mehr als 100 000 Berater bei Banken, Sparkassen und Finanzvertrieben wie MLP, AWD und DVAG - sie alle buhlen in Deutschland um Kunden, und sie alle wollen nur unser Bestes: unser Geld. "Das ist der Grundkonflikt", sagt Marco Habschick von der Finanzforschung Evers & Jung. "Man lässt jemanden für sich arbeiten, der von jemand anders bezahlt wird" - nämlich von der Bank oder Versicherung.

      Natürlich gibt es auch gute Berater und individuelle Lösungen. Verhängnisvoll ist nur: Wenn die Sparer merken, dass die Beratung schlecht war, ist es meist zu spät. Weil der empfohlene Aktienfonds um 90 Prozent abgestürzt ist. Oder weil bei Auszahlung der Lebensversicherung bereits 30 Jahre vergangen sind.

      Allerdings sind wir finanziellen Analphabeten an einer mangelhaften Beratung nicht schuldlos. Genau wie Leute, die nicht lesen können, geben wir unsere Schwäche ungern zu. "Die meisten Menschen fragen vor dem Vertragsabschluss nicht richtig nach", sagt Wolfgang Römer, der Ombudsmann für Versicherungen. "Fragen die Kunden aber doch, ist es so kompliziert, dass sie es nicht verstehen und dann nicht wagen, noch einmal nachzufragen. Oder der Vertreter erklärt es falsch, weil er es selber nicht weiß."

      Selbst wer seine Schwäche eingesteht, kann den falschen Weg gezeigt bekommen. Denn finanzielle Analphabeten gibt es auch dort, wo man sie nicht vermutet: zum Beispiel in Banken. Wenige Wochen vor der Euro-Umstellung rief der Filialleiter einer süddeutschen Sparkasse einen ihm bekannten Finanzexperten an und bat ihn, seinen Mitarbeitern etwas zur Umrechnung zu erzählen. "Als ich hereinkam, saßen die alle hoffnungsvoll am Tisch mit aufgeklappten Notizblöcken", erinnert sich der Referent. "Die wollten tatsächlich wissen, ob die Menschen nach der Umstellung mehr oder weniger Geld haben. Ein Teil konnte nicht einmal den Dreisatz rechnen."

      Finanzgurus wie Bodo Schäfer verdienen mit der Unwissenheit der Anleger viel Geld. Der Buchautor verheißt den Weg zur finanziellen Freiheit, verspricht Wohlstand ohne Stress und kennt Die Gesetze der Gewinner. Schäfer schaffte es damit bis in die Spitze der Bestsellerlisten. Endlich mehr verdienen, heißt sein neuestes Buch, doch der Guru, behauptet ein Konkurrenzverlag, soll in einem Kapitel kräftig abgeschrieben haben. Auch so verdient man mehr. Schäfer bestreitet die Vorwürfe.

      Profiteure des Unglücks. Unfähig, unsere Fehler einzusehen, suchen wir die Schuld am liebsten bei anderen. Zum Beispiel bei Managern, die Bilanzen schönen und mit windigen Zahlen tricksen. Als ob wir die Zahlen verstanden hätten, wenn sie korrekt gewesen wären. Jetzt sollen uns die Gerichte zurückgeben, was uns die Börse nahm - und dabei riskieren wir noch mehr Geld. Wer ein 50 000-Euro-Verfahren in allen Instanzen verliert, muss mit Kosten von mehr als 25 000 Euro rechnen.

      Enttäuschte Kleinaktionäre sind für Anwälte eine lukrative Klientel. Die hierzulande noch junge Gruppe der Anlegeranwälte zeichnet sich vor allem durch professionelle Öffentlichkeitsarbeit aus. Einen Namen hat sich die Kanzlei Rotter aus Grünwald oder Tilp & Kälberer aus Kirchentellinsfurt bei Tübingen gemacht. Kaum ein Unternehmen, das noch nicht auf Schadenersatz verklagt worden ist: Der Filmrechtehändler EM.TV, andere Neue-Markt-Firmen wie Metabox oder Infomatec, aber auch Dax-Schwergewichte wie die Deutsche Telekom. Ende vergangener Woche verklagte Rotter - laut Eigenwerbung die "Kanzlei für Wertpapieranleger" - im Namen von 150 Anlegern den ehemaligen Comroad-Chef Bodo Schnabel wegen Bilanzfälschung.

      Auch die Juristen der Anlegerschutzvereine gehen gern an die Öffentlichkeit. Der wohl prominenteste unter ihnen ist Klaus Nieding, Rechtsanwalt aus Frankfurt, Geschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) und Präsident des Deutschen Anlegerschutzbundes (DASB). In seiner Pressemitteilung vom 27. Juni 2002 verweist "der renommierte Anlegervertreter" (Selbstauskunft) auf angeblich steigende Erfolgschancen seiner zahlreichen Prozesse gegen eine Schweizer Privatbank: "Millionenklagen gegen Julius Bär offenbar gerechtfertigt" - dabei hatte das Gericht den Parteien bloß nahe gelegt, einen Vergleich zu schließen.

      Die Hoffnung vieler Anleger, Gerichte würden ihnen zurückgeben, was ihnen die Börse nahm, wird oft enttäuscht. Beispiel Infomatec: 50 Euro kostete die Aktie der Softwarefirma zu Spitzenzeiten am Neuen Markt, heute sind es 5 Cent - Kursverlust 99,9 Prozent. Weil die beiden Vorstände Aufträge nur vorgetäuscht haben sollen, sprach das Landgericht Augsburg im vergangenen Sommer einem Anleger knapp 100 000 Mark Schadenersatz zu. Die Entscheidung, von der Kanzlei Rotter erstritten und prompt als "Meilenstein im über hundertjährigen deutschen Aktienrecht" bezeichnet, war zwar tatsächlich neu - nie zuvor konnte ein Aktionär die Führungsriege eines Unternehmens persönlich haftbar machen. Aber vor wenigen Wochen kippte das Oberlandesgericht München das Urteil; nun muss der Bundesgerichtshof entscheiden.

      Amerikas Albtraum. Finanzielle Analphabeten gibt es überall. Weil Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten nicht ausreichend vorsorgen, können sie ihren Lebensstandard nicht halten, wenn sie in Rente gehen. Aber: In den USA wird dieses Problem wenigstens öffentlich diskutiert. Bereits Ende der neunziger Jahre warnte der damalige Chef der amerikanischen Börsenaufsicht SEC, Arthur Levitt, die finanzielle Bildung zu vernachlässigen. Diese Ignoranz könne noch "sehr gefährlich" werden. Und in diesem Mai bestätigte das National Summit on Economic and Financial Literacy - das landesweit erste Gipfeltreffen zu diesem Thema - die böse Ahnung: Die amerikanische Durchschnittsfamilie hat 8000 Dollar Konsumschulden; 14 Prozent des verfügbaren Einkommens gehen allein für Zinsen drauf. Jeder zehnte Student mit eigener Kreditkarte steht mit mehr als 7000 Dollar in der Kreide.

      Nichtkommerzielle Organisationen wie Financial Literacy 2010 (FL 2010)wollen vor allem die Lehrer an den Schulen finanziell weiterbilden. Mehr als 40 000 von ihnen hat FL 2010mit Unterrichtsmaterial versorgt, rund 9000 Lehrer besuchen Seminare über die Grundlagen des Sparens und die Präsentation von Finanzthemen im Unterricht. So wollen sie ändern, dass 78 Prozent der Amerikaner zwar die Namen von TV-Serienfiguren kennen, aber nur 12 Prozent den Unterschied zwischen einem Investmentfonds mit und ohne Ausgabeaufschlag. Es ist ein Langzeitprojekt. "Das dauert eine Generation", sagt Lewis Mandell, Professor an der University at Buffalo School of Management, bis sich neue Lehrmethoden im Schülerverhalten widerspiegeln.

      Und die Arbeit ist mühsam. In Multiple-Choice-Tests bittet Mandell die Schüler amerikanischer Highschools regelmäßig, die richtigen Antworten anzukreuzen: Welche Probleme bringt Inflation mit sich? Welche Versicherung hilft bei einem Autounfall? Das Ergebnis der diesjährigen Umfrage: "From bad to worse" - die Schüler werden immer dümmer. Im Durchschnitt wussten sie gerade mal auf jede zweite Frage die korrekte Antwort.

      Das Fatale: Selbst in einem Land mit vorwiegend privater Altersvorsorge interessiert sich kaum jemand für den richtigen Umgang mit Geld. Der Anteil der US-Schüler, die Kurse in persönlicher Finanzplanung belegen, sinkt.

      Vielleicht hilft da ja die Wirtschaftskrise. "Die Menschen werden gezwungen, mit weniger Geld mehr zu erreichen", sagt Lewis Mandell. Rezession macht klug.

      Deutsches Dilemma. In Deutschland gibt es zur Hoffnung keinen Grund: Finanzielle Allgemeinbildung ist kein Thema, niemand fühlt sich zuständig.

      Der Staat? Verpflichtet seine Bürger zur privaten Altersvorsorge, kümmert sich aber nicht um die Information. "In unseren Prospekten müssen wir den Menschen erst einmal ausführlich erklären, was sich in der gesetzlichen Rentenversicherung künftig ändert", sagt Allianz-Leben-Chef Rupprecht. "Die Politik vernachlässigt ihre Aufgaben."

      Die Schulen? Sind weit davon entfernt, "allen Schülern eine ökonomische Grundbildung als Teil einer zeitgemäßen Allgemeinbildung zu vermitteln", kritisiert Reinhold Weiß vom Institut der deutschen Wirtschaft. Dabei gibt der Staat jedes Jahr rund 40 Milliarden Euro für Bildung aus: zum Beispiel für Biologiebücher, Landkarten und die Gehälter von Kunstlehrern. Nur für den Umgang mit Geld ist kein Geld da.

      Zwar stellen in den kommenden Jahren fast alle Bundesländer ihre Lehrpläne um. An Hamburgs Gymnasien etwa wird von 2003 an in den Klassen 8 bis 10 das neue Fach Politik/Gesellschaft/Wirtschaft zur Pflicht. Aber das ist bloß ein kleiner Fortschritt. "Integrierte Fächer sind nur die zweitbeste Lösung", sagt Ulrike Lexis von der Bertelsmann Stiftung. An dem neuen Fach hat Wirtschaft eben nur einen Anteil von einem Drittel. Und wie groß daran dann der Anteil der finanziellen Bildung sein könnte, ist offen. "Ohne die private Lebenssituation mit einzubeziehen - etwa als Konsument oder Steuerzahler -, wäre das eine blutleere Veranstaltung", kritisiert Hans Kaminski, Professor am Institut für ökonomische Bildung der Universität Oldenburg.

      Können ein paar Schulstunden im Halbjahr einem Jugendlichen tatsächlich helfen, seine Finanzen irgendwann optimal zu regeln? Bewahren sie ihn davor, sich später von Beratern und falschen Freunden ausnehmen zu lassen? Schützen sie ihn vor einem Alter in Armut?

      Wichtig ist: dass wir uns eingestehen, finanzielle Analphabeten zu sein. Dass wir Hilfe brauchen, um uns irgendwann selbst helfen zu können. Finanzielles Grundwissen ist das Minimum, damit wäre schon viel erreicht. Nie einen Fehler zu machen bleibt eine Illusion. Wenn es um Geld geht, scheitern selbst Profis.

      Die Ego-Falle. Natürlich gibt es Menschen, die das staatliche Rentensystem verstehen. Die einen exakten Überblick über ihre Finanzlage haben. Und die sehr gut wissen, dass ihr Bankberater vor allem die Interessen seines Arbeitgebers im Blick hat. Auch sie können irren.

      "Wissen allein schützt nicht", sagt der Züricher Wirtschaftswissenschaftler Ernst Fehr. Auch ein Alkoholiker weiß im Grunde, dass Alkohol nicht gut für ihn ist - und trinkt dennoch. Weil Ungeduld oder Willensschwäche unser Handeln beeinflussen. "Selbst wenn die Menschen die besten Mittel kennen, sind sie manchmal nicht in der Lage, diese Mittel auch anzuwenden", sagt Fehr. Zwei Drittel der US-Bürger glauben, dass sie fürs Alter zu wenig vorsorgen, heißt es zum Beispiel in einer Studie der Investmentbank UBS Warburg. Mehr als ein Drittel will daher mehr sparen. Fragt man jedoch einige Monate später nach, haben die wenigsten mehr Geld auf die Seite gelegt.

      In Experimenten und Simulationen erforschen Ökonomen wie Fehr seit langem, warum sich sogar gebildete Menschen im Wirtschaftsleben kurzfristig anders verhalten, als es ihren langfristigen Interessen entspricht. Das hat mehrere Gründe: Wir alle sind zu sehr von uns überzeugt - overconfidence nennen das die Wissenschaftler. 70 Prozent der Autofahrer sagen von sich, dass sie überdurchschnittlich gut fahren. 90 Prozent der Fondsmanager behaupten, dass sie den Vergleichsindex schlagen. Kaum einem gelingt es wirklich. Weil wir glauben, dass wir besser sind als andere, halten wir zum Beispiel an unserer Investmentstrategie fest - obwohl längst nichts mehr für dieses Investment spricht.

      Doch zu lernen fällt uns schwer. Manchen Fehler mögen wir begreifen, aber wenn die Ausgangslage beim nächsten Mal nur ein wenig anders aussieht, erkennen wir das Muster nicht mehr wieder. Und handeln erneut entgegen dem eigenen Interesse.

      Als der amerikanische Aktienindex Dow Jones noch kletterte und nahezu jeder Aktien und Fondsanteile kaufte, befragte ein Forscherteam private Fondsbesitzer. Was würden Sie tun, wenn der Dow Jones bei 8000 Punkten steht und plötzlich um fünf Prozent fällt? Jeder Siebte gab an, keine neuen Fondsanteile zu kaufen. Zweite Frage: Was würden Sie tun, wenn der Index um 400 Punkte fällt? Da wollten fast doppelt so viele aufhören zu investieren - obwohl der Absturz des Dow identisch war. Gleiche Situation, ganz anderes Verhalten.

      Rationaler Umgang mit Geld ist eine Seltenheit. Deshalb wiederholen sich am Aktienmarkt seit Jahrhunderten die Übertreibungen, Fehleinschätzungen und Exzesse. Deshalb spekulierten die Niederländer 1637 mit Tulpenzwiebeln, bis diese so viel kosteten wie ein Einfamilienhaus. Deshalb konnte ein findiger Brite Anfang des 18. Jahrhunderts Tausende Menschen dazu bringen, sich an seiner wirren Idee finanziell zu beteiligen - der "Gesellschaft zur Durchführung eines überaus nützlichen Unternehmens, das aber noch niemand kennt". Und deshalb stürzten sich viele Tausende Kleinaktionäre noch im Jahr 2000 ins Abenteuer Neuer Markt, obwohl bereits damals das Bundeskriminalamt vor "Straftaten im Umfeld des Kapitalanlagebetruges" warnte.

      "Finanzgenie ist man nur bis zum Bankrott", spottet der amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith. "Es ist eine trügerische Vorstellung, Geld und Intelligenz müssten miteinander einhergehen."
      Avatar
      schrieb am 02.11.02 13:04:20
      Beitrag Nr. 48 ()
      @DimStar:

      Mich würde interessieren wie du eigentlich die (zukünftige)Rentenproblematik siehst, und welche Lösungsvorschläge du dazu hättest. Meiner Meinung nach sind weder das jetzige Umlageverfahren, noch die Kapitalgedeckte Altersvorsorge der Stein der Weisen. Einzig und allein längere Lebensarbeitszeiten kämen meiner Meinung nach als Lösung in Betracht. Im speziellen Fall Deutschland sind die Probleme aber noch viel schwerwiegender.

      mfg thomtrader
      Avatar
      schrieb am 02.11.02 18:44:43
      Beitrag Nr. 49 ()
      Ich bin ja kein Politiker und kann mich auf meine Vorsorge konzentrieren. Deshalb ist das was ich dazu denke bestimmt auch nicht sehr fachgerecht. Die Politiker maßen sich m.E. schon etwas an, wenn sie meinen über die Einkünfte von Senioren entscheiden zu müssen. Eigentlich glaube ich auch gar nicht, dass die Leute überhaupt eine hohe Rente vom Staat erwarten. Wer seine Kinder gut erzieht und ihnen zu einem angenehmen Leben verhilft, der kann in jeder Hinsicht Unterstützung im Alter erwarten. Wer keine Kinder bekommt weiß, dass er wenigstens finanziell vorsorgen muß. Also bin ich grundsätzlich dafür, dass man die höheren Renten nicht dem Existenzminimum annähert, aber doch deutlich absenkt, da keiner wirklich darauf hin plant, als Senior allein auf Kosten der dann Erwerbstätigen im Luxus zu leben. Aber selbst wenn die Renten abgesenkt werden, wird es zu hohen Beitragsbelastungen kommen. Schließlich wird die Zahl der Berufstätigen drastisch sinken wenn es so weiter geht und die Zahl der Senioren drastisch zunehmen. Die Diskussion ist deshalb nicht 19,3 % oder 19,5 % Rentenbeitrag sondern 30 oder 35 % in 20 Jahren oder aber eine gründliche Reform. Eigentlich müsste auch jeder Bürger verstehen, dass in einigen Jahrzehnten nicht 30 % Erwerbstätige die Sozialansprüche von 70 % leisten können, aber sie würden es nicht verstehen, wenn ihnen in Zukunft 30 % vom Brutto als Rentenbeitrag abgezogen werden. Deshalb ist es doch unvorsichtig von den großen Parteien, nicht sofort die Dinge zu ändern, aber irgendwie will keiner der Erste sein, der es den Wählern erzählt.

      Ich finde auch, dass man den Leuten nicht vorschreiben sollte, dass sie mit 65 aufhören sollen und erst Mitte 30 bestimmte Berufe ausüben können. Da geht den Firmen eine Menge Erfahrung flöten und jungen Leuten werden Sachen beigebracht, die sich nicht wissen wollen. Ich schätze mal, dass die Hälfte der 15 jährigen wissen, was sie arbeiten möchen. Die wollen dann z.b. nicht mehr in den Chemieunterricht oder zur Bundeswehr. Immer wenn man Leute zwingt, etwas Unnützes zu tun entsteht Ineffizienz, davon gibt es hier noch sehr viel. Unis arbeiten nicht mit eigenem Geld und haben wenig Interesse an ihrer Qualität und schnellen Abschlüssen. Wenn man nun z.b. die Eigenheimzulage abschafft und dafür Kinderkrippen baut, sorgt man dafür, dass nur noch Häuser gebaut werden, die gebraucht und bezahlt werden können, ermöglicht Alleinerziehenden eine Erwerbstätigkeit und mindert die Bedenken beim Kinderkriegen. Also denke ich insgesamt, dass man zum einen die Renten senken könnte, gezielter und daher schneller ausbilden könnte, die Leute so lange arbeiten lassen könnte wie sie wollen und Familien fördern sollte, nicht nur mit Geld sondern vor allem mit Betreuungsstätten. Aber auch dann werden wir wohl noch keine Fertilität von 2.0 bekommen. Also muß man sich um Zuwanderung weiterer Berufstätiger bemühen, auch wenn das an den Stammtischen nicht ankommt und die meisten Auswanderer eher die USA im Kopf haben.
      Avatar
      schrieb am 03.11.02 16:06:48
      Beitrag Nr. 50 ()
      Eine Fertilität von 2.0 oder Zuwanderung können die Rentenproblematik eines Landes zwar mittelfristig deutlich entschärfen, aber eine Langfristige Lösung kann das auch nicht sein, denn das würde andere schwerwiegende globale Probleme nur verschärfen.(Stichwort: Überbevölkerung!)

      Ohne tiefgreifende Einschnitte bei heutigen und zukünftigen Rentnern wird das Problem nicht gelöst werden können. Aber diese Einschnitte werden erst viel zu spät kommen(Erst wenn die Rentenbeiträge deutlich über die Schmerzgrenze gestiegen sind). Die Einschnitte die ich meine sind längere Lebensarbeitszeiten und (deutlich) geringere Renten. Die wird aber Deutschland kaum durchführbar sein. Die Partei die solche Maßnahmen durchführen würde beginge politischen Selbstmord. Außerdem entstehen durch diese Maßnahmen weitere Probleme(Längere Lebensarbeitszeiten bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit??? und werden die Renten gesenkt, dann verfügen die Renter über weniger Kaufkraft, und das bekommt der Wirtschaft auch nicht unbedingt gut)


      >Wer seine Kinder gut erzieht und ihnen zu einem angenehmen Leben verhilft, der kann in jeder Hinsicht Unterstützung im Alter erwarten.

      Meinst du damit finanzielle Unterstützung? Das sehe ich auch sehr problematisch. Selbst wenn man seine Kinder wirklich gut erzogen hat, und sie einem wirklich sehr verbunden sind, dann wird die finanzielle (Zwangs?-)Unterstützung, die Beziehung zwischen Kindern und Eltern zerstören, oder mindestens deutlich abkühlen. Und politsch kann man so etwas sowieso nicht verkaufen.
      Selbst wenn soetwas bei einkommensstarken und wohlhabenden Familien noch funktionieren sollte, so scheitert dieses Modell spätestens in den unteren Einkommenschichten. Diese Leute haben heute kaum noch finanziellen Spielraum, und ihn Zukunft wird dieser Spielraum ohnehin noch geringer, und dann sollen auch noch Kinder ihre verrenteten Eltern unterstützen??? Das kann und wird nicht funktionieren.

      Die Diskussion ist deshalb nicht 19,3 % oder 19,5 % Rentenbeitrag sondern 30 oder 35 % in 20 Jahren oder aber eine gründliche Reform. Eigentlich müsste auch jeder Bürger verstehen, dass in einigen Jahrzehnten nicht 30 % Erwerbstätige die Sozialansprüche von 70 % leisten können, aber sie würden es nicht verstehen, wenn ihnen in Zukunft 30 % vom Brutto als Rentenbeitrag abgezogen werden.

      Richtig! Eigentlich müssten es die Bürger verstehen, es ist ja auch nicht schwer zu begreifen. Aber es ist nun mal so wenn man selber davon betroffen ist dann werden solche Wahrheiten von praktisch jeden verdrängt oder verleugnet.


      Deshalb ist es doch unvorsichtig von den großen Parteien, nicht sofort die Dinge zu ändern, aber irgendwie will keiner der Erste sein, der es den Wählern erzählt.

      Ändern die Politiker die Dinge nicht so haben sie gute Chancen auch bei der nächsten Wahl vorne dabei zu sein. Ändern die Politiker die Dinge aber so wäre das wie schon gesagt politscher Selbstmord. Deswegen werden die Dinge nicht oder nur kaum geändert.
      Avatar
      schrieb am 03.11.02 17:51:36
      Beitrag Nr. 51 ()
      Es kann sein, dass sich das nicht verkaufen lässt, aber ich muß ja auch nichts verkaufen sondern nur eine Meinung haben. Ich denke, dass die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern im Durchschnitt ganz gut ist. Ich glaube z.b. dass nur sehr wenige Leute Weihnachten oder ihre Geburtstage allein feiern. Die Beziehung ist eine andere und im Durchschnitt besser und vertraulicher als zu meinen Arbeitskollegen, dem Postboten oder zur Verkäuferin im Supermarkt. Man fühlt sich einander verpflichtet und manchmal sind sie der letzte Rückhalt. Ich glaube nicht, dass die meisten Senioren im Altersheim leben sondern bei ihren Kindern und dass es denen meist schlechter geht, die sich von ihrer Familie entfremden oder keine eigene aufbauen. Du meinst, das kann und wird nicht funktionieren, aber es funktioniert de facto prima. Der Senior, der zuhause isst, schläft, lebt, seinen Interessen nachgeht und ständige Ansprechpartner hat, braucht nicht viel Staatsgeld zur Grundversorgung. Was ich meine ist, dass familiäre Solidarität viel beständiger ist als die Solidarität zu irgendeinem Geschäftspartner oder einem Staatssystem und bevor familiäre Solidarität zerstört würde hätte sich staatliche Solidarität längst zerstört. Bei stärkerer staatlicher Umverteilung möchte jeder nur profitieren, also hängt da die Unterstützung viel eher am seidenen Faden. Ich denke, dass eine Rentenversorgung im Sinne von Grundversorgung in staatlicher Solidarität von einer Mehrheit verstanden werden würde. Die FDP hat das übrigens im Programm stehen aber Selbstmord ist das nicht. Wer sich bei Politik anders als die meisten Medien mal mit Inhalten auseinandersetzt wird das schon verstehen. Zwar möchte jeder sicher sein, im Alter gut versorgt zu sein, aber niemand denkt wirklich daran, 5 Kreuzfahrten im Jahr als Senior zu unternehmen, weil er sich von der Rente soviel verspricht. Jeder hat die Ahnung, dass so was nur mit privater Vorsorge geht und wer ähnliches vorhat wird auch entsprechend planen. Wenn sich die Parteien davor länger drücken, dann werden sie eben später dazu gezwungen, wenn gar kein Spielraum mehr vorhanden ist. Wenn weniger Geld in die Rentenkasse kommt muß beim Rausgeben gespart werden und wenn das immer noch zuviel ist muß eben für mehr Einnahmen gesorgt werden.

      Was die Fertilität angeht, so wächst die Bevölkerung bei 2.0 nicht. Die Lebenserwartung könnte vielleicht in 10-20 Jahren um ein Jahr steigen, aber die wichtigste Komponente ist die Fertilität. Vielleicht war sie 1900 bei etwa 3.0. Auch das hat uns geholfen stark zu wachsen und Wohlstand zu gewinnen. Bei Bevölkerungsrückgang (ohne Einwanderung) wie nun entstehen die Probleme, Überbevölkerung kann ich mir hier auf lange Sicht nicht vorstellen, vor allem weil mehr als 2 Kinder die Durchschnittsfamilie zu sehr stresst und es mit Verhütung steuerbar geworden ist, wieviel Kinder es sein sollen.
      Avatar
      schrieb am 12.11.02 20:20:57
      Beitrag Nr. 52 ()
      Interessanter Thread;)
      Avatar
      schrieb am 18.11.02 23:38:54
      Beitrag Nr. 53 ()
      SPIEGEL ONLINE - 16. November 2002, 14:17
      http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,223142,00.html
      Subventionskürzungen

      Finanzexperte empfiehlt Rasenmähermethode

      Es mangelt nicht an Vorschlägen, wie der Konjunktur- und der Finanzmisere beizukommen ist. Der radikalste Vorschlag kommt jetzt von dem Finanzexperten Alfred Boss vom Kieler Institut für Weltwirtschaft. Sein Rezept: Subventionen komplett streichen, Steuern drastisch senken.



      Kiel - Bei einem Abbau sämtlicher Subventionen sei bei der Einkommensteuer ein Eingangssatz von acht Prozent und ein Spitzensteuersatz von 19 Prozent möglich, sagte Boss. "Die Politik muss nur alle Subventionen streichen und dafür die Einkommensteuersätze kräftig senken."

      Es geht um Riesensummen: Die Finanzhilfen (116 Milliarden) und Steuervergünstigungen (40 Milliarden) summierten sich 2001 auf 156 Milliarden Euro - 7,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und über ein Drittel des Steueraufkommens.

      So gut wie alle Subventionen sind für Boss aus ökonomischer Sicht schädlich, weil sie den Wettbewerb verzerren und Subventionsmentalitäten schaffen. Dies gilt in seinen Augen nicht nur für Landwirtschaft, Werften oder Bergbau, sondern auch für Wohnungsvermietung, Krankenhäuser, Kultur, Sport oder Kirchen. "Nur dort, wo ein positives Ausstrahlen auf andere Bereiche der Wirtschaft zu erwarten ist, könnte man aus ökonomischer Sicht in bestimmten Fällen Subventionen befürworten", sagte Boss. "Deshalb haben wir den Komplex Hochschulwesen/Ausbildung in unseren Untersuchungen außen vor gelassen."

      Nach Modellrechnungen der Kieler Wissenschaftler hätte der Eingangssteuersatz 2001 im Extremfall statt 21 Prozent 7,7 Prozent betragen können und der Spitzensteuersatz 18,8 statt 51,2 Prozent - wenn man alle Subventionen gestrichen hätte. "Jeder Theaterbesuch wird in Deutschland mit 90 Euro subventioniert, das ist doch eine Menge Geld", sagte Boss.

      Da der Ökonom keine guten und schlechten Subventionen kennt, gibt es für ihn auch keine Abbau-Rangfolge. Außerdem gäbe es bei differenzierten Kürzungen sofort Proteste der Betroffenen nach dem Motto: "Warum wir und nicht die anderen?". Daher empfiehlt Boss die Rasenmähermethode. Weil jedoch die Streichung aller Subventionen auf einmal kaum durchsetzbar sei, plädiert der Experte dafür, sie über einen festen Zeitraum immer um den gleichen Prozentsatz zu kürzen: "In fünf Jahren jeweils 20 Prozent, und dann ist das Thema durch."

      Den zu erwartenden heftigen Widerständen hält der Wissenschaftler entgegen, dass von gleichzeitigen allgemeinen Steuersenkungen viele Gruppen profitieren würden. Sie stünden hinter dieser Strategie und würden ein Gegengewicht zu den aufschreienden Subventionsempfängern bilden. "Eine Einkommensteuersenkung wäre die richtige Ergänzung: Sie ist die schädlichste Steuer, weil sie Anreize zum Investieren und zum wirklichen Sparen beeinträchtigt."
      Avatar
      schrieb am 17.12.02 11:56:12
      Beitrag Nr. 54 ()
      Reif für die Insel
      Ihnen kann auch eine Jahresend-Rallye an den Börsen nicht helfen: Spekulationssüchtige. Das neue Krankheitsbild beschäftigt nun auch Therapeuten
      von Roland Mischke

      Sie „scharren mit den Füßen“, sobald der Dax nach oben zuckt. Sagt die TV-Sprecherin: „Bei einem Sprung über die 3300er-Marke könnte sich Dynamik einstellen“, geraten sie in eine Phase starker Unruhe. Und wenn sie über ein börsennotiertes Unternehmen hören: „Nach dieser Transaktion dürften noch über elf Milliarden Euro mit Netto-Cash vorhanden sein“, spüren sie ihr Herz heftig klopfen und Schweiß ausbrechen. Das kann bis hin zu einer Beeinträchtigung der Herz-Kreislauf-Frequenz gehen.


      „Typische Spekulationssüchtige“, sagt Joachim Otto (53), Leiter der Evangelischen Suchtberatung des Diakonischen Werks in Frankfurt. „Die reale Welt kann er sofort hinter sich lassen, wenn er wie fremdgesteuert in eine andere Welt eintritt. Einige meiner Klienten können sehr plastisch schildern, was beim Spekulieren mit ihnen geschieht: Sie fühlen sich beim Schmieden ihrer Strategien wie Feldherrn vor der großen Schlacht, haben Macht und erlangen individuelle Freiheit in einem unerhörten Maß. Das ist der Kick!“


      Der erste deutsche Therapeut, der sich der Spekulationssüchtigen annimmt, ist geradezu prädestiniert dafür: Otto ist gelernter Bankkaufmann und hatte Anfang der siebziger Jahre selbst an der Börse gearbeitet. „Damals war das noch eine geruhsame Sache.“ Gemächlich Aktien kaufen, essen gehen, in der Bank die Kurse an die Tafel stecken. Nachmittags den Schriftverkehr erledigen, Beratungsgespräche führen. „Das war eine Angelegenheit unter Gentlemen, höflich, gediegen, stilvoll.“


      Der Börsenboom hat alles verändert. „Wenn es um viel Geld geht, zieht das Menschen mit Suchtpotenzial an wie Motten das Licht.“ Je höher die Summe, desto größer die Anerkennung durch Kollegen, Freunde, Partner. „Wer mit Millionenbeträgen handeln konnte, ist besonders gefährdet.“ Jede Million hat ihre Magie. Jetzt, wo das Geschäft mühsam geworden ist und „der lustvoll-euphorische Reiz auf schnellen Gewinn wegfällt, zeigt sich das nackte Suchtverhalten. Der Rausch ist das Ziel“, aber der Weg dahin ist sehr, sehr lang geworden. Das löst erhebliche Frustrationen aus, „wie bei Medikamentenabhängigen, die man gewaltsam auf Entzug gesetzt hat und die nach einiger Zeit alles tun, um an Tabletten zu kommen“.


      So wie einige seiner Klienten, die Joachim Otto vor allem seit diesem Jahr in seinem Büro am grünen Glastisch mit den Ledersesseln vor einer holzgetäfelten Wand zu Gesprächsserien von fünf bis acht Sitzungen empfängt. Broker, Anlageberater, Analysten, Abteilungsleiter und Zweigstellenleiter bei Banken. Auch vermögende Privatleute, die als Glücksritter, gepuffert mit aberwitzig hohen Krediten ihrer Banken, ins Aktiengeschäft eingestiegen sind, „weil sie das Gefühl gehabt hätten, sie verpassten sonst die Chance ihres Lebens“. Nun sind sie hoch verschuldet, „kaum unter 300 000 Euro, mitunter auch mit zwei, drei Millionen“.


      Die meisten kommen nicht freiwillig, der Leidensdruck in den Familien ist enorm, so dass Partnerinnen und Kinder massiv Druck machen. Manche haben hinter dem Rücken ihrer Frau das gemeinsam erwirtschaftete Vermögen geplündert, das Haus mit Hypotheken belastet, die Zukunftsvorsorge für die Kinder verzockt. „Nach so viel Vertrauensverlust, Verzweiflung und Verbitterung bei den Angehörigen lassen sie sich schon mal in die Therapie schicken – aber nur, nachdem die Frau einen Termin gemacht hat.“ Nur sein jüngster Klient (26) meldete sich von selbst, als er eines Tages seine rot geränderten Augen im Spiegel sah und erkannte, dass in den Weiten des elektronischen Netzes nichts mehr zu holen war, er sich aber trotzdem zwanghaft Nacht für Nacht darin verlor.


      In den USA gibt es bereits wissenschaftliche Untersuchungen über die Spekulationssucht. Dort gelten zehn Prozent der Anlageberater und zwei Prozent der Privatanleger als abhängig. Das Problem ist vorwiegend männlich. Hier zu Lande erlangt das Phänomen erst jetzt Aufmerksamkeit. Die Klientel unterscheidet sich völlig von der sonstigen Kundschaft der Suchtberatungsstellen, den Alkohol-, Drogen- oder Glücksspielsüchtigen. „Sie kommen aus einem gehobenen Milieu, leben auf großem Fuß und können sich sehr gut ausdrücken.“ Nur durch beherztes Fragen wird das Suchtverhalten herausgearbeitet. „Gefragt wären jetzt souveräne Verlierer. Aber diese Menschen wollen sich immer noch dadurch retten, dass sie weiter zukaufen und hektisch verkaufen, dass sie Misserfolge nicht eingestehen können, sondern behaupten, schlechten Informationen aufgesessen zu sein oder von einer Bank getäuscht worden zu sein.“


      Joachim Otto glaubt, dass Spekulationssucht vor allem partnerschaftlich gelöst wird. „Der Einzelne hat zu viele Möglichkeiten, sich zu betäuben.“ Sein Pendant sorgt für Nüchternheit. Otto verweist nach seiner Beratung an Psychotherapeuten und Suchtkliniken – „Stationäre Behandlung ist für manche die einzige wirkliche Hilfe“ –, aber auch an Schuldenberater und Insolvenzexperten. „Wer aus der Sucht raus will, kann durch intensives Erleben im Privaten kompensieren.“ Unter seinen Klienten gibt er bisher nur wenigen „eine Chance von 60 zu 40 Prozent, dass sie es schaffen, mit ihrer Sucht dauerhaft fertig zu werden. Die Versuchung, es wieder und wieder zu probieren, ist riesig“. Eine Empfehlung von Börsenprofis, wegen der Unsicherheitsszenarien nur die auf dem Markt befindlichen Einlageprodukte wie Sparbriefe oder Geldmarktfonds zu berücksichtigen, ruft bei Zockern allenfalls ein Gähnen hervor. „Was sie suchen, ist die wahnsinnig schnelle Umschlaggeschwindigkeit, das Risiko, den ständigen Erregungszustand.“ Oft würden das die vernachlässigten Ehefrauen erstaunlich lange mittragen. Sie leiden bei der Spekulationssucht mit, „bis es nicht mehr geht, weil alles Geld weg ist“.


      Joachim Otto ist überzeugt davon, „dass wir bisher nur die Spitze des Eisbergs kennen, da kommt viel in den nächsten Monaten“. Seine Erkenntnis: „Wer unter den Geldverheißungen der letzten Jahre ins Börsengeschäft einstieg, kommt nicht mehr zur Ruhe. Aber nur dauerhafter Entzug bewirkt positive Veränderungen im Gehirn.“ Aus der Hirnforschung ist bekannt, dass Nerven sich durch Reize verketten und dadurch Sucht entsteht. Day-Trader, die jahrelang auf Bildschirme starrten, über die Zahlenkolonnen und Firmennamen huschten, nehmen die Börsen-Baisse als Strafe, die sie nicht verdient haben. „Sie hätschelten den Traum vom großen Geld, erzählten Freunden, sie wollten mit einigen Millionen aussteigen. Nun dürfen sie um ihrer selbst willen nicht zugeben, dass die Börse keine Traumfabrik ist“, so Suchtexperte Otto. Schluss mit dem Köpfen von Moët-Chandon-Flaschen bei exorbitanten Kursgewinnen, vorbei das übermütige Karriolen im Porsche durch die nächtlichen Straßen, aus auch mit „dem extremen Lustempfinden bei Erfolg, was das Suchtverhalten am meisten konsolidiert“, und mit der Selbstberauschung. Otto kennt den Fall eines noch jungen Zockers, „der mit Futures immense Summen umgesetzt hat, so dass er zeitweise das Geschehen an der Düsseldorfer Börse bestimmte. In seiner Katerstimmung blieb ihm nur ein letzter Trost, als er rückblickend sagte: ?Sie haben auf mich gehört!‘“


      Gefährdet ist auch Harald M.* (39) aus Gießen. Auf Grund seiner stabilen Partnerschaft hätte er gute Möglichkeiten, aus der Sucht rauszukommen. „Er will aussteigen, kann sich aber nicht in stationäre Behandlung begeben, weil er sich das mit einer Million Euro Schulden nicht leisten kann“, so Joachim Otto. Es gibt keine gesetzliche Regelung, die den Suchtkranken vor dem Zugriff des Gesetzes bewahrt. Und ob ein Haftaufenthalt für Entzug sorgt, ist mehr als fragwürdig. Harald M. hat sich selbstständig gemacht als Private Financial Planer, was seinem Therapeuten gar nicht gefällt. „In dieser Position muss er sich ständig mit Anlagestrategien befassen. Da ist er akut in Gefahr, selbst wieder ins Spekulieren hineinzurutschen“, sagt Otto. „Eigentlich hat er keine Chance.“


      * Name von der Redaktion geändert


      Artikel erschienen am 2. Dez 2002
      http://www.welt.de/data/2002/12/02/21483.html?prx=1
      Avatar
      schrieb am 17.12.02 11:57:54
      Beitrag Nr. 55 ()
      Lesenswert ist auch: Thread: Leistung der Fondsmanager
      Avatar
      schrieb am 17.12.02 11:59:29
      Beitrag Nr. 56 ()
      Aus der FTD vom 13.12.2002
      Deutschlands Top-Bonität wackelt
      Von A. Ostrovsky und A. van Duyn, London, und M. Schieritz, Berlin

      Der Finanzpolitik der Bundesregierung droht ein neuer Rückschlag. Die drei führenden internationalen Ratingagenturen erwägen, Deutschland die höchste Bonitätseinstufung zu entziehen.

      Dadurch würden deutsche Staatsanleihen ihren Referenzstatus am Bondmarkt der Euro-Zone verlieren. Die Finanzierungskosten des Staates würden sich erhöhen. Allein die Debatte über eine Abstufung ist unüblich. "Es gibt keine Garantie, dass Deutschland seine Bonitätseinschätzung von ,AAA‘ auch zukünftig wird halten können", sagte David Riley, Chef für Länderratings bei Fitch. Standard & Poor’s (S&P), Moody’s und Fitch wollen ihre Experten bereits Anfang 2003 nach Deutschland schicken, um sich ein Bild über die Lage zu machen.

      "Wir kommen nach Deutschland, weil wir über die strukturellen Begebenheiten besorgt sind. Eine negative Rating-Implikation würde ich nicht ausschließen", sagte Riley. "Wir kommentieren Vorhaben von Rating-Agenturen nicht", hieß es im Finanzministerium.



      Frankreich könnte die Führung übernehmen


      Bereits die Herabstufung oder auch nur eine Änderung des Ausblicks durch eine der drei Rating-Agenturen könnte deutschen Anleihen den Referenzstatus kosten. Einige Bondstrategen erwarten, dass Frankreich diesen imageträchtigen Status im kommenden Jahr übernehmen könnte.


      Im Markt für Kreditderivate, wo Investoren sich gegen sinkende Ratings absichern können, ist eine Versicherung gegen eine Herabstufung Deutschlands in den letzten Wochen bereits deutlich teurer geworden. Eine Absicherung für Deutschland kostet nun mehr als für Frankreich oder Spanien.


      Riley fürchtet, dass ein lahmendes Wirtschaftswachstum, ein schwacher Bankensektor und zu hohe Leitzinsen das Land in die Deflation drängen könnten. "Die Probleme Deutschlands sind mit denen in Japan durchaus vergleichbar." Besorgt über das deutsche Finanzsystem äußerte sich am Donnerstag auch der Internationale Währungsfonds (IWF). Die Stabilität sei insgesamt zwar nicht in Gefahr. Doch sei das deutsche Finanzsystem zunehmend verwundbar für Marktschocks.



      Harsche Kritik


      S&P hatte Deutschlands Top-Bonität von "AAA" in dieser Woche zwar bestätigt, aber die wachsende Staatsverschuldung und die Wirtschaftspolitik scharf kritisiert. Sollte die "sprunghafte Politik" fortgesetzt werden, könne das zu einem Problem für die Einstufung werden, sagte S&P-Analyst Moritz Krämer. Deutschland falle "bei fiskalischen und volkswirtschaftlichen Indikatoren hinter vergleichbare Länder zurück". Problematisch wäre ein Bruch des EU-Stabilitätspakts.


      Auf anhaltend hohe deutsche Staatsdefizite deutet aber auch die neue Prognose des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs hin. Demnach wird das Defizit trotz geplanter Einsparungen mit 3,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auch 2003 über der Maastricht-Grenze von 3,0 Prozent liegen. "Die Maßnahmen lassen das Defizit zwar sinken, wegen des geringen Wachstums dürfte es die Grenze jedoch abermals überschreiten", heißt es in der Prognose.


      Die deutsche Wirtschaft wird dem Institut zufolge 2003 nur um 0,7 Prozent wachsen. Damit wird es unwahrscheinlich, dass das BIP wie von der Regierung eingeplant um 1,5 Prozent zulegt. Kaum eine Expertenprognose liegt noch über 1,0 Prozent. Die Europäische Zentralbank senkte ihre Wachstumsprognose für die Euro-Zone 2003 um einen Prozentpunkt auf 1,1 bis 2,1 Prozent.



      © 2002 Financial Times Deutschland

      http://www.ftd.de/pw/de/1039712901737.html?nv=hptn
      Avatar
      schrieb am 31.12.02 03:36:32
      Beitrag Nr. 57 ()
      (aus der wiwo)

      Produktpiraterie kostet nicht nur Adidas viel Geld

      Hersteller von Markensportartikeln wie Adidas macht die zunehmende Produktpiraterie schwer zu schaffen. Allein die deutschen Zollbehörden haben im vergangenen Jahr Sportartikelplagiate im Gesamtwert von über 3 Milliarden Euro sichergestellt, wobei auf Fälschungen von Produkten der Adidas-Salomon AG, Herzogenaurach, ein Anteil von 1,267 Milliarden Euro entfalllen ist.



      vwd MÜNCHEN. Mehr als sechs Millionen Adidas-Kopien wurden laut Konzern im vergangenen Jahr weltweit beschlagnahmt. Eine derartige Piraterie bedeute neben einem Umsatzverlust auch einen Imageschaden, betont Adidas-Sprecherin Anne Putz.

      Der Sportartikelhersteller gibt sich deshalb alle Mühe, den Fälschern ihr Handwerk zu legen. Zwölf Mitarbeiter kümmern sich mittlerweile um tausende Fälle von Patentrechts- und Plagiatsstreitigkeiten sowie Verletzungen von Markenzeichen. Daneben schult das Unternehmen auch Zollbeamte, um ihnen die Aufdeckung derartiger Fälle zu erleichtern. Trotz dieser Anstrengungen dürften jedoch nur zwischen 10 und 15 Prozent der insbesondere in China hergestellten Raubkopien entdeckt werden, meint Putz. Gegen die ertappten Fälscher leitete adidas Klagen ein und bekam im vergangenen Jahr eine Schadensersatzsumme von 4,4 Mill. Dollar zugesprochen.

      Plagiate sind immer schwieriger zu erkennen

      Allerdings wird es nach Angaben des Konzern immer schwieriger, Fälschungen auf die Spur zu kommen. Zum einen produzierten die Fälscher in immer entlegeneren Gegenden Chinas und seien so schlechter zu finden seien. Zum anderen habe sich das Qualitätsniveau ihrer Produkte deutlich verbessert, so dass Plagiate inzwischen viel schwerer zu erkennen seien. Dementsprechend fürchtet adidas-Sprecherin Putz, dass im laufenden Jahr deutlich weniger adidas-Kopien beschlagnahmt werden, deren Palette von Trainigsanzügen über Sportschuhe bis zu Fußbällen reicht.

      Ohne Grenzbeschlagnahmeantrag werden Zöllner nicht aktiv

      Um Fälschungen aus dem Verkehr zu ziehen, bieten sich für Unternehmen nach Einschätzung von Georg A. Jahn, Rechtsanwalt bei Nörr Stiefenhofer Lutz, lediglich an der Grenze wirklichen Chancen. Deshalb haben nach Angaben des Experten im vergangenen Jahr fast 200 deutsche Unternehmen einen so genannten Grenzbeschlagnahmeantrag gestellt, ohne den die Zöllner nicht aktiv werden.


      Vor gut zehn Jahren lag die Zahl der Antragsteller noch bei 24. Inzwischen kommen renommierte Unternehmen wie Puma, Siemens, BMW oder Audi ohne derartige Vorkehrungen nicht mehr aus. Allein im Vorjahr sind etwa Pkw-Ersatzteile im Volumen von einer halben Mrd EUR sichergestellt worden.

      Den Anteil gefälschter Produkte am Welthandel schätzt der Aktionskreis Deutscher Wirtschaft gegen Produkt- und Markenpiraterie auf rund 5 bis 10 Prozent. Nur an den Außengrenzen der EU seien im vergangenen Jahr rund 95 Millionen gefälschte Produkte beschlagnahmt worden.

      Marke muss verteidigt werden

      „Eine Marke ist immer nur so stark, wie sie verteidigt wird“, betont dementsprechend Rechtsanwalt Jahn. Bei Adidas spiele allerdings nicht nur die klassische Produktpiraterie eine Rolle, auch Markenzeichenverletzungen müssten abgewehrt werden. So habe der Bundesgerichtshof etwa der Kaufhauskette C&A untersagt, Textilien mit zwei Streifen auf den Markt zu bringen und damit die Verbraucher in die Irre zu führen. Mit seinen Klagen ist der Sportartikelhersteller laut dem Experten für Produktpiraterie sehr erfolgreich. adidas habe bislang „alles vom Markt entfernt, was adidas-Produkten nahe kam“, resümiert Jahn.

      Auch in den USA will das Unternehmen mit den (orginal) drei Streifen verhindern, dass das populäre Markenzeichen von Trittbrettfahrern genutzt wird. Gegen das US-Unternehmen Steve Madden, das Sportschuhe sowohl mit zwei als auch mit vier Streifen anbietet, sei ebenfalls Klage eingereicht worden. Nach dem Erfolg vor dem deutschen Bundesgerichtshof ist dieser Fall laut Jahn für das Unternehmen „ein wichtiger Test“, ob sich die Marke adidas auch im Ausland juristisch gegen Versuche durchsetzen kann, von seinen unverkennbaren Zeichen zu profitieren.





      24.12.2002 11:24:02
      Avatar
      schrieb am 03.02.03 13:51:26
      Beitrag Nr. 58 ()
      Warum "Twix" nicht mehr "Raider" heißt

      Lyrik im Supermarkt

      "Valensina", "Rigoletto" oder "Los Pommos" - Markennamen sind das Esperanto unserer Zeit. Sie informieren nicht mehr über das Produkt; sie verleihen ihm Persönlichkeit.
      Jaja. Natürlich war früher nicht alles besser. Aber leichter war`s doch. Zum Beispiel mit Hühneraugenpflastern. Die nannte man "Schmerz laß nach". Klar, unprätentiös, kapierte jeder. Geht heute nicht mehr, weil wirklich jeder die Botschaft kapieren soll, das Hühneraugenopfer in Haselünne ebenso wie das in Port-au-Prince. Denn das Warzenpflaster (und Autos, Shampoos, Sprühstärke, Entlausungsmittel etc.) soll weltweit unter dem selben Namen Käufer finden. Darum heißt "Raider" nun auch "Twix". "Die Marken", sagt der Romanist Christoph Platen, "sind das Esperanto unserer Zeit."

      Platen, Rheinländer an der Universität München, hat die Linguistik der Produktnamen im europäischen Binnenmarkt untersucht und dabei recht viel gelacht - über all die Hersteller, die "beim Export auf anderssprachige Märkte über linguistische Fallstricke gestolpert sind". Etwa der britische Elektrogerätebauer Sunbeam, dessen Lockenstab "Mist Stick" in Deutschland gar nicht ankam. Oder der Chevrolet Nova, der in Puerto Rico nicht lief (no va = läuft nicht). In Frankreich legte die ägyptische Fluglinie eine Bruchlandung hin, weil sie als "Misair" abhob, worunter der Franzose phonetisch "Elend" versteht. Erfolglos blieb auch der amerikanische Molkerei-Konzern, der es mit Milch Marke "Pet" (Furz) in Quebec versuchte, ebenso der finnische Bierbrauer, der den Amerikanern "Koff" (Husten) verkaufen wollte. Versteht sich, dass die Cowboys auch das finnische Enteisungsmittel "Super Piss" bloß verlachten. Witzig, diese Kollateralschäden der Globalisierung. "Parfümnamen offenbaren Rollenklischees" Moderne Markennamen informieren nicht mehr über das Produkt. Sie verleihen ihm Persönlichkeit. Sprachpsychologen reden von "feeling significance", von gefühlter Bedeutung. "Dabei koppelt sich das Sinnempfinden vom Namensursprung ab und beginnt, eigene Bahnen zu ziehen", sagt Platen. Schön zu sehen am spanischen Sekt "Freixenet". Das klingt temperamentvoll, prickelnd, rassig, nach viel Ole eben. Tatsächlich bedeutet die Vokabel aus dem Katalanischen übersetzt "Esche". Enttäuschend irgendwie.

      Platen hat eine Grammatik der Produktnamen erstellt. Danach lassen sich europaweit drei Kompositionsmuster unterscheiden. Erstens die Übernahme; heißt: Das Wort gibt es, wird einfach geklaut. Briekäse heißt dann "Präsident" und Seife "Dove" (Taube). Zweitens die Konzeptform. Dabei nimmt der Taufpate ein echtes Wort, das gut zum Produkt passt, und hängt noch etwas Nettes dran, hierzulande gerne ein A, weil das die Deutschen - sagen Sprachpsychologen - fröhlich stimmt. Das schäumende Shampoo heißt dann "Schauma", die rahmige Margarine - genau: "Rama". Drittens bleibt die Kunstform, der frei erfundene Name, etwa "Elmex" oder "Colgate".

      Über allen Namen schwebt der Geist der Zeit. Beispiel Pkw. Als die Deutschen ihr Wirtschaftswunder erlebten, hießen Autos "Tempo", "Rekord" oder "Blitz". In den 60er Jahren knüpfte sich Sozialprestige an "Consul", "Commodore" und "Diplomat". Und die zunächst südländisch ("Capri", "Ascona"), dann sportlich gefärbten Anklänge an die Freizeitgesellschaft der 70er und 80er Jahre werden heute von postmoderner Technologie ("Vectra", "Calibra") und Anleihen aus der Erlebniswelt ("Explorer", "Monterey") verdrängt.

      Wie sich Zeiten ändern, die Menschen und ihre Träume offenbaren auch die Namen der Düfte. Anfang des vergangenen Jahrhunderts gaben sich Damenparfüms noch direkt-naiv, nannten sich "Pour &etilde; tre aimee" (um geliebt zu werden) oder "N`aimez qe moi" (Lieben Sie nur mich!). In den 1920er Jahren empfahlen sie sich der Femme fatale, hießen "My sin" (meine Sünde), "Skandal" oder gleich "Shocking". In den Achtzigern und Neunzigern beschworen sie das Ich ("Egoiste", Narziste"), spiegelten wenig später den Drang der Spaßgesellschaft nach rauschhaftem Erleben - bis zur Besinnungslosigkeit ("Obsession", "Opium", "Poisson").

      Klischees bei Parfümen

      "Bei Parfüms zeigt die Taufpraxis zudem klassische Rollenklischees auf", urteilt Namensforscher Platen. So suggerierten Herrendüfte wie "Background" oder "Caractère" Tiefgang, glorifizierten "Horizon", "Nightfligt" oder "Globe" das ewig männliche "Unterwegs". Dagegen verkörperten Damendüfte wie "Calê - che" (Kutsche) "White Linen" oder "J` ai ose" (Ich habe gewagt) romantische Mädchenträume, stünden "Clandestine" (Heimlich), "Mystêre", "Unspoken" für die Rätselhaftigkeit der Frau.

      Bedeutung fühlen - das gelingt auch durch die Nase. Beispiel Kouros, die Duftserie von Yves Saint Laurent. Deren Image-Mischung aus Schönheit, Antike und Mythologie versteht auch, wer nicht weiß, dass die griechische Vokabel "junger Held" bedeutet.

      Ob "Valensina", "Rigoletto" oder "Los Wochos" - die sprachlichen Zutaten, aus denen man Namen mixt, sind längst international. Und so scheint "der humanistische Traum von der Mehrsprachigkeit des Menschen ausgerechnet in der Welt des Kommerzes Wirklichkeit zu werden", meint Platen. Sollten wir uns darüber grämen? Nein. Umgedreht nämlich trägt der Trend zur Völkerverständigung bei. Denn welche Deutsche verstünde nicht, wenn sie der Italiener anerkennend "una nutella" nennt? Und welcher Deutsche würde sich nicht ärgern, wenn ihn der Italiener als "ragazzo ovomaltina" bezeichnet? Eben. Von wegen Milchbubi!

      Kathrin Lenzer
      http://www.rp-online.de/news/wirtschaft/2003-0203/produktnam…
      Avatar
      schrieb am 03.02.03 13:52:47
      Beitrag Nr. 59 ()
      Werbeagentur trifft Nerv der Verbraucher


      Geiz ist geil - und was sagt der Erfinder?

      Geiz allein ist absolut ungeil. Sagt der Erfinder von "Geiz ist geil", Bent Rosinsky, Chef der Agentur Jung von Matt Sleet. Schnäppchenjagd wiederum ist Volkssport. Auch für Besserverdienende.
      Bent Rosinsky (37) ist Geschäftsführer der Werbeagentur Jung von Matt Sleet und als solcher für den Saturn-Werbeslogan "Geiz ist geil" verantwortlich. Die Werbekreativen aus Hamburg, die der "Spiegel" einst zu "Popstars der Werbung" kürte, zählen nicht nur Saturn zu ihren Kunden, sondern auch die Bahn, Diebels oder Dimix. Thomas Wels sprach mit Rosinsky über Geiz.

      Herr Rosinsky, was ist an Geiz geil?

      Gar nichts.

      Das dachten wir uns. Warum feiert Ihr Werbespruch dennoch solche Erfolge?

      Weil es Werbung ist, eingebunden in einen Kontext. Wenn man Geiz singulär betrachtet, ohne werblichen Überbau, würde jeder den Kopf schütteln. Geiz ist das allerletzte, das geil ist, völlig ungeil. Was wir meinen, und was die Leute draußen im Markt verstehen, ist: Geiz ist geil in dem Moment, in dem ich ein Schnäppchen schlagen kann.

      Gewöhnlich sucht sich die Werbewirtschaft positiv belegte Begriffe für ihre Botschaften aus. Geiz ist, wie Sie sagen, unbeliebt.

      Wir glauben, dass Werbung ihre Ziele schneller erreicht, wenn sie provoziert. Millionen von Werbegeldern werden aus dem Fenster geworfen, weil Werbebotschaften zu kraftlos sind und sie sich nicht trauen, provozierend zu sein und ein bisschen aus der Art zu schlagen. Wir glauben an das Erwachsensein der Menschen, die wissen, wie sie mit Werbung und scheinbar negativen Werbeaussagen umzugehen haben.

      Hat Sie der Erfolg überrascht?

      Ja. Man hat zwar immer ein Bauchgefühl, ob der Claim auch Wumms und Kraft hat. Die Resonanz aber hat uns schon überrascht.

      Glück gehabt?

      Zu einem guten Claim gehört viel Fingerspitzengefühl, um im richtigen Zeitpunkt auf dem Markt zu sein. Das ist uns gelungen, das kann aber kein Mensch vorausplanen. Es war in der Tat Zufall, dass wir mit dem Slogan zu einer Zeit kommen, in der ganz Deutschland über die neue Sparwut und Konsumzurückhaltung diskutiert.

      Also wäre der Slogan ohne die Wirtschaftskrise und Steuererhöhungen gar nicht denkbar?

      Denkbar schon, aber nicht mit dieser Präsenz und Resonanz. Ohne die Spardiskussion hätte er diese Kraft nicht entwickelt.

      Der Slogan trifft einen Zeitgeist, der über Provokation den gesellschaftlichen Konsens aufkündigt. Wer Geiz geil findet, schert aus. Kündet Ihr Slogan vom Ende der bürgerlichen Konsensgesellschaft?

      Im Augenblick ist das Konsumverhalten gespalten, wir haben einen schizophrenen Verbraucher, der auf der einen Seite große Anschaffungen wie teure Autos macht, auf der anderen Seite beim Margarine-Kauf extrem auf den Pfennig guckt . . .

      . . . deshalb kauft der Porsche-Fahrer heute bei Aldi.

      Genau, Sparen ist ein gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten geworden. Spätestens seit der ,Stern` eine Titelgeschichte über die Faszination von Aldi gemacht hat, dürfte klar sein, dass auch für Leute, die sonst viel Geld ausgeben, das Schnäppchen schlagen Volkssport geworden ist.

      Wie lange haben Sie gebraucht, bis Sie den Slogan erfunden haben?

      Wir haben mit zehn Leuten an der Kampagne drei bis vier Wochen gearbeitet.

      Wie geht so etwas?

      Die Schwierigkeit besteht nicht darin, den Claim zu formulieren, sondern darin, den richtigen auszusuchen. Alle guten Claims haben eine ganz simple Mechanik wie "Otto, find ich gut". Es sind meist Formulierungen, die aus dem Volksmund kommen, die eigentlich jeder Mann oder jede Frau auf der Straße schreiben könnte. Das Problem ist nur, die richtigen zu identifizieren. So war das auch bei uns, wir hatten eine ewig lange Liste von Vorschlägen, die alle inhaltlich in die gleiche Richtung gingen. Denjenigen herauszufiltern, der die Kraft hat in Volkes Mund zu gehen - das ist die Schwierigkeit.

      Welcher Claim lag auf Platz zwei?

      Das weiß ich nicht mehr. Nee, das weiß ich wirklich nicht mehr.

      Wann ist der Slogan vergessen?

      Wann er vergessen ist? Das hängt von der Kampagne ab, ein Slogan lebt nicht nur von der Kraft des Slogans selbst, sondern auch davon, wie er aufgeladen wird. Wir sind gerade dabei zu überlegen, wie die Kampagne weitergeht.

      Thomas Wels
      http://www.rp-online.de/news/wirtschaft/2003-0107/geiz_ist_g…
      Avatar
      schrieb am 03.02.03 14:29:13
      Beitrag Nr. 60 ()
      Zum Thema Werbung


      Ich bin zwar keine Werbefachmann, doch spielt die Art der Werbung, mit der ein Unternehmen seine Produkte bewirbt, bei der Entscheidung, ob ich in die Aktien eines Unternehmens investiere, eine nicht unerhebliche Rolle.
      Uns sind doch alle Unternehmen bekannt, die offensichtlich an ihre eigentliche Zielgruppe "vorbeiwerben". Wer kann sich noch an die Cisco-Systems-Werbung erinnern die vor einigen Jahren im Fernsehen lief? Ich habe mir schon damals gedacht, das die Werbung völlig an den eigentlichen Cisco-Kunden vorbeiläuft. Für diese Kampagne wurde sicherlich hunderte Millionen wenn nichts sogar Milliarden von Dollars ausgegeben. Mir sind auch Maschinenbauer bekannt die bei Sportveranstaltungen Millionen verpulvern, obwohl die Kunden der Maschinenbauer sicherlich nicht auf den Veranstaltungen zu finden sind. Ich kann mich auch noch gut daran erinnern wie vor 2,3 Jahren mehrere Bundesligamannschaften von Neue-Markt-Firmen mit Millionenbeiträgen gesponsert wurden. Unter den Fussballfans war aber mit Sicherheit kein potentieller Kunde für diese Unternehmen.

      Ich meine, man sollte keinesfalls, in solche Unternehmen investieren bei denen es ziemlich offensichtlich ist, das deren Werbung offensichtlich an der Zielgruppe des Unternehmens vorbeigeht. Es wird hier ganz eindeutig das Geld der Aktionäre sinnlos verpulvert. Man kann auch davon ausgehen das solche Unternehmen auch sonst nicht besonders "rücksichtsvoll" mit den Geldern der Anteilseigner umgehen.

      Genauso meiden sollte man Unternehmen die eigene Aktien (intensiv) bewerben.

      Bei manchen Produkten ist Werbung unbedingt notwendig, und zu wenig ist genauso ein fataler Fehler, wie zuviel Werbung. Unternehmen wie Loreal, CO, MO oder Red Bull(Das Paradebeispiel dafür was man mit richtiger Werbung erreichen kann) stünden ohne Werbung sicherlich nicht dort wo sie heute sind. Ich habe zur Zeit ein Unternehmen auf der Watchlist, bei dem mir mein Instinkt sagt, das es zu wenig Werbung betreibt: 3U-Telecom(UUU)

      Gruß thomtrader
      Avatar
      schrieb am 11.03.03 03:12:52
      Beitrag Nr. 61 ()
      www.brandeins.de
      ist ein etwas anderes Magazin rund um Wirtschaftsthemen, das weniger Wert auf Aktualität als auf Hintergrunddetails legt. Habe dort einige gute Artikel gelesen.
      Buchempfehlungen:
      David S. Landes - Wealth and Poverty of Nations
      John F. Love - McDonald`s: Behind the Arches
      Jack Trout - The 22 Immutable Laws of Marketing
      Robert B. Cialdini - Influence
      Michael E. Porter - On Competition
      Avinash K. Dixit - Thinking Strategically
      alles auch in Deutsch erhältlich
      Avatar
      schrieb am 11.03.03 17:51:41
      Beitrag Nr. 62 ()
      Gute Buchempfehlungen sind immer Willkommen:)
      Avatar
      schrieb am 15.03.03 07:00:48
      Beitrag Nr. 63 ()
      Ich muß mich korrigieren: brandeins ist sogar ziemlich genial. Hier ein Text von Ende 1999:

      Wie Politik zukunftsfähig wird

      Zwei Vorschläge, wie Parteien und Politiker dazu gebracht werden können, besser zu arbeiten: ein neues Kreuz und eine neue Börse.

      Text: Detlef Gürtler Zeichnung: Yves Netzhammer
      Wie Politik zukunftsfähig wird


      # ____Vor einem Jahr war es so klar: der Neue gegen den Alten. Der Neue setzte sich durch - das Neue dagegen fand seither nicht statt. Die Schlechteren unter den Kommentatoren beschimpfen deswegen die Gewählten: "Die da oben" seien korrupt und/oder unfähig, beschäftigten sich mit kleinlichen Streitereien über Macht und Posten, kündigten Reformen an, nur um sie nach den ersten Protesten sofort wieder zurückzunehmen. Politiker sind eben alle gleich.

      Die Besseren unter den Kommentatoren beschimpfen dagegen die Wähler: Der Neue sei nur gewählt worden, weil er augenzwinkernd zu verstehen gab, er werde alles beim Alten lassen. Ganz im Unterschied zum alten Kohl, aus dessen Umgebung ein Alles-muss-sich-ändern-Geraune gekommen sei. Jedes Volk hat eben die Regierung, die es verdient.

      Die Konsequenz ist für alle Kommentatoren die Gleiche: Es müsste alles ganz anders werden, aber das geht eben nicht. Darin treffen sie sich mit dem Stammtischbruder, der endlich Ordnung im Land haben möchte, und dem Alt-68er, der nicht mehr von Maos Roten Garden träumt, aber dafür von Roosevelts New Deal. Sie alle leiden unter Politikverdruss und sie alle ersehnen sich eine fundamentale Alternative, einen echten Neustart. Geht das überhaupt? Na klar. Es gibt viele Beispiele für einen kompletten Neubeginn bei Staaten. Sie heißen Revolution, Putsch oder Bürgerkrieg, nehmen einen blutigen Verlauf und ein ebensolches Ende.

      So war das nicht gemeint? Es sollte schon friedlich und demokratisch ablaufen? Geht auch. Vor zehn Jahren in Osteuropa, zur Zeit gerade in Venezuela und wenn alles klappt, in den nächsten Jahren in Kuba. Aber auch hierbei gibt es einen Haken: Zum Neuaufbau kommt es immer erst, nachdem ein über viele Jahre herrschendes Regime das Land in Grund und Boden gewirtschaftet hat.

      Auch so war das nicht gemeint? Der Neuanfang soll eine Aufbruchstimmung verkörpern, die gerade nicht aus einem totalen Zusammenbruch heraus entsteht? In der Welt der Konzerne passiert das ständig: Ob Piëch bei Volkswagen, Schrempp bei Daimler-Benz oder Breuer bei der Deutschen Bank, sie alle haben ihre Unternehmen wieder auf Kurs und in Schwung gebracht, haben umgeordnet und neu motiviert. In der Sprache der Politik: Sie haben eine Reformoffensive gestartet und damit Erfolg gehabt. Warum kann Gerhard Schröder nicht tun, was Ferdinand Piëch tut?

      Die Wirtschaft ist ein viel einfacheres Spiel als die Politik Die übliche Antwort darauf lautet: Weil Schröder kein Piëch ist und sein Finanzminister kein López. Politiker zu sein ist ein vergleichsweise schlecht bezahlter und extrem aufreibender Job, der nur mittelmäßige und/oder machtgeile Menschen anziehe. Im Regelfall schließt sich an diese Feststellung noch die Forderung an, dass mehr Manager in die Politik gehen müssten, was angesichts dieser Rahmenbedingungen natürlich nicht passiert, womit alles weitergeht wie bisher.

      Aber die Feststellung ist falsch und die Forderung kontraproduktiv. Wer einen Konzern gut führen kann, ist noch lange nicht in der Lage, das Gleiche auch mit einem Staat zu können. Wirtschaft ist das bei weitem einfachere Spiel, denn hier gibt es ein klares, eindeutiges Ziel: Profit.


      Und es gibt eindeutige Methoden, die Zielerreichung zu messen. Ob Eigenkapital- oder Umsatzren-dite, ob Gewinn- oder Cash-Flow-Wachstum: Wer gute Zahlen abliefert, macht gute Arbeit.

      Politik ist dagegen mehr als nur Geld. Wirtschaft hat einen Hauptwert, Politik hat es mit einem ganzen Kanon von Werten zu tun, die ständig um die Hauptrolle ringen. Für die Staatsführung gibt es zwar ein anerkanntes Ziel: das Wohl des deutschen Volkes zu mehren. Aber die Zielerreichung ist nicht messbar. Stattdessen wird mit Unterzielen gearbeitet, die aber schon Gegenstand des Meinungsstreites sind: Ob möglichst hohes oder möglichst beständiges Wachstum, ob weniger Armut oder weniger Arbeitslose, mehr Freiheit, mehr Gleichheit oder mehr Brüderlichkeit, bei jeder Zielsetzung kann einer Regierung vorgeworfen werden, sie habe ein konkurrierendes, ebenso wichtiges Ziel vernachlässigt.

      Daraus nun zu schließen, dass Vergleiche zwischen Politik und Wirtschaft grundsätzlich untauglich wären, schösse allerdings weit über das Ziel hinaus. Denn es gibt zwei Strukturprinzipien der Marktwirtschaft, die in der Politik bisher keine Anwendung finden, die diese aber effizienter und reformfähiger machen könnten. ___Die Konkurrenz von Unternehmen ist kein Nullsummenspiel.

      Innovationen können auch völlig neue Märkte schaffen oder bestehende erweitern. Politiker dagegen agieren in einem Nullsummenmarkt. Alle Wählerstimmen zusammen er-geben immer 100 Prozent, Stimmenzuwachs geht stets auf Kosten anderer Parteien. Das verführt dazu, nicht wirklich gut zu sein, sondern nur besser als die anderen. Deshalb werden auch nicht die eigenen Stärken betont, sondern Schwächen bei der Konkurrenz gesucht - und uns bleibt nur, das kleinste Übel zu wählen.

      ___Unternehmen haben ein ziemlich zuverlässiges Messinstrument für die kontinuierliche Beurteilung ihrer Leistung: den Aktienkurs. In diesem wird vor allem die Zukunft bewertet. Die Politik wird nur alle vier Jahre in Wahlen beurteilt. Dazwischen gibt es, bald täglich, Meinungsumfragen und die stellen gerade mal eine Momentaufnahme einer Stimmung dar - die Bewertung der Zukunft ist damit kaum möglich.

      Die Börse bewertet Zukunft. Das könnte die Politik gut brauchen

      In beiden Fällen handelt es sich um Defizite, die sich scheinbar zwingend aus der Differenz zwischen ökonomischem und politischem System ergeben.

      Bei Wahlen können eben nicht mehr als 100 Prozent der Stimmen vergeben werden und Parteien konkurrieren eben nicht an der Börse, sondern an der Wahlurne miteinander. Tatsächlich aber bieten sich hier zwei Ansätze, das politische System effizienter zu gestalten:

      ___Einen Ausweg aus dem Nullsummen-Dilemma könnte eine Neuregelung der Parteienfinanzierung bieten. Die staatliche WahlkampfkostenErstattung, der dickste Posten in den Partei-Etats, ist bisher an die erreichte Stimmenzahl gekoppelt. Das ließe sich auch anders regeln. Zum Beispiel könnte jeder Wähler mit einem Extra-Kreuz entscheiden, ob die Partei, die er gewählt hat, nicht nur seine Stimme, sondern auch das Geld dafür bekommen soll. Eine Partei, die ihre Wähler überzeugt, wird dabei besser abschneiden als eine, die nur als kleineres Übel gewählt wird.

      Das wäre ein echter Anreiz, nicht nur um die Stimmen, sondern auch um die Herzen der Wähler zu werben.

      ___Bei der Suche nach zukunftsorientierten Bewertungsmaßstäben für Politik kann genau das Instrument hilfreich sein, das auch bei Unternehmen die Zukunftsbewertung ermöglicht - die Börse. Bei jedem dort gehandelten Wert gibt der Kurs die Summe der Zukunftserwartungen aller Marktteilnehmer für dieses Unternehmen wieder und jede neue Information über die Entwicklung der Firma oder der Branche wird sofort "eingepreist". Von solch qualifizierten Reaktionen auf ihre Entscheidungen können Politiker nur träumen; sie müssen sich stattdessen mit einem dissonanten Chor aus Schlagzeilen, Leitartikeln und Meinungsumfragen sowie Einflüsterungen von Lobbyisten und Ratgebern herumschlagen.
      In einem Fall hat sich schon gezeigt, dass das Instrument der Börse auch für die Politik einsetzbar ist, nämlich bei den Wahlbörsen, die bei den letzten Bundestagswahlen veranstaltet wurden. Dort konnte man mit Kauf und Verkauf von Partei-Aktien auf das Wahlergebnis spekulieren; die Kurse der Partei-Aktien übermittelten ein zutreffenderes Bild des tatsächlichen Wahlausgangs als die meisten Prognosen der Meinungsforscher.

      Dieses Instrument ließe sich zu einer echten Politik-Börse ausbauen. Genau wie auf Wahlergebnisse könnte auch auf wichtige Indikatoren der ökonomischen Entwicklung gewettet werden - mit Optionsscheinen auf Wirtschaftswachstum oder Staatsdefizit, Arbeitslosenquote oder Inflation. Wer glaubt, dass Hans Eichels Sparprogramm funktioniert, kauft eine Put-Option auf das Budgetdefizit, wer am Erfolg zweifelt, setzt auf Call-Optionen.

      Jede Nachbesserung des Sparpakets kann die Kurse steigen oder fallen lassen, genau wie Bundesratsdebatten oder eine neue Steuerschätzung. Damit wäre (transparente und liquide Märkte vorausgesetzt) täglich ablesbar, wie der Markt die Folgen der aktuellen Politik bewertet.

      Sind die Politiker reif für die Börse? Noch nicht. Aber sie können es werden

      Wäre der Markt reif für eine solche Börse? Sicherlich. Deutschland ist weltweit der größte Markt für Optionsscheine. Die Emissionshäuser überbieten sich ständig mit immer exotischeren Konstruktionen und ebensolchen Basiswerten - wer will, kann hier auf italienische Staatsanleihen oder indonesische Bankaktien wetten. Warum also nicht auch auf die deutsche Inflationsrate?

      Wäre die Gesellschaft reif für eine solche Börse? Vielleicht. Dass die Börse kein Teufelswerk ist, sondern ein nützliches Instrument sein kann, hat sich herumgesprochen. Das Gefühl, dass mit Politik spekuliert werden kann, wird aber dennoch für viele nicht so einfach zu schlucken sein. Man sollte beim ersten Schritt wohl darauf verzichten, Optionsscheine auf soziale Indikatoren wie die Arbeitslosenquote zu emittieren.

      Und sind die Politiker reif dafür? Sie können es werden. Die Entstehung einer solchen Börse würde zwar die Zukunftswirkung von Politik bewertbarer machen, aber das allein würde natürlich noch nicht bedeuten, dass sich das politische Personal auch sofort zukunftsorientierter verhält. Doch die Bewertungsmaßstäbe prägen die Handlungen der Akteure.

      So wie erst die überragende Bedeutung von Meinungsumfragen dazu führte, dass ein Politiker wie Gerhard Schröder es bis zum Bundeskanzler bringen konnte, kann die Einführung neuer Bewertungsmaßstäbe auch einen neuen Politiker-Typus nach oben spülen. Besser wäre der allemal.____ //
      Avatar
      schrieb am 02.04.03 20:25:29
      Beitrag Nr. 64 ()
      March 20, 2003

      The price you pay for the slyest official scam of all
      BY ROSS CLARK



      I’ve written my shopping list for the weekend. First I’m going to pop down to Boots for some diet-aid drink powder, then it’s over to Halfords for a car CD/radio autochanger before looking out for a new pair of designer spectacles and a decorative outdoor plant pot.
      Actually, I’m fibbing: I never buy any of these things. I am not even sure what a CD/radio autochanger is. Yet they have just been added to the imaginary shopping basket of goods and services that government statisticians use to calculate the retail price index (RPI), popularly known as the inflation rate. While these items have been added to the basket, several others have been dropped, including frozen fish in sauce, cat litter, non-mobile telephones, battery-powered clocks, shoe repairs and brown ale.

      Obviously tastes change, and the RPI needs to reflect that. But I can’t help noticing that many of the new items are things coming down in price while many of the goods thrown out of the basket seem to be things going up in price. Were it not for this crafty manipulation, inflation, which last month shot up to 3 per cent, would almost certainly be higher.

      Take the electronic keyboard, for example. When it was a novelty and falling rapidly in price, the Office of National Statistics (ONS) was happy to include it in the RPI. Now that the economies of mass production have run their course and prices have settled down, it has been dropped from the index. In its place comes the latest electronic gadget, the CD/radio autochanger, which you can bet will be included only as long as it, in turn, falls in price.

      Strangely, when the old national carriers had a monopoly and it used to cost £200 to fly to Paris, air fares didn’t feature in the RPI at all. But now that competition from budget airlines is forcing down fares, suddenly air travel is included. Tinned spaghetti, on the other hand, was included in the RPI while the supermarkets were waging a fierce price war and were discounting tins to as little as 2p each. Yet now the price war appears to be over and spaghetti prices are recovering, the ONS has decided it no longer forms part of the cost of living.


      The ONS will argue that British tastes have moved on from boring old spaghetti, even if my children still love it. But what about some other discarded items: have we really stopped buying belts, battery-powered alarm clocks and telephones in favour of dried potted snacks, membership of slimming clubs and tickets to horse races? Or is it that choosing these items has a favourable effect on the RPI? What can be the motivation for dropping frozen fish in sauce? I don’t suppose it could be that cod prices are set to rocket as North Sea fishing is curtailed.

      Bizarrely, the biggest item on most people’s shopping list — their home — is excluded from the RPI altogether. Although the index does include mortgage repayments, they are weighted at a level which reflects house prices in 1994, when the housing element of the RPI was last revised and, it just so happens, house prices were at the bottom of a slump. It is only thanks to this dubious statistical method that the Government has been able to claim an inflation rate of less than 3 per cent when house prices have been rising at nearly 30 per cent.

      The Government certainly doesn’t have a shortage of incentives to manipulate the RPI in its favour: many state benefits, including the old age pension, are linked to inflation, as pensioners found to their cost two years ago when their weekly income rose by just 75p. Inflation may be going up, but there is one thing that certainly isn’t rising in value: the integrity of government statistics. The retail price index is a fraud, a scam deliberately formulated to stop us asking for higher wages and pensions.

      http://www.timesonline.co.uk/article/0,,3284-617107,00.html
      Avatar
      schrieb am 02.04.03 20:45:52
      Beitrag Nr. 65 ()
      Barometerfrage vom 21.12.01
      Herzlichen Dank für Ihre Teilnahme. Es ergibt sich momentan folgendes Stimmungsbild:


      Wie war Ihr Depot-Ergebnis in 2001?
      positiv 75.89 % 7594 Stimmen
      negativ 24.11 % 2413 Stimmen
      :confused: soviele Lügner? :confused:

      http://www.boerse.de/barometer.php3?id=109&starter=60
      Avatar
      schrieb am 03.04.03 09:02:47
      Beitrag Nr. 66 ()
      "So wie erst die überragende Bedeutung von Meinungsumfragen dazu führte, dass ein Politiker wie Gerhard Schröder es bis zum Bundeskanzler bringen konnte, kann die Einführung neuer Bewertungsmaßstäbe auch einen neuen Politiker-Typus nach oben spülen. Besser wäre der allemal.____ //"




      Dimstar,
      dann erklär mir mal, was der Unterschied zwischen einem Politikertypus ist, der durch eine Politik-Börse wie in #63 geschildert nach oben kommt, und einem Politikertypus wie Schröder, der durch ständiges Gucken auf Meinungsumfragen nach oben gekommen ist.

      Kaum einer; von wegen neuer Politiker-Typus :O , allerhöchstens die Zementierung dieser Art von Politikertypus, die wir schon jetzt im Überfluss haben.
      Avatar
      schrieb am 03.04.03 17:01:41
      Beitrag Nr. 67 ()
      Du hast Recht. Eigentlich fand ich auch nur die Idee mit dem zweiten Kreuzchen ernsthaft genial. Angespielt werden sollte warscheinlich auf den oft stattfindenden Kuhhandel in Koalitionen und zwischen Politik und Interessenverbänden. Da werden den Leuten wie zuletzt ganze Langfriststrategien über die Medien vorab eingeflüstert und die Politik lauscht wer am lautesten über was schreit und interessiert sich nicht mehr dafür was richtig ist sondern womit es am wenigsten Ärger gibt. Wenn ein 2. Kreuzchen gemacht werden würde, würden sich Politiker vielleicht nicht mehr darum bemühen, am wenigsten Ärger zu schaffen sondern sie wären daran interessiert, die meisten Gleichgesinnten zu gewinnen und viel mehr Leuten ihre Ideen verständlich zu erklären. Börsen sind ja aber ziemlich oft irrational.

      Wenn Politiker auf representative Meinungsumfragen achten, dann ist daran nichts auszusetzen. Schließlich lässt sich für einen Politiker dann auch erkennen, wie das Volk in Detailfragen denkt. Das Problem besteht m.E. aber darin, daß Politik oft nicht für jederman verständlich kommuniziert wird oder die politischen Organisationsstrukturen zu verkompliziert wurden und die Befragten oder die Börsianer oder die Lobbyisten nicht fähig sind, eine qualifizierte Meinung dazu abzugeben (von wegen höheres oder niedrigeres Budgetdefizit oder langfristige Strategie gegen skrupellose Diktatoren und Verbreitung von Massenvernichtungswaffen).
      Avatar
      schrieb am 10.04.03 16:13:24
      Beitrag Nr. 68 ()
      Kurskosmetik in Luxemburg

      Mit allerlei Tricks beeinflusste die DWS, die Fondsgesellschaft der Deutschen Bank, die Preise von Wertpapieren - zum eigenen Vorteil und zum Nachteil ihrer Kunden.

      Gute Manager erkennt man in schlechten Zeiten. In guten Zeiten läuft der Laden fast von allein.


      So betrachtet zählt Udo Behrenwaldt zu den guten Managern im Geldgewerbe. Behrenwaldt war bis Ende 2002 Chef der DWS, Deutschlands größter Fondsgesellschaft. Die Kapitalanlagetochter der Deutschen Bank schlägt sich wacker, trotz Börsenbaisse und Bankenkrise: In den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres überwiesen ihr Anleger immerhin 5,8 Milliarden Euro. Und auch die Rating-Agenturen bewerten die DWS positiv.

      Das Geheimnis seines Erfolges vertraute Behrenwaldt der "Frankfurter Allgemeinen" an: "Wir haben immer den Renten- und den Geldmarktbereich gepflegt." Das war im November.

      Heute wird jenes Zitat innerhalb der Bank unter höhnischem Gelächter herumgereicht. Denn in der Tat haben Behrenwaldt und seine DWS die Renten- und Geldmarktfonds "gepflegt" - allerdings mit äußerst dubiosen und wohl nicht immer ganz legalen Mitteln.

      Ein streng vertraulicher interner Revisionsbericht zeigt verheerende Mängel in der Verwaltung der Fonds auf. Da wurden Preise manipuliert und Wertpapiere zwischen den Fonds verschoben, um die Produkte in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Die Dreistigkeit, mit der auf diese Weise die Verkaufschancen der Fonds erhöht wurden, erstaunt selbst hartgesottene Profis am Finanzplatz Frankfurt.

      So hat die Luxemburger DWS, immerhin die größte Dependance der Fondsgesellschaft, 30 Prozent ihrer Anlagegelder in Offshore-Paradiesen wie den Caymans investiert - in so genannte Zweckfirmen mit phantasievollen Namen wie beispielsweise "Earls Four Series 653".

      Dank der ausgesprochen laxen Finanzaufsicht erhielten diese "Mickey-Mouse-Firmen" (ein DWS-Mitarbeiter) in Luxemburg auch eine Börsenzulassung. Das ist besonders wichtig, denn sonst dürfte ein Fonds das Papier gar nicht kaufen.

      Einziger Zweck dieser Zweckfirmen: Sie halten Wertpapiere, im Beispiel der "Earls Four Series 653" eine Anleihe der Allianz im Nominalwert von 60 Millionen Euro. Auf diese Weise wird vernebelt, in welche Papiere der Fonds tatsächlich investiert hat. Und damit sind der Manipulation Tür und Tor geöffnet.


      Zunächst tauschte die DWS die langfristigen, festen Zinszahlungen mit einer anderen Bank gegen kurzfristige und variable Zinsen - in der Fachsprache der Banker nennt man das einen Swap. Auf diese Weise konnte das vergleichsweise hochverzinste Papier mit einer Restlaufzeit von 19 Jahren auch in einen Geldmarktfonds gepackt werden.

      Der darf nämlich nur dann in festverzinsliche Anleihen investieren, wenn die vor Jahresfrist zurückbezahlt werden. Solche Papiere werfen jedoch deutlich geringere Renditen ab.

      Ein weiterer Vorteil dieser Konstruktion: Jeder Fonds hat Anlagegrenzen. Er darf nur einen bestimmten Prozentsatz seines Volumens in einzelne Firmen oder Branchen investieren. Wenn er aber Allianz-Bonds kaufen würde und dazu noch "Earls Four Series 653", fiele das kaum jemandem auf.

      Für Allianz-Anleihen freilich gibt es täglich mehrere Preisfeststellungen an der Börse. "Earls Four Series 653" dagegen ist noch nie gehandelt worden - schließlich sitzt die DWS auf 100 Prozent der Anteile.

      Das brachte den Fondsmanagern weitere Vorteile: Statt die Preise für ihre Anleihen von unabhängigen Quellen, also Börseninformationssystemen oder externen Buchmachern, zu übernehmen, bewerteten die DWS-Manager ihre Papiere ganz einfach inhouse.

      Auf diese Weise konnten sie ihren Kunden Preise vorgaukeln, die nicht immer der Realität entsprachen. In vielen Fällen gab es Abweichungen von mehr als einem Prozent - oft sogar deutlich mehr. Das geht aus einer Liste hervor, in der für Hunderte von Wertpapieren "unser Preis" und der "Buchmacherpreis" ausgewiesen sind.

      Wenn der Abschreibungsbedarf einzelner Papiere zu groß wurde, zogen sich die Chefs in ihre Büros zurück - zum so genannten Fine-Tuning, also zur Feinabstimmung, berichten Insider. Dort berechneten sie, wie stark die Abwertung maximal sein kann, um den Anteilspreis der Fonds nicht übermäßig fallen zu lassen.

      Eine von der Deutschen Bank komplett zurückgekaufte Anleihe der ehemaligen Morgan Grenfell, die intern mehrere Prozentpunkte zu hoch bewertet war, schrieben die Manager beispielsweise über Monate hinweg linear ab.

      Gelegentlich griffen die Verantwortlichen noch tiefer in die Trickkiste: Sie lösten stille Reserven auf. Denn einige der Wertpapiere waren am Markt höher bewertet als in den Büchern der DWS - auch wenn derartige Notfall-Pölsterchen strengstens verboten sind. Oder aber die Schummler von der DWS übertrugen die falsch bewerteten Vermögenswerte flugs auf einen größeren Fonds, bei dem die Abwertung weit weniger ins Gewicht fiel. Nach einer Schonfrist von einigen Tagen oder Wochen wanderte das nunmehr marktgerecht bilanzierte und somit saubere Wertpapier oftmals ganz einfach zurück.

      Mit Hilfe dieser aufwendigen - und zwielichtigen - Manöver gaukelten die Fondsmanager ihren Kunden ein falsches Bild von ihren Produkten vor. Sie manövrierten ihre Fonds scheinbar ruhig durch turbulente Zeiten - und genau das war auch ihr Ziel. Denn je größer die Kursschwankungen eines Fonds sind, desto verschreckter reagieren die Anleger. Auch das Rating, also die Bewertung der Fonds, sinkt - und mit ihm die Bereitschaft der Kunden, dem jeweiligen Fonds frisches Geld anzuvertrauen. Die Tricks der DWS reduzierten derartige Schwankungen auf ein Minimum.

      Das ganze Ausmaß des "Saustalles", so ein Banker aus der Frankfurter Zentrale, zeigt sich in dem Revisionsbericht. Der bestätigt größtenteils die Vorwürfe eines Fondsmanagers, der die dubiosen Praktiken der DWS in Luxemburg intern angezeigt hatte.

      Diesem Bericht zufolge gab es "keine unabhängigen Kontrollen für die Bewertung von Wertpapierkursen", außerdem bemängeln die Prüfer, dass "keine durchgängigen Dokumentationen vorhanden sind. So fehlen elementare Richtlinien und Anweisungen".

      Selbst bei Wertpapierübertragungen wurde der akkurate Preis nicht eingehalten. Deshalb bezahlte entweder der Käufer des Fonds zu viel oder der Verkäufer bekam zu wenig - je nachdem, ob der Fonds zu hoch oder zu niedrig bewertet war.

      Auch hier ist das Urteil der Revisoren vernichtend: "Obwohl in einer Weisung vom März 2002 geregelt wurde, bei Fondsüberträgen den Kurs mit dem Marktspread (der Marktbewertung -Red.) abzugleichen, ist diese Weisung nicht immer eingehalten worden."

      Weiter hinten in dem Schreiben wird sogar deutlich, dass die Revisoren lediglich vier Wertpapierübertragungen überprüft hatten. In zwei Fällen war die Bewertung nicht marktgerecht, in den beiden übrigen lagen keine Unterlagen vor.

      "Für über 10% der zu prüfenden Wertpapiere fehlten Brokerbestätigungen", schreiben die Prüfer weiter, "bisher waren bei ca. 5% der geprüften Papiere Kursangleichungen erforderlich." Und es kommt noch schlimmer: Selbst nach einer "vom Fondsmanagement durchgeführten Kontrolle auf marktgerechte Kurse", so die Prüfer, waren "weitere Kurs- und Spreadanpassungen erforderlich". Ein vernichtendes Urteil - obwohl die Prüfer sichtlich bemüht sind, die peinliche Angelegenheit herunterzuspielen. So merken sie an, dass trotz der vielen Fehlbewertungen die Fondsanteile nicht mehr als 0,25 Prozent von ihrem tatsächlichen Wert abgewichen seien. Und auch die Deutsche Bank beharrt auf dieser Aussage. Schließlich ist das die - in Luxemburg, nicht aber in Deutschland - zulässige Toleranzgrenze.

      Doch wie können die Revisoren die Fonds überhaupt nachberechnen, wo doch so viele Unterlagen fehlen? Wie kommt das Urteil zu Stande, welche Zeiträume hat die Revision untersucht? Zu all diesen Fragen gibt der Bericht keine Aufschlüsse - und auch die Deutsche Bank will sich dazu nicht äußern. "In turbulenten Börsenzeiten", versichern Insider, "waren die Abweichungen viel höher."

      Dass die beanstandeten Mängel "manipulatorisch", wie von dem Mitarbeiter behauptet, "vorgenommen wurden", vermögen die internen Kontrolleure ebenso wenig zu erkennen - obwohl sie diesen Vorwurf laut ihrem Bericht nur "zum Stichtag" überprüft haben. Selbst das Computerprogramm, mit dem die Manager berechneten, wie stark sich die Preisangleichungen verschiedener Wertpapiere auf den Anteilspreis der Fonds auswirken, konnte die Revisoren nicht überzeugen. "Die in der Liste vorgesehenen Angleichungen hatten nur geringfügige Auswirkungen", schreiben sie - allerdings gelte das nur für den 6. August vergangenen Jahres. "Denn da das Programm täglich überschrieben wurde, konnte keine Aussage über frühere Zeiträume gemacht werden."

      Unangenehm ist die Sache nicht nur für die DWS, sondern auch für die Luxemburger Finanzaufsicht CSSF. Sie hat jahrelang nichts von dem Schmu bemerkt. Auf Anfrage versicherte die Behörde zwar schriftlich, dass sie von dem "internen Revisionsbericht des 28. Juli 2002 über die DWS Kenntnis genommen" habe. Peinlich nur, dass zu diesem Datum lediglich die Vorwürfe des Fondsmanagers erhoben wurden. Der tatsächliche Bericht datiert vom 22. August - und liegt der Aufsicht möglicherweise gar nicht vor. Dennoch zeigen sich die Beamten überzeugt, dass die Mängel keine negativen Konsequenzen für die Anleger mit sich brachten.

      Auch die Deutsche Bank steckt in der Bredouille. Schließlich leitete der Chef des Instituts, Josef Ackermann, jahrelang den Verwaltungsrat der Deutschen Bank Luxemburg S. A.

      Das wilde Treiben bei der Fondstochter fiel ihm offenbar nicht auf.


      WOLFGANG REUTER

      http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,243687,00.html
      Avatar
      schrieb am 10.04.03 22:36:59
      Beitrag Nr. 69 ()
      bankwesen

      Finanzieller Fall-out

      Banken drehen sich gegenseitig große Kredite an. Mehr als eine Billion Dollar werden jährlich auf diese Weise verschoben. Die Deals gefährden das Weltfinanzsystem

      Von Thomas Hammer

      Das Orakel hat gesprochen. „Immense Kreditrisiken sind mittlerweile bei einigen wenigen Kreditderivate-Händlern konzentriert“, warnt Warren Buffet, mit seiner Holding Berkshire Hathaway immerhin einer der erfolgreichsten und wohlhabendsten Investoren der Welt, in seinem aktuellen Brief an die Aktionäre. Finanzielle Probleme bei einem einzigen Marktteilnehmer könnten eine Kettenreaktion in Gang setzen, die das weltweite Finanzsystem ins Wanken bringen könne.

      Damit lenkt Großinvestor Buffet den Blick auf einen Markt, der bislang im Verborgenen blüht. Die Wachstumsraten sind eindrucksvoll: 1996 lag das weltweit gehandelte Volumen an Kreditderivaten noch bei 50 Milliarden Dollar, zwei Jahre später waren es schon 350 Milliarden. Im vergangenen Jahr gingen Kontrakte im Wert von 1,2 Billionen Dollar über die Tresen der Händler, für dieses Jahr erwartet die British Bankers Association (BBA) einen Anstieg auf zwei Billionen Dollar. „Das Vertrauen der Marktteilnehmer in das ungebremste Wachstum des Kreditderivate-Geschäfts ist hoch“, schreibt die BBA in einer aktuellen Studie.

      Mit Kreditderivaten sichern sich Banken gegen Kreditausfälle ab. Manche Varianten ähneln einer Kreditversicherung oder Bürgschaft. Die Kredit gebende Bank bezahlt dem Garantiegeber eine Prämie dafür, dass dieser einspringt, wenn der Schuldner nicht mehr zahlen kann. Der Unterschied zur Bürgschaft oder Versicherung besteht jedoch darin, dass die Garantien handelbar sind. Die Konsequenz: Bei einem Ausfall des Schuldners muss derjenige zahlen, der gerade im Besitz des Garantiekontraktes ist. Die Alternative besteht darin, eine Anleihe in Höhe des abzusichernden Kreditvolumens herauszugeben und Zins- oder Tilgungszahlungen von der Höhe der Kreditausfälle abhängig zu machen.

      Bei der Gestaltung der Kontrakte gibt es fast keine Regulierung. Ob die Geschäfte an einen einzelnen Großkredit oder an ein ganzes Kreditportfolio gekoppelt werden, entscheiden die Konstrukteure, deren Visitenkarte meist der schöne Titel „Risk Designer“ schmückt. Auch die Definition eines Ausfalls entspricht keinesfalls der einer normalen Insolvenz. Das für die Verträge ausschlaggebende „Credit Event“ kann schon eintreten, wenn der Schuldner lediglich mit den Zahlungen in Verzug gerät oder einen Teil seiner Schulden erlassen bekommt. Interessant in diesem Zusammenhang: In der Liste der größten Ausfälle bei Kreditderivaten kommen nach den obligatorischen Spitzenreitern Enron und Worldcom der britische Telekom-Ausrüster Marconi und der Bürogerätekonzern Xerox – zwei Unternehmen, die offiziell nie Insolvenz angemeldet haben. Erst danach stehen andere populäre Pleiten wie Swissair oder Global Crossing in der Katastrophen-Hitliste.

      Für die Banken, die ihre Kreditrisiken mithilfe von Derivaten absichern, lohnt sich der Aufwand. Das in jüngster Vergangenheit bedenklich gewachsene Ausfallrisiko lässt sich auf diese Weise reduzieren, und bei manchen Konstruktionen verschwinden die Kredite sogar gänzlich aus der Bilanz – was wiederum Spielraum für neue Kredite eröffnet. So will etwa die Deutsche Bank künftig alle Großkredite mit mehr als 180 Tagen Laufzeit über Derivate absichern. Der Deal dürfte nach Expertenschätzungen zwar rund 400 Millionen Euro pro Jahr kosten. Im Gegenzug kann die Bank dadurch allerdings Wertberichtigungen in Höhe von fast zwei Milliarden Euro vermeiden.

      Doch was für die eine Seite ein glänzendes Geschäft ist, stellt für die andere Seite ein unkalkulierbares Risiko dar. Aus welchen Krediten sich die Konstruktion zusammensetzt und unter welchen Bedingungen das Credit Event als eingetreten gilt, wird im in der Regel mehrere hundert Seiten umfassenden Kleingedruckten versteckt. Dazu kommt, dass für den Garantiegeber die Einnahmen durch die Risikoprämie nur einen Bruchteil der zu leistenden Zahlung im Ernstfall ausmachen. So kann beispielsweise die Übernahme eines Ausfallrisikos gegen eine Prämie von zehn Millionen Euro mit der Verpflichtung verbunden sein, im Ernstfall 100 Millionen Euro oder sogar noch viel mehr Geld zahlen zu müssen.

      Auch die Transparenz des Marktes lässt zu wünschen übrig. Die meisten Geschäfte werden nicht über eine Börse, sondern im direkten Handel innerhalb der Institute abgewickelt. Drei Investmentbanken dominieren den weltweiten Handel: JP Morgan, Merrill Lynch und die Deutsche Bank. Neulinge im Markt laufen Gefahr, über den Tisch gezogen zu werden. So wähnte sich die japanische Versicherung Nomura auf der sicheren Seite, nachdem sie mit Kreditderivaten eine Wandelanleihe auf die britische Eisenbahngesellschaft Railtrack abgedeckt hatte. Als jedoch Railtrack Pleite ging, präsentierte die Credit Suisse First Boston (CSFB) als Emittentin des Derivates eine tief im Kleingedruckten versteckte Klausel, die sie von jeglicher Zahlungspflicht freistellte. Nomura klagte wegen unzureichender Risikoaufklärung vor einem britischen Gericht gegen CSFB – und bekam im Februar sogar Schadensersatz zugesprochen: Immerhin knapp zwei Millionen Euro. Auch wenn keine spektakulären Summen im Spiel sind, zeigt dieser Fall gleichwohl, welche Fallstricke das Derivate-Geschäft für weniger ausgebuffte Anlagemanager enthält. Die nämlich überblicken oft nicht, auf welche Risiken sie sich de facto einlassen.

      Damit aber wächst auch die Gefahr, dass größere Ausfälle zu einer Kettenreaktion führen, die, wie Buffet befürchtet, sogar das gesamte Finanzsystem ins Wanken bringen könnte. Und der alte Fuchs ist nicht der Einzige, der warnt. „Das Risiko schwirrt irgendwo da draußen herum. Es wird ja nicht einfach in einer Mine in Aserbajdschan vergraben“, macht Oliver Harris von der auf Banken spezialisierten Unternehmensberatung Oliver Wyman in London gegenüber dem Wall Street Journal das Problem deutlich. Über die Tresen der Händler verteilen sich die Ausfallrisiken als finanzieller Fall-out – aber nicht einmal Insider wissen genau, wo dieser im Ernstfall herunterkommt.

      Denn von der internationalen Investmentbank bis zur kleinen Regionalbank, von der Lebensversicherung bis zum Hedge-Fonds haben Akteure unterschiedlichster Couleur inzwischen ihre Hände im gefährlichen Spiel. Selbst die staatseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau hilft über ihre Handelsplattform „Promise“ Geschäftsbanken wie der Commerzbank und HypoVereinsbank, Risiken aus Mittelstandskrediten in Milliardenhöhe auszulagern – wohin auch immer. In den Bilanzen tauchen Kreditderivate allenfalls bruchstückhaft aus, weil ein großer Teil der Geschäfte von vielen Banken nur im Anhang erwähnt wird. Nicht einmal darauf ist Verlass: Die Deutsche Bank verweist in ihrem Geschäftsbericht 2001 lediglich darauf, dass Kreditderivate „im Einklang mit den aufsichtsrechtlichen Bestimmungen den zinsbezogenen beziehungsweise den aktien- oder indexbezogenen Geschäften zugeordnet werden“. Das bedeutet für den geneigten Leser: Irgendwo im gesamten jährlichen Derivate-Handelsvolumen von fünf Billionen Euro darf er sie vermuten.

      Die Rating-Agentur Fitch hat versucht, mit einer groß angelegten Studie etwas Licht ins Dunkel zu bringen. So zählen die großen internationalen Investmentbanken zu den „Protection Buyers“, die gegen Zahlung von Prämien oder Zinsaufschlägen ihre Risiken mit der Emission von Derivaten absichern. Die größten „Protection Sellers“, die Risiken übernehmen und dafür auf zusätzliche Renditen aus den Prämieneinnahmen hoffen, sind hingegen in der Versicherungswirtschaft zu finden. Insgesamt haben nach der Fitch-Studie die Versicherungen weltweit 283 Milliarden Dollar an Kreditrisiken über Derivate in ihren Anlage- und Handelsbestand geholt. Weitere Anteile entfallen auf Hedge-Fonds und Investmentgesellschaften. Aber auch innerhalb der Bankenbranche zeichnet sich ein differenziertes Bild ab. So trifft die Aussage, dass Banken ihre Risiken aus der Bilanz auslagern, nur auf einen Teil der Institute zu. Denn die Banken in Deutschland zählen überwiegend zu den „Protection Sellers“: Nach Abzug der ausgelagerten Risiken bleibt bei den Banken hierzulande unterm Strich ein Zusatzrisiko von elf Milliarden Euro übrig.

      Besonders eifrige Aktivitäten hat Fitch bei den Landesbanken festgestellt. „Die Netto-Risikoaufnahme in Deutschland wird stark von den Landesbanken beeinflusst“, schreibt die Rating-Agentur in ihrer Studie und weist darauf hin, dass vor allem die staatlichen Institute auf der Suche nach höheren Margen seit einigen Jahren verstärkt in Kreditderivate investieren. Da wundert es nicht weiter, dass auf der Liste der Worldcom-Gläubiger die WestLB und die Bayerische Landesbank mit jeweils dreistelligen Millionenbeträgen auftauchen. Ebenfalls auffällig ist die Baden-Württembergische Bank, eine Tochter der Landesbank Baden-Württemberg, deren Kreditderivate-Handelsvolumen von 38 Millionen Euro im Jahr 2000 sich innerhalb eines einzigen Jahres mehr als verdreißigfacht hat.

      Diese Erkenntnisse dürften Wolfgang Artopeus nur mäßig überraschen. Schon im November 1998 bezweifelte der damalige Chef des Bundesaufsichtsamtes für das Kreditwesen, dass die neu aufgekommenen Kreditderivate das Risiko in den Bankbilanzen wirklich nennenswert reduzieren würden. „Die Banken pflegen die durch die Absicherung gewonnenen Spielräume dazu zu nutzen, um neue, mit Ausfallrisiken behaftete Geschäfte einzugehen“, sagte Artopeus in einem Vortrag über Kreditrisiken. Er hat Recht behalten.

      http://www.zeit.de/2003/15/G-Kreditderivate
      :confused: :confused: :confused: :confused: :confused: :confused:
      Avatar
      schrieb am 10.04.03 22:42:56
      Beitrag Nr. 70 ()
      Der Mann, die Gier, das Debakel

      Wie der betrügerische Spekulant Nick Leeson die britische Barings Bank zu Fall brachte

      Von Robert von Heusinger

      Der Markt wird ins Bodenlose fallen.“ Nur dieser eine Gedanke schießt Nick Leeson durch den Kopf, als er von dem schweren Erdbeben in der westjapanischen Industriestadt Kobe erfährt. Es ist Dienstag, der 17. Januar 1995. „Der Markt“, das ist der japanische Aktienmarkt. Auf diesen hat der 28-jährige Händler der britischen Merchantbank Barings hohe Wetten laufen. Sie gehen nur auf, wenn sich der japanische Aktienindex Nikkei in den nächsten Monaten nicht groß bewegt, nicht unter 19000 Punkte fällt und nicht über 20000 steigt. Nur dann besteht für den „Top-Händler des Jahres 1994 am Singapurer Terminmarkt“ überhaupt eine Chance, seine horrenden, aber gut kaschierten Verluste – mehr als 200 Millionen Dollar – auszugleichen. Ein einstürzender Nikkei würde die Verluste dramatisch ausweiten. Alles würde auffliegen. Der Bluff, sein Geheimkonto, verbotene Transaktionen. Sein Leben wäre ruiniert.

      Leesons Ahnung war richtig. Gleich nach der Eröffnung des Marktes bricht der Nikkei regelrecht zusammen, kommt 19000 Punkten bedrohlich nahe. Allein an diesem Dienstag addieren sich weitere 80 Millionen Dollar zu seinen Verlusten. Leeson muss zwischen zwei Extremen wählen: Entweder er kapituliert, oder er setzt alles auf eine Karte. Er entscheidet sich, aufs Ganze zu gehen, will den Markt in seine Richtung lenken – nach oben. Getreu dem alten Händler-Motto „if in trouble, double“ (Verdopple, wenn du schief liegst) beginnt Leeson zu kaufen, was das Zeug hält: 10000 Future-Kontrakte auf den Nikkei am 20. Januar, so viel hatte er noch nie an einem Tag gekauft. Am Folgetag sackt der Index auf 18000 Punkte ab. 30000 Kontrakte am 27. Januar – 19000 Indexpunkte sind noch immer in weiter Ferne. Leeson gelingt es, die rasante Talfahrt zu verlangsamen, stoppen kann er sie nicht.

      In den nächsten Tagen verliert Leeson völlig die Kontrolle, handelt wie ein Besessener, addiert nicht einmal mehr die Verluste und wird immer häufiger auf der Toilette gesichtet. Die Schlinge zieht sich zu. Leesons Bosse in London befehlen ihm, Positionen zu verringern, und die Wirtschaftsprüfer verlangen Erklärungen, die der Händler nicht liefern kann, ohne aufzufliegen. In immer kürzeren Abständen fälscht er Urkunden, manipuliert Abwicklungssysteme, vollführt Buchungstricks, um den Anschein zu wahren, alles gehe mit rechten Dingen zu.

      Doch das Rad, das Leeson dreht, ist längst zu groß. Am Donnerstag, dem 23. Februar, betritt er ein letztes Mal in dem blau-gelb gestreiften Händlerjackett der Barings Bank die Terminbörse. Wieder sackt der japanische Index ab – deutlich unter 18000 Zähler. Allein dieser Tag bringt Verluste von mehr als 220 Millionen Dollar – Weltrekord für einen einzelnen Händler. Leeson hält fast 50 Prozent aller Risikopositionen in Singapur. Er ist der einzige Käufer weit und breit. Nichts geht mehr. Nach Börsenschluss fliehen er und seine Frau Lisa nach Malaysia.

      1,4 Milliarden Dollar Verlust

      Erst am nächsten Morgen dämmert es Barings’ Managern in London: Ihr „Wunderhändler“ Leeson, der „Turbo-Arbitrageur“ aus Singapur ist tatsächlich ein Zocker und Betrüger. Entsetzt stellen sie fest, dass Leeson seine Positionen nie abgesichert hat, dass sich seine Wetten auf die Kursbewegungen eines Nominalvolumens von rund 60 Milliarden Dollar beziehen. Sie müssen einräumen, dass die Bank nicht genug Geld hat, um den verlangten Sicherheiten der Terminbörse Simex nachkommen zu können. Die Bank ist zahlungsunfähig. Zerknirscht sehen sie zu, wie die Bank of England, der Regulierer, ihr Institut schließt. Als alle Terminkontrakte Leesons verkauft sind, steht ein Verlust in Höhe von 1,4 Milliarden Dollar zu Buche. Barings’ Eigenkapital liegt bei 615 Millionen Dollar.

      London hat seinen Skandal: Der Sohn eines Handwerkers aus Watford ruiniert eine der feinsten Londoner Bankadressen. Barings ist die Bank der britischen Könige. 1762 wird sie von Francis Baring, dem Sohn eines Bremer Tuchhändlers, als erste reine Merchantbank gegründet: Sie handelt selbst mit Rohstoffen, gleichzeitig finanziert sie den Handel, berät und fädelt Geschäfte ein. Innerhalb weniger Jahrzehnte erlangt sie enormen Einfluss. Im späten 18. Jahrhundert finanziert Barings Britanniens Kriege: den Kampf gegen die abtrünnigen USA, den Feldzug gegen Napoleon. Als die Vereinigten Staaten 1802 den Franzosen den Staat Louisiana abkaufen wollen, gibt es für sie nur eine Geldquelle: Francis Baring. Im frühen 19. Jahrhundert gilt die Bank als Europas „sechste Großmacht“. 180 Jahre später hat sie jene Bedeutung zwar verloren, Ruhm und Arroganz aber sind geblieben – auch weil mit Peter Baring als Chairman die siebte Generation der Familie an den Schalthebeln sitzt.

      Genau das schafft die Voraussetzungen für den Skandal: Barings tickt noch immer so wie in der guten alten Zeit vor dem Big Bang von 1985, jenem radikalen Deregulierungsprojekt, das den Londoner Finanzplatz revolutioniert und zum internationalen Zentrum in Europa werden lässt. Mit dem Einzug ausländischer, vor allem amerikanischer, Banken verändert sich das Geschäftsgebaren nachhaltig. Es wird schneller, flexibler und aggressiver. Der Big Bang bedeutet das Ende des Old-Boys-Network und der Bowler-Hüte. Die ehedem einträglichen Nischen der alten Merchantbanks werden immer kleiner. Kaum eine bewahrt ihre Unabhängigkeit: Morgan Grenfell, Kleinwort Benson, Warburg, Schroders, Flemings, sie alle werden von ausländischen Häusern übernommen. Wer in der neuen Bankenwelt etwas werden will, muss nicht mehr in Oxford studiert haben, sondern Geld verdienen für sein Haus. Es ist der Beginn der Yuppie-Ära.

      Barings überlebt den Big Bang, passt sich aber nicht an. Das Leitbild bleibt das des Gentlemans, das Motto: „Überwachung ist gut, Vertrauen ist billiger.“ So ist der Anfang von Barings’ Ende leicht definiert: Mitte 1992, als Leeson nach Singapur geschickt wird, um den Derivate-Handel aufzubauen. Wider besseres Wissen verstoßen die Vorgesetzten gegen eine uralte Vorsichtsmaßnahme beim Wertpapierhandel: Lass den Händler nie die Abwicklung seiner eigenen Transaktionen übernehmen. Die Versuchung ist zu groß, Verluste zu verschleiern und Gewinne zu manipulieren. Leeson erliegt der Versuchung. Der Junge aus einfachen Verhältnissen will ein berühmter Händler werden und viel Geld verdienen. Bei Barings bekommt er die besten Karten dafür. Er ist Händler und Abwickler zugleich. Auch nachdem interne Prüfer anregen, einen Mitarbeiter für die Überprüfung und Buchung von Leesons Geschäften abzustellen, ändert sich nichts. „Zu wenig zu tun und zu teuer“, befinden die feinen Manager in London.

      Leeson soll in Singapur den Arbitragehandel aufbauen und Kundengeschäfte ausführen. Ein fast risikoloses Geschäft. Geringe Preisdifferenzen in den japanischen Derivaten, die parallel an der japanischen Terminbörse in Osaka und in Singapur gehandelt werden, soll er ausnutzen. Den Kontrakt dort verkaufen, wo gerade der höhere Preis zu erzielen ist und gleichzeitig dort kaufen, wo er zum niedrigeren angeboten wird. Eigenhandel, mit dem Geld der Bank auf steigende und fallende Kurse zu spekulieren, ist ihm strikt untersagt. Doch genau das tut Leeson, und niemand in London wundert sich, wie sein vermeintlich risikoloses Geschäft derartige Gewinne abwerfen kann. Leeson scheint die moderne Finanztheorie zu widerlegen: kein Risiko, aber satte Renditen.

      In Wirklichkeit macht Leeson alles, aber kaum Arbitrage. Das Vehikel für seinen Betrug ist das Konto mit der Nummer 88888, fünfmal die chinesische Glückszahl. Dieses Geheimkonto benutzt er, um die Verluste und nicht genehmigten offenen Positionen zu verbergen. Auf dem Handelsparkett stellt Leeson die besten Kurse. Bietet die Konkurrenz einen Kontrakt für 1950 Yen an, verlangt Leeson nur 1940. Kauft die Konkurrenz für 1920 Yen, zahlt Leeson 1930. Er kalkuliert so knapp, dass er oft Geld an seine Handelspartner verschenkt. Die Verluste wandern auf das Konto 88888. Bald stehen die Kunden Schlange, um mit Leeson zu handeln. Die Terminbörse ehrt ihren aktivsten Händler. Dabei ist Leeson ein gnadenlos schlechter Händler. Schon in seinem ersten Monat an der Simex verliert er 60000 Dollar. Nur einmal, Mitte 1993, gelingt es ihm, seinen Gesamtverlust in Höhe von knapp 10 Millionen Dollar durch gewagte Transaktionen in Gewinne zu wandeln. Leeson ist total erleichtert und schwört sich, nie wieder Positionen zu verstecken. Doch sein riskantes Spiel geht nicht spurlos an ihm vorbei. Er kaut Fingernägel, stopft unablässig Bonbons in sich hinein und trinkt immer mehr Alkohol. Der Vorsatz hält nicht lange. Schon einen Tag später erliegt er der Verführung von Konto 88888.

      Das schwarze Konto 88888

      Unterdessen macht er sich in London beliebt, indem er ansehnliche Gewinne ausweist – mehr als ein Fünftel des Gewinns der Gesamtbank. Nur: Der Gegenposten ist ein Verlust auf dem Konto 88888, der Gewinn hat also nie existiert. Um sein Geheimkonto nicht auffliegen zu lassen, muss Leeson Geschäfte frisieren, Gelder umbuchen, Optionen verkaufen und Lügen erzählen. Als Abwicklungskünstler ist er brillant. Bis zum letzten Tag gehen die Londoner Kontrolleure davon aus, dass die hohen offenen Positionen Kunden gehören, für die Barings lediglich handelt. Sie überweisen fast wöchentlich mehr Geld nach Singapur, um die Sicherheitsleistungen für die Terminbörse zu erfüllen. Sie fragen aber nie nach, für welche Kunden sie eigentlich die Millionen überweisen.

      Das Ende des Falls Barings ist rasch erzählt: Der holländische Finanzkonzern ING übernimmt die britische Nobeladresse für den symbolischen Preis von einem Pfund. Die Führungsebene wird fast komplett ausgetauscht. Der Name Barings verschwindet im April 2002 endgültig. Nick Leeson wird zu einer tragischen Figur. Im Moment seiner Niederlage erreicht er, wovon er immer geträumt hat: Er ist auf einen Schlag weltberühmt. Seine Flucht endet auf dem Frankfurter Flughafen, wo die Journalistenmeute schon auf ihn wartet. Großbritannien stellt kein Auslieferungsersuchen. London will es vermeiden, den Ruf seines Finanzplatzes durch diesen spektakulären Fall noch weiter zu schädigen. Auch die zuständige Aufsichtsbehörde, die Bank of England, hat keine rechte Lust, ihr eklatantes Versagen allzu ausführlich in der Öffentlichkeit diskutiert zu sehen. Nick Leeson wird in Singapur zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Bald darauf verlässt ihn seine Frau, sein einziger Halt, und heiratet einen erfolgreicheren Händler. Leeson erkrankt an Krebs und wird in der Haft operiert. Als er nach vier Jahren wegen guter Führung vorzeitig entlassen wird, steht er wieder im Mittelpunkt. Er bedient die Sehnsüchte und Klischees der Massen. Der gefallene Starhändler, das Arbeiterkind, das als Sündenbock für die Managementfehler herhalten muss. Leeson kehrt nach England zurück, kämpft gegen seinen Krebs und wird zum gefragten Konferenzredner.

      Der Fall Barings wird zum Lehrstück des Finanz- und Risikomanagements. Niemals wurde so eklatant gegen die Vorsichtsprinzipien im Bankgeschäft verstoßen und so offensichtlich. Im September 1993 erklärt Peter Baring zufrieden: „Bei Barings setzte sich die Ansicht durch, dass es eigentlich gar nicht so schrecklich schwer ist, im Wertpapiergeschäft Geld zu machen.“ – Hochmut kommt vor dem Fall.


      (c) DIE ZEIT 03.04.2003 Nr.15
      http://www.zeit.de/2003/15/Barings_2fSerie
      Avatar
      schrieb am 11.04.03 08:38:14
      Beitrag Nr. 71 ()
      _________________KURSGOTT__________________

      Guten Morgen,

      International Media scheint grade die Kurve zu bekommen, unter steigenden Umsätzen wurde die 38 Tagelinie genommen, Gerüchten nach, soll es einen Zusammenschluss deutscher Medienfirmen geben um einen europäischen Medienkonzern zu Gründen.( Das Handelsblatt vom Mittwoch hatte auch einen Artikel drin, in dem über die Zukunft von IM und Constantin diskutiert wurde)

      Wie ich aus verlässlicher Quelle erfahren habe, gibt es auch einen amerikanischen Interesenten für IM, sofern der Deal nicht zustande kommt...

      Das 4 Quartal war für IM ja schon wieder positiv, 3 Mio. und das erste Quartal 2003 soll Gerüchten nach gar einen Gewinn größer 7 Mio. eingefahren haben...

      Dies würde bedeuten, dass IM nach einem grausigem Jahr 2002 nun ein KGV < 1 hat.



      Mit Terminator 3 könnte IM zusätzlich noch einen überdurchschnittlichen Gewinn in 2003 einfahren.


      Schaut es euch doch einfach mal an, von Investitionen über 50.000 Euro rate ich ab, da sonst Gewinne schwer zu realisieren wären...

      Kursgott
      Avatar
      schrieb am 15.04.03 18:34:23
      Beitrag Nr. 72 ()
      Der Euro ist kein Teuro. Das hat die Preisstatistik, in Deutschland wie in ganz Europa, inzwischen eindeutig belegt.

      Doch die große Mehrheit der Bevölkerung lässt sich davon nicht beeindrucken und beharrt darauf, die Einführung der Gemeinschaftswährung habe zu erheblichen Preiserhöhungen geführt. Eine aktuelle finanzpsychologische Untersuchung zeigt, warum die Menschen selbst dort Preissteigerungen sehen, wo in Wirklichkeit gar keine sind.


      Basis dieses Beitrags ist die Studie "Erwartungsgeleitete Wahrnehmung bei der Einführung des Euro" der Sozialpsychologen Prof. Dr. Stefan Schulz-Hardt, Technische Universität Dresden, sowie Prof. Dr. Dieter Frey, Dr. Tobias Greitemeyer und Dipl.-Psych. Eva Traut-Mattausch, alle Ludwig-Maximilians-Universität München, in: Wirtschaftspsychologie, Quartalsausgabe 4/2002.

      "Nichts ist so unglaubwürdig wie die Wirklichkeit." Diese Erkenntnis des russischen Schriftstellers Dostojewski scheint sich in unseren Tagen einmal mehr zu bestätigen, wenn es um die Auswirkungen der Euro-Bargeldeinführung auf die inländische Preisentwicklung geht. Nicht nur, dass der "Teuro" kürzlich zum Wort des Jahres 2002 gekürt worden ist, immer wieder stempeln Verbraucherverbände und Medien den Euro als Preistreiber ab, und mehr als eindeutig sind auch die jüngsten Umfrageergebnisse des Eurobarometers: Über 90 Prozent der Deutschen sind der Auffassung, dass die Einführung der Gemeinschaftswährung zu erheblichen Preiserhöhungen geführt habe.

      Ganz im Gegensatz dazu stehen die amtlichen Statistiken über die Entwicklung des Preisniveaus. Sie liefern keinerlei Beleg für eine Euro-bedingte Inflation. Waren die Verbraucherpreise in der Euro-Zone 2001 noch um durchschnittlich 2,5 Prozent gestiegen, verringerte sich der Preisauftrieb im gesamten Währungsgebiet im vergangenen Jahr sogar leicht auf nur noch 2,2 Prozent. Deutschland wies dabei mit einem Plus von nur 1,3 Prozent die niedrigste Preissteigerungsrate unter den Euro-Ländern auf. Auch nach einer Korrektur des Warenkorbs, in dessen ursprünglicher Zusammensetzung man eine Ursache für die Diskrepanz zwischen offiziell gemessener und subjektiv empfundener Preisentwicklung vermutet hatte, zeigte sich - so der Befund des Statistischen Bundesamtes -, dass von der Einführung der europäischen Gemeinschaftswährung kein Teuerungseffekt ausgegangen war.

      Woran aber liegt es, dass sich der Eindruck so hartnäckig hält, der Euro sei ein Preistreiber? Was bringt die Menschen dazu, Preissteigerungen zu sehen, wo keine sind? Dieser Frage ist ein Team von Sozialpsychologen der Universitäten Dresden und München nachgegangen. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war, dass es bereits vor der tatsächlichen Bargeld-Einführung des Euro, also schon im Verlauf des Jahres 2001, die allgemeine Erwartung gab, der Umstieg auf den Euro werde von den Anbietern zu Preissteigerungen genutzt werden. Diese Befürchtung entsprang einer allgemeinen Skepsis gegenüber der neuen Währung, einer naturgemäß hohen Sensibilität angesichts einer solchen finanzwirtschaftlichen Zäsur und einer Unsicherheit darüber, wie man in der Praxis mit dem neuen Geld zurecht kommen würde. Dem Euro ging nicht zuletzt deshalb so viel Skepsis voraus, weil der Abschied von der D-Mark ein tiefer Einschnitt war und vielen Menschen schwer fiel.

      Aus der Sozialpsychologie ist bekannt, dass solche negativen Erwartungen im Vorfeld eines Ereignisses dessen Wahrnehmung stark beeinflussen können. Dieser "prior belief effect" führt dazu, dass Informationen selektiv und verzerrt wahrgenommen werden und die anfänglichen Erwartungen sehr viel schwieriger zu widerlegen als zu bestätigen sind. Mit einer Reihe von Experimenten konnten die Forscher nun zeigen, dass der Ruf des Euro als Preistreiber mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine solche erwartungsgesteuerte Verarbeitung von Informationen zurückgeht.

      Dazu haben sie in einem ersten Experiment Versuchspersonen die fiktive Speisekarte eines Restaurants mit rund 20 verschiedenen Speisen vorgelegt und sie gebeten, anzugeben, was sie bestellen würden. Die Preise waren in D-Mark ausgezeichnet und wurden als reale, bis Ende 2001 gültige Preise ausgegeben. Nach ihrer Bestellung wurde den Teilnehmern dann eine zweite Speisekarte mit identischem Angebot vorgelegt, nun jedoch in Euro-Preisen ausgezeichnet. In mehreren Varianten wurden dabei die Preise modifiziert, und die Probanden befragt, in welchem Umfang sich nach ihrer Einschätzung die Preise jeweils geändert hätten.

      Das Ergebnis der Versuchsreihe mag den Laien überraschen, bestätigte aber die theoretischen Annahmen: Wenn die einzelnen Euro-Preise von den D-Mark-Preisen nach oben und nach unten abwichen, im Durchschnitt aber konstant blieben, wurde dies von den Versuchspersonen durchschnittlich als eine Preiserhöhung um acht Prozent wahrgenommen. Eine vorgenommene Preissteigerung von durchschnittlich 15 Prozent wurde subjektiv als 22-prozentige Erhöhung eingeschätzt, und bei einer effektiven Preissenkung um 15 Prozent waren die Probanden im Durchschnitt der Meinung, die Preise seien in etwa stabil geblieben. Die deutlich verzerrte Wahrnehmung der Preisentwicklung zeigte sich erstaunlicherweise auch dann noch, wenn den Probanden die D-Mark-Speisekarte noch vorlag, während sie die Euro-Preise in der zweiten Karte beurteilen sollten. Und sie bestand zweitens auch dann fort, als die Preise nicht nur im Durchschnitt aller Speisen, sondern bei allen Speisen einheitlich und im selben Ausmaß verändert wurden.

      In einer weiteren Versuchsreihe gingen die Forscher der Frage nach, ob die verzerrte Wahrnehmung der Preisveränderungen von der eigenen Einstellung zum Euro beeinflusst sein könnte. Dazu wurden die Probanden nach dem Studium der D-Mark-Speisekarte und vor Erhalt der Euro-Speisekarte schriftlich zu ihrer generellen Einstellung zum Euro und ihrer Erwartung hinsichtlich der Preise in dem betreffenden Restaurant befragt. Als Ergebnis zeigte sich, dass die Wahrnehmung überhöhter Preissteigerungen in diesem Experiment nicht nur unverändert anhielt, sondern auch unabhängig von der persönlichen Einstellung zum Euro war.

      Persönliche Aversionen gegen den Euro konnten also als Grund für die verzerrte Wahrnehmung ausgeschlossen werden. Hingegen spielte die Erwartungshaltung, der Euro sei ein Preistreiber, eine wichtige Rolle, wie in einer weiteren Variante des Experiments gezeigt werden konnte: Vor dem Erhalt der Euro-Speisekarte bekam eine Hälfte der Probanden nun einen fiktiven Artikel der "Stiftung Warentest" zu lesen, aus dem hervorging, dass die Restaurantkette, deren Speisekarte zu beurteilen war, die Preise im Zuge der Euro-Umstellung nicht erhöht habe. Der anderen Hälfte der Probanden wurde ein entsprechender Artikel vorgelegt, der eine 15-prozentige Preiserhöhung des Restaurants suggerierte.

      Diese Manipulation der Erwartungen hatte tatsächlich einen Einfluss auf das individuelle Urteil über die Preisentwicklung: Die Leser des Artikels, in dem von einer Preiserhöhung die Rede war, neigten sehr viel stärker zur Preissteigerungsillusion als die umgekehrt manipulierten Probanden.

      Dieses Ergebnis erklärt allerdings noch nicht, wie die in der Bevölkerung vorherrschende Erwartung der preistreibenden Wirkung des Euro zustande gekommen ist. Als mögliche Ursachen kommen hier die Medienberichterstattung in Frage, der Meinungsaustausch mit Freunden und Bekannten, eigene Einzelfallerfahrungen, die vorschnell generalisiert wurden - oder mehrere dieser Varianten zusammen.

      Während die Studie eine Antwort auf diese Frage offen lässt, haben die Finanzpsychologen zumindest eine Erklärung dafür parat, wie es auf der Individualebene überhaupt zu der Preissteigerungsillusion kommt, welche kognitiven Prozesse dafür also verantwortlich sind.

      Erstaunlicherweise sehen die Wissenschaftler die Hauptursache in einer von den Verbrauchern vorgenommenen selektiven Korrektur ihrer eigenen Fehler bei der Umrechnung von D-Mark in Euro-Preise. Die Menschen richten grundsätzlich ihre Aufmerksamkeit sehr viel stärker auf Dinge, die ihrer Erwartung widersprechen, als auf Dinge, die mit ihr konform gehen. Und weil gleichzeitig eben bei den meisten Menschen die Erwartung vorherrscht, der Euro müsse tendenziell zu Preissteigerungen führen, sei die Wahrscheinlichkeit, dass ein Umrechnungsfehler bemerkt wird, der eine Preiserhöhung suggeriert, sehr viel geringer als die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fehler auffällt, der eine Preissenkung nahelegt. Spezifische Tests, die im Rahmen der Untersuchung durchgeführt wurden, stützen die Annahme, dass diese selektive Fehlerkorrektur der Verbraucher tatsächlich eine wesentliche Ursache für die Illusion des Teuro-Effektes darstellt.

      Der Euro ist also wohl Opfer einer erwartungsgesteuerten kollektiven Fehlwahrnehmung geworden. Es wäre wünschenswert, diesem Phänomen weitere wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu schenken, zumal das Thema generelle Relevanz besitzt: Auch anderswo im Wirtschaftsleben können falsche Erwartungen zu systematischen Vorurteilen führen. Sollten weitere Studien diesen Effekt bestätigen, könnte der Euro eines Tages vielleicht doch noch seinen Ruf als Teuro abschütteln.

      Quelle:
      Bundesverband deutscher Banken
      Avatar
      schrieb am 15.04.03 22:12:44
      Beitrag Nr. 73 ()
      Die Zeit des billigen Öls geht bald zu Ende

      von

      Jörg Schindler und Werner Zittel

      (veröffentlicht in der Zeitschrift "Scheidewege" 98/99)

      1. Einleitung

      Das Problem der Begrenztheit der fossilen Energievorräte hat augenblicklich in der Öffentlichkeit keine Konjunktur. Politik, Industrie, Presse und Umweltgruppen sind sich erstaunlich einig, daß es zwar prinzipiell ein Ressourcenproblem gibt, daß dieses aber für die nächsten Jahrzehnte und möglicherweise auch Generationen kein wirklich reales Problem darstelle. Obwohl der Club of Rome die Öffentlichkeit Anfang der 70er Jahre für das Thema sensibilisiert hatte und die Welt dann zwei Ölkrisen erlebte, die jedoch innerhalb weniger Jahre überwunden werden konnten, ist heute fast überall das Gefühl verbreitet, daß das Problem nicht aktuell sei und keine große Aufmerksamkeit verdiene.

      Die Gesellschaft pflegt einen sehr kurzfristigen Umgang mit langfristigen Entwicklungen. Der Schluß, daß das Problem der Reserven eigentlich keine Beachtung verdiene, weil in den vergangenen 25 Jahren die Katastrophe nicht eingetreten ist, ist jedoch aberwitzig. Er gleicht der Meinung eines Menschen, der, nachdem er eine schwere Krankheit überstanden und dann viele Jahre überlebt hat, nun zu dem Schluß kommt, daß das Problem des eigenen Todes wohl doch nicht existiere.

      Ressourcenschonung - Vermeidung des Verbrauchs begrenzter natürlicher Vorräte - und „Senkenschonung" - also Vermeidung der Folgen ungezügelter Ressourcennutzung - stellen die beiden wesentlichen Komponenten einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweise dar. Im Sinne der Nachhaltigkeit verdienen beide Argumente gleiche Beachtung. Heute findet in der energiepolitischen Debatte wenigstens der zweite Aspekt gebührende Aufmerksamkeit. Die Folgen des ungezügelten Energieverbrauchs sind Gegenstand internationaler Konferenzen und bereits heute für jeden sichtbar, der sie sehen will. Dagegen verläuft die Verknappung der Ressourcen schleichend und unsichtbar. Demgemäß wird der Ruf nach einer nachhaltigen Wirtschaftsweise fast ausschließlich mit der Emissionsproblematik begründet.

      Tatsächlich aber hat sich von einer breiten Öffentlichkeit unbemerkt die langfristige Versorgungslage insbesondere beim Erdöl dramatisch zugespitzt. Wir vertreten hier die These, daß die Ressourcenfrage innerhalb weniger Jahre die Energiediskussion wieder dominieren oder zumindest gleichrangig beeinflussen wird.

      Wir wollen mit diesem Beitrag die Vorstellung erschüttern, daß in Sachen Ölversorgung alles „in Ordnung" sei. Es sind sehr wohl bereits in den nächsten zehn Jahren auch chaotische Umbrüche denkbar. Wir wissen sicher nicht, wie die Zukunft sein wird, aber es gibt gute Gründe, zu glauben, daß das am wenigsten wahrscheinliche Szenario dasjenige ist, das davon ausgeht, daß die nächsten 20 Jahre so sein werden wie die vergangenen 20 Jahre.

      Wir wollen zeigen, daß eine große Diskrepanz zwischen den grundlegenden Fakten und den tatsächlichen Handlungen der wichtigen Akteure auf der einen Seite und der öffentlichen Wahrnehmung auf der anderen Seite besteht. In der Presse finden sich isolierte Meldungen über „Fakten" wie neue Ölfunde, gestiegene Weltölreserven etc., die nicht in einen interpretierenden Zusammenhang gestellt werden. Wir wollen den Blick schärfen für das „Spiel", das unserer Meinung nach eigentlich gespielt wird, und für die dahinterstehenden Interessen. Erst dann werden die langfristigen Strukturen klarer sichtbar.

      Erdöl ist auch heute noch mit fast 40% Anteil der wichtigste Energieträger. Die jährlich veröffentlichten statischen Reichweiten (eine Kennzahl, die besagt, wieviele Jahre das verbleibende Öl bei heutigem Verbrauch noch reichen würde), aber auch niedrige Preise suggerieren eine problemlose Ölversorgung für die kommenden Jahrzehnte. Die kritische Analyse dieser Veröffentlichungen jedoch läßt auch eine ganz andere Betrachtungsweise zu, die auf eine baldige Änderung auf den Ölmärkten schließen läßt.

      Wenn man über die Rolle des Öls in unserer Energieversorgung spricht, so muß man auch über andere als nur die technischen und wirtschaftlichen Dimensionen sprechen: insbesondere auch über die Verteilungsgerechtigkeit (wer auf der Welt benutzt das Öl heute wofür?) und über die Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Diese Fragen betreffen natürlich nicht nur die endliche Ressource Öl, sondern genauso Gas, Uran und Kohle.

      Eine stärkere Berücksichtigung der Endlichkeit der Rohstoffe wird auch den Ruf nach einer grundsätzlichen Änderung unseres Umgangs mit Energie stärker werden lassen. Wir sind der Meinung, daß, gerade weil das beginnende Versiegen der Erdölquellen bald sichtbar werden wird, auch eine gewisse Hoffnung angebracht ist. Diese Erkenntnis wird einen heilsamen Einfluß auf unsere Vorstellungen und schließlich auf unseren Umgang mit Energie ausüben. In dem Maße, wie sich eine Änderung der Ölversorgungslage abzeichnet, wird sich das System ökonomisch in eine neue Richtung bewegen. Dann werden zum ersten Mal die Märkte auch die langfristigen Knappheiten ansatzweise widerspiegeln. Dann wird es aus wirtschaftlichen Gründen ebenso aussichtsreich sein, das neue Geschäft eines zukunftsfähigen Umgangs mit Energie zu erschließen, wie das verbleibende Erdöl zu fördern.

      2. Die Erdölreserven: Quellenlage und öffentliche Wahrnehmung

      Mit der Frage, wie groß die weltweiten Erdölvorräte insgesamt sind und wie lange das Öl noch reichen wird, hat man sich lange nicht ernsthaft beschäftigt. Zu Beginn der 50er Jahre gab es nur wenige Personen, die sich etwas näher mit dieser Frage befaßten. Erste fundierte Schätzungen stammen von dem amerikanischen Geologen M. King Hubbert [1]. Er hat auch als erster auf die Tatsache hingewiesen, daß die Ausbeutung jeder Ölquelle dem Verlauf einer Glockenkurve folgt: Die Förderung steigt über die Jahre an, erreicht ihr Maximum, wenn etwa die Hälfte des Öls gefördert ist, und sinkt danach kontinuierlich wieder ab. Die wesentliche Leistung von Hubbert bestand darin, daß er den Blick auf die Frage gelenkt hat, wann die Fördermenge in einem bestimmten Fördergebiet oder auch weltweit ihr Maximum erreicht - diese Frage ist mindestens genauso interessant wie die Frage nach der Reichweite des verbleibenden Öls. Er hat im Jahr 1956 auch vorausgesagt, daß die amerikanische Ölförderung Anfang der 70er Jahre ihr Maximum erreichen werde. Für diese Prognose wurde er damals viel verlacht, doch tatsächlich hat er genau recht behalten. Er hat damit wohl die überhaupt erste korrekte Langfristprognose bezüglich der Verfügbarkeit von Öl abgegeben. Die erst später entdeckten Vorkommen in Alaska konnten den Zeitpunkt der maximalen Förderung nicht hinausschieben, sondern nur den Rückgang der Förderung etwas bremsen. Hubbert sagte im Jahr 1974 voraus, daß die weltweite Ölförderung um das Jahr 1995 ihr Maximum erreichen werde, wobei er eine maximale Fördermenge von etwa 2000 Mrd. Barrel angenommen hat. Diese Erkenntnisse wurden jedoch kaum in der Öffentlichkeit diskutiert.

      Die Diskussion um die Begrenztheit der Ressourcen setzte in einer breiteren Öffentlichkeit erstmals im Jahre 1972 ein mit der Veröffentlichung des Berichts „Grenzen des Wachstums" durch den Club of Rome [2]. Dieser Bericht behandelte jedoch die Frage der Verfügbarkeit von Erdöl nur am Rande. Neben vielen anderen Rohstoffen wird in einigen Tabellen auch Erdöl dargestellt. In der Studie werden die noch verfügbaren Ölreserven auf 456 Mrd. Barrel beziffert und die statische Reichweite wurde mit 31 Jahren angegeben. Bei der damaligen Steigerung des Weltverbrauchs von fast 4% pro Jahr hätte sich dann eine tatsächliche Reichweite von 20 Jahren ergeben. Diese Zahlen waren sicher nicht richtig und stellen vielleicht einen Grund dar, warum in der Ökoszene dieses Thema nicht gerne aufgegriffen wird. Nachdem diese Prognosen als zu eng gegriffen erkannt wurden, gab man sich beruhigt wieder zufrieden. Der Wert des Berichtes und auch die Absicht der Autoren lag jedoch weniger in einer genauen Prognose künftiger Zeithorizonte als vielmehr im Aufzeigen systematischer Zusammenhänge. Erstmals wurden die euphorischen globalen Wachstumsphilosophien in Frage gestellt und den natürlichen Systemgrenzen untergeordnet.

      Im Jahr 1980 wurde von amerikanischen Experten eine Untersuchung mit dem Titel „Global 2000" vorgestellt, die vom amerikanischen Präsidenten Carter in Auftrag gegeben worden war [3]. Dieser Bericht stellt bis heute die einzige groß angelegte und fundierte, auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt gewordene Untersuchung zur Frage der Verfügbarkeit fossiler Energien dar. In diesem Bericht wurde bereits festgestellt, daß die Erfolgsquote beim Auffinden neuer Ölfelder zurückgeht und daß die Erdölproduktion vermutlich gegen Ende des Jahrhundertes ihren Höhepunkt erreichen werde. Die Studie kam zu dem Schluß, daß maximal 2.100 Mrd. Barrel an förderbarem Öl auf der Erde vorhanden seien, eine Angabe, die aus heutiger Sicht an der Obergrenze liegt. Die Fehleinschätzungen dieser Studie ebenso wie diejenigen der Prognose von Hubbert aus dem Jahr 1974 lagen mehr in der Überschätzung künftiger Verbrauchsraten - weder der Verbrauchsrückgang nach den Ölkrisen noch die Umstrukturierung ehemals zentralistisch planender Staaten sind berücksichtigt - als in einer gravierenden Fehleinschätzung vorhandener Reserven und Ressourcen.

      In den Jahren seit 1980 wird die öffentliche Wahrnehmung der Problematik eigentlich nur durch beruhigende Presseberichte, die auf Meldungen der Ölindustrie basieren, geprägt. Eine objektive Information ist selten gegeben. Erst die 1995 erschienene Studie „World Oil Supply 1920 - 2050" liefert eine fundierte unabhängige Analyse des Problems der Erdölreserven [4] [5]. Diese Arbeit basiert auf der größten unabhängigen Datenbasis - der der Firma Petroconsultants in Genf, sowie auf der jahrzehntelangen Erfahrung der Autoren in der Analyse von Erdölvorkommen und bezieht in die Auswertung die Daten von mehr als 10.000 Ölfeldern ein. In ihren Schlußfolgerungen zeigt sie, daß die frühen Abschätzungen von Hubbert, aber auch die Einschätzung des Berichtes „Global 2000" mit ihrer Prognose des Produktionsmaximums um das Jahr 2000 erstaunlich genau waren. Im Unterschied zu damals können diese Prognosen heute mit wesentlich besser abgesichertem statistischen Datenmaterial belegt werden.

      Drei Jahre sind seit der Veröffentlichung vergangen, dennoch hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung wenig geändert. Dies ist um so erstaunlicher, als die wesentlichen Informationen über die Reservelage und Explorationsentwicklung auch in den Veröffentlichungen der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe nachgelesen werden können. Im Gegensatz dazu häufen sich aus der Mineralölindustrie selbst beruhigende Meldungen über jährlich wachsende Reserven. Diese werden denn auch gerne von Öffentlichkeit und Politik kritiklos übernommen und geglaubt.

      3. Woher kommt dieses falsche Bild in der Öffentlichkeit?

      Dieses verzerrte Bild in der Öffentlichkeit ist auf einige Gründe zurückzuführen: ein wichtiger ist sicherlich, daß schon mehrmals in der Vergangenheit das Versiegen der Ölquellen vorhergesagt wurde und immer wieder die Prognosen sich als zu kurz gegriffen erwiesen. Hierbei wurde jedoch zumeist die statische Reichweite der bekannten Ölvorräte als Maßstab benutzt. Daß diese Kenngröße jedoch die Lage völlig unzureichend und oberflächlich charakterisiert, wird im weiteren noch diskutiert werden. Durch eher fallende oder konstante Ölpreise sah man sich bestätigt, daß hier kein Problem existiere. Letztlich wurde dieses Empfinden durch Presseinformationen über ständig neue und große Funde sowie über wachsende Reserven bestärkt. Auch aus der sonst kritischen Umweltszene in Deutschland und Europa sind keine Stimmen vernehmbar, die das in Frage stellen. In Amerika ist das durchaus anders.

      Ein niedriges Preissignal als Reserve-Information zu werten, zeigt eine viel zu kurzfristige Betrachtung der Dinge. Der Ölmarkt spiegelt eben gerade keine langfristigen Knappheiten wider, sondern kurzfristige Marktungleichheiten zwischen Angebot und Nachfrage. Daß heute dennoch kleine Angebotsschwankungen (z.B. ob irakisches Öl verfügbar wird oder nicht) zu starken, ja fast erratischen Preisausschlägen führen können, zeigt, wie nervös und angespannt dieser Markt bereits reagiert, dessen weltweite Förderraten in der Vergangenheit und auch heute noch der weltweiten Nachfrage vorauseilen. Erst dann, wenn die Förderraten beginnen, deutlich hinter die Nachfrage zurückzufallen, werden sich langfristige Knappheiten auch auf die Marktsituation übertragen. Es ist daher eine völlig falsche Sichtweise, aus momentan niedrigen Preisen auf eine mittel- und langfristig stabile Versorgungslage und große Reserven zu schließen.

      Liest man unkritisch Presseveröffentlichungen, so hat man den Eindruck, als ob jährlich mehr Öl gefunden würde als tatsächlich verbraucht wird. Setzt man jedoch die Größe der jeweiligen Neufunde in Beziehung zum Ölverbrauch, so wird sehr schnell deutlich, daß die Summe dieser Neufunde nur einen marginalen Beitrag liefern kann. Dazu nur ein Beispiel aus der Tagespresse : „Ölkonzern Elf entdeckt riesiges Ölfeld vor Angola"; die Süddeutsche Zeitung berichtete am 10. Dezember 1997 über den Fund eines neuen Feldes, dessen Größe mit 730 Millionen Barrel beziffert wird - gleichzeitig wird der Fund als einer der größten der vergangenen Jahre bezeichnet. Man müßte aber z.B. jährlich etwa 35 neue „Angola-Felder" finden, um auch nur den laufenden Ölverbrauch eines Jahres zu decken (das stand allerdings nicht in der Zeitung).

      Des weiteren muß auch die Reservelage der einzelnen Unternehmen von den weltweiten Reserven unterschieden werden. Gerade weil sich die Meldungen der Einzelunternehmen häufen, wonach sich ihre Reserven im letzten Jahr wieder um so und so viel erhöht hätten, kann man dies eher als einen Hinweis auf eine angespannte Reservesituation denn als deren Entspannung werten. Denn ansonsten wäre es fast belanglos, die Reservesituation der Einzelunternehmen überhaupt zu erwähnen. Die Vermischung dieser Begriffe und Situationen suggeriert in der Öffentlichkeit pressewirksam eine Entspannung der Problematik, wie sie in keiner Weise der Realität entspricht.

      Zudem sind Zweifel angebracht, ob denn die jährlich übermittelten und publizierten Reservestatistiken der Realität tatsächlich entsprechen. Hierbei muß man sich vor Augen halten, wie solche Statistiken zustandekommen. Es sind in keiner Weise originäre und im wissenschaftlichen Sinn erhobene und analysierte Angaben, sondern die einzelnen Staaten melden jedes Jahr ihre Reserven an das Oil and Gas Journal. Dieses veröffentlicht die Angaben unkommentiert und ungeprüft. Alle weiteren öffentlichen Statistiken, wie z.B. BP Statistical Review of World Energy, Shell, Esso etc. übernehmen diese Zahlen ebenfalls unkommentiert. Dabei entsteht der Eindruck, daß es sich jeweils um unabhängige Analysen handeln würde, was nicht der Fall ist. Ebenfalls basieren die Angaben der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe oder die Zahlenangaben des Bundeswirtschaftsministeriums auf diesen Veröffentlichungen. Außer der Firma Petroconsultants verfügt wohl niemand über ein eigenes originäres Wissen, das den Erfahrungsbereich des eigenen Landes oder einzelner Ölfirmen wesentlich überschreitet.

      Die Reserve-Meldungen der einzelnen Staaten sind mit großer Skepsis zu betrachten. Es ist erstaunlich, daß einige Länder über mehr als ein Jahrzehnt hinweg unveränderte Reserven melden, ohne daß diese durch Neufunde belegt wären. Das würde doch bedeuten, daß dort über viele Jahre jedes Jahr genauso viel Öl gefunden wie gefördert wurde. Ist es nicht eher wahrscheinlich, daß hier einfach alte Zahlen ohne Überprüfung fortgeschrieben werden?

      Eine weiterer Ansatz für Kritik ist die folgende Praxis vieler OPEC-Staaten: Es wurden über Jahre hinweg fast konstante Reserven gemeldet, dann aber wurden von einem Jahr auf das andere durch eine Neubewertung der Felder die Reserveangaben verdoppelt, ja teilweise sogar verdreifacht. Selbst wenn man diese Angaben für bare Münze nähme, so dürften sie nicht in der Weise mißverstanden werden, daß sich hier die Reserven im Jahr der Neubewertung vergrößert hätten, sondern dies müßte auf das Jahr der Entdeckung des Ölfeldes rückdatiert werden. Das aber würde wiederum bedeuten, daß das Jahr mit den größten Neufunden noch wesentlich früher gewesen wäre. Es sind aber auch Zweifel an der Berechtigung dieser Neubewertungen angebracht. So werden die Förderquoten der einzelnen OPEC-Staaten auf gemeinsamen Sitzungen jährlich festgelegt. Ein Kriterium bei der Festlegung des Förderanteils bildet die Höhe der Reserven bezogen auf die Einwohner des Landes. Mit anderen Worten: Derjenige, der für sich die größten Reserven benennen kann, darf auch entsprechend mehr fördern. Unter dieser Hypothese wird es verständlich, daß, nachdem der erste Staat sich dieser Praxis der Neubewertung bediente, andere OPEC-Staaten mit ähnlichen Neubewertungen nachzogen. Ein weiterer Grund mag aber auch darin liegen, daß sich die Vergabe internationaler Kredite an den Sicherheiten eines Landes orientiert. Hierzu zählen vor allem dessen Bodenschätze. Dies etwa gleicht dem Hausbesitzer, der der Bank gegenüber den Wert seiner Immobilie selbst festsetzen kann.

      Vermutlich gibt es einige Gründe, warum man in der Ökoszene das Problem einer drohenden Verknappung von Erdöl kaum thematisiert. Der einfachste Grund könnte sein, daß man, wie der Rest der Öffentlichkeit auch, viel zu wenig über die Problematik weiß. Weiterhin hat man aber nach der doch eher oberflächlichen Behandlung des Themas durch den Club of Rome und der anschließenden Überinterpretation Angst, sich auf ein glattes Parkett zu begeben. Auch wenn das Thema der Nachhaltigkeit des Wirtschaftens sehr wohl ernst genommen wird, kann man sich nicht wirklich vorstellen, daß es ausgerechnet beim Öl schon 5 vor 12 sein könnte. Außerdem gibt es andere Aspekte wie lokale Emissionen und das Klimaproblem, mit denen man glaubt, überzeugender argumentieren zu können, da sich deren Auswirkungen bereits manifestieren.

      Ganz generell hat die Öffentlichkeit Schwierigkeiten mit sehr lange laufenden Entwicklungen, die eine sehr geringe Änderungsrate pro Zeiteinheit aufweisen. Eine jährliche Ölförderung in einem Fördergebiet, die jedes Jahr um beispielsweise 3 Prozent abnimmt, ist kein Thema für öffentliche Aufmerksamkeit. Genau diese langsamen aber stetigen Bewegungen bestimmen jedoch die Strukturen. Viel lieber schaut man statt dessen auf heftige Preisbewegungen, obwohl sie über die zugrundeliegende Problematik gar nichts aussagen.

      4. Das System Öl

      Das Vorkommen von Öl auf der Welt ist unter den verschiedensten Aspekten über Jahrzehnte intensiv untersucht worden. Man versteht die Zusammenhänge inzwischen sehr gut. Große Überraschungen, die die grundsätzlichen Einschätzungen erschüttern könnten, sind mehr als unwahrscheinlich. Für unsere Zwecke geben wir einen kurzen Überblick über die wesentlichen Zusammenhänge und Eckdaten.

      Die Geologen können inzwischen sehr genau erklären, unter welchen Bedingungen und in welchen Regionen in der Erdgeschichte Erdöl entstanden ist. Die räumliche Konzentration verteilt sich hierbei im wesentlichen auf zwei Gürtel: der eine geht durch Nordamerika; der andere reicht quer durch Zentralasien und biegt im Mittleren Osten westwärts nach Afrika. In diesen beiden Regionen liegen mehr als 80 % der Ölvorkommen. So kennt man heute über 40.000 Ölfelder, jedoch in weniger als ein Prozent dieser Ölfelder sind drei Viertel aller Reserven vorhanden. Allein die beiden weltweit größten Felder mit mehr als 50 Mrd. Barrel Inhalt beinhalten bereits etwa 5 Prozent der weltweiten Ölvorräte.

      Aufschlußreich ist auch eine Betrachtung des zeitlichen Verlaufs der Entdeckung der Ölreserven. Alle wirklich großen Vorkommen hat man schon vor Jahrzehnten entdeckt: 80% des heute geförderten Öls stammt aus Quellen, die 30 Jahre oder länger bekannt sind. Das Maximum der neuen Ölfunde war in den 60er Jahren erreicht. Trotz intensivster Explorationsbemühungen nach den beiden Ölkrisen werden die neuen Funde immer geringer. Dies ist auch in keiner Weise erstaunlich, denn die geologischen Zusammenhänge, die zur Entstehung von Öl in der Erdgeschichte geführt haben, sind mittlerweile sehr gut verstanden. Man weiß also, wo man suchen muß und man weiß, wo es nichts zu finden gibt. Es ist auch einsichtig, daß die großen Vorkommen bereits mit einfachen Methoden früher gefunden wurden als die kleinen. Die Summenkurve aller bisher gefundenen Reserven nähert sich längst asymptotisch einem Grenzwert.

      Was ist also in aller Kürze der Stand des Wissens? Die unserer Meinung nach verläßlichsten Zahlen stammen von Petroconsultants, Stand 1996 [5]:

      bisherige Förderung 784 Mrd. Barrel

      bekannte Reserven 836 Mrd. Barrel

      was wahrscheinlich noch gefunden wird 180 Mrd. Barrel

      Insgesamt auf der Welt förderbare Ölmenge 1800 Mrd. Barrel

      Diese Zahlen zeigen, daß wir fast die Hälfte des Erdöls der Welt bereits gefördert haben. Um das Jahr 2000 wird der sogenannte „mid-depletion point" erreicht sein, also der Zeitpunkt, zu dem die Hälfte des insgesamt förderbaren Öls tatsächlich gefördert wurde. Irgendwann in den nächsten Jahren wird die jährliche Ölförderung, die 1996 bei ca. 23 Mrd. Barrel/Jahr lag, beginnen zurückzugehen.

      An dieser Stelle sollte man vielleicht ein paar Bemerkungen zu den Ölvorkommen in der Nordsee machen. Viele Leute meinen, daß man auf Grund des ersten Ölpreis-Schocks Anfang der 70er Jahre angefangen hat, nach Alternativen zu den Ölvorkommen der Nahost-Länder zu suchen. Prompt habe man in der Nordsee Öl gefunden und konnte den Druck reduzieren. Falls es an anderer Stelle wieder eng wird, wiederholt man dies und sucht sich die „nächste Nordsee", zum Beispiel in Kasachstan oder vor der Küste Angolas. Dabei wird jedoch übersehen, daß die Vorkommen in der Nordsee sehr wohl vor der Ölkrise schon entdeckt waren und daß es nur ein ökonomisches Problem war, diese schwieriger zu erschließenden Felder auch tatsächlich auszubeuten. Bei der nächsten Ölkrise gibt es keine „noch nicht angegangenen Vorkommen" mehr. Im wesentlichen ist bereits alles gefunden.

      Für einige Gebiete der Welt sind die Förderraten über einen weiten Verlauf bereits gut bekannt. Prominente Beispiele sind die USA, aber insbesondere auch Deutschland. In Deutschland war das Fördermaximum 1968 erreicht. Damals waren das 8,2 Mio. t im Jahr. Heute werden nur noch weniger als 3 Mio. t/Jahr gefördert, also weniger als 40% der Maximalförderung. Für die Nordsee wird erwartet, daß das Fördermaximum in den nächsten 2 bis 3 Jahren erreicht sein wird. Die heimischen europäischen Ölvorkommen gehen sichtbar und absehbar zu Ende. Innerhalb Europas kann die Eigenförderung nur knapp 40 % des Verbrauchs abdecken. In den USA war das erste Produktionsmaximum im Jahr 1971 und ein zweites, kleineres Maximum, aufgrund der neuen Funde in Alaska, 1985 erreicht. Die Importquote der USA hat sich in den letzten 10 Jahren von 30 % auf jetzt über 50% erhöht.

      An dieser Stelle ist es Zeit, auf das Konzept der statischen Reichweite („wieviele Jahr reicht das noch vorhandene Öl bei heutigem Verbrauch") einzugehen. Diese Kenngröße wurde schon vom Club of Rome benutzt. Sie ist wesentlicher Bestandteil aller Statistiken und findet in der Öffentlichkeit immer große Beachtung. Der Umgang mit dieser Kennzahl in der öffentlichen Debatte ist in gewisser Weise bemerkenswert. Verschiedene, sich auch durchaus widersprechende, Argumentationslinien stehen nebeneinander.

      Einmal wird gesagt, seit 40 Jahren betrage die statische Reichweite 30 oder 40 Jahre, also würden offensichtlich ständig genügend neue Vorkommen gefunden. Die Endlichkeit der Ressourcen sei also offensichtlich kein praktisches Problem. Die vergangenen Fehleinschätzungen bezüglich der statischen Reichweiten zeigten eben, daß die wirkliche Reichweite viel größer sei. Wäre sie das nicht, dann müßte man sich allerdings Sorgen machen.

      In jüngster Zeit hört man andererseits, über die Verfügbarkeit von Erdöl brauchten wir uns keine Sorgen zu machen, weil sie ja für die nächsten 40 Jahre gesichert sei. Einmal also sind 40 Jahre eine viel zu kurze Zeit, ein anderes mal eine beruhigend lange Zeit.

      Das Konzept an sich ist aus einer Reihe von Gründen eher irreführend. Zum einen, und das haben wir schon versucht auszuführen, verläuft die Förderung über die Zeit nicht auf einem konstanten Niveau, um dann plötzlich in dem Moment abzubrechen, wenn alles verbraucht ist, sondern der Verlauf folgt einer Glockenkurve. Zum zweiten wird im Konzept der statischen Reichweite ein konstanter Verbrauch unterstellt. Bezogen auf den Weltverbrauch von Öl haben wir es aber mit einem Wachstum zu tun. Insofern überschätzen die statischen Reichweiten die zeitliche Verfügbarkeit.

      Ein weiterer Aspekt ist der, daß nach dem Überschreiten des „mid-depletion point" eines Fördergebietes der Begriff der statischen Reichweite zunehmend irreführend wird. Dies läßt sich leicht am Beispiel der Ölförderung in Deutschland demonstrieren. Hatten wir doch auf dem Fördermaximum 1968 eine statische Reichweite von 11 Jahren. Heute, bei einem Förderniveau von nur noch 40% der Maximalförderung und wesentlich weniger verbliebenen Reserven, hat sich die statische Reichweite jedoch auf 18 Jahre erhöht [6].

      Gerne wird auch suggeriert, daß man das Problem der Endlichkeit durch technologische Maßnahmen hinausschieben könne. Das ist natürlich prinzipiell richtig, wird jedoch in seiner Wirkung deutlich überschätzt. So wird zum Beispiel die Ausbeutung vorhandener Ölfelder durch technische Maßnahmen ein bißchen vergrößert, dies aber mit erheblichem finanziellem und technischem Aufwand. Der Haupteffekt besteht darin, daß die vorhandenen Reserven noch schneller erschöpft werden. Auch hier wieder das Beispiel Deutschland: Der Einsatz aller modernen Fördertechnologien hat den Gesamtverlauf der Förderung kaum verändert. Ebenso kann man durch noch so große technische Anstrengungen nicht das Vorhandensein von Reserven ersetzen. Technologie und Reserven haben zunächst einmal nichts miteinander zu tun.

      Das Ausweiten der Explorationstätigkeiten in immer tiefere Meeresregionen und polare Gebiete ist Ausdruck einer „Go West"-Mentalität, wie sie insbesondere in Teilen der Ölindustrie noch verbreitet ist. Vielleicht ist es kein Zufall, daß gerade in Kalifornien die Protagonisten eines Umdenkens in der Energiepolitik sitzen, in Kalifornien - dem Endpunkt des historischen „Go West". Weltweit gibt es, geologisch gesehen, an der Ölfront keinen neuen „Westen" mehr zu entdecken. Aber an diesen Gedanken kann sich die Menschheit noch nicht gewöhnen.

      Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, daß verschiedene Institutionen verschiedene Begriffe verwenden für das, was Öl ist oder als Öl bezeichnet wird. Die Zahlen und Zusammenhänge, die wir bisher geschildert haben, beziehen sich auf den nur unscharf definierbaren Begriff „conventional oil". „Conventional oil" ist Öl, das in flüssiger Form über Bohrtürme gewonnen werden kann. Daneben gibt es Schweröle, die andere Förder- und anschließend andere Verarbeitungstechniken erfordern, und es gibt Öl, das in der Natur in Ölsanden oder in Ölschiefer gebunden ist. Diese Vorkommen werden auch als „non-conventional oil" bezeichnet und sind in der Tat sehr groß. Viele Betrachtungen bezüglich der künftigen Verfügbarkeit von Erdöl unterscheiden nicht sehr scharf zwischen „conventional" und „non-conventional oil". Dahinter steht die Vorstellung, daß es sich eigentlich nur um einen technologischen Unterschied bei der Förderung handelt und daß bei entsprechenden ökonomischen Randbedingungen und entsprechenden Preisen ein gleitender Übergang erfolgen kann von der Förderung und Versorgung mit „conventional oil" zu einer Gewinnung und Versorgung mit „non-conventional oil".

      Es ist wenig wahrscheinlich, daß dem so ist. Während beim konventionellen Öl das Feld nur „angestochen" wird und mit wenigen stationären Förderanlagen der gesamte förderbare Inhalt gewonnen werden kann, muß beim nicht konventionellen Öl der gesamte Teersand, Ölschiefer etc. bewegt, gewaschen, ausgepreßt werden. Das ist eher dem Abbau von Braunkohle im Tagebau vergleichbar als der konventionellen Ölförderung. Es liegt auf der Hand, daß sich hier sehr schnell eine Kollision mit Belangen des Natur- und Landschaftsschutzes ergeben wird. Hinzu kommen energetische Mehraufwendungen bei der Förderung, die die nutzbare Energieausbeute erheblich einschränken.

      Das Fazit: Die Ölstaaten außerhalb der OPEC werden bis auf unbedeutende Ausnahmen innerhalb weniger Jahre ihr Fördermaximum erreichen. Der Importanteil dieser Länder, dies sind im wesentlichen die heutigen Industrieländer, wird damit in dramatischer Weise von wenigen Lieferanten abhängen. Und selbst innerhalb der OPEC wird das Produktionsmaximum vermutlich im Verlauf des nächsten Jahrzehnts erreicht werden.

      5. Was sind die Alternativen zum Öl?

      Wenn die Ölförderung ihr Maximum überschreitet, entsteht eine zunehmende Lücke zwischen Energienachfrage und Energieversorgung, die nach Deckung ruft. Was sind die wahrscheinlichen Alternativen zum Öl?

      Zunächst scheint es naheliegend, einfach zum dann nächstgünstigsten Energieträger überzuwechseln. Genau das haben wir weltweit in den letzten Jahren ja mit der verstärkten Nutzung von Erdgas bereits gemacht. Jedoch kann ein solcher Übergang allenfalls eine kurze Verschnaufpause gewähren, er bringt uns einer langfristig tragfähigen Energieversorgung nicht näher. Sicher wird die zu beobachtende Entwicklung, Gas als relativ sauberen und leicht zu handhabenden Energieträger in möglichst viele Anwendungen zu bringen, sich noch einige Zeit fortsetzen. Doch es ist klar absehbar, daß, je mehr man versuchen wird, Erdöl durch Erdgas zu ersetzen, sich dies in sehr kurzer Zeit als nicht realisierbar herausstellen wird. Erdöl und Erdgas werden dann ungefähr gleichzeitig zur Neige gehen.

      Kann die Kernkraft eine Alternative sein? Neben allen anderen Problemen der Kernkraft haben wir auch hier eine begrenzte Verfügbarkeit der natürlichen Ressource Uran. Gängige Zahlen besagen, daß der heutige Kraftwerkspark auf der Welt mit den bekannten Uranvorkommen noch etwa 80 Jahre betrieben werden kann. Heute hat Kernkraft einen Anteil von weit unter 10 % am Primärenergieverbrauch der Welt. Wollte man diesen Anteil auf etwa 20 % steigern - was längst noch nicht reicht, um das ausfallende Erdöl zu ersetzen -, so würde sich die Reichweite des Rohstoffes Uran auf 20 Jahre verkürzen - keine sehr überzeugende Perspektive.

      Die Kernkraft bietet keinen gangbaren Ausweg aus dem Dilemma. Die Vorstellung, über die Nutzung der Kernkraft unseren bisherigen Lebensstil in den industrialisierten Ländern unverändert fortsetzen zu können, ist daher eine Illusion. Die verbleibenden 20 Jahre in unserem Beispiel reichen noch nicht einmal aus, die Wirtschaftlichkeit der dann neu zu bauenden Reaktoren sicherzustellen. Es funktioniert also weder von den Ressourcen her, noch ökologisch, noch ökonomisch. Wir meinen, daß die Visionäre der Kernkraft das Ressourcenproblem vor einigen Jahrzehnten genauso gesehen haben und die Brütertechnologie als eine Voraussetzung für eine bedeutende und langfristige Rolle der Kernkraft verstanden haben. An die schnellen Brüter aber glaubt heute niemand mehr. Schon damit ist das Urteil gesprochen, selbst wenn man davon absieht, daß es ja schon einiger Unverfrorenheit bedarf, für ein Schließen der Energielücke für wenige Jahrzehnte die Nachkommen über Jahrtausende mit den Folgen zu belasten.

      Liegt also die Zukunft der fossilen Energien bei der Kohle? Die Nutzung fossiler Energien durch den Menschen begann mit ihr. Trotzdem sind die Kohlevorräte immer noch größer als die aller anderen fossilen Energieträger und reichen bei heutigem Verbrauch in der Tat noch für 200 bis 300 Jahre. Da gerade die oberflächennahen Vorkommen relativ billig erschlossen werden können, ist hier sicherlich die zukünftige Förderung in den nächsten 50 Jahren eher von Umweltaspekten geprägt als von der Begrenztheit der Ressourcen. Jedoch zeigen alle Erfahrungen, daß bei zunehmendem Einsatz der Kohle die lokalen Emissionsprobleme enorm zunehmen.

      Ein historischer Überblick über die Nutzung fossiler Energien zeigt, daß die Kohle, die älteste in großem Stile genutzte Ressource, über mehrere Jahrhunderte den Aufbau und die Beschleunigung der Industrialisierung antreiben konnte. Erdöl begann dann für fast ein Jahrhundert, diesen Aufstieg zu unterstützen. Auf dem mittlerweile erreichten hohen Niveau des Energieumsatzes erscheint jedoch jeder neue endliche Energieträger in seiner Langfristperspektive zunehmend lächerlich. Erdgas wird gerade mal ein halbes Jahrhundert einen bedeutenden Anteil an der Weltenergieversorgung erreichen. Die Kernenergie wird niemals einen bedeutenden Anteil im zweistelligen Prozentbereich erreichen können. Je höher unser Energieverbrauch liegt, um so deutlicher sichtbar wird die Sackgasse der fossilen und nuklearen Energieträger.

      6. Es ist höchste Zeit, wieder grundsätzlich über unseren Umgang mit Energie nachzudenken

      Die bisherigen Ausführungen haben sich nur mit der Verfügbarkeit von Erdöl befaßt. Diese Sichtweise ist wichtig, muß aber um einige grundsätzliche Überlegungen erweitert werden. Welche moralischen Fragen wirft die Nutzung endlicher Energien auf? Und wie sieht ein nachhaltiger oder zukunftsfähiger Umgang mit Energie aus?

      Die Nutzung von endlichen Energieressourcen wie Erdöl, Erdgas, Kohle und Uran unterscheidet sich prinzipiell von der Nutzung erneuerbarer Energien, die sich aus dem ständigen Energiefluß der Sonne speisen. Die Nutzung nichterneuerbarer Energien ist allein schon deswegen nicht nachhaltig, weil sie eben nicht auf Dauer aufrechterhalten werden kann. Das klingt trivial und ist es auch, und eigentlich weiß es auch jeder - aber die sich aus dieser Tatsache ergebenden Schlußfolgerungen sind sehr grundsätzlich und sehr weitreichend und werden vielleicht gerade deswegen meist nicht gezogen.

      Verteilungsgerechtigkeit

      Beim Verbrauch einer endlichen Ressource stellt sich in besonderem Maße die Frage ihrer gerechten Nutzung: der gerechten Verteilung in Hinblick auf die gerade lebenden Menschen wie auch auf künftige Generationen.

      Wir wissen, daß es um die Verteilungsgerechtigkeit beim Öl ganz schlecht bestellt ist: Heute nutzen ungefähr 20 % der Menschen (die Bevölkerung der industrialisierten Länder) 80 % des geförderten Öls. Wir beruhigen uns gern mit dem Gedanken, daß dies zwar bedauerlich, aber im Augenblick unvermeidlich und überhaupt nur vorübergehend sei. Mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung der Entwicklungs- und Schwellenländer (die wir selbstverständlich für wünschenswert und machbar halten) lassen sich die Dinge dann in Zukunft immer mehr angleichen. Nur leider: So ist es mit Sicherheit genau nicht! Dummerweise ist fast die Hälfte des Erdöls schon verbraucht. Wenn wir also (erst einmal unabhängig von ökonomischen Verteilungsmechanismen) ab morgen eine gerechte, die Ungleichheiten der Vergangenheit korrigierende Verteilung vornehmen wollten, so könnte jeder der bisherigen Habenichtse höchstens mit einem Viertel dessen bedacht werden, was die Reichen sich in der Vergangenheit genehmigt haben - mehr ist einfach nicht da. Die Schieflage in Bezug auf die Verteilungsgerechtigkeit kann prinzipiell nie mehr ausgeglichen oder geheilt werden. Wo ist die moralische Rechtfertigung dafür?

      Letztlich heißt das, daß unser Modell für die Entwicklung der Entwicklungsländer eine Farce ist: Nie und nimmer kann es das Ziel sein, den Lebensstil der Industrieländer auf die gesamte Welt zu übertragen. Das ist, wie wir am Beispiel Öl gezeigt haben, schlicht nicht möglich und würde außerdem innerhalb weniger Jahre zum Kollaps führen. Die Meinung, die nichtindustrialisierten Länder brauchten nur endlich so „tüchtig" zu werden wie wir, und dann würde es schon gerecht zugehen, entbehrt jeder Grundlage. Erst wenn wir verinnerlicht haben, daß wir uns auf Basis des „Verzichtes" der Entwicklungsländer ein angenehmes Leben leisten, werden wir offen sein, hier ein Problem zu akzeptieren.

      Noch drastischer ist die Benachteiligung in Bezug auf künftige Generationen. So nutzen heute einige wenige Generationen die in Jahrmillionen angesammelten Bodenschätze. Mit welchem Recht beuten wir heute die nicht erneuerbaren Vorräte der Erde aus? Die Rechtfertigung kann sicher nicht über die Berufung auf den „Markt" erfolgen. Der Markt spiegelt keine langfristigen Knappheiten, allein schon deswegen nicht, weil künftige Generationen nicht ihre Preisgebote auf dem Markt für Öl abgeben können - vielleicht wären sie bereit, mehr zu bezahlen als wir... Sie werden, so wie die Dinge stehen, aus den fossilen Energien nur noch wenig Nutzen ziehen können, und müssen trotzdem die Folgen unserer Lebensweise tragen. Diese Problematik der Verteilungsgerechtigkeit wird heute am Beispiel des Erdöls konkret erlebbar, gilt aber in zeitlich nur geringfügig geändertem Rahmen ebenso für Erdgas, Kohle und nukleare Brennstoffe.

      Nachhaltiger oder zukunftsfähiger Umgang mit Energie

      In einer endlichen Welt kann nichts unendlich wachsen. Das gilt für den Rohstoffverbrauch ebenso wie für die Produktion materieller Güter. Ein langfristig verträglicher Umgang mit der Natur kann nur im Gleichgewicht von Verbrauch und Erzeugung stattfinden. Wir können unseren Energieverbrauch auf Dauer nicht durch Vorratsenergie, also durch Bodenschätze, decken, sondern nur über einen uns ständig zugeführten Energiefluß, also die Sonne.

      Was dies tatsächlich bedeutet, sei im folgenden Vergleich zweier erd- und menschheitsgeschichtlicher Entwicklungssprünge - eines natürlichen mit einem anthropogenen - skizziert:

      In der weiteren Vergangenheit vor etwa 2 Mrd. Jahren war die Entdeckung der Photosynthese durch Pflanzen die Voraussetzung für die weitere Entwicklungsgeschichte der Erde: Erst der Übergang von der Methanogenese - also der Energiegewinnung der Mikroorganismen durch den Umsatz von Wasserstoff und Kohlendioxid zu Methan und Wasser - zur wesentlich effizienteren Photosynthese - also der Energiegewinnung der Mikroorganismen durch Sonnenlicht - erlaubte in relativ kurzer Zeit die Entwicklung einer derartigen Artenvielfalt, wie wir sie bis vor kurzem noch erlebten. Daß wir heute von einer drastischen Dezimierung dieser Vielfalt innerhalb weniger Jahrzehnte sprechen müssen, sei hier nur angemerkt.

      Bei diesem Entwicklungssprung wurde die Kreislaufwirtschaft in die Natur „eingeführt": Ausgangs- und Endprodukte der Photosynthese werden immer wieder ineinander umgewandelt, wobei die treibende Kraft die Sonnenenergie ist. Dies bildete den Schlüssel für die Beschleunigung der Evolution. Die Autotrophen mit der Methanogenese hingegen verbrauchten das Reservoir an vorhandenem Wasserstoff. Damit war ihre Entwicklungsfähigkeit durch das Angebot an Wasserstoff, der fast ausschließlich durch vulkanische Aktivitäten nachgeliefert wurde, begrenzt.

      Anders hingegen in der jüngeren menschlichen Vergangenheit: Bis vor etwa 200 Jahren wurden fast alle menschlichen Energieumsätze durch die Sonne angetrieben:

      - Die direkte Sonnenstrahlung diente der Erzeugung von Niedertemperaturwärme, z.B. zum Wäschetrocknen oder dem Erwärmen von Wohnraum,

      - Biomasse diente zum Feuermachen und damit der Erzeugung von Prozeßwärme,

      - Wind- und Wasserkraft wurden zur Verrichtung von Arbeit eingesetzt, und

      - letztlich wurde wesentliche Arbeit durch Muskelkraft von Mensch und Tier verrichtet.

      Erst die durch die Nutzung von Kohle, Öl und Gas möglichen hohen Energieumsätze ermöglichten die Industrialisierung in dem bekannten Ausmaß - mit einer nie dagewesenen Änderungsgeschwindigkeit vieler Entwicklungen wie Bevölkerungswachstum, mechanisch angetriebene Verkehrsmittel, Verschwendung von Ressourcen, Beeinträchtigung der Umwelt.

      Die Nutzung des unbegrenzten Energieflusses der Sonne, der auf niedrigem Niveau mit einer geringen Energiedichte erfolgte, wurde gegen die Nutzung eines Vorratsenergieträgers eingetauscht. Damit aber stimmen die Voraussetzungen für ein langfristiges Wachstum nicht mehr. Es wird ein ungesundes Wachstum, das zwar kurzfristig höhere Energieumsätze erlaubt, dessen zeitliche Grenze aber absehbar wird. Wir leben sozusagen „über unsere Verhältnisse". Früher, als die Belastungsgrenzen des Ökosystems der Erde zumindest global unerreichbar erschienen, wurde die Frage nach der Lebensfähigkeit eines Systems nie gestellt. Es wurde a priori unterstellt, daß das kurzfristig erfolgreiche System auch das langfristig richtige ist. Es ist zwangsläufig, daß wir uns nach Ausbeutung dieser Ressourcen durch wenige Generationen wieder auf einen langfristig verträglichen Weg begeben müssen.

      Wie hätte wohl eine Entwicklung ausgesehen, die - aus welchen Gründen auch immer - auf dieses „Zwischenhoch der Energievorräte" verzichtet hätte und statt dessen kontinuierlich ihren Energiebedarf dem durch effizientere Techniken möglichen Energieangebot der Sonne angepaßt hätte. Zweifelsohne wäre diese Entwicklung wesentlich langsamer vor sich gegangen. Aber vermutlich wäre auch viel mehr Zeit gewesen, Irrwege und Sackgassen bereits auf lokaler Ebene zu erkennen und ohne globale Auswirkungen zu korrigieren. Unstrittig ist, daß das heutige Lebensniveau auch mit einer rein auf Sonnenenergie basierenden Energiewirtschaft erreicht werden kann.

      Tragfähigkeit (Wieviel Energieumsatz verträgt die Erde?)

      Das Ökosystem der Erde verträgt nicht jeden beliebig hohen vom Menschen verursachten Umsatz von Energie. Dieser wenig beachtete Umstand fordert eine weitere Begrenzung, die unter dem Begriff Suffizienz zusammengefaßt wird. Nachhaltige Wirtschaftsweise bedeutet auch, Energieumsätze zu begrenzen. Dies mag zunächst verwirren, da wir uns doch viel mehr darum sorgen, möglichst hohe Energiedichten zu erreichen. Doch mit grundsätzlichen Überlegungen läßt sich zeigen, daß eine Wirtschaftsweise, die jedem Menschen einen höheren Dauer-Energieumsatz als etwa 1-2 kW zubilligt, dauerhaft nicht verträglich ist. Und wer mit dem Begriff Suffizienz eine eingeschränkte, asketische oder freudlose Lebensweise verbindet, der mag sich vor Augen halten, daß eben dieser geforderte Energieumsatz dem Wohlstand der Schweiz zu Ende der 60er Jahre zugrunde lag, sofern man gegenüber damals um den Faktor zwei effizientere Technologien unterstellt. Ist dies eine unzumutbare Einschränkung, daß man derartigen Wohlstand der ganzen Welt zumutet?

      In unserem Zusammenhang möchten wir diesen Aspekt aber nur anreißen und auf die Ausführungen von anderen Autoren verweisen [7].

      7. Wie geht die Politik mit diesem Thema um

      Es ist erstaunlich, daß die Politik sich dieses für unsere Volkswirtschaften zentralen Themas nicht vorrangig annimmt. Unseres Erachtens fand der bisher einzige ernsthafte Versuch in dieser Richtung im Jahre 1980 mit der umfassenden Bestandsaufnahme des Berichtes „Global 2000" in den Vereinigten Staaten statt. In anderen Ländern hat man sich entweder diesen Erkenntnissen angeschlossen - oder mangels eigener Informationsquellen rückte das Interesse in den Hintergrund.

      In Deutschland gibt es eine Behörde, deren Aufgabe es ist, sich mit der Ressourcenproblematik zu befassen und die Entwicklungen für die Bundesregierung zu beobachten. Dies ist die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Ressourcen in Hannover, eine Behörde, die dem Bundeswirtschaftsministerium nachgeordnet ist. Ihr letzter breit angelegter und veröffentlichter Bericht stammt aus dem Jahr 1995 [8]. Daneben gibt es einige Zeitschriftenaufsätze aus jüngerer Zeit. In den Berichten wird zunehmend deutlich auf die anstehende Problematik hingewiesen - in einem dieser Aufsätze findet sich die Warnung „...there is certainly trouble ahead..." [6]. Um so erstaunlicher ist es, daß die Hinweise bei der Bundesregierung, aber auch in der Öffentlichkeit, keine Resonanz finden. Ausgerechnet die Einschätzungen derjenigen Stelle, die mit der größten Autorität und mit der größten Kompetenz ausgestattet ist, werden mißachtet. Dies erlaubt eigentlich nur den Schluß, daß die Politiker lieber ihren Vorurteilen oder den Einflüsterungen von Lobbyisten folgen.

      Deutschland ist ein Beispiel für ein Land, das praktisch vollständig auf Ölimporte angewiesen ist, und in dem die Möglichkeiten der unabhängigen Beschaffung von originären Informationen über die Ölvorräte der Welt sicher beschränkt sind. Wie aber schätzen die großen Förderländer die Lage ein, die doch mindestens ihre eigene Situation kennen? Dazu drei Beispiele: Texas, Norwegen und Naher Osten.

      Texas importiert seit wenigen Jahren mehr Erdöl, als es selbst produziert - nachdem dieses Land vorher jahrzehntelang die Welt beliefert hat. Dies ist ein Kulturschock für Texas, für einen Bundesstaat, dessen Öl im Zweiten Weltkrieg die Landung der Alliierten Truppen in der Normandie erst möglich gemacht hat. Es gibt deutliche Anzeichen, daß sich einige Leute in Texas inzwischen ernsthaft mit den Möglichkeiten erneuerbarer Energien auseinandersetzen: Nachdem das Öl nun merklich zu Ende geht, lautet das neue Motto „infinite power". In Texas wird die Gefährdung des „american way of life" zunehmend empfunden.

      Norwegen, das Öl-Dorado Europas, mag als zweites Beispiel dienen: Hier wird das Fördermaximum innerhalb der kommenden 2 bis 3 Jahre erwartet. Eine Erschließung neuer Ölfelder wird an dieser Situation nur wenig ändern können. Folgerichtig zeigen sich im Parlament erste Anzeichen einer Diskussion über die richtige Vorgehensweise. Große Ölfirmen möchten aus Eigeninteresse die Erschließung neuer Felder möglichst schnell vorantreiben, die Regierung möchte dagegen die Neuerschließungen verzögern. Erstmals wird dies mit einem notwendigen Strecken der Reserven begründet.

      Im Nahen Osten ist aus vielleicht naheliegenden Gründen die Debatte noch nicht so weit wie in Norwegen. Aber ganz offensichtlich handeln die OPEC-Staaten im Augenblick gegen ihr eigenes wirtschaftliches Interesse, wenn sie kurzfristig die Förderquoten erhöhen, wie jüngst geschehen. So führte diese Erhöhung zu einem Preissturz, der in Summe den OPEC-Staaten ein geringeres Einkommen bescherte als vorher. Es ist offensichtlich, daß im Gegensatz dazu eine Drosselung der Förderung zu einem starken Preisanstieg und damit in Summe zu Mehreinnahmen der Ölstaaten führen würde. Es kann nur eine Frage der Zeit sein, bis die OPEC-Staaten ihre zunehmende Machtposition in dieser Richtung nutzen werden. Es ist wohl nur politisch zu erklären, daß die OPEC, die inzwischen bezüglich des Beitrags zur Weltölversorgung eine größere Rolle spielt als vor den Weltölkrisen, so wenig aus ihrer Position macht. Eine naheliegende politische Erklärung besteht in der Abhängigkeit vieler Ölpotentaten von ausländischen Beschützern und damit von deren Interessenlagen. Vielleicht aber haben die Ölstaaten im nahen Osten auch nur ein anderes Gefühl für Zeit, denn es ist nur noch eine Frage weniger Jahre, bis sich ihre Marktmacht weiter steigern wird, und dieses Mal nicht nur vorübergehend sondern auf Dauer.

      8. Wie geht die Ölindustrie mit diesen Fragen um

      Über Jahrzehnte hat es die Branche geschafft, zu diesen Fragen mit einer Stimme zu sprechen. Im vergangenen Jahr wurden erstmals klare Meinungsverschiedenheiten einzelner Konzerne über die künftige Strategie für die Öffentlichkeit erkennbar. Wir werten dies als einen starken Hinweis, daß sich die Branche im Umbruch, in einer Phase der Neuorientierung befindet: Vorreiter und Protagonisten neuer Geschäftsfelder trennen sich von den „Status-quo"-Denkern und Besitzstandswahrern.

      Während Exxon als der Exponent des alten Kurses gelten muß, scheren Firmen wie ENRON, BP, Shell oder auch Elf Aquitaine aus dem Unisono-Chor aus.

      Keiner jedoch begründet dies mit einer angespannten Reservelage. Im Gegenteil, die nüchtern veröffentlichten Statistiken suggerieren eine unverändert beruhigende Lage. Während Exxon über seine deutsche Tochterfirma Esso die Öffentlichkeit mit Desinformation versorgt („Auch unsere Urenkel werden noch Auto fahren", „Die weltweiten Ölreserven sind heute so hoch wie nie zuvor"), halten sich Shell und BP dagegen mit weitergehenden Interpretationen bemerkenswert zurück.

      Das neue Denken wird auf anderem Feld sichtbar: In der politischen Diskussion um Maßnahmen zur Bekämpfung des Treibhauseffektes gehört ENRON in die vorderste Front der Protagonisten einer Kohlendioxidsteuer. Die Firma war wesentlich an der Gründung einer politischen Lobby („European Business Council for a Sustainable Energy Future") zur Unterstützung eines strengen Klimaprotokolls beteiligt. Darüber hinaus baut ENRON ein weltweit agierendes Netz miteinander verflochtener Firmen zur Vermarktung von erneuerbaren Energieträgern auf. Gemeinsam mit AMOCO wurde die Tochterfirma ENRON Renewables gegründet, diese wiederum eignete sich die Photovoltaik-Produktionsfirma SOLAREX an, und übernahm bereits vor einigen Jahren den größten amerikanischen Windenergieproduzenten Zond. In Deutschland wurde erst vor kurzem der Windanlagenproduzent Tacke übernommen und zur Drehscheibe europäischer Aktivitäten ausgebaut.

      BP überraschte die Öffentlichkeit im Sommer 1997 mit einer denkwürdigen Rede des Vorstandsvorsitzenden John Browne. Im Vorfeld der Klimaverhandlungen von Kioto wurde erstmals von einem Mineralölkonzern erklärt, daß die Sorge um den Treibhauseffekt sehr ernst genommen werden müsse und BP diese Sorge teile. Auch wenn man noch keine Beweise für die Zusammenhänge habe, so gebiete das Vorsorgeprinzip, aktiv zu werden und zu handeln. Kurz vorher war der Mineralölkonzern aus der Global Climate Coalition - einer Lobby der amerikanischen Öl- und Automobilindustrie zur Verhinderung politischer Maßnahmen für den Schutz des Klimas - ausgetreten, da er seine Interessen nicht mehr adäquat vertreten sah. Diese beiden Aktionen erregten bei Beobachtern großes Aufsehen. Erstmals wurde hier ein Dissens öffentlich ausgetragen.

      BP verdient noch kräftig am Ölgeschäft, gleichzeitig werden neue Geschäftsfelder jenseits des Öls erschlossen. BP gehört inzwischen zu den weltgrößten Produzenten von Solarzellen, und dies gepaart mit einer offensiven Vermarktungsstrategie. Anfang 1998 wurde in Kalifornien die weltweit erste größere Produktionsanlage von Dünnschichtsolarzellen eröffnet, die die bisherigen Herstellungskosten auf ein Drittel senken soll.

      Durch die Brent-Spar-Affäre schwer in die umweltpolitische Defensive gedrängt, schlägt auch Shell neue Töne an. Doch schon 1994 war Shell aufgefallen als der Konzern ein - zwar noch vorsichtig formuliertes - Energieszenario bis in die Mitte des nächsten Jahrhunderts vorgelegt hat. Im Jahr 2050 wurde hier die Deckung unseres Energiebedarfs zur Hälfte durch Sonnenenergie für möglich gehalten. Ein Szenario, das bis dato nur von Umweltgruppierungen in Erwägung gezogen worden war.

      Im Gefolge der „neuen" Politik von BP erklärte plötzlich auch Shell, daß das Treibhausthema ernst zu nehmen sei. Die Wortwahl in der Rechtfertigung einer Sorge gleicht erstaunlich derjenigen von BP. Kurz vor der Klimakonferenz in Kioto kam dann eine weitere Offensive: Shell verkündete die Gründung eines fünften, gleichberechtigten Geschäftsbereiches, der ausschließlich die Produktion und Vermarktung von erneuerbaren Energietechniken verfolgen soll. Erklärtes Ziel ist es, bis zum Jahr 2010 einen Marktanteil von 10 % am Photovoltaik-Weltmarkt zu erreichen. Der gesamte Geschäftsbereich wird mit großem Kapitaleinsatz ausgebaut. Daneben besitzt Shell die weltweit größten Waldreserven und engagiert sich in der Nutzung von Biomasse zu energetischen und chemischen Zwecken. Anfang diesen Jahres wurde gar vom Vorstand eine Umweltsteuer auf Mineralöl für akzeptabel erklärt.

      Die hier skizzierten „Ausreisser" aus der alten Einheitsfront der Mineralölindustrie bilden bisher noch die Ausnahme. Die meisten Mineralölkonzerne halten weiterhin an der alten Politik fest.

      Auch für Außenstehende wird das doch drastische und auf den ersten Blick unglaubwürdige Umschwenken der großen Konzerne BP, Shell und ENRON plausibel, wenn man es vor dem skizzierten Hintergrund eines mittel- und langfristig zurückgehenden Ölmarktes betrachtet. Nicht daß der Markt in den nächsten Jahren zusammenbrechen wird - aber die Randbedingungen werden sich derart verändern, daß das neue Geschäft mit regenerativen Energietechniken einfach kommen wird. Es wird zunehmend lukrativer werden, in den Aufbau erneuerbarer Energietechniken zu investieren als in die Erschließung neuer, immer kleiner und unzugänglich werdender Ölfelder. Hier möchten einige Firmen an vorderster Front dabei sein.

      9. Ausblick

      Die nächsten Jahre bis zum Erreichen des weltweiten Fördermaximums wird es wahrscheinlich noch eine Serie von heftigen Preisausschlägen nach oben und nach unten geben. Erst nach dem Überschreiten des Fördermaximums wird die Instabilität der Ölpreise wohl beendet sein. Der Markt spiegelt dann die langfristigen Knappheiten wider. Das Ölpreis-Niveau wird deutlich höher sein als heute. Damit entsteht für Verbraucher und Investoren ein langfristiges Signal, und man wird versuchen, Öl systematisch durch andere Energieträger zu ersetzen. Wie schnell diese Anpassungsprozesse sein werden, und welchen Effekt sie auf das Preisniveau haben werden, ist im Detail nicht vorherzusagen. Wir glauben, daß die Einsparpotentiale sehr viel größer sind als man gemeinhin annimmt. Man denke nur an das Beispiel Auto. Es ist kaum mehr als eine Frage der Gewohnheit und der gesellschaftlichen Wertschätzung, ob man etwa große Autos durch kleine ersetzt. Der eigentliche Gebrauchsnutzen ist wenig beeinflußt.

      Langfristig wird Öl als Energieträger immer weniger wichtig werden. Die Reichweite von Öl wird keine praktisch relevante Bedeutung mehr besitzen. Vermutlich wird man irgendwann aufhören, Öl in größerem Umfang zu fördern, so wie man auch in Deutschland dabei ist, mit der Kohleförderung aufzuhören, obwohl noch reichlich Kohle in der Erde liegt.

      Es ist ganz wichtig, daß die Endlichkeit des Öls als ein aktuelles Problem wahrgenommen wird und nicht als eines, das man erst in einigen Jahrzehnten ernsthaft angehen muß. Erst dann kommt in die Köpfe, daß wir mit einem grundlegenden Umbau unserer Energieversorgung jetzt beginnen müssen, schnell beginnnen müssen, und daß es dazu keine Alternativen gibt.

      Für uns erklären die geschilderten Zusammenhänge auch hinreichend, warum z.B. eine so große und mächtige Firma wie Shell eben nicht in Kernenergie, sondern zunehmend gleich in erneuerbare Energien investiert. Wir können gerade beobachten, wie einige der großen Öl- und Gaskonzerne dabei sind, die Weichen für eine regenerative Energiezukunft zu stellen. Man kann diesen Firmen nicht vorwerfen, daß sie die Öffentlichkeit nicht mit der Nase darauf stoßen, daß bald ein neues Spiel gespielt werden wird. Natürlich möchte man parallel dazu die zeitliche Lücke - bis die Erneuerbaren einen Großteil der Energieversorgung übernehmen können, das Ende der Verfügbarkeit von Erdöl aber bereits deutlich wird - durch einen kräftigen Beitrag des Erdgases nutzen. Die entsprechenden Investitionen sind schnell abgeschrieben, daher lohnt aus der Sicht der Firmen auch ein Engagement für relativ kurze Zeitspannen.

      Die große gesellschaftliche Aufgabe, die gangbaren Alternativen zu finden und zu entwickeln, bedarf der Anstrengung aller. Wir brauchen möglichst viele Optionen im Bereich der Nutzung erneuerbarer Energieträger. Da wir ja wissen, daß dieser Weg unausweichlich ist, andererseits die Marktsignale uns noch einige Jahre in der Illusion wiegen, daß es nicht so sei, ist es eine Aufgabe der Politik, durch eine Besteuerung der fossilen Energien den Strukturwandel zu beschleunigen und weitere Investitionen in die Sackgassen zu verhindern. Doch auch den großen Umweltbewegungen kommt hier die wichtige Aufgabe zu, den Boden für die notwendige Politik zu bereiten.

      Literatur

      [1] Hubbert, M. King: Nuclear energy and the fossil fuels. Am. Petrol.Inst., Drilling and Production Practice, 1956

      [2] Meadows Dennis L.: The Limits of Growth, New York 1972

      [3] Council on Environmental Quality [Hrsg.]: The Global 2000 Report to the President, Washington 1980
      Deutsche Ausgabe: Global 2000, Frankfurt/Main 1980

      [4] Petroconsultants [Hrsg.], Campbell, C.J. und Laherrere J.H.: The World’s Oil Supply 1930-2050, Geneva 1995

      [5] Petroconsultants [Hrsg.], Campbell C.J.: The Coming Oil Crisis, Brentwood (1997)

      [6] Hiller, K.: Future World Oil Supplies - Possibilities and Constraints, in:
      Erdöl Erdgas Kohle, 113. Jahrgang, Heft 9, September 1997

      [7] Dürr, H.-P.: Die 1,5-Kilowatt-Gesellschaft, Global Challenges Network e.V.,
      München Oktober 1994

      [8] Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR): Reserven, Ressourcen und Verfügbarkeit von Energierohstoffen 1995, Stuttgart 1995

      http://www.energiekrise.de/
      Avatar
      schrieb am 22.04.03 16:49:08
      Beitrag Nr. 74 ()
      15.04.2003


      B A N K E N

      Exodus nach Indien

      Die Verlagerung von Abteilungen nach Indien, China oder Südafrika spart Kosten: Durch die Abwanderung in Billiglohnländer können die Banken weltweit 360 Milliarden sparen, sagt eine Studie.

      Frankfurt - Outsourcing ist für die Bankenbranche schon seit geraumer Zeit ein gern genutztes Mittel, um die Kosten in den Griff zu bekommen.


      Auf einem verwandten Sektor liegt ebenfalls noch erhebliches Sparpotenzial brach, wie eine Studie der internationalen Unternehmensberatung Deloitte zeigt: Die Verlagerung von Arbeitsplätzen an lohn- und steuergünstige Standorte.

      Rund zwei Millionen Arbeitsplätze werden aus den Heimatrevieren der weltweit hundert größten Finanzdienstleister in Billiglohnländer abwandern. Im Laufe von fünf Jahren werden die Banken dadurch einen Kostenblock von 360 Milliarden Dollar einsparen, so das Ergebnis der Deloitte-Untersuchung. Eine Summe, die ein Sechstel der derzeitigen Gesamtkosten der Banken ausmacht.

      "Die Entwicklung gewinnt vor dem Hintergrund der Probleme der Finanzdienstleister beachtlich an Momentum", sagte Christopher Gentle, Direktor bei Deloitte, gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ).

      Software-Abteilungen werden am häufigsten ausgelagert

      "Indien wird wohl am meisten von dieser Entwicklung profitieren, weil dort viele hoch qualifizierte Arbeitskräfte, vor allem in der Technologie, verfügbar sind", so Gentle weiter. Zugleich seien die Kosten dort niedriger als in den entwickelten Volkswirtschaften in Europa oder Amerika.

      Laut Studie wurden bisher größtenteils Einheiten der Banken für die Entwicklung von Software in andere Länder verlegt. In Zukunft sollen aber auch verstärkt Funktionen wie Buchhaltung, Call-Center oder die Abwicklung von Bankgeschäften (Back Office) andernorts erfolgen.

      Ein Drittel der Finanzdienstleister, die an der Studie teilgenommen haben, hat bereits in erheblichem Umfang Geschäftseinheiten zum Beispiel von Amerika oder Europa nach Indien ausgelagert. Deloitte erwartet, dass dieser Anteil in den nächsten beiden Jahren auf rund drei Viertel hochschnellen wird. Vor allem der Betrieb von Abwicklungsabteilungen sei geeignet für den anziehenden Verlagerungstrend.

      Trendsetter HSBC, Citigroup und GE Capital

      Auch Länder wie China, Malaysia, Südafrika oder Australien gelten in der Finanzdienstleistungsbranche als attraktive Standorte. Die effektiven Einsparungen aus der Verlagerung von Kosten in Höhe von rund 360 Milliarden Dollar beziffert Deloitte auf knapp 140 Milliarden Dollar. Die Differenz resultiert aus den an den neuen Standorten entstehenden laufenden Betriebskosten.

      Gekonnt agiert haben laut Studie bereits HSBC, Citigroup und GE Capital. HSBC verlegte eines der regionalen Hauptquartiere bereits vor drei Jahren von Hongkong nach Shanghai. Ein Technologiezentrum für die Abwicklung von Bankgeschäften (Back Office) hat HSBC im chinesischen Shenzhen angesiedelt, 2000 Beschäftigte für die Bank arbeiten bereits in Kontakt- und Back-Office-Zentren in Indien.

      GE Capital hat in den zurückliegenden fünf Jahren bereits 11.000 Arbeitsplätze nach Indien vergeben. Der frühere GE-Chef Jack Welch hatte dafür die einfache Formel 70/70/70. Ihr zufolge sollten 70 Prozent der Geschäftsabläufe ausgelagert werden, davon 70 Prozent ins Ausland und davon wiederum 70 Prozent nach Indien.

      http://www.manager-magazin.de/unternehmen/artikel/0,2828,244…
      Avatar
      schrieb am 22.04.03 16:50:37
      Beitrag Nr. 75 ()
      manager-magazin.de, 22.04.2003, 14:31 Uhr

      B A N K E N

      "Marktsegment" statt "Bad Bank"

      Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) übernimmt die Unternehmenskredite der Großbanken und bringt sie anschließend als Asset Backed Securities an den Kapitalmarkt.

      Frankfurt – Wie die bundeseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) am Dienstag mitteilte, sollen die Großbanken künftig von ihren riesigen Kreditengagements entlastet werden. Dazu will die KfW zusammen mit der Deutschen Bank , der Dresdner Bank, der Commerzbank , der HypoVereinsbank und der genossenschaftlichen DZ Bank ein Gemeinschaftsunternehmen gründen. Details will die KfW am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Frankfurt bekannt geben.


      Im Kern geht es darum, Firmenkredite aus den Bankbilanzen herauszunehmen, in dem sie zunächst von der KfW aufgekauft werden. Die Förderbank des Bundes bündelt diese Forderungen und verkauft sie anschließend in Form von Wertpapieren (so genannte Asset Backed Securities, ABS) an institutionelle Anleger. "Die Banken setzen sich gemeinsam für die Einführung eines völlig neuen Marktsegments in Deutschland ein, das wegweisend für die zukünftige Bedeutung des Finanzplatzes im internationalen Wettbewerb sein wird", heißt es in der Einladung zur morgigen Pressekonferenz.

      Bei den geplanten Verbriefungen soll es sich nach Informationen der Nachrichtenagentur Reuters um so genannte "True-Sale-Transaktionen" handeln, bei denen die verbrieften Kredite tatsächlich aus der Bilanz der Bank gehen. Hintergrund seien geplante steuerliche Erleichterungen - vor allem die Gewerbesteuerbefreiungen für die Zweckgesellschaften der ABS-Transaktionen, durch die True-Sale-Transaktionen in Deutschland erst attraktiv würden.

      Keine Bank für faule Kredite

      Der Vorteil einer Auslagerung der Kredite aus den Bilanzen liegt für die Banken unter anderem auch darin, eine bessere Eigenkapitalquote zu erzielen. Die Rückführung der Kreditengagements ist bei dieser Konstruktion allerdings nicht mit einer Kündigung oder Kürzung der Kreditlinien für Firmenkunden verbunden. Bislang hat die KfW ähnliche Programme bereits für Mittelstandskredite sowie private Wohnungsbaudarlehen aufgelegt.

      Mit einer so genannten "Bad Bank" habe die jetzt getroffene Vereinbarung aber nichts zu tun, hieß es in Frankfurter Bankenkreisen. In die neue Gesellschaft dürften nur erstklassige und keine faulen Kredite eingebracht werden.

      Die betroffenen Institute gaben keinen Kommentar ab und verwiesen auf die Pressekonferenz. Auch das Bundesfinanzministerium äußerte sich nicht. Zuvor hatte die "Wirtschaftswoche" vorab über eine anstehende Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Banken berichtet.

      http://www.manager-magazin.de/unternehmen/artikel/0,2828,245…
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      schrieb am 22.04.03 17:06:14
      Beitrag Nr. 76 ()
      T E C H N I K



      Rückkehr des Realen

      Nach dem Personal Computer kommt nun der Personal Fabricator. Auf Knopfdruck rutscht die virtuelle Welt dreidimensional aus dem Drucker

      Von Christoph Drösser



      Erste Regel: "Vergewissert euch, wie man die Maschine ausschaltet!" Neil Gershenfeld hat ein ernstes Gesicht aufgesetzt. Seine zwölf Studenten sollen in den nächsten Tagen an einer elektronisch gesteuerten Drehbank und an einer Fräse arbeiten. Und das ist für Unerfahrene nicht ungefährlich. "Tragt immer eine Sicherheitsbrille! Und Finger weg von den hübschen abgedrehten Metalllocken, die wickeln sich wie Rasierklingen um eure Finger!"

      Die Sicherheitseinweisung mag in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen alltäglich sein, aber wir befinden uns am berühmten Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) im amerikanischen Cambridge. Die sechs jungen Frauen und sechs jungen Männer, die einen der begehrten Plätze im Seminar "How To Make Almost Anything" (zu Deutsch: "Wie man fast alles herstellen kann") ergattert haben, studieren Informatik, Medienwissenschaft oder Architektur. Nachdem sie in den vergangenen Tagen das Programmieren von Microcontrollern gelernt haben, steht jetzt die Bedienung von Werkzeugmaschinen auf dem Programm. "Jede Woche erschließt sich euch eine ganz neue Welt", verspricht Dozent Neil Gershenfeld seinen Studenten.

      In den nächsten Monaten werden sich die zwölf mit dem Schneiden per Laser oder Wasserstrahl beschäftigen und dreidimensionale Strukturen per "Drucker" erzeugen. Am Ende des Semesters sollen die Studenten in einem Abschlussprojekt möglichst viele dieser Techniken zum Einsatz bringen. Die 24jährige Medienstudentin Nadya Direkova will eine zweisprachige Puppe für Immigrantenkinder bauen, der Architekturstudent Brian Miller, 25, eine elektronisch gesteuerte mechanische Spieluhr, die automatisch aus Klangdateien die entsprechende Anordnung der Nägel auf der Walze berechnet. Beispiele von Projekten der vergangenen Jahre: der scream belly, ein schallisolierter Sack, in den frustrierte Zeitgenossen in unpassenden Situationen ihren Frust hineinbrüllen können, um ihn später wieder abzuspielen. Oder der technology detector, der die Anwesenheit von technischen Geräten im Umkreis von einigen Metern anzeigt.

      Bei den Projekten geht es nicht um praktische Anwendbarkeit, sondern um den spielerischen Umgang mit möglichst unterschiedlichen Produktionstechniken. Über hundert Studenten haben sich auf die zwölf Plätze beworben - für den Physiker Neil Gershenfeld ein Zeichen dafür, dass er hier einen neuen Trend gefunden hat: weg von den digitalen Illusionen, hin zu praktischen Dingen, die man anfassen kann. Und das am Media Lab, dem Ort, von dem so viele digitale Visionen ausgegangen sind. Hier predigt seit 20 Jahren der charismatische und egostarke Chef Nicholas Negroponte die Welt der Bits, die Umwandlung vieler Dinge des täglichen Lebens in virtuelle Produkte aus Nullen und Einsen.

      Vieles davon ist längst alltäglich geworden: Wir fotografieren digital, speichern unsere Musik im PC und schicken E-Mails anstelle von Briefen. Just im Kultzentrum des Virtuellen also wird wieder gebohrt, gefräst und gedruckt. Gegenwärtig spaltet sich der Physiker Gershenfeld vom Media Lab ab und baut mit öffentlichen und privaten Mitteln sein eigenes Forschungszentrum: das Center for Bits and Atoms (CBA). Noch sind Gershenfelds Leute im Keller des Media Lab untergebracht, aber die Pläne für ein neues Gebäude direkt nebenan sind bereits fertig.

      Neil Gershenfeld geht es natürlich nicht darum, die Entwicklung der Computer zurückzudrehen. "Wir wollen die Formbarkeit der digitalen Welt in die physikalische Welt bringen." In den letzten Jahren habe man sich zu sehr auf die Software konzentriert und die reale Materie vernachlässigt. "Aber viele der aufregendsten Möglichkeiten und Probleme liegen an der Schnittstelle, wo die Information auf ihre physikalische Repräsentation trifft." Also dort, wo sich Bits und Atome begegnen. Je weiter die Miniaturisierung der Rechner voranschreitet, umso mehr beeinflusst die Physik die Informatik - etwa bei den revolutionären Quantencomputern, bei denen mit den Zuständen einzelner Atome gerechnet wird (ZEIT Nr. 44/02).

      Es geht Gershenfeld aber auch um die Erkenntnis, dass das Leben des Menschen sich letztlich vor der Mattscheibe abspielt und nicht dahinter. "Die digitale Revolution ist gelaufen", sagt er. "Was als Nächstes kommt, ist nicht eine revolutionäre neue Software, sondern etwas, das sich außerhalb der Kiste abspielt."

      Für den MIT-Physiker ist schon klar, was die nächste Revolution sein wird: So wie vor 20 Jahren der Personal Computer neben die traditionellen Mainframe-Großrechner trat und damit die Welt veränderte, so soll der Personal Fabricator die Art und Weise umwälzen, wie wir Dinge herstellen. Ein PF also, analog zum PC.

      Was die MIT-Studenten heute an professionellen Werkzeugmaschinen üben, die mehrere hunderttausend Euro kosten, das soll in Zukunft mit einem kleinen Gerät möglich sein, das sich jeder leisten kann. So wie ein PC heute fast alles rechnen kann, so soll der PF fast alles herstellen können. "Man kann damit keine Raumschiffe bauen. Aber ein ziemlich großer Teil der Technik kann schon heute mit Geräten approximiert werden, die zusammen 10 000 Dollar kosten." In der Masse produziert, sollen die PFs dann nur noch ein paar hundert Dollar kosten.

      Die Zielgruppe, an die sich diese neue Idee wendet, sind nicht die High-Tech-Freaks mit ihren Laptops und PDAs. Gershenfeld redet von Kindern, alten Leuten und Menschen in der Dritten Welt. "Die brauchen keine teuren PCs, um durchs Netz zu surfen. Sie brauchen eine ihren Bedürfnissen angemessene Technik." Um die Idee in der Praxis zu testen, schickte das CBA in Zusammenarbeit mit dem indischen Ableger des Media Lab das so genannte Fablab in das Dorf Pabal - ein Labor, bestehend aus einem PC, einer kleinen Fräsmaschine, einem Gerät zum Drucken elektrischer Schaltkreise und einem kleinen Chemielabor. Das Ziel: Solche Mini-Labors sollen die ländliche Bevölkerung in die Lage versetzen, Ersatzteile für ihre Maschinen, aber auch ganz neue Dinge selbst herzustellen und damit unabhängiger zu werden. In Pabal entwarfen die Dorfbewohner eine neue, energiesparende Schaltung für den Dieselmotor, der sie mit Strom versorgt, und fertigten den entsprechenden Microcontroller selbst.

      Auch im Norden Norwegens gibt es ein CBA-Projekt. Dort wollten einheimische Hirten wissen, wo sich ihre Rentiere gerade befinden. Die Lösung ist ein Rentier-Datennetzwerk, das aus Sendern besteht, die den Tieren eingepflanzt werden. Das System funktioniert ohne fest stehende Sendemasten.

      Gemäß der Devise des Media Lab ist auch das Center for Bits and Atoms eine Fakultät ohne festes Curriculum. Man arbeitet in Projekten, und die nötigen Kenntnisse eignet man sich nach Bedarf an. "Just-in-time-Bildung" nennt Neil Gershenfeld das, im Gegensatz zur "Just-in-case-Bildung", bei der man Sachen lernt, die man vielleicht irgendwann einmal brauchen kann. Bei aller übergreifenden "Philosophie" ist das Center in erster Linie eine Ansammlung ziemlich kluger und kreativer junger Forscher und Studenten, die Spaß am Experimentieren und Erfinden haben. Joe Jacobsen etwa. Der 37-Jährige, mittlerweile Professor am MIT, erfand vor fünf Jahren das "digitale Papier": ein neuartiges Display, dessen schwarze und weiße Bildpunkte auch dann lesbar bleiben, wenn die Stromversorgung abgestellt wird. Daraus entstand eine Firma, E-Ink, die über 50 Millionen Dollar Startkapital einwarb - und immer noch kein marktreifes Produkt vorzuweisen hat.

      Jacobsons neueste Idee: der gedruckte PC. Bisher werden die Chips, die das Herzstück moderner Computer sind, in einem aufwändigen und teuren Verfahren in riesigen Fabriken hergestellt. Eine neue Chipfabrik kostet mehrere Milliarden Euro, und die Produktion eines Pentium-III-Chips mit ihren vielen Einzelschritten zieht sich über zwei Wochen hin.

      Jacobsons Team schaffte es, winzige, nanometergroße Halbleiterpartikel zu entwickeln, die man in die Tintenpatrone eines Laserdruckers füllen kann. So lassen sich elektronische Schaltungen drucken, auch in mehreren Lagen übereinander. Die Auflösung bei diesem Druckverfahren ist gegenwärtig noch nicht fein genug, um tatsächlich einen Pentium-Chip zu drucken. Dieses Ziel will Jacobson mit einem Druckverfahren erreichen, bei dem die Struktur in ein Stück Silikon geätzt wird (das Material, aus dem Brustimplantate bestehen), von dem dann beliebig viele Abzüge gedruckt werden können.

      Chips aus dem Drucker

      Solche gedruckten Schaltungen würden nur noch Cents kosten und könnten viel individueller angepasst werden als herkömmliche Chips, die man nur in großen Stückzahlen profitabel fertigen kann. Und man kann mit dem Verfahren nicht nur starre Schaltungen fertigen - den Forschern ist es bereits gelungen, einen Linearmotor aus Papier zu drucken, der sich tatsächlich bewegt. So ist der Spruch von Neil Gershenfeld zu verstehen, der gern sagt: "Bei mir wird ein Student promoviert, wenn seine Doktorarbeit aus dem Drucker spazieren kann."

      Gedruckt werden am MIT nicht nur Chips - die Studenten werden auch am 3-D-Drucker ausgebildet, der praktisch jede dreidimensionale Form, die im Computer entworfen wurde, als Kunststoff- oder Metallmodell ausgeben kann. So wie beim Drucken eine zweidimensionale Seite Zeile für Zeile aufgebaut wird, erstellt der 3-D-Drucker die Formen Schicht für Schicht aus zwei Sorten Pulver: dem "positiven", aus dem nachher das fertige Stück besteht, und dem "negativen", das die Stellen füllt, die am Ende leer bleiben. So lassen sich sogar ineinander verschachtelte Strukturen in einem Arbeitsgang drucken.

      Einfache Alternativen zu teuren herkömmlichen Techniken - das Prinzip steckt auch hinter der Arbeit des australischen Doktoranden Saul Griffith. Der 27-Jährige demonstriert mit ein paar lose zusammengestöpselten Apparaturen auf seinem Schreibtisch, wie man Brillengläser schnell und billig fertigen kann: Ein Behälter mit Babyöl, über den eine flexible Membran gespannt ist, dient als Form. Pumpt man mit einer großen Spritze mehr Öl hinein, so wölbt sich die Membran sphärisch. Jetzt legt man einen kreisrunden oder ovalen Ring obendrauf und kann nun jede beliebige sphärische oder ellipsoide Oberfläche erzeugen. Wenn alles justiert ist, wird der Ring mit Kunststoff ausgegossen, mit einer vom Zahnarzt bekannten UV-Lampe gehärtet - und innerhalb von fünf Minuten hat man eine perfekte Linse in der Hand.

      Nun gut, das für den Reporter gefertigte Muster enthält noch ein paar Blasen, aber wir haben es ja auch mit einem Prototyp zu tun. Durchaus vorstellbar ist es aber, nach diesem Prinzip ein 1000-Euro-Gerät zu bauen, mit dem der Optiker in der Provinz eines Entwicklungslandes Brillen nach Rezept herstellen kann, ohne auf den teuren Import der herkömmlichen geschliffenen Gläser angewiesen zu sein. Ein Patent auf seine Entwicklung besitzt Griffith jedenfalls schon.

      Legospiel mit Molekülen

      Daneben bastelt Griffith auf seinem Schreibtisch an Modellen von Molekülen, die er aus ein paar handgesägten Plexiglasteilen und Legosteinen zusammensetzt. Die Frage dahinter: Wie kann man Moleküle dazu bringen, sich selbst zu reproduzieren? Die Vision vom sich selbst reproduzierenden Nanofabrikator geistert schon seit Jahren durch die spekulative Wissenschaftsliteratur. Für die MIT-Forscher aber liegt die Lösung für dieses Problem nicht in winzigen Robotern, die Atom für Atom zusammenbauen, sondern in der Entlehnung von selbst organisierenden Methoden, wie sie die Natur anwendet. Organische Moleküle kann man zum Beispiel mithilfe der so genannten PCR tausendfach kopieren - ein entsprechendes Verfahren für anorganische Moleküle wäre revolutionär.

      Werden wir alle bald zu Hause neben dem Tintenstrahldrucker einen 3-D-Printer stehen haben? Braucht die Welt den Personal Fabricator? Neil Gershenfeld ist, als er die Profi-Werkzeugmaschinen für sein Labor gekauft hat, auch nach Deutschland gereist, ins Mekka der Maschinenbauer also. Dort hat er den Ingenieuren von seinen Ideen erzählt, etwa dem Forschungschef eines großen Werkzeugmaschinenherstellers. "Die waren entsetzt, dass Studenten diese Maschinen benutzen sollten", erzählt Gershenfeld. "Die haben eine monotone Vorstellung davon, was eine Werkzeugmaschine ist."

      Für Gershenfeld ist die Parallele zu den Herstellern von Mainframe-Computern offensichtlich - noch 1977 sagte der Chef der Computerfirma Digital, es gebe "keinen Grund, warum irgendjemand einen Computer in seinem Haus haben wollte". Der Rest der Geschichte ist wohlbekannt.

      Aber es gibt durchaus deutsche Maschinenbauer, die differenziert über Gershenfelds Ideen urteilen. Thomas Bayer von der schwäbischen Firma Wittenstein etwa. Bayer, der mit den Zukunftsversprechungen amerikanischer Visionäre vertraut ist, attestiert Gershenfeld durchaus, dass er mit seinen Forschungen auf dem richtigen Weg ist. Allerdings kann sich der Schwabe nicht vorstellen, was der Normalsterbliche mit einem 3-D-Drucker im Wohnzimmer anfangen soll. "Ich kann mir vielleicht den Schalter am Herd nachbauen, wenn er abbricht", sagt Bayer, "aber das reißt mich nicht vom Hocker. Das Dilemma, in dem diese Leute stecken, ist, dass sie Lösungen in der Schublade haben und verzweifelt nach Problemen suchen."

      Bayer sieht das Ende der großen Maschinenbaufirmen nicht kommen - im Gegenteil, er glaubt, dass die Verfahren der Nanotechnik in den nächsten Jahrzehnten einen Aufschwung bringen werden für Firmen, die für spezifische Probleme maßgeschneiderte Lösungen liefern können.

      Für Neil Gershenfeld gehört der Maschinenbauer damit vermutlich auch zu den geistig unbeweglichen Deutschen, die er überall auszumachen meint. Gern erzählt er von deutschen Studenten, die zwar blitzschlau, aber zu wenig kreativ seien und im MIT-Labor erst einmal "deprogrammiert" werden müssten, um ihre Talente wirklich zu entfalten. "In vielerlei Hinsicht", sagt Gershenfeld, "mache ich mir um Indien weniger Sorgen als um Deutschland beim Übergang zur nächsten technologischen Epoche."

      (c) DIE ZEIT 45/2002
      http://www.zeit.de/2002/45/Wissen/200245_personal_fabrica.ht…
      ___________________________________________________________
      Einen ebenfalls lesenswerten Artikel zum "Personal Fabricator" findet man in der aktuellen April-Ausgabe der GEO -Zeitschrift auf den Seiten 199-203.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 22.04.03 18:31:21
      Beitrag Nr. 77 ()
      Der Artikel über Öl war klasse

      Funkendes Gütesiegel

      Chips, die auf Anfrage die zugehörigen Waren identifizieren, lösen den Barcode ab. Die Technik schützt vor Diebstahl und ersetzt Kassierer sowie Inventuren.




      Der Ladendieb war geschickt. Unbemerkt hatte er ein Päckchen Mach3-Rasierklingen von Gillette ergattert und in seine Brusttasche gleiten lassen. Doch am Ausgang erwartete ihn bereits der Sicherheitsdienst. Die vermeintlich leichte Beute hatte ihren Diebstahl selbst gemeldet. Chips in der Verpackung, nicht größer als ein Quadratmillimeter, senden individuelle Codes aus, wenn im ganzen Supermarkt verteilte Lesegeräte sie aktivieren. Wer Diebesgut an den Kassen vorbeischmuggelt, löst Alarm aus.

      In den nächsten Monaten werden in den Fabriken für Rasierschaum und Klingen rund um die Bostoner Zentrale des Rasiersystemespezialisten Gillette eine halbe Milliarde Produkte am Fließband mit den Minichips, der so genannten Radio Frequency Identification (RFID), ausgestattet, zunächst zusätzlich zum Strichcode.

      Denn nur wenige Supermärkte, darunter Wal-Mart in Broken Arrow/Oklahoma, sind bereits mit der entsprechenden Infrastruktur zum Lesen der Codes ausgestattet. Doch die Hersteller machen Druck, weil sie mithilfe der neuen Technik ihre Logistik vereinfachen können. Sobald irgendwo Ware zur Neige geht, geht die Nachbestellung so rechtzeitig ein, dass keine Angebotslücke entsteht. Neben Gillette investieren Dutzende internationale Unternehmen in die funkenden Produkte.

      Alle Beteiligten profitieren

      Die Einzelhändler sind dankbar. Sie hoffen, mit der neuen Technologie nicht nur den Verlust durch Diebstahl - bis zu drei Prozent des Umsatzes -, sondern auch die Kosten für Lagerhaltung und Zulieferung reduzieren sowie Rechnungsfehler vermeiden zu können. Nach einer Studie der Universität von Florida verlieren allein Amerikas Unternehmen jährlich gut 30 Milliarden Dollar durch Diebstahl, Betrug und Fehler in der Lager- und Buchhaltung. Gillette-Sprecher Paul Fox: "Von der neuen Technik profitieren alle Beteiligten."

      Die neuen Identifikationssysteme lösen den Barcode und herkömmliche Diebstahlsicherungen ab. Außerdem ermöglichen sie eine permanente Inventur. Sämtliche Waren in einem Supermarkt oder einem Hochregallager melden ihre Anwesenheit regelmäßig per Funk beim Zentralrechner - davor auch während des Transports beim Bordrechner im Waggon, Lkw oder Frachtflugzeug.

      Wenn es unterwegs Verzögerungen gibt, kann sich keiner mehr herausreden: Ein Mausklick genügt und schon weiß der Käufer, wo seine Waren hängengeblieben sind. Auch das Kassieren im Supermarkt wird einfacher. Auf einen Schlag melden sich alle Waren mit ihrem Code und dem zugehörigen Preis, auch wenn der Einkaufswagen gehäuft voll ist. Sekundenschnell ist die Rechnung ausgestellt.


      Bestmögliche Platzierung der Ware herausfinden

      Im Datenspeicher der aufgedruckten Minichips ist der so genannte elektronische Produktcode abgelegt, der Herstellernamen, Produktversion, Verfallsdatum und Seriennummer umfasst. Ein hauchdünner Draht, die Antenne, windet sich um den Chip, der aus Datenspeicher, einer Empfängerspule und einem Sender besteht. Die Energie zum Auslesen und Senden der gespeicherten Informationen bezieht der Chip von einem Lesegerät, das elektromagnetische Wellen aussendet. Diese werden im Chip aufgefangen und dort mithilfe eines Minitransformators in Strom verwandelt.

      Bei besonders empfindlichen Waren wird der RFID-Chip von einer Batterie versorgt. "Damit lassen sich auch Umgebungstemperatur und Luftfeuchtigkeit lückenlos erfassen", sagt Victor Vega, Manager der Alien Technology in Morgan Hill/Kalifornien, einer der RFID-Hersteller. Wenn es um Nutzungsmöglichkeiten geht, sind der Fantasie kaum Grenzen gesetzt. In Bibliotheken erleichtern sie die Ausleihe und verbessern den Diebstahlschutz. Gerade wurde mit der Wiener Hauptbibliothek die größte Einrichtung dieser Art mit RFID ausgestattet. 240 000 Euro kosteten die Lesegeräte, 330 000 Euro die 300 000 Etiketten mit integrierten Chips.

      Hersteller und Filialleiter in Supermärkten nutzen die Daten, um die beste Platzierung bestimmter Waren herauszufinden. In den Anprobekabinen der feinen Prada-Boutique in Manhattan leuchten Flachbildschirme auf, wenn eine Kundin mit Kleidung eintritt. Der Ladencomputer stellt blitzschnell die passenden Accessoires zusammen.


      Während die Kundin in den roten Rock schlüpft, erscheinen auf dem Bildschirm die dazu passende Handtasche und Stöckelschuhe aus rotem Leder. Die italienische Modefirma Benetton will die elektronische Kennung in Kleidungsstücke einnähen, um sich vor Billigimitaten zu schützen. Die Chips, die von Philips Semiconductors hergestellt werden, wirken dabei wie ein funkendes Gütesiegel.

      Nie mehr den Regenschirm vergessen

      Philips Semiconductors gehört wie Gillette, Alien Technology und der deutsche Chiphersteller Infineon Technologies zu einem Konsortium von 87 Unternehmen, das die Entwicklung der intelligenten Identifikationssysteme vorantreibt. In einem gemeinsam betriebenen Forschungszentrum in Boston, das zum Massachusetts Institute of Technology (MIT) gehört, entwickeln Informatiker und Ingenieure Standards und Software für den globalen Datenfluss. Ihr Ziel: Weltumspannend sollen künftig Milliarden Produkte elektronische Kennungen aussenden, die überall verstanden werden.

      Noch kosten die Lesegeräte stolze 1000 Dollar, viel zu viel, um jeden Lkw und jeden Eisenbahnwaggon damit auszustatten. Bei einer Massenproduktion kosten sie jedoch nicht mehr als ein Transistorradio. Mit 50 US-Cents pro Chip sind auch diese noch viel zu teuer. Doch Alien Technology ist dabei, den Preis mit einem neuen Produktionsverfahren drastisch zu senken. Die winzigen elektronischen Schalter bauen sich dabei in einem chemischen Prozess selbstständig zusammen.

      Die Transistoren, die zwischen zehn- und hunderttausendstel Millimeter klein sind, werden auf eine Trägerschicht, meist eine Glasscheibe oder ein Polyesterfilm gespült, in die Millionen Mulden geätzt sind. Sie fangen die Transistoren auf und ordnen sie zu einem Chip. Alien-Manager Vega ist sicher, dass auch die Verbraucher von der neuen Technik profitieren. Wer dazu neigt, seinen Regenschirm in der Bahn oder im Supermarkt zu vergessen, findet ihn problemlos wieder: Das Utensil meldet sich via Lesegerät bei einem zentralen elektronischen Fundbüro. "Alles ist möglich", sagt Vega.

      Eine Geschichte aus der WirtschaftsWoche 17/03

      BERND HENDRICKS

      17.4.2003
      Avatar
      schrieb am 25.04.03 18:25:06
      Beitrag Nr. 78 ()
      Die reichsten Deutschen:

      Rang Name Unternehmen Vermögen in Milliarden Euro*
      2003 2002
      1 Theo Albrecht Aldi Nord, Essen 15,0 14,6
      2 Familien Boehringer/von Baumbach Boehringer Ingelheim 14,5 12,3
      3 Karl Albrecht Aldi Süd, Mülheim/Ruhr 13,0 12,6
      4 Anonymus Anonymus 10,2 **
      5 Werner Otto Otto Versand, Hamburg 6,2 6,6
      6 Susanne Klatten BMW, München; Altana, Bad Homburg 6,0 7,5
      7 Friedrich Karl Flick Flick-Holding, Wien 5,3 5,4
      8 Reinhold Würth Würth-Gruppe, Künzelsau 4,6 4,5
      9 Anonymus Anonymus 4,55 3,5
      10 Curt G. Engelhorn vorm. Boehringer Mannheim, Mannheim 4,5 4,7
      11 Reinhard Mohn Bertelsmann, Gütersloh 4,3 5,7
      12 Otto Beisheim Metro, Düsseldorf 4,2 3,7
      13 Michael und Reiner Schmidt-Ruthenbeck Metro, Düsseldorf 4,2 4,6
      14 Hasso Plattner SAP, Walldorf 3,7 4,7
      15 Familie Braun B. Braun, Melsungen 3,6 3,6
      16 Stefan Quandt BMW, München; Delton, Bad Homburg 3,6 4,5
      17 Familie August von Finck vorm. Merck, Fink & Co., München 3,5 3,7
      18 Familie Rudolf August Oetker Oetker-Gruppe, Bielefeld 3,5 3,3
      19 Familie Reimann Reckitt Benckiser, Flough/GB; Coty, NY 3,5 4,6
      20 Familie Haub Tengelmann-Gruppe, Mülheim 3,2 **
      21 Johanna Quandt BMW, München 3,2 4,4
      22 Heinz Bauer Bauer-Verlag, München 3,0 4,0
      23 Familie Bosch Robert Bosch, Stuttgart 2,9 3,1
      24 Familie von Holtzbrinck Verlagsgr. Georg von Holtzbrinck, Stuttgart 2,85 5,6
      25 Alfred von Oppenheim Bankhaus Sal. Oppenheim, Köln 2,6 2,7

      * Stand: 15. Januar 2003
      ** kein zuverlässiger Vorjahresvergleich möglich

      http://www.manager-magazin.de/koepfe/reichste/0,2828,236841,…
      _________________________________________________________
      Eigentlich eine für uns unbedeutendete Statistik, aus reiner Neugier würde es mich aber interessieren, welche Leute, sich hinter "Anonymus" verbergen, und wie man überhaupt das Vermögen dieser Leute hat ermitteln können, obwohl deren Name, nicht bekannt ist. Ich finde nirgends Infos dazu.
      Avatar
      schrieb am 25.04.03 18:30:57
      Beitrag Nr. 79 ()
      Hier noch ein Lesberbrief, aus der aktuellen Ausgabe des Manager-Magazins. Ist doch interessant, wer so alles das Manager-Magazin liesst.
      __________________________________________________________
      http://www.manager-magazin.de/magazin/artikel/0,2828,245840,…

      In dem kurzen Bericht über mich wird ein angebliches Zitat meiner Mutter wiedergegeben.

      Dieses Zitat ist falsch. Es wurde wahrscheinlich vom "Stern" übernommen, der es in seiner Ausgabe vom 28.11.2002 schon falsch gebracht hatte. Das Zitat wurde durch den Austausch eines Wortes völlig verfälscht. Richtig lautete es: "Je besser es den Leuten geht, desto besser geht es uns." Diesen Ausspruch hat meine Mutter häufig gebraucht.

      Vor dem Hintergrund, dass meine Mutter bis zum Kriegsende ein kleines Lebensmittelgeschäft führte, wäre die Aussage "Je schlechter es den Leuten geht, desto besser geht es uns" völlig widersinnig gewesen.


      Theo Albrecht,
      Mitglied des Verwaltungsrates der Aldi GmbH & Co. KG, Essen
      Avatar
      schrieb am 25.04.03 20:28:52
      Beitrag Nr. 80 ()
      KARRIEREN

      "Zum Manager wird man geboren"

      Nur Leistung, Leistung, Leistung zählt beim beruflichen Aufstieg, hämmern Unternehmen dem Managernachwuchs ein. Wirklich? Der Soziologe Michael Hartmann hält das für Ideologie, für Propaganda zur Privilegiensicherung einer kleinen Oberschicht: Über den Erfolg im Job entscheiden die soziale Herkunft und das Auftreten, sagt der Darmstädter Forscher im Interview.

      Sie wollen, so ist dem Titel Ihres Buches zu entnehmen, den "Mythos von den Leistungseliten" entzaubert haben. Wie ist Ihnen das gelungen?


      Michael Hartmann: Wir haben gut 6500 Lebensläufe von promovierten Juristen, Ingenieuren und Wirtschaftswissenschaftlern untersucht - also den Werdegang jener Akademiker, die in der Wirtschaft und anderen gesellschaftlich wichtigen Bereichen die meisten Führungspositionen besetzen.

      Und was haben Sie herausgefunden?

      Hartmann: Dass bei gleichem Bildungsabschluss, in diesem Fall der Promotion, die soziale Herkunft entscheidend dafür ist, wer einen Job in den Chefetagen der Wirtschaft bekommt. Überspitzt gesagt: Zum Manager wird man geboren. In den 400 größten deutschen Unternehmen ist die Chance auf eine Führungsposition für den promovierten Nachwuchs aus dem gehobenem Bürgertum doppelt, für den Nachwuchs aus dem Großbürgertum sogar dreimal so groß wie für Promovierte aus der Mittelschicht und der Arbeiterklasse. Größeres Durchhaltevermögen oder individueller Leistungswille spielen kaum eine Rolle.

      Aber ist nicht die Herkunft heute zumindest weniger wichtig als früher?

      Hartmann: Im Gegenteil. Wir haben die Promotionsjahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985 verglichen. Ein Promovierter aus den mittleren und unteren sozialen Schichten hatte die größten Chancen auf eine Führungsposition, wenn er dem Jahrgang 1965 angehörte; beim folgenden Jahrgang stieg der Vorsprung der Großbürgerkinder dagegen schon auf das fünffache. Die Bildungsexpansion hat zwar zu einer sozialen Öffnung der Hochschulen geführt, aber keinerlei Auswirkungen auf die Besetzung von Führungspositionen. Heute, in einer Krisenzeit, haben es Menschen aus dem "falschen" Elternhaus zunehmend schwerer.

      Wer die richtigen Beziehungen hat, macht auf jeden Fall seinen Weg nach ganz oben?


      Hartmann: Nicht unbedingt. Dass Topmanager "Nieten in Nadelstreifen" sind, halte ich für Unfug - ohne Leistung geht es nicht. Beziehungen in solchen Kreisen werden häufig überschätzt, die Guten haben Vitamin B gar nicht nötig. Aus meinen Interviews mit Personalberatern und Managern wird allerdings deutlich, dass von einer bestimmten Hierarchiestufe aufwärts vor allem eines entscheidet: der Habitus. Das Signal "Ich gehöre dazu".

      Aber das lässt sich doch antrainieren.

      Hartmann: Im Kern nicht. Benehmen im Restaurant und was man zu welchem Anlass anziehen sollte, ist zu erlernen, selbst der bürgerliche Bildungskanon. Dafür braucht ein Manager aus dem Kleinbürgertum jedoch viel Zeit, und wenn er es geschafft hat, dann sitzt das so fest wie eine eingepaukte Vokabel. Aber die Souveränität und den spielerischen Umgang mit den erlernten Codes kann er nicht lernen; gerade das ist jedoch entscheidend. Wenn jemand aus dem Großbürgertum, der mit klassischer Musik groß geworden worden ist, sagt, er finde Opern "zum Kotzen", wird ihm das als Individualität angerechnet. Immerhin weiß er, wovon er spricht. Erst das souveräne Abweichen vom Kanon signalisiert: Ich gehöre wirklich dazu. Jemand aus der Mittelschicht würde sich mit derselben Äußerung dagegen als typisch kleinbürgerlich outen.


      Hat es Sie denn tatsächlich überrascht, dass Manager vor allem Nachwuchs rekrutieren, der den "richtigen" Habitus hat, der ihnen also ähnlich ist?

      Hartmann: Das ist eine durchaus rationale Entscheidung, die auf Risikominimierung zielt. Ein Topmanager hält sich für den richtigen Mann am richtigen Platz und sucht sich seinesgleichen, dem er vertrauen kann - "die Chemie muss stimmen", heißt das dann. Darum geht es mir aber nicht. Entscheidend ist, dass die offizielle gesellschaftliche Ideologie lautet: Jeder schafft es allein durch seine Leistung, und jeder hat die gleichen Chancen. Das stimmt offensichtlich nicht.

      Aber letztlich ahnt doch jeder, dass eine bestimmte soziale Herkunft Vorteile im Berufsleben mit sich bringt.


      Hartmann: Einerseits haben alle dieses unterschwellige Gefühl, andererseits glauben sie dennoch, mit genug Anstrengung könnten sie es schaffen. Das wird ihnen auch allerorten suggeriert, etwa mit Überschriften in Wirtschaftsmagazinen wie "Wo nur die Leistung zählt". Wenn Manager gefragt werden, was sie so weit gebracht hat, sagen sie fast unisono: die eigene Leistung; Vermögen und Herkunft spielen angeblich keine Rolle. Diese Doppelbödigkeit wird in Einzelfällen deutlich; etwa wenn Friedrich von Bohlen, der junge Vorstandschef von Lion Bioscience, für eine Arbeitgeber-Anzeigenkampagne mit dem Slogan "Nur wer etwas wagt, schafft Arbeit" abgebildet wird. Da wirbt ausgerechnet jemand aus einer der ältesten Industriellenfamilien Deutschlands, der Lieblingsneffe von Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, mit dem Motto "Chancen für alle".

      Sind der Wirtschaftselite diese Mechanismen denn nicht bewusst?

      Hartmann: Doch, aber aus Legitimationsgründen gegenüber der Öffentlichkeit und den eigenen Beschäftigten möchte man nicht offen darüber reden. Ich habe einen Brief aus einem Großkonzern erhalten, in dem mir angeboten wurde, einen Beitrag für die Mitarbeiterzeitschrift zu schreiben. Man könne meine Thesen zwar gut nachvollziehen, hieß es, allerdings - so wörtlich - "können wir dieses Thema so nicht behandeln, da das im Klartext hieße, dass viele Mitarbeiter nur wenig Chancen auf Karriere hätten". Und weiter: "Aber sicherlich können Sie das Thema auch ein wenig anders akzentuieren. Über die Bedeutung des souveränen Auftretens würden wir gerne von Ihnen etwas lesen, ohne zu betonen, dass 80 Prozent der Topmanager aus den oberen drei Prozent der Bevölkerung stammen, denen dieses Verhalten in die Wiege gelegt wurde."

      In den anderen von Ihnen untersuchten Bereichen spielt die Herkunft dagegen keine so wichtige Rolle, oder?


      Hartmann: In der Wissenschaft ist der Kreis derer, die über Berufungen entscheiden, viel größer als in der Wirtschaft, und der Vorgang ist sehr formalisiert. Aber auch in der Professorenschaft kommt immer noch jeder Zweite aus dem bürgerlichen Milieu. In der Politik ist die Durchlässigkeit schon seit den 1950er Jahren vergleichsweise hoch. Das hat aber nichts mit der Bildungsexpansion zu tun. Denn anders als etwa in den bürgerlichen Honoratiorenparteien Frankreichs, die ihren Führungsnachwuchs ähnlich wie in der Wirtschaft rekrutieren, müssen Politiker in Volksparteien wie jenen in Deutschland die berüchtigte Ochsentour von unten machen. Zu einem anderen Aspekt: Viele Manager und Politiker fordern mehr Leistungsgerechtigkeit. Ist das in ihrem Sinne?

      Hartmann: Leistungsgerechtigkeit statt Gleichmacherei heißt es immer - erstere gibt es aber gar nicht. Statt wirklicher Leistungsgerechtigkeit geht es den Propagandisten dieses Slogans um die Bewahrung und den Ausbau von Privilegien. Und diesem Ziel dient auch die Forderung nach Elitenbildung.

      Was spricht eigentlich gegen eine wirkliche Leistungselite und entsprechende Hochschulen, die sich auch durch Gebühren finanzieren und im Gegenzug Stipendien vergeben?


      Hartmann: Das funktioniert in der Regel nicht. An den amerikanischen Elitehochschulen studieren vorwiegend Bürgerkinder, trotz aller Stipendien. Das ist bei den Auswahlkomitees, in denen unter anderen viele Banker und Professoren sitzen, auch kein Wunder, denn die selektieren ebenfalls nach Habitus. Und es fließen trotz der Gebühren immer noch erhebliche staatliche Mittel in solche Hochschulen; darunter leiden dann die übrigen Bildungsinstitutionen. Bevor man in die Spitze investiert, sollte erst einmal die Breite gefördert werden. Wer das "richtige" Elternhaus hat, macht ohnehin meist seinen Weg; die Pisa-Studie hat ja gezeigt, dass für den Schulerfolg hierzulande nichts wichtiger ist als das Elternhaus.

      Hätte demnach der britische Soziologe Anthony Giddens Recht, der behauptet, dass mehr Bildung die Ungleichheit fortsetzt oder sogar vertieft?



      Hartmann: Das kann passieren, jedenfalls führt mehr Bildung nicht automatisch zu anderen Machtverhältnissen. Dennoch war die Ausweitung des Bildungswesens äußerst sinnvoll, denn Bildung ist auch ein Bürgerrecht, da sie enorm zur Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen beiträgt.

      Hat Ihre soziale Herkunft Ihre Forschung beeinflusst? Sind Sie ein enttäuschter Kleinbürger?

      Hartmann: Nein, ich kenne das bürgerliche Milieu recht gut. Ein Großvater war Verlagsleiter, eine Großmutter kam aus einer Bauunternehmerfamilie. Mein Vater war Finanzchef einer großen Behörde, sein Bruder Vorstandsmitglied bei einem großen Automobilzulieferer. Das hat mir bei der Forschung geholfen. Die Vertrautheit mit dem Habitus meiner Gesprächspartner hat die Gespräche sehr erleichtert.

      Das Interview führte Claus Peter Simon, GEO WISSEN


      Buchtipp

      Michael Hartmann: Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft. Campus, Frankfurt a.M. 2002.

      http://www.spiegel.de/img/0,1020,229457,00.jpg

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      Man erkennt sich

      In Deutschland läuft Karriere wie in der englischen Klassengesellschaft: Die soziale Herkunft entscheidet

      Anja Kühne

      Jedesmal, wenn der Soziologe Michael Hartmann sich mit einem Interviewpartner verabredet, schließt er vorher eine Wette mit sich selbst ab: "Wetten, dass ich ihn erkenne?" Hartmann gewinnt immer: Die soziale Herkunft der Wirtschaftsbosse, über die er forscht, ist diesen deutlich anzuschmecken. Wer selbstbewusst und gelassen spricht, den muss man am Ende kaum noch fragen, was der Vater gemacht hat: Mit Sicherheit war der selbst Vorstandsvorsitzender eines Großkonzerns, vielleicht auch Professor oder sonst ein leitender Beamter.

      "Ich stehe da, wo ich hingehöre", ist die Botschaft, die solche Manager ständig ausstrahlen. Das Kind des kleinen Angestellten oder gar Arbeiters outet sich dagegen durch Unsicherheit: "Was geschieht denn mit meinen Antworten?" fragen solche Unternehmer den Soziologen. So unruhig ist nur, wer sich latent sorgt, wieder dahin zurückzufallen, von wo er sich hochgearbeitet hat. Und das spüren auch andere.

      Nicht etwa ein guter Studienabschluss oder die Promotion entscheiden denn auch in erster Linie, wer später in einem großen Unternehmen nach oben kommt, sondern das Auftreten, der Habitus, hat der Darmstädter Professor anhand von 6500 Lebensläufen promovierter Manager von vier Jahrzehnten herausgefunden. "Man erkennt sich", sagt Hartmann. Die Männer an der Spitze stellen vor allem Männer ein, die so sind wie sie selbst: solche, die zur richtigen Zeit das richtige Thema im richtigen Ton ansprechen und souverän mit den im Management geforderten Benimmregeln umgehen.

      Auf das Elternhaus kommt es an

      Aber dies sind Fähigkeiten, die Kinder schon mit der Muttermilch einsaugen und die sich in Schule oder Uni kaum lernen lassen. Wie sonst ließe es sich erklären, dass die Aussichten von promovierten Söhnen des Großbürgertums und des gehobenen Bürgertums auf eine Spitzenkarriere 50 bis 400 mal größer sind als die promovierter Männer aus der Mittelschicht? Nur drei Prozent der deutschen Bevölkerung gehören dem gehobenen Bürgertum an, nur ein halbes Prozent dem Großbürgertum. Trotzdem kommen 80 Prozent der Führungskräfte in der Wirtschaft aus diesen Schichten, die Hälfte davon sogar aus dem Großbürgertum.

      Hier fällt auf, wer nicht dazu gehört. Über den ruppigen Daimler-Chef Jürgen Schrempp, Sohn eines kleinen Angestellten, habe man in der Wirtschaftsszene die Nase gerümpft: zu schnell und zu laut. Wer ganz selbstverständlich zur Spitze gehört, muss die eigene Kluft zu den Untergebenen nicht betonen - dies ist etwas für soziale Aufsteiger, sagt Hartmann: "Man tut so etwas nicht, sondern weiß es."

      Denjenigen, die sich in ihrer sozialen Herkunft geborgen fühlen, fällt es auch leichter, die an der Spitze geforderte Risikobereitschaft mit authentischem Optimismus an den Tag zu legen: "Was Leute wie Christoph Daum dagegen über sich sagen, zeigt, dass sie sich vorstellen können, zu fallen", so Hartmann. Negativer als eine nicht großbürgerliche soziale Herkunft wirkt sich bei der Karriere in den Unternehmen nur noch das Geschlecht aus: Nur drei von 240 promovierten Frauen schafften es in die Führungsebene eines großen Unternehmens - alle drei in der Firma ihres Vaters.

      Die Leistungselite ist ein Mythos, meint Michael Hartmann. Dabei hätten die Deutschen lange geglaubt, dass ihre Gesellschaft deutlich durchlässiger ist als andere, etwa die britische, von deren Klassengesellschaft man sich hierzulande zu unterscheiden glaubt. Was die Rekrutierung der deutschen tatsächlich von der der britischen Elite trennt, zeigte Hartmann am Montag am Großbritannienzentrum der Humboldt-Universität. In den sechziger Jahren stammten drei Viertel der britischen Spitzenmanager aus dem höheren Bürgertum, dem aber nur 3,5 Prozent der Erwerbstätigen angehören. Das gleiche Bild einer "geschlossenen Gesellschaft" zeigt sich in Deutschland: 80 Prozent kamen hier aus dieser Schicht.

      Nach dreißig Jahren hat sich diese Situation weder in Großbritannien noch in Deutschland geändert. Und es ist auch über die Jahrzehnte hinweg bei einem entscheidenden Unterschied zwischen beiden Gesellschaften geblieben: Jeder zweite Mann an der britischen Spitze war in Oxford oder Cambridge. In Deutschland hat es dagegen nie eine Rolle gespielt, an welcher Uni jemand Examen gemacht hat. Noch wichtiger als "Oxbridge" ist in Großbritannien bei der sozialen Auslese aber die Schule: 1995 waren 72 von 93 britischen Managern auf einer der im Land besonders anerkannten Privatschulen (public schools), darunter jeder Neunte im renommierten Eton, jeder Vierte auf einer der neun Spitzenprivatschulen im Land. Die Karriere nimmt dann gerade für viele Adlige ihren Fortgang auch in den Garderegimentern, die im Lebenslauf Oxford oder Cambridge ersetzen können.

      "In Großbritannien verläuft die Elitebildung auf dem klassischen Weg. Der Habitus wird öffentlich über die Zeugnisse zertifiziert", sagte Hartmann und rechnete vor, dass das Schulgeld für Eton das gesamte jährliche Durchschnittseinkommen eines Briten aufzehrt: 14 bis 16 000 Pfund. Eltern von Etonschülern hätten dagegen ein Jahreseinkommen von mindestens 40 000 Pfund, nicht selten auch 100 000 Pfund. Jeder sechste Etonschüler hat einen Vater, der selbst schon in Eton war. Die Hälfte der Studenten in Oxford und Cambridge war vorher auf einer Privatschule. Selbst wenn nicht allein das Portemonnaie über den Zugang entscheidet, sondern auch Leistungstests, sind die Kinder der upper classes doch ungleich besser auf solche Prüfungen vorbereitet als ihre Mitschüler. "Die soziale Rekrutierung ist hier hochexklusiv", meinte Hartmann.

      Die Ochsentour

      Während Großbritannien seine Premierminister seit jeher ebenfalls maßgeblich aus dieser Schicht rekrutiert, ist die deutsche Politik auf ihrer Spitzenebene sozial gemischter: Wer hier etwas werden will, kommt um die Ochsentour durch die Ortsvereine der Parteien nicht herum. Das macht den Zugang egalitärer.

      Hartmanns Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass die Öffnung der Hochschulen für die Massen, von der einmal jenes benachteiligte "katholische Arbeitermädchen vom Land" profitieren sollte, für die "Leistungseliten" nicht viel gebracht hat. Was die soziale Zusammensetzung auf der Spitzenebene der großen Unternehmen betrifft, wird sich laut Hartmann noch in 30 Jahren nichts geändert haben. Wer nun aber behauptet, die gesamte Bildungsexpansion sei überflüssig gewesen, versteht Hartmanns Ergebnisse falsch. "Bildung ist ein Bürgerrecht", sagte er. Und selbst wenn Angehörige der Mittel- oder Unterschichten die ganz großen Karrieren nicht machen, beeinflusst ihr höheres Bildungsniveau die Gesellschaft doch an anderer Stelle. Im Gegenteil zeige der Vergleich mit Großbritannien, dass sich ein Ranking der Hochschulen und die Herausbildung von Eliteuniversitäten, zu der der Trend in Deutschland geht, nicht lohne: So oder so sind es die gleichen Leute, die bei gleicher Leistung nach oben kommen - die der Oberschicht.

      http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/29.01.2002/ak-ws-665374…
      Avatar
      schrieb am 25.04.03 20:34:15
      Beitrag Nr. 81 ()
      ERFOLG UND AUFSTIEG [ zurück ]
      Siegertypen zeigen Zähne


      Wer Karriere machen will, braucht Biss. Doch erfolgreiche Aufsteiger müssen die Gratwanderung zwischen Härte und Sympathie meistern. Positive Aggression soll`s möglich machen.


      Gerhard Schröder ist der personifizierte Karrierist. Zu seinen Juso-Zeiten rüttelte er bereits am Zaun des Kanzleramts und schrie: "Ich will da rein." Seit gut zwei Jahren sitzt er wirklich drin. Zielstrebig und machtbewusst hat er sein Ziel erreicht. Er hält sich dort oben, pflegt sein Image als Macher, der Basta sagt und Holzmann rettet. Innerparteiliche Gegner wie Oskar Lafontaine hat er ausgeschaltet, ohne sie zu demütigen. Dabei hat sich Oskar immer für den Klügeren gehalten. Und wahrlich: Schröder ist keine Intelligenzbestie, aber er setzt sich durch, wirkt entschlossen und entscheidungsfreudig. Das mögen die Menschen. Einer, der sie führt, ohne überheblich zu sein. Einer, der autoritär ist und dabei die Menschlichkeit nicht aus den Augen verliert.

      In der Wirtschaft gibt es ähnliche Aufsteiger. Zum Beispiel Jürgen Schrempp: Der heutige Daimler-Chrysler-Chef hat zu Zeiten von Konzernlenker Edzard Reuter den Weg nach oben mit Tatkraft, Robustheit und einer Vision geschafft. Schrempp wollte Daimler zum Global Player der Autobranche machen, der auf allen Märkten nennenswerte Marktanteile erzielt. Die Fusion mit Chrysler war ein Schritt in diese Richtung. Nun hat Schrempp zwar Probleme mit Chrysler und den US-Aktionären, doch sein Netz an Beziehungen hält ihn bislang auf seinem Posten.

      Karrieristen warten nicht auf den Zufall

      Soviel Macht, Karrierestreben und Erfolgsdruck mag manchem unheimlich vorkommen. Doch die Berufswege der Super-Erfolgreichen zeigen vor allem eines: Eine Karriere muss geplant werden. Wenn Sie hingegen zu jenen Zeitgenossen gehören, die bei Beförderungen übergangen werden, obwohl Sie sich zu Höherem berufen fühlen, dann hat Hedwig Kellner jede Menge Tipps und Verhaltensweisen für Sie auf Lager. In ihrem Buch "PA - Der Karrierefaktor" schildert sie nicht nur, wie Aufstiegswillige nach vorn kommen. Sie hilft dem Leser auch, seine Karriereeignung zu ergründen. PA steht für positive Aggression, die Voraussetzung zum Aufstieg.

      Zwei Grundfragen muss jeder Ambitionierte im Laufe seines Berufslebens entscheiden: Will ich Experte oder Karrierist sein? Denker oder Macher? Die einen grübeln, die anderen entscheiden. Der Experte gefällt sich darin, seinem Chef in Sachfragen überlegen zu sein. Als Top-Entscheider wäre er aber eine Fehlbesetzung, weil er sich schnell in Kleinigkeiten verzettelt und nicht strategisch denken und zupackend handeln kann. Der Macher ist der typische Chef. Entschlossen und voller Tatendrang zeigt er Biss, verschafft sich Respekt, ohne seinen Geschäftspartnern und Mitarbeitern unangenehm zu sein.

      Nette werden gelobt, aber nicht befördert

      Der Weg nach oben ist für sie mit Kampf und Entbehrung verbunden, ohne Strategie und klare Ziele nicht erreichbar. Wer sich über den Aufstieg anderer ärgert, wird von Kellner verspottet. "Die Fleißigen, die Klugen und die Netten werden gebraucht, gelobt und in ihrer Art immer gerne bestätigt. Befördert werden sie nicht."

      Berufliche Aufsteiger brauchen positive Aggression. Dazu gehören sechs Eigenschaften: Fester Wille, starker Eigenantrieb, emotionale Robustheit, Ausstrahlung von Power, Selbstbeherrschung und moralische Grundwerte. Angehende Führungskräfte und solche, die es sind, müssen mit Leidenschaft für eine Sache eintreten. Wer nichts einstecken kann, sollte lieber nicht nach Höherem streben. Wer hingegen Power ausstrahlt, findet Gefolgsleute, die gerne an seiner Seite kämpfen. Macher werden auch gemocht. Gute Führungsleute haben ihre Gefühle im Griff und lassen sich nicht provozieren. Positiv Aggressive streiten für ihre Überzeugungen, vermeiden es aber, ihre Gegner zu vernichten. Sie bleiben fair, ehrlich und rücksichtsvoll.

      Positiv Aggressive wollen bewusst nach oben und dabei nicht zum asozialen Wesen degenerieren. Sie nehmen die Dinge in Angriff und warten nicht, bis jemand auf sie zukommt. Sie zeigen Biss, indem sie lächeln und Untergebene stets freundlich und zuvorkommend behandeln. Bei soviel Licht gibt es auch Schatten. Der Karrierist muss sich mit den Mächtigen arrangieren, ihre Gunst gewinnen. Dabei geht es nicht immer um Leistung. Aufsteiger sind ihren Chefs sympathisch, deshalb sind sie in deren Nähe. Kleingeister und Nörgler schaffen das nicht, selbst wenn sie fachlich geeignet sind. Wer oben steht, muss ein Siegertyp sein. Doch die haben es nicht leicht: Der Beruf geht bei ihnen immer vor, darunter leidet die Familie. Mitte 40 geht den Siegern langsam die Puste aus, Jungspunde trachten ihnen nach dem Job. Wenn die Leistung der älteren Chefs nicht mehr stimmt, werden sie abgesägt. Sie bringen nicht mehr die Leistung früherer Tage, gelten als verbraucht. Ein hartes Los. Und jeder sollte sich gut überlegen, ob er sich das antun möchte. Noch schwieriger ist die ständige Gratwanderung, die ein Karrierewilliger meistern muss. Er soll Härte beweisen, aber nicht grob werden. Er muss in Aufsteiger-Netzwerke gelangen und zugleich aufpassen, dass ihn die dort versammelten Wettbewerber nicht überholen. Im Team mitarbeiten soll er und gleichzeitig knallhart eigene Interessen verfolgen. Die Nähe zu den Mächtigen ist wichtig, zum deren Spielball darf die Nachwuchskraft jedoch nicht werden. Lächeln soll sie, ohne jedoch als zu nett oder als Weichei zu gelten. Moralische Grundwerte sind dem Aufsteiger wichtig. Aber wenn er selbst einmal patzt, soll er nur zugeben, was ohnehin nicht zu leugnen ist.

      Karrieristen taktieren stets, vertreten nie extreme Standpunkte und passen sich den Meinungen der Mächtigen an. Sie beurteilen Menschen danach, wie wichtig sie ihnen sind oder werden können. Wenn sie eines Tages mal fallen, stürzen sie in die Einsamkeit ab und werden aus den bisherigen Beziehungsnetzen verstoßen. Ihre Gesundheit schont diese Spezies nicht. Kellner: "Die Rehakliniken der Herzzentren sind voller Siegertypen!"

      (Guido Schneider)
      http://www.jobpilot.at/content/journal/erfolg/siegertypen.ht…
      __________________________________________________________
      Noch ein (extremer) Buchtipp von mir zum Thema:

      Wahnsinnskarriere.
      von Wolfgang Schur, Günter Weick
      Avatar
      schrieb am 26.04.03 01:48:14
      Beitrag Nr. 82 ()
      Methode
      Von Klaus Boldt

      So hat manager magazin die Vermögen ermittelt.

      Bei allen Vermögensangaben der Rangliste "Die 250 reichsten Deutschen" des manager magazins handelt es sich um Schätzungen.

      Grundlage der Bewertung sind Recherchen bei Vermögensverwaltern, Anwälten, Bankmanagern und Insidern der Hochfinanz. Darüber hinaus haben Redakteure des manager magazins Presseberichte, Archive und Register ausgewertet sowie Gespräche mit prominenten Vertretern der Rangliste geführt.

      Die Vermögenswerte wurden konservativ bewertet, Aktienkapital nach den Kursen vom 15. Januar 2003, nicht börsennotierte Unternehmen nach ihrem Umsatz, ihrer Profitabilität und Marktstellung.

      Als Vermögen gelten in erster Linie Firmenbeteiligungen, Grund- und Immobilienbesitz, Aktien, Kunstsammlungen, aber auch Stiftungen, sofern es sich nicht ausdrücklich um gemeinnützige Stiftungen handelt.

      Großfamilien, deren Vermögen keinem überschaubaren Kreis mehr zugeordnet werden können, finden sich in einer separaten Rangliste (siehe "Die reichsten Clans der Republik" ).
      ...........
      Die Redakteure haben offenbar gute Kontakte zu Vermögensverwaltern. Vielleicht hat einer dieser Verwalter ja mal gesagt, daß sein größter Kunde, dessen Namen er nicht nennt, soundsoviel Geld hat.
      Avatar
      schrieb am 26.04.03 01:59:54
      Beitrag Nr. 83 ()
      Bzgl. Aldi habe ich einen ersten Teil von Ortegas Buch über Wal-Mart gelesen und mir sind Gründe eingefallen, warum Aldi in den USA nicht in Gang kommt. Nicht, daß ich das belegen könnte, aber es ist mir bei einem Urlaub in der Provinz vor ein paar Monaten dort aufgefallen. Die müssen in den Städten anfangen und nicht auf dem Land neben irgendwelchen Malls. Wenn man sich die Ladenliste ansieht, sieht man auch, daß sie in den Großsstädten konsequenter expandieren. Die Amis fahren zum Wal-Mart, weil sie gewohnt sind, längere Wege mit dem Auto zum Einkaufen zu fahren und auch dementsprechend Zeit mitbringen. Es gibt außerdem weniger Fußgängerzonen sondern Malls. Aldi ist in der Stadt besonders stark, wo es viele Singles gibt. In Orten mit bis zu 20.000 Einwohner wohnen eher Familien, die viel höhere Ansprüche an den Einkauf haben als ein Single. Familien brauchen Parkplätze, mehr Auswahl und mehr Premium-Produkte. Der Single kann auf Gebrauchsgüter auch eher ein halbes Jahr warten bis sie in der Aldi-Aktion auftaucht. Auf 3 deutschen ländlichen Standorten wo Lidl und Aldi recht eng nebeneinander stehen hab ich in letzter Zeit gesehen, daß jeweils mindestens 2 von 3 Leuten zu Lidl gehen, sicherlich wegen der großzügigeren Fläche/Parkplätze und der etwas größeren Auswahl. In den großen Innenstädten hab ich allerdings noch nie einen Lidl gesehen, weil den Singles auch ein Aldi reicht. Die Städte in den Staaten sind aber anders gebaut und die Leute nehmen sich 2 Stunden Zeit zum Einkaufen, es ist ja auch länger geöffnet. Bevor sie jedenfalls so brutal wie hier auf dem Land expandieren müssen sie sich erstmal in den Großstädten festsetzen, um überhaupt bekannt zu werden. Dort gibt es viel mehr Kunden ohne größere Ansprüche, die Einkäufe möglichst schnell erledigen möchten. Zudem könnte es sein, daß Deutsche tatsächlich viel sparsamer sind als andere Völker.
      Avatar
      schrieb am 26.04.03 20:02:38
      Beitrag Nr. 84 ()
      manager-magazin.de, 25.04.2003, 09:38 Uhr



      Breitbandrisiken für die Weltwirtschaft

      Von Frank Bulthaupt

      Ob SARS, Influenza, HIV oder gar ein biologischer Terrorangriff: Epidemien wirken nicht nur auf das Wohlbefinden des Einzelnen und die resultierenden Gesundheitskosten. Ganze Unternehmen, Branchen und Volkswirtschaften sind über verschiedene Kanäle wirtschaftlich gefährdet.

      Seit März dieses Jahres befindet sich SARS auf dem Radar der Weltgesundheitsorganisation WHO. Mittlerweile wurden weltweit über 4000 Menschen infiziert und rund 220 Opfer beklagt. Das Virus aus der Klasse der Coronaviren gilt zwar als vergleichsweise wenig ansteckend und mit einer Mortalitätsrate von drei bis fünf Prozent als wenig aggressiv. Es reiht sich allerdings nahtlos in die Reihe der fast jährlich neu auftretenden Erreger ein.


      Während die meisten Epidemien geografisch beschränkt bleiben und nur von kurzer Dauer sind, treten unregelmäßig auch große Epidemien mit globalen Wirkungen auf, wie 1918/1919, 1957 und 1969 durch Influenza oder zuletzt durch HIV. Allein als Folge einer Mutation des Influenza-Virus im Sommer 1918 starben innerhalb eines Jahres weltweit 40 Millionen Menschen. Die Schätzungen für die Opfer der HIV-Epidemie belaufen sich auf 25 Millionen.

      Jede Epidemie stellt nicht nur Mediziner vor neue Herausforderungen. Unterschiede hinsichtlich der Übertragung der Viren, ihrer Aggressivität sowie der Einflussfaktoren ihrer Übertragungsgeschwindigkeit erfordern jeweils intensive Analysen. Der medizinisch-technische Forschungsstand, die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems, der Immunstatus der Bevölkerung und die Mutation des Virus beeinflussen letztlich die entscheidenden Kennzahlen der Epidemie: die Geschwindigkeit und die Dauer ihrer Ausbreitung sowie ihr Effekt auf die Lebenserwartung der Bevölkerung.

      Diese Kennzahlen bestimmen maßgeblich das Ausmaß der ökonomischen Belastungen, denen die Volkswirtschaften ausgesetzt sind. Die Stärke der über die medizinischen Kosten hinausgehenden ökonomischen Belastungswellen kann Werte auf einer Skala von bis zu drei Stufen erreichen.

      Erste Stufe: Ausweichverhalten der Konsumenten

      Orte mit erhöhtem Infektionsrisiko werden gemieden. Dieses Ausweichverhalten betrifft zunächst Einkaufszentren und Restaurants (zumindest im Fall der Tröpfcheninfektion).

      Ein Ausbleiben von Touristikströmen, ein Rückgang von Hotelbuchungen oder Fluggastzahlen in als gefährdet geltende Gebiete sind weitere ökonomische Konsequenzen auf Branchenebene. Erste Wachstumsrevisionen, wie beispielsweise derzeit für Hongkong, Singapur und China, sind die logische Folge.

      Zweite Stufe: Deutliche Belastung des Gesundheitssystems, Wirkungen auf Einkommen und Wachstum

      Gerät die erste Infektionswelle nicht schnell unter Kontrolle, drohen ernste gesamtwirtschaftliche Konsequenzen. Überbelastungen von Arztpraxen und Krankenhäusern führen zu einer erheblichen Verschlechterung der allgemeinen gesundheitlichen Versorgung. (In vielen südafrikanischen Ländern zum Beispiel sind 50 bis 70 Prozent der Krankenhausbetten von HIV-Patienten belegt.) Hinzu kommen Kosten für die personal- und sachkostenintensive Betreuung von Erkrankten und Schwersterkrankten unter Quarantäne.

      Deutliche Auswirkungen bekommen die Unternehmen zu spüren: Allein die erhöhte Gefahr von Produktionsunterbrechungen und Ausfallzeiten, sei es direkt als Folge der Epidemie oder indirekt aufgrund der verschlechterten gesundheitlichen Versorgung, gehen mit erhöhten Unsicherheiten hinsichtlich der Lieferfähigkeit einher. Entsprechend zurückhaltend erfolgt die ausländische Auftragsvergabe.

      Die Erkrankung von Mitarbeitern bedingt insbesondere den Ausfall von Know-how. Selbst in Zeiten hoher Unterbeschäftigung oder durch den Übergang zu einer kapitalintensiveren Produktion kann dieser Ausfall kaum kompensiert werden. Hieraus ergeben sich unmittelbare Konsequenzen für Gewinnausblick, Schuldentilgung, Unternehmensrating und Kreditbeschaffung. Ein merklicher Rückgang des Wirtschaftswachstums ist in dieser Stufe unausweichlich.

      Dritte Stufe: Demografischer Schock

      Lang anhaltende Epidemien beeinträchtigen noch über Jahre hinweg die weitere ökonomische Entwicklung der betroffenen Volkswirtschaft. Die gesundheitliche Beeinträchtigung, möglicherweise die Infektion von Neugeborenen wie auch der Rückgang der Bevölkerungszahl wirken einerseits auf die Altersstruktur der Bevölkerung (Beispielsweise ist in Zimbabwe die Lebenserwartung von 65 auf schätzungsweise 39 Jahre gefallen.): Mit der erhöhten Mortalitätsrate erfolgt die Vernichtung von Humankapital. (In südafrikanischen Ländern wie Botswana etwa sinkt die Bevölkerung infolge von HIV jährlich um sechs Prozent).

      Lang anhaltende Perioden sinkender Produktivität mit sinkenden Weltmarktanteilen sind die Folge. Andererseits muss auch mit einem Rückgang der Fertilitätsrate (Zahl der Lebendgeburten je Frau) gerechnet werden. So war in der Folgezeit der Spanischen Grippe 1918/1919 in den betroffenen US-Bundesstaaten noch über Jahre hinweg die Geburtenrate rückläufig. Rückwirkungen auf die Innovationsfähigkeit und das Leistungspotential der nachfolgenden Generation sind die Konsequenz.

      Die nächste Epidemie kommt gewiss

      Epidemien sind weder ein isoliert medizinisches Problem noch der Auftakt zum Danse makabre für die betroffenen Volkswirtschaften. Ihre permanente Drohung einer Akkumulation von Risiken stellt allerdings komplexe Anforderungen an das Risikomanagement auf den Ebenen Politik, Unternehmen und Internationales Portfoliomangement. Denn eines ist unbestritten: Die nächste Epidemie kommt gewiss.

      http://www.manager-magazin.de/geld/artikel/0,2828,246015,00.…
      ___________________________________________________________
      Die Aussage das die Bevölkerung in Botswana jährlich um 6%schrumpft, konnte ich nicht glauben, ich habe die Aussage überprüft, und sie ist definitv falsch, die Bevölkerung in Botswana wächst nämlich pro Jahr ca. 1-2%.
      Ich habe aber, andere erschreckende Statistiken gefunden. Zum Beispiel habe ich erfahren, das die Wahrscheinlichkeit, das ein heute in Botswana lebender 15jähriger Junge, im Laufe seines Lebens an Aids stirbt, bei ca. 90% liegt.
      Quelle:
      http://www.ralf-ulrich.de/praesent/FU-AIDS2001.pdf
      Die Seite von http://www.ralf-ulrich.de/publ.html ist übrigens die beste, die ich im deutschsprachigen Netz zum Thema globale demographiesche Entwicklung gefunden habe.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 03.05.03 19:42:25
      Beitrag Nr. 85 ()
      ftd.de, Fr, 2.5.2003, 14:00
      96 Prozent aller Insolvenzen gehen auf Managerfehler zurück
      Von Ina Ullrich

      Meldet ein mittelständisches Unternehmen Insolvenz an, so sind in 96 Prozent aller Fälle Managementfehler entscheidend oder zumindest mitverantwortlich für den Weg in die Zahlungsunfähigkeit.

      Menschliche Faktoren wie Entscheidungsschwäche, mangelnde Krisenerfahrung und Konflikte innerhalb der Geschäftsführung können während einer schwächelnden Konjunktur das Ende für ein Unternehmen bedeuten. Dies ist das Ergebnis der Studie "Insolvenzen in Deutschland" der Unternehmensberatung Dr. Wieselhuber & Partner. Die Münchener Berater untersuchten 52 Insolvenzen aus verschiedenen Branchen und Regionen. Dabei stellte sich eine überraschende Übereinstimmung heraus: Nahezu allen untersuchten Unternehmen gemeinsam ist, dass sie den Großteil ihres Umsatzes nur in einem Geschäftsfeld erzielen.

      In diesem Segment stechen sie jedoch keineswegs als Marktführer heraus, sondern agieren lediglich als Mitläufer. Sie können die Preise nicht bestimmen, sondern müssen die Marktführer unterbieten. Das führt bei geringer Effizienz schnell dazu, dass diese Unternehmen teurer produzieren als verkaufen. Daraus folgen Verluste, die in Überschuldung und Liquiditätsmangel münden.

      "Eine solche Krise ist ein Zeichen dafür, dass in der Vergangenheit Fehlentscheidungen getroffen wurden", sagt Martin Prillmann, Geschäftsbereichsleiter Restrukturierung bei Dr. Wieselhuber & Partner. Zumeist seien das Sortiment falsch aufgebaut oder notwendige Anpassungen schlicht verschlafen worden. So verwundert es nicht, dass nach einer Insolvenz - wenn sie denn überstanden wird - in fast allen Fällen größere oder kleinere Teile des Managements abgelöst wurden.

      Rund 50 Prozent des Umsatzes und fast ebenso viele Arbeitsplätze blieben nach Insolvenz und Sanierung erhalten. Jedoch lebte nur in Ausnahmefällen das insolvente Unternehmen weiter: Zumeist erwarben neue Inhaber nur Teile eines Betriebs. Auch ein Komplettverkauf bedeutet das Aus für die insolvente Firma. Ein Schicksal, das im vergangenen Jahr rund 38.000 Unternehmen in Deutschland traf.
      Avatar
      schrieb am 13.05.03 00:45:26
      Beitrag Nr. 86 ()
      manager-magazin.de, 12.05.2003, 09:23 Uhr
      http://www.manager-magazin.de/unternehmen/artikel/0,2828,247…
      H Y P O V E R E I N S B A N K

      "Einmaliger Fall in Deutschland"

      Von Christian Buchholz

      Mitarbeiter des Discountbrokers DAB kämpfen mit massiven Schuldenproblemen. 40 von ihnen wollen jetzt Klage gegen den Arbeitgeber eingereichen. Ihr Vorwurf: Mit großzügigen Krediten ohne Sicherheiten-Check hätte sie das Management der Hypovereinsbank-Tochter zum Zocken verführt.

      München - Beim Discountbroker der Hypovereinsbank (HVB), der DAB , gibt es Mitarbeiter auf niedrigen Positionen, die sich Traum-Urlaube und Harleys leisten können. Auf der anderen Seite des Schreibtischs finden sich Kollegen, denen hohe Schuldenberge das Leben schwer machen. Vor dreieinhalb Jahren waren beide noch gleich liquide - doch dann kam das Mitarbeiter-Optionenprogramm.


      Die Glückspilze bei der DAB haben mit kreditfinanzierten Aktien mehrere hunderttausend Euro erlöst. Die Pechvögel haben nicht verkauft - und damit eine Aktie im Depot, die nach einem Höchststand von mehr als 60 Euro nur noch zwei Euro wert ist. Pikant ist, dass es sich dabei um das Wertpapier des Hauses, die DAB-Aktie, handelt.

      Nach Ansicht des Münchener Rechtsanwalts Volker Thieler trägt das Management der HVB-Tochter eine erhebliche Mitschuld am Finanzdebakel eines Großteils der DAB-Mitarbeiter, von denen einige laut Thieler jetzt "kurz vor der persönlichen Insolvenz" stehen.

      "In Rundschreiben an die Belegschaft hat die DAB dazu geraten, auf Kredit gekaufte Aktien nicht zu verkaufen. Und zwar zu einem Zeitpunkt, als der Kurs sich bereits vervielfacht hatte", so Thieler. Der Anwalt will beim Arbeitsgericht München im Auftrag von 40 DAB-Mitarbeitern Klage einreichen.

      Universität München erstellt Rechtsgutachten

      Dazu hat der Jurist nach eigenen Angaben auch ein Rechtsgutachten von der Universität München zu dem Fall erstellen lassen. Das Ergebnis, so Thieler, bestärke ihn in seiner Einschätzung, dass das Mitarbeiter-Modell der DAB "ein einmaliger Fall in Deutschland" sei.

      Begonnen hatte der Fall im Herbst 1999: Zum Börsengang der DAB bekam jeder der damals 500 Mitarbeiter Aktien geschenkt: Insgesamt 1,441 Millionen Anteile wurden unter der Belegschaft und dem Vorstand verteilt. Der Verteilungsschlüssel: Von der studentischen Aushilfskraft bis zu den damaligen Vorständen Matthias Kröner und Roland Folz (heute bei der DaimlerChrysler Bank) bekam jeder Aktien (Ausgabekurs: 12,50 Euro) im Wert von meist mehr als einem Jahresgehalt gratis ins Depot gelegt.

      123 Kredite von Mitarbeitern und Ex-Angestellten fällig

      Solche Geschenke im Rahmen von family-and-friends-Programmen erhalten die Freundschaft. Das Gegenteil allerdings bewirkte die DAB durch großzügige Kreditvergaben an jene Mitarbeiter, die noch mehr kaufen wollten: Aktien im Gegenwert eines Jahresgehalts gab es auf Pump.

      Anwalt Thieler behauptet, dass die DAB für diese auf - drei Jahre befristeten - Kredite keine Sicherheiten verlangte, beziehungsweise die geschenkten Aktienpakete als Sicherheiten ansah. Weshalb er seinem Klage-Antrag beim Arbeitsgericht noch den Vorwurf beifügt, die DAB habe als Arbeitgeber ihre Fürsorgepflicht verletzt.

      Warum das Mitarbeiterprogramm der DAB "einmalig" ist

      Drittens fällt das Aktien-Optionsmodell nach Thielers Auslegung unter die sogenannten "Haustür-Geschäfte", zu denen es ein Widerrufsgesetz gibt. Nach dem könnten die Mitarbeiter rückwirkend von den Verträgen zurücktreten - ohne für den Schaden (Kredit) aufzukommen. Doch so weit ist es noch nicht.

      123 der sogenannten Effektenkredite, die (bereits einmal verlängert) in der vergangenen Woche fällig wurden, konnten (oder wollten) von den Mitarbeitern - darunter auch etliche ehemalige - nicht bedient werden. DAB-Sprecherin Juliane Giese sagte gegenüber manager-magazin.de, nun würde mit den Kollegen über Kreditverlängerungen gesprochen.

      Buchwert-Millionäre waren ein Nemax-Phänomen


      In die Schuldenfalle geraten sind auch Mitarbeiter anderer Unternehmen, deren Kurse in den Glanzzeiten des Nemax hochschossen. So waren noch im Jahr 2001 die DAB-Mitarbeiter nicht die einzigen, über deren proppere Gehaltsaufhübschung in der Banker-Szene neidisch gesprochen wurde. Was den DAB-Fall gegenüber Intershop, Mobilcom, CE Consumer, MLP und etlichen anderen unterscheidet, ist die Kredit-Klausel.

      So bekamen die Mitarbeiter für jene Aktien, die sie auf Pump kauften, noch drei weitere in Aussicht gestellt, wenn sie ihr Paket nur lange genug hielten. Konkret: Hatte ein Mitarbeiter mit dem Jahresgehalts-Kredit 10.000 DAB-Aktien (für 125.000 Euro) erworben, wurde ihm gleichzeitig das Recht zugesprochen, zwei Jahre später weitere 15.000 Aktien zum Vorzugskurs (etwa 17 Euro) zu erwerben, ein weiteres Jahr darauf noch einmal 15.000 Aktien, ebenfalls zum - aus damaliger Sicht - Schnäppchenpreis.

      Allerdings: Die neuen Aktien bekam der Mitarbeiter nach dem Modell nur, wenn er sich verpflichtete, sein neues, mächtig angeschwollenes Aktienpaket erneut für ein Jahr zu halten. Ausgesperrt von dem Angebot wurden jene, die von ihren auf Kredit gekauften Aktien mehr als die Hälfte bereits vor Ablauf der ersten beiden Jahre verkauften.

      Bombengeschäft mit Pleite-Risiko

      Angestellte berichten, dass ihre Vorgesetzten in der Boomphase der Aktie wärmstens empfohlen hätten, das Modell voll auszunutzen. Ein Argument dabei: Die Spekulationssteuer, die für all jene anfiel, die vor Ablauf eines Jahres ihre Aktien verkauften. Trotzdem machten nur die ein Bombengeschäft, die ihre DAB-Aktien entgegen der Empfehlung frühzeitig verkauften.

      Im Musterfall hatte der DAB-Mitarbeiter seine 10.000 auf Kredit gekauften Aktien zwischen Ende 1999 und Ende 2000 im Buchwert um etwa 400.000 Euro gesteigert. Einigen der Betroffenen schien die Angelegenheit damit ausgereizt: Sie verkauften und konnten gleich anschließend den Traum vom Eigenheim in bar bezahlen.

      Andere gingen auf die Option des Arbeitgebers ein und hielten ihre Aktienpakete fest. Damit fanden sich im Besitz des oben erwähnten Angestellten Aktien im Wert von damals etwa einer Million Euro (zum DAB-Kurs Ende 2000 gerechnet, rund 40 Euro). Investiert hatte der vermeintlich Neu-Reiche lediglich 255.000 Euro nebst Kreditzins. Sollte sich der Kurs auch nur seitwärts entwicklen, blühten ihm ein Jahr später erneut 15.000 DAB-Aktien zum Vorzugspreis und abermals satte Gewinne. Die Million im Blick, ließen sich viele DAB-Mitarbeiter auf das Abenteuer ein.

      Die Hälfte der Belegschaft musste gehen

      So wird auch klarer, warum viele von Berufs wegen börsenkundige DAB-Mitarbeiter auf den Zug aufsprangen, den ihr Arbeitgeber bereitstellte: "Weil es die an die Aktien gekoppelten Optionen gab, mit denen man seinen Gewinn extrem leicht traumhaft hoch drehen konnte. Das glaubten damals jedenfalls viele", sagt ein Betroffener.

      Der sprichwörtliche Coup des Lebens lag auf dem Tisch und wollte nur noch unterschrieben werden. Dass der Schuss bei einem Kursverfall von 96 Prozent (zum Höchstkurs) nach hinten losgehen könnte, schien ausgeschlossen. Doch die Zeit zeriss die Millionenträume.

      Aktienkauf auf Kredit ist für Kunden des Discountbrokers DAB aus triftigen Gründen nur in engen Grenzen möglich. Denn sonst nimmt die Bank ein hohes Risiko ins Buch. In den USA haben die Banken das Problem schon länger durch so genannte Margin Calls gelöst: Kunden können Aktien bis maximal zur Hälfte des aktuellen Börsenwerts auf Kredit kaufen.

      Modell ohne Netz und doppelten Boden

      Fällt der Kurs der Aktien um 50 Prozent, wird das Paket automatisch komplett verkauft. So sichert die Bank ihren Anspruch, der Kunde landet mit seinem Investment zwar bei Null, wird vor Schlimmerem aber bewahrt.

      "Tja, leider war in den Effektenkredit meines Arbeitgebers keine Sicherung eingebaut", sagte ein Betroffener gegenüber manager-magazin.de. "Ein Margin Call hätte viel Leid vermieden."

      Obendrein verlor die Hälfte der noch 2001 bei der DAB Beschäftigen auch noch den Arbeitsplatz: Von 1100 wurde das Personal auf heute kaum mehr als 500 Beschäftigte reduziert. Zu den Ausgeschiedenen zählen auch die Vorstände Folz und Kröner, heute führt ein Dreigestirn (Alexander von Uslar, Jens Hagemann und Matthias Sohler) den Discountbroker.

      Tagesgeschäft "in keinster Weise beeinträchtigt"

      Sittenwidrig nennt Anwalt Thieler die an Aktienkäufe gekoppelten Verträge. Dies sei das Aktienoptionsprogramm "mit Sicherheit nicht", entgegnet DAB-Pressesprecherin Juliane Giese. Das Schulden-Thema bei vielen Mitarbeitern sei "im Unternehmen seit langem bekannt" und beeinträchtigte das Tagesgeschäft "in keinster Weise". Im übrigen sei die von Anwalt Thieler erwähnte Klage bei der DAB noch nicht eingegangen.

      Ein lauteres Echo erwartet Thieler zur Hauptversammlung am 15. Mai, "wo wahrscheinlich die Frage auftauchen wird, in welcher Höhe der Konzern Rückstellungen für die faulen Mitarbeiter-Kredite gebildet hat oder bilden wird".

      Als Ziele für seine Mandanten nennt Anwalt Thieler, falls es zu einem außergerichtlichen Vergleich kommt: Verzicht der DAB auf 30 bis 50 Prozent der Forderungen aus den umstrittenen Krediten. Oder bei Aufhebung des Arbeitsverhältnisses das Glattstellen des zugehörigen Mitarbeiter-Kredits.

      Wobei die zweite Variante für die Ausgeschiedenen auch den Vorteil hätte, dass sie nicht mehr täglich das Lächeln des Millionärs auf der anderen Seite des Schreibtischs entgegnen müssten.

      ___________________________________________________________
      Ich stelle mir gerade die Frage, wie hätte ich gehandelt, wäre ich in einer vergleichbaren Situation gewesen wie die DAB-Mitarbeiter damals. :confused: Wie hättet ihr gehandelt?
      Avatar
      schrieb am 30.05.03 11:35:39
      Beitrag Nr. 87 ()
      SPIEGEL ONLINE - 29. Mai 2003, 17:10
      http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,250785,00.html
      Immobilien-Blase" target="_blank" rel="nofollow ugc noopener">http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,250785,00.html
      Immobilien-Blase

      Der große Knall steht bevor

      Neue Gefahr für die Finanzmärkte: In vielen Ländern sind die Immobilienpreise ins Unermessliche gestiegen, nun droht die Blase zu platzen. Ein Preissturz könnte mehr Schaden anrichten als die Aktienbaisse und Staaten mit kränkelnder Wirtschaft tief in die Rezession drücken.


      London/Frankfurt am Main - Von Deutschland und Japan abgesehen, hat es in den vergangenen Jahren in fast allen Ländern einen Boom für Hauspreise gegeben, berichtet das britische Wirtschaftsmagazin "The Economist" in seiner am Freitag erscheinenden Ausgabe. Der Immobilienboom habe Blasen geschaffen - um mehr als 50 Prozent seien die Hauspreise seit Mitte der neunziger Jahre in Australien, Großbritannien, Irland, den Niederlanden, Spanien und Schweden gestiegen, in den USA um 30 Prozent.

      Das Platzen dieser Blasen im Laufe des nächsten Jahres sei sehr wahrscheinlich, so der "Economist". Um 15 bis 20 Prozent würden die Hauspreise in den USA dann stürzen, um 30 Prozent und mehr in anderen Ländern. Bei insgesamt niedriger Inflation sei der Wertverlust besonders drastisch. In Städten wie London, New York und Amsterdam gäbe es bereits Anzeichen für einen schnell abkühlenden Immobilienmarkt.

      In den USA sind die Preise für Eigenheime seit 1995 um 27 Prozent gestiegen - doppelt so stark wie in den Boomjahren Ende der siebziger und achtziger Jahre. In den Großstädten ist der Anstieg sogar noch größer: In New York sind die Preise um 47 Prozent, in San Francisco um 70 Prozent, in London sogar um 136 Prozent gestiegen. In Deutschland und Japan dagegen sind die nominellen und die realen Preise im gleichen Zeitraum deutlich gesunken. Ein Haus in Tokio kostet heute nur die Hälfte des Preises von 1991.

      Eigenheime repräsentieren 15 Prozent des BIP

      Das Platzen der Immobilienblase wird mehr Schaden anrichten als das Platzen der Aktienblase, sagt "The Economist" voraus. Die Zeitschrift sieht dafür drei Gründe: Steigende Hauspreise haben einen positiven Einfluss auf die Konsumausgaben, weil mehr Menschen Eigenheime besitzen als Aktien und mit steigenden Hauspreisen mehr Geld ausgeben. Für den Kauf eines Hause leihen sich Menschen eher Geld als für den Kauf von Aktien. Fallende Immobilienpreise führen zu notleidenden Darlehen bei Banken, denn für viele Hausbesitzer sind die Kosten für den Erwerb eines Eigenheims höher als der tatsächliche Wert.

      Auf rund 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes beläuft sich der Immobilienmarkt in reicheren Ländern nach Schätzungen von des "Economist". Dazu gehörten Bau, Kauf und Verkauf sowie Vermietung und kalkulatorische Zinsen für Nutzer-Eigentümer von Immobilien. Rund zwei Drittel des Sachvermögens machen Immobilien in den meisten Volkswirtschaften aus. Immobilien seien weltweit die größte Form der Einzelanlage. Investoren hätten mehr Geld in Immobilien angelegt als in Aktien oder Anleihen.

      Deutschland sei das einzige Land unter den entwickelten Volkswirtschaften, in dem weniger als die Hälfte der Haushalte Hausbesitzer seien. In den meisten europäischen Ländern und in Australien mache Wohnen 40 bis 60 Prozent des privaten Haushaltsvermögens aus, in Nordamerika rund 30 Prozent. Selbst in den USA ist sechsmal mehr Vermögen eines typischen Haushalts in Wohneigentum gebunden als in Aktien.

      Die Erträge aus Hauskäufen hätten in den vergangenen zehn Jahren in den meisten Ländern die Erträge aus Aktien deutlich überstiegen. Für Immobilien müsse die gleiche Wertanalyse angelegt werden wie für Aktien. Denn: Blasen bildeten sich, wenn der Preis für eine Anlage in keinem Verhältnis mehr zu seinem eigentlich Wert stehe. Die Kosten für den Erwerb von Eigenbesitz sollten die zukünftigen Entwicklungen widerspiegeln. Die Tatsache, daß in den meisten Ländern die Preise für Eigenheime und Bürogebäude viel schneller gewachsen sind als die Mietpreise, ist nach Ansicht von "The Economist" alarmierend.

      100 Quadratmeter kosten in London 800.000 Dollar

      Weil übergreifende Vergleichsdaten nicht zur Verfügung stehen, hat das Blatt im vergangenen Jahr Hauspreis-Indizes zusammengestellt, die vierteljährlich aktualisiert werden. Die Hauspreise hätten sich seit 1995 in Irland verdreifacht, in den Niederlanden und Großbritannien verdoppelt und sind um zwei Drittel in Australien, Spanien und Schweden angewachsen. Bei Berücksichtigung der Inflationsraten sind die Hauspreise in allen Ländern real um 25 Prozent gewachsen - ausgenommen Deutschland, Japan, Kanada und Italien. In Deutschland dagegen sind die Preise in den vergangenen sieben Jahren nominal um 5 Prozent und real - nach Abzug der Inflation - um 13 Prozent gesunken.

      Zwar gäbe es einen Weltmarkt für den Handel mit Anleihen, Aktien und Devisen, aber nichts Vergleichbares für Wohnungen. Die Preise für Immobilien und die Regeln für den Kauf und Verkauf wichen weltweit stark voneinander ab. Der Preis für eine Zweizimmer-Wohnung mit rund 100 Quadratmetern im Stadtzentrum ist am teuersten in London, New York und Tokio mit mehr als 800.000 Dollar, liegt in Frankfurt bei unter 400.000 Dollar und in Brüssel bei unter 200.000 Dollar.

      Nach Ansicht des "Economist" können weder niedrige Zinssätze noch Bevölkerungswachstum den Boom der Hauspreise rechtfertigen. Die Aktien-Blase habe gezeigt, daß der Grundwert einer Anlage nicht vernachlässigt werden dürfe. Zwei Wege sieht die Zeitschrift für die Bewertung von Hauspreisen: das Kurs-Gewinn-Verhältnis und das Verhältnis von Hauspreis und Einkommen. Der Wert jeder Anlage sollte seine zukünftigen Einkünfte widerspiegeln. So wie der Wert einer Aktie dem Wert der zukünftigen Dividenden entsprechen sollte, sollte der Wert eines Hauses die zukünftigen Leistungen des Eigentums widerspiegeln - entweder die Mieteinnahmen oder die eingesparte Miete für einen Eigentümer-Nutzer.
      Avatar
      schrieb am 02.06.03 05:39:19
      Beitrag Nr. 88 ()
      # 86: Ich hätte nicht bei der DAB gearbeitet und wenn doch dann hätte ich mir auch möglichst viele Optionen geben lassen aber niemals auf Kredit.

      Äthiopien

      Der inszenierte Hunger

      In Äthiopien gibt es Wasser genug - doch die Entwicklungshelfer der UN reden der Welt eine Dürrekatastrophe ein

      Von Lutz Mükke

      Die drei Minuten vom Empfangstresen im Parterre bis zu seinem Büro im sechsten Stock des UN-Hochhauses in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba genügen Wagdi Othman, um alles Wichtige zur aktuellen Ernährungslage des Landes zu sagen: Ausbleibender Regen führe bei den Bauern im Hochland zu Dürre und Missernten, bei den Nomaden im Flachland zu hohen Verlusten unter den Viehbeständen. „Wenn wir nichts tun, werden in diesem Jahr Millionen Äthiopier verhungern.“ Der 42-jährige Othman ist der Sprecher des UN-Welternährungsprogramms (WFP), des größten und wichtigsten Nahrungsmittelverteilers in Äthiopien. Und damit man die Dramatik auch ja richtig einschätzt, fügt er hinzu: „Wir stehen vor einer noch größeren Hungerkatastrophe als 1984.“

      Die Bilder aus Äthiopien gingen damals um die Welt und sind vielen Menschen im Gedächtnis geblieben: weit aufgerissene Kinderaugen in riesig wirkenden Kinderschädeln; apathisch wirkende junge Mütter mit dürren Babys auf den Armen; Auffanglager voll hungernder Menschen, die in entlegenen Dörfern aufgebrochen sind, um einem Gerücht zu folgen, das irgendwo Essen verhieß.

      In Stapeln aufgeschichtet, liegen 64 Seiten starke Hochglanzmappen griffbereit neben Othmans Schreibtisch. In düsteren Farben prognostizieren sie anhand von Schaubildern, Zahlenkolonnen und Tabellen eine „Hungerkatastrophe Äthiopien 2003“, die alle bisherigen Desaster übertreffe – auch die Hungersnot von 1984. Damals, schreibt das WFP, starben eine Million Menschen. Heute seien fast alle Regionen des Landes von gigantischen Ernteeinbußen betroffen. Allein in den Regionen Amhara, Oromiya und Somali seien über neun Millionen Menschen von der akuten Hungersnot bedroht. Auf die Ziffer genau listet das Pressematerial auf, dass Äthiopien in diesem Jahr 1 441 142 Tonnen Nahrungsmittel und 75 109 559 Dollar an Nothilfe benötigt, um das Überleben eines Fünftels der Gesamtbevölkerung zu sichern.

      Kräftige Rinder und Kamele an gut gefüllten Wasserstellen

      Täglich empfängt der ehemalige BBC-Korrespondent Othman in seinem klimatisierten Büro derzeit Journalisten aus aller Welt, auf dass sie die alarmierenden Zahlen hinaustragen. Nur durch ihre Berichte kommt die internationale Hilfsmaschinerie richtig in Gang. Von den Medien hängt es mit ab, wie viele Millionen Dollar in den kommenden Monaten nach Äthiopien fließen werden. Die USA, Großbritannien und die Niederlande hätten angesichts der Prognosen bereits umfangreiche Hilfen zugesichert, sagt Othman. Deutschland halte sich bedauerlicherweise noch zurück.


      Nach zweitägiger, 600 Kilometer langer Fahrt mit Tempo 25 über nicht enden wollende Straßen und Pisten fällt das zerklüftete äthiopische Hochland abrupt in die weite Ebene der somalischen Halbwüste. Mit der Talfahrt steigen die Temperaturen. Die Berge bleiben als monumentale Silhouette zurück. Der klapprige Bus biegt auf den holprigen Platz von Jigjiga ein, der Hauptstadt des somalischen Teils Äthiopiens, der im Volksmund seit der Kolonialzeit Ogaden genannt wird.

      Jigjiga ist ein Nest: einige pompöse Verwaltungsgebäude, ein geschäftiger Markt, schäbige Hotels und Bars, eine Militärstation – alles zusammengekittet von zahllosen Lehmhäusern mit Wellblechdächern. Christen und Muslime haben die Stadt untereinander aufgeteilt. Links der Hauptstraße wohnen die einen, rechts die anderen. Durch die Straßen fahren Militärjeeps und quietschende Garis, die landesüblichen Pferdekarren. Mittags können die Temperaturen hier bis auf über 40 Grad Celsius steigen. Am Stadtrand haben seit zehn Jahren ein paar tausend Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem benachbarten Somalia in einer Zeltstadt Zuflucht gefunden. Zur Grenze sind es nur zwei Autostunden. Der Schmuggel mit dem nahen Somalia blüht. Daran ändern auch die nach dem 11. September eingerichteten Militärposten nichts, die an der Straße in Richtung Somalia jedes Fahrzeug kontrollieren. Zehntausende Soldaten sandte die äthiopische Regierung, Busenfreund der USA, in den letzten Monaten in den Ogaden, um die 1500 Kilometer lange Grenze zu kontrollieren und unter dem Vorwand des „Kampfes gegen den Terror“ Militäraktionen auf dem Territorium des alten Erzfeindes Somalia durchzuführen.

      Im WFP-Papier wird die karge, von Dornenbüschen überzogene Somali-Region als eines von der Hungersnot am schlimmsten gebeutelten Gebiete beschrieben. 1,1 Millionen Menschen seien davon betroffen. Allein im Gebiet um Jigjiga sollen 264000 vom Hungertod gefährdete Somali auf Hilfe hoffen. Von ausgezehrten Kühen und Kamelen ist die Rede. „Die gegenwärtige Wassersituation ist für Mensch und Tier wegen zweier ausgefallener Regenzeiten alarmierend“, heißt es.

      Zu sehen ist davon weit und breit nichts. Trotz Trockenzeit ziehen Tausende kräftiger Rinder, Kamele, Ziegen und Schafe durch die flimmernde Ebene der Halbwüste. Wie in einer biblischen Szenerie sammeln sich um die gut gefüllte Wasserstelle „Oman“ viele hundert Tiere in guter Verfassung und mit prallen Höckern. Bauern und Nomaden aus dem Umkreis zweier Tagesmärsche berichten, es gebe keine wirkliche Not.

      Der 22-jährige Faisal Achmed, in zerfetztem Adidas-T-Shirt und Sandalen aus Autoreifen, und seine beiden hoch aufgeschossenen, drahtigen Brüder erzählen in der sengenden Mittagshitze, sämtliche ihnen bekannte Tränken führten Wasser. Niemand von ihrer weit in der kargen Ebene verstreuten Familie leide derzeit Hunger. „Und in der nächsten Zeit bleibt das auch so“, sagen die Achmed-Brüder und lachen optimistisch; sie berufen sich dabei auf die Sterne, aus denen die Ältesten ihres Clans das Wetter lesen. Dann treiben sie ihre stampfende und blökende Rinderherde weiter den staubigen Hang hinunter, dem schlammig-braunen Wasser entgegen.


      In Jigjiga ist die Hitze des Tages lauer Abendluft gewichen. Im kleinen Garten des Africa Hotel nippt Mohammed Beul an einer Flasche Mineralwasser, Somali-Musik dudelt aus einer knisternden Lautsprecherbox. In Jigjiga kennt man den schweigsamen Mann mit der tief ins Gesicht gezogenen Schirmmütze unter dem Spitznamen Pilot. Gesprächig wird Beul erst, als er das Stichwort „Nahrungsmittelhilfe“ hört. In der somalischen Halbwüste als Nomade aufgewachsen, spülte das Leben den heutigen Rentner zuerst in die Sowjetunion, später in die USA und dort in die Air Force zur Jagdfliegerausbildung. Er blieb schließlich in San Diego hängen, besucht aber von dort aus immer wieder seine alte Heimat. „Sie schreiben über die derzeitige Hungerkatastrophe? Da sind Sie hier falsch.“ Beul nippt am Mineralwasser. „Ich habe in den letzten beiden Monaten den Ogaden durchquert. Es gibt hier und da Probleme, aber von einer Katastrophe habe ich nichts gesehen.“

      Als draußen im fahlen Licht der Hotelbeleuchtung ein großer weißer Toyota Land Cruiser mit dem Aufkleber „WFP“ hält, sagt Beul: „Schreiben Sie doch über die da!“ Zwei gut gekleidete Herren steigen aus dem Cruiser. „Die fahren die größten Autos, stecken die dicksten Gehälter ein, und die wenigsten haben auch nur annähernd eine Ahnung vom Leben der Nomaden.“ Beul ist voller Verachtung für die Hilfsorganisationen, die seit Jahren in so genannten Feeding Centers kostenlos Getreide an nomadisch lebende Somali seines Clans verteilen. „Das führt mittlerweile dazu, dass die Nomaden ihre Wanderrouten ändern und dort hinziehen, wo gerade kostenlos Getreide verteilt wird. Das meiste davon wird an die Tiere verfüttert oder weiterverkauft. Außerdem gewöhnen sich meine Leute an Getreide als Nahrung. Das Zeug ist wie eine Droge für sie. Es zerstört ihre Ernährungsweise, denn früher haben sie ausschließlich von ihren Tieren gelebt.“

      Plötzlich fängt Beul an zu lachen: „Hören Sie das? Ihre Hungerkatastrophe fällt gerade ins Wasser.“ Laut krachen schwere Regentropfen auf das Vordach des Hotels. Es regnet die ganze Nacht, den kommenden Morgen und die nächsten Tage. Kein Stern ist mehr zu sehen.


      Auch in Dire Dawa fällt Regen. Die Stadt, die eine halbe Tagesreise von Jigjiga entfernt liegt, wurde 1902 auf Geheiß des äthiopischen Kaisers Menelik als Handelszentrum an der Eisenbahnstrecke Addis Abeba–Dschibuti errichtet und ist heute Äthiopiens zweitgrößte Metropole. Jeden Tag rumpeln die Züge im Schneckentempo über den rostigen, schmalspurigen Schienenstrang in Richtung Dschibuti, an den Golf von Aden. Die Gleise verlaufen direkt hinter der heruntergekommenen Zollstation von Dire Dawa.

      Gegenüber hat die kirchliche Hilfsorganisation Hararghe Catholic Services ihre unscheinbare Zentrale. Hier arbeitet Doktor Paulo Pironti, der in der Entwicklungshelfer-Community Äthiopiens als ausgewiesener Nomadenspezialist gilt. Der hagere Italiener lebt seit 18 Jahren in Äthiopien. Von einem kleinen schmucklosen Arbeitszimmer aus regiert der Agrarwissenschaftler zusammen mit dem ansässigen Bischof über 80 Entwicklungshelfer, die sowohl mit Nomaden im Tiefland als auch mit Bauern im Hochland arbeiten. „Eine Hungerkatastrophe haben wir hier im Tiefland nicht. Das sind dramatisch zugespitzte Prognosen, die eintreten können oder auch nicht.“ Pironti schüttelt den Kopf. „Das Problem ist, dass viele der so genannten Experten und Politiker in Addis nie aus ihren klimatisierten Büros herauskommen. Sie haben keine Ahnung vom Leben der Nomaden und geben deshalb jedes kranke Kamel gleich für eine Katastrophe aus.“

      Eine Renaissance des Islams, mit Geld aus Saudi-Arabien

      Pirontis Gesicht nimmt wütende Züge an. Er holt tief Luft, zündet sich eine Zigarette an, dann sagt er: „Seit mehr als zwanzig Jahren wird Getreide nicht nur hergebracht, um Bedürftigen zu helfen, sondern um die Produktionsüberschüsse der hoch subventionierten Bauern in den USA, Kanada und Westeuropa abzubauen. Oder warum sonst gibt man uns nicht Bargeld? Dafür könnte ich hier in der Region doppelt so viel Getreide kaufen, weil die Preise niedriger sind und die langen Transportwege wegfallen würden.“ Immer wilder gestikuliert er. Warum engagiere sich der Westen denn so für Äthiopien? Weil das Land ein strategisches Bollwerk sei zwischen dem islamischen Sudan und Somalia und gegenüber der arabischen Halbinsel!

      Doch auch Äthiopien scheint bedroht: Während der christlich-orthodoxe Bevölkerungsanteil im Land schwindet, erlebt der Islam hier eine Renaissance. Den Bau zahlreicher neuer Moscheen, islamischer Schulen und Krankenhäuser in vielen Landesteilen ermöglicht vor allem Geld aus Saudi-Arabien. Was die offiziellen Statistiken lange verschwiegen, wird nun offensichtlich: Etwa die Hälfte aller Äthiopier sind Muslime.

      „Grund genug für die USA, nach dem 11. September noch mehr Militär- und Nahrungsmittelhilfe nach Äthiopien zu pumpen, um die christliche Regierung zu stützen. Da achtet niemand so genau darauf, wo diese Hilfsgüter dann landen.“ Pironti kommt hinter seinem Schreibtisch hervor und greift zur nächsten Zigarette. „Gar keine Zweifel, es gibt hier hungernde Menschen und große Not. Die Frage muss aber lauten, warum das noch immer so ist. Wenn Sie Ihre Hungergeschichte haben wollen, dann fahren Sie doch weiter nach Mieso. Dort hatten einige Dörfer Totalausfälle bei der letzten Ernte. Denen geht es wirklich schlecht. Von dort kommen die Hungerbilder im Fernsehen. In diese Gegend fahren die meisten Journalisten, auch der Präsident war schon für ein paar Stunden da.“

      Draußen regnet es Blasen, die Straßen sind leer gefegt, die Leute haben in Cafés Unterschlupf gefunden oder stehen dicht gedrängt in Hauseingängen und unter Vordächern. Es riecht nach feuchter Erde.


      Kurve für Kurve winden sich die Serpentinen bis auf 2500 Meter die steilen Berge hinauf. Mit Tempo 30 wühlt sich der Allrad durch die im Regen und Schlamm abgesoffene Straße in Richtung Mieso. Die Heizung ist defekt, den Blick in die tiefen Täler versperren dicke Wolken. Es ist kalt.

      Hier an der Straße im Dorf Melkahora lebt der Bauer Aliye Mumed. Der Mann verlässt seine runde Lehmhütte und eilt den Besuchern über sein morastiges Feld entgegen. Er fröstelt und schiebt nur kurz seine Hand zum Gruß unter dem dicken bunten Baumwollumhang hervor. Regen rinnt sein zerfurchtes Gesicht herunter. Wir hocken uns unter eine Akazie. Die 2,5 Hektar Land können ihn, seine Frau und die vier Kinder nicht ernähren. Das Wetter habe nicht mitgespielt. Freut er sich über den jetzigen Regen? Der 53-Jährige schluckt: „Der Regen ist gut für unsere beiden Ochsen. In einer Woche gibt es wieder Gras. Ansonsten hilft er uns nicht.“ Inzwischen sind Mumeds Nachbarn herbeigeeilt. Über die Hilfslieferungen, die sie erhalten, sagt einer: „Pro Kopf kriegen wir zehn Kilo Mais im Monat. Wir essen seit Monaten nichts anderes. Aber das Schlimmste daran ist, dass man diesen komischen Mais aus dem Ausland nicht säen kann. Er ist steril!“

      Aliyes Nachbarn beginnen zu schimpfen: Ohne Saatgut seien sie dauerhaft von den Hilfslieferungen abhängig. Aliye Mumed reckt seine von der Arbeit kräftigen Hände zum Himmel und lässt sie dann hilflos fallen: „Schauen Sie mein Feld an! Es ist gepflügt, alles ist bereit. Jetzt könnte ich anfangen zu säen! Vielleicht hätte ich dieses Mal Glück.“ Er verstummt, macht ein beklommenes Gesicht und kehrt, als der Regen stärker wird, in seine Hütte zurück.

      Getreide, das als Nahrungsmittelhilfe nach Äthiopien geliefert wird, ist aus verschiedenen Gründen kaum keimfähig. Manche Sorten sind generell nicht zur Aussaat geeignet, andere sind aus so alten Lagerbeständen, dass ihre Keimfähigkeit verloren ging, wieder andere sind thermisch vorbehandelt. Die äthiopische Regierung hat das Saatgutproblem zwar erkannt, aber sie macht daraus ein Geschäft. Sie hat ein „Landwirtschaftliches Paket-Programm“ aufgelegt, das den Bauern Saatgut und Dünger auf Kreditbasis verkauft. Doch gerade den Bauern, die wirklich Not leiden, hilft das Paket wenig. Nicht nur durch die Rückzahlungsraten begeben sie sich in gefährliche Abhängigkeiten, sondern auch mit dem Saatgut. Denn dabei handelt es sich um hochgezüchteten Hybridsamen von der amerikanischen Firma Pioneer Hi-Bred International, der gerade mal für eine Saison reichlich Ernte verspricht. Er kann sich nicht selbst vermehren und muss Jahr für Jahr neu angekauft werden.

      Anderthalb Stunden nach dem Start in Addis Abeba setzt das kleine Passagierflugzeug der Ethiopian Airlines zur Landung in Bahir Dar an. Im gleißenden Sonnenschein glitzert die riesige, 3500 Quadratkilometer große Wasserfläche des Lake Tana. Hier entspringt der Blaue Nil. Alles Land ringsherum ist dicht besiedelt. Aus der Luft ist gut zu sehen, wie die Bauern auf ihren handtuchgroßen Feldern jede Fläche nutzen. Vom Flughafen der Stadt Bahir Dar aus, berühmt für die bis zu tausend Jahre alten orthodoxen Klöster der Gegend, sind es noch 100 Kilometer bis Debre Tabor, einer kleinen Stadt in der Amhara-Provinz Süd-Gondar.

      Hier arbeitet Klaus Feldner. Von der Veranda seines Hauses blickt der Landwirtschaftsexperte, der für die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) das Projekt „Integrierte Ernährungssicherung Süd-Gondar“ leitet, auf seinen von Blumen überquellenden Garten. Auch seine Region ist nach offizieller Lesart von der Hungersnot stark betroffen. Der bärtige Franke schüttelt ungläubig den Kopf, nachdem er die Zahlen und Statistiken der prognostizierten Katastrophe studiert hat. „Es sind ja wieder ein paar Distrikte mehr als ernährungsunsicher eingestuft worden. Ich habe es in meinen sieben Jahren hier noch nicht erlebt, dass auch nur ein einziger wieder aus dieser Statistik herausgenommen wurde. Dieser Status bleibt dann bestehen, egal, ob es gute oder schlechte Erntejahre sind. Hier in den Dörfern gibt es mal einzelne Familien, die in Not geraten. Aber es ist nie das ganze Dorf.“ Feldner ist sich „ganz sicher, dass Äthiopien sich nicht nur selbst ernähren, sondern sogar Getreide exportieren könnte. Das Potenzial dieses Landes ist riesig.“

      Nach 36 Jahren Arbeit als Entwicklungshelfer steht Feldner kurz vor der Pensionierung. Süd-Gondar ist sein letztes Projekt und sein „erster Erfolg“, wie er sagt: die Getreidesorte Triticale, eine Kreuzung zwischen Weizen und Roggen. An der südafrikanischen Universität Stellenbosch in zwei tropentauglichen Varianten gezüchtet, holte Feldner Triticale in den Neunzigern noch einmal nach Äthiopien, nachdem frühere Bemühungen der äthiopischen Regierung gescheitert waren, andere Triticale-Züchtungen hier heimisch zu machen. Inzwischen verbreitet sich das Korn mit den langen Grannen unabhängig von den GTZ-Bemühungen rasant auf den kleinen Feldern der amharischen Bauern. Denn Triticale kann die Ernteerträge mehr als verdoppeln und pflanzt sich selbst fort. Um Feldners Meisterstück zu begutachten, machten sich sogar einige äthiopische Minister und Botschafter der EU-Staaten aus dem fernen Addis Abeba auf den Weg nach Debre Tabor.

      Wut auf die Entwicklungshelfer in Schlips und Kragen

      Für diesen Erfolg musste der bullige 60-Jährige allerdings sehr unorthodoxe Wege gehen: Um monatelange Wartezeiten am Zoll, Einfuhrkosten und nervenraubende Debatten mit der Regierung über den Nutzen von Triticale zu umgehen, schmuggelte er kurzerhand Saatgut und Ausrüstung nach Äthiopien. Auch mit der orthodoxen Kirche Äthiopiens legt sich Feldner immer wieder an, weil die den streng gläubigen Bauern im amharischen Hochland an unzähligen Feiertagen verbietet, auf ihren Feldern zu arbeiten. „Hier dürfen die Bauern nur rund 120 Tage im Jahr arbeiten.“

      In seinen staubigen Arbeitsklamotten ist Feldner der lebendige Gegensatz zu den Katastrophen-Managern in Addis Abeba, einer, der sich noch in „Gummistiefelprojekten draußen in der Pampa“ abmüht. Ihn ärgert, dass sich die Entwicklungshilfe in Äthiopien immer mehr „verakademisiert“. Stetig vermehrten sich die hoch qualifizierten Wissenschaftler, die in Schlips und Kragen als Berater in der Hauptstadt die Schreibtische bevölkern. „Was fehlt, sind Leute, die noch selbst einen Pflug in die Hand nehmen können“, bemängelt Feldner.

      Dem Welternährungsprogramm wirft er Doppelmoral vor. Er hält es für viel zu regierungsnah, außerdem verfolge es mit dem regelmäßigen Ausrufen von Hungerkatastrophen auch eigene Interessen, welche die Weltöffentlichkeit kaum wahrnehme. „Würde es keine Hungerkatastrophen geben, könnte das WFP seine riesige Organisation nicht mehr finanzieren. Für jede verteilte Tonne Nahrungsmittel bekommen die Geld. Darum haben sie ein starkes Interesse, Krisensituationen aufzubauschen. Äthiopien, Südsudan und Bangladesch waren in den letzten Jahrzehnten die immer sprudelnden Geldquellen für das WFP.“


      Ohne einflussreiche Freunde könnte Feldner in Süd-Gondar allerdings nichts bewegen. Einer, den er auf seiner Seite weiß, ist der hochrangige Regierungsbeamte Jonas Bekele.* Ein Anruf Feldners genügt, und Bekele ist zu einem Interview bereit. Schlüsselpositionen wie seine sind fast ausnahmslos mit Mitgliedern der alles beherrschenden Regierungspartei Revolutionäre Demokratische Front der äthiopischen Völker (EPRDF) besetzt. Sie alle sind der offiziellen Linie verpflichtet. Bekele aber sagt Dinge, die von Regierungsangestellten höchst selten zu hören sind und die den kleinen Mann mit den stechenden Augen den Job kosten können. Das Wetter sei nicht schuld an der momentanen Nahrungsmittelknappheit, sagt Bekele, vielmehr seien „nach Jahrzehnten der Nahrungsmittelhilfe mittlerweile fünf bis sechs Millionen Äthiopier permanent abhängig davon. Das hat in Süd-Gondar zu einer Nehmermentalität unter den Bauern geführt, die zerstörerisch ist. Wir haben uns an die Hilfe gewöhnt wie an die aufgehende Sonne. Unter den Bauern hier kursiert seit Jahren der Spruch: Wir beten für Regen in Kanada.“

      Mit Kritikern macht die Regierung kurzen Prozess

      Seine Mitarbeiter kichern, Bekele aber verzieht keine Miene. „Wir müssen unsere Bauern wieder in die Lage versetzen, dass sie sich selbst ernähren können“, fährt der Ökonom fort. „Die Aufgabe der Hilfsorganisationen darf nicht sein, den einfachen Leuten Brot zu bringen. Die Helfer sollten sie befähigen, es selbst zu backen. In den letzten 20 Jahren sind gewaltige Summen Entwicklungshilfegelder verschleudert worden. Das muss ein Ende haben!“ Viele Hilfsorganisationen verstärkten das Problem, das sie eigentlich lösen sollten. Denn deren Funktionäre zögen ihre Existenzberechtigung aus dem Organisieren der Nahrungsmittelhilfe, argumentiert der Staatsbeamte. Ein gewaltiger Vorwurf – den der 141 Mitglieder starke Dachverband der katholischen Hilfsorganisationen in Äthiopien teilt. Dort geht man davon aus, dass sich mittlerweile ein Drittel der 325 im Land registrierten Hilfsorganisationen ausschließlich mit der Verteilung von Lebensmitteln beschäftigt. Die in Sonntagsreden und Konzeptpapieren viel gepriesene „nachhaltige Entwicklung“ und „Hilfe zur Selbsthilfe“ blieben auf der Strecke.

      Bekele berichtet von enormen Getreideüberschüssen, die in verschiedenen Landesteilen Äthiopiens immer wieder produziert würden. Die letzte Rekordernte habe es 2001 gegeben. Von solchen Überschüssen profitieren jedoch weder die notleidenden Menschen noch die produzierenden Bauern. Zum einen weil es kein funktionierendes Vermarktungssystem gibt. Zum anderen weil auch in guten Jahren Nahrungsmittelhilfe ins Land strömt. Von den pro Jahr durchschnittlich 800000 Tonnen importierten Getreidelieferungen landen nach Expertenschätzungen zwischen 20 und 40 Prozent zu Spottpreisen auf den Märkten der Städte und Dörfer. Kein Bauer kann mit diesen Dumpingpreisen konkurrieren. In vielen Regionen wird deshalb einfach kein Getreide mehr angebaut. Stattdessen gedeihen auf riesigen Flächen in Ostäthiopien die Büsche der Kaudroge Khat, deren amphetaminähnliche Wirkstoffe (Kathamine) am Horn von Afrika in ganzen Landstrichen die Menschen in freudige Lethargie versetzen.

      Die grünen Blätter der Droge versprechen den Bauern neben schönen Stunden jenseits aller Sorgen auch satte Gewinne. Denn der Khat-Markt wächst sowohl innerhalb Äthiopiens als auch auf der arabischen Halbinsel, in Europa und den USA. In den vergangenen Jahren avancierte Khat – neben Kaffee, Öl- und Hülsenfrüchten sowie Vieh – zum wichtigsten landwirtschaftlichen Exportgut des Landes.


      In ihren öffentlichen Verlautbarungen und Konferenzen beteuern die Regierungsvertreter in Addis Abeba immer wieder, dass man von der Nahrungsmittelhilfe loskommen müsse. Doch stattdessen wird die Hilfsindustrie immer perfekter kontrolliert. Denn für die derzeitige Regierungspartei EPRDF, die unangefochten allein herrscht und über ein weit verzweigtes Wirtschaftsimperium verfügt, ist Nahrungsmittelhilfe keine Notlösung, sondern ein wahrer Segen. Von den seit 1984 bis heute importierten 14 Millionen Tonnen Getreide profitierten die Machthaber.

      Große Handels- und Transportfirmen, die die Nahrungsmittelhilfe im Land verteilen und sich im Besitz der Regierungspartei befinden, verdienen an jeder Tonne Nahrungsmittel bis zu 150 Dollar. Je nach Ausmaß der proklamierten Notsituation fließen so oft dreistellige Millionensummen Jahr für Jahr in die Kassen der Partei. Zudem nutzt die EPRDF Nahrungsmittelhilfe als ein Belohnungssystem, um ihre Anhänger bei der Stange zu halten.

      In die Region Tigre etwa, das Gebiet, aus dem die EPRDF-Führungsspitze stammt, werden rund 30 Prozent der Nahrungsmittel geleitet, obwohl in Tigre lediglich zehn Prozent der Gesamtbevölkerung leben und die Hilfsbedürftigkeit als nur „durchschnittlich“ eingeschätzt worden war. Dies fand eine Studie des Grain Market Research Project 1998 heraus. Mehr noch: Nur 22 Prozent der Hilfe kommen überhaupt bei Bedürftigen an; die meisten Nahrungsmittel landen einfach dort, „wo von jeher viel hingeflossen ist“. Das sind Orte, wo „Regierung und Hilfsorganisationen langfristig in Personal, Kontakte, Büros und Fahrzeuge investiert haben“. Einen „signifikanten Zusammenhang zwischen Nahrungsmittelmangel und Empfängern von Hilfsgütern“ konnte das amerikanisch-äthiopische Wissenschaftlerteam nicht feststellen.

      Unmittelbar nach Veröffentlichung dieser brisanten Ergebnisse veranlasste die äthiopische Regierung die sofortige Beendigung des Forschungsprojektes. Kurz zuvor war es noch als leuchtendes Beispiel der Kooperation zwischen Äthiopien, der amerikanischen Entwicklungshilfebehörde USAid und der Michigan State University gefeiert worden. „Wir wurden von sehr hochrangigen äthiopischen Politikern persönlich unter Druck gesetzt, die Ergebnisse unserer Studie zu überarbeiten und einige an der Arbeit beteiligte äthiopische Kollegen gegen linientreue Funktionäre auszuwechseln“, sagt Thom S. Jayne, Professor für Agrarökonomie an der Michigan State University und damaliger Betreuer des Projektes. „Als wir beidem nicht nachkamen, weil wir weder unsere Ergebnisse noch unsere Mitarbeiter anzweifelten, mussten wir das Land verlassen“.

      Der Amerikaner wundert sich bis heute, warum die Ergebnisse seiner Studie international so wenig Beachtung fanden. Seine Erklärung: „Die geostrategische Lage Äthiopiens war auch vor dem 11. September schon von so großer Bedeutung für den Westen, dass die Politökonomie alles dominierte. Die äthiopische Regierung beherrscht die Hilfsorganisationen voll und ganz. Von den westlichen Gebern wird das geduldet, weil es offenbar nur darum geht, dass die Macht in Äthiopien in der Hand der jetzt herrschenden christlichen Elite bleibt.“

      Allerdings scheint es dieser Elite statt um christliche Werte lediglich um blanke Machterhaltung zu gehen. Mit kritischen Geistern macht die äthiopische Regierung generell kurzen Prozess. Zahllose politische Gegner verschwinden ohne Gerichtsverfahren in den Gefängnissen, Regierungsgegner werden hingerichtet, Studentenproteste niedergeknüppelt, unliebsame Entwicklungshelfer des Landes verwiesen, äthiopische Journalisten eingesperrt.


      Wegen der Teilnahme an den Studentenprotesten 2001 war auch einer der prominentesten Oppositionellen Äthiopiens, der Ökonom und Bürgerrechtler Berahanu Nega, inhaftiert worden. Zum Interviewtermin im Sheraton Hotel Addis Abeba, wo die Übernachtung anderthalb Jahresgehälter eines Durchschnittsäthiopiers kostet (150 Dollar), verspätet sich Nega, weil er auf den 50 Metern der herrschaftlichen Marmorlobby von einem halben Dutzend Sympathisanten freudig begrüßt wird. Der kleine agile Mann entschuldigt sich für die Unpünktlichkeit, bestellt ein Wasser und kommt schnell zur Sache: „Folgt einer Trockenheit automatisch eine Hungerkatastrophe? Natürlich nicht. Das hat strukturelle Ursachen. Zum Beispiel die, dass nach wie vor der Staat den gesamten Grund und Boden besitzt. Privatinvestitionen etwa in Bewässerungssysteme oder neue Produktionsweisen unterbleiben deshalb. Unsere Bauern produzieren mit Holzpflügen wie vor 3000 Jahren. Der durchschnittliche Bauer bewirtschaftet heute lediglich einen Hektar Land, und das gilt für 85 Prozent der 65 Millionen Äthiopier.“

      Nega steht kurz auf, geht ein paar Schritte, um sich Luft zu machen, setzt sich wieder und fährt fort: „Unsere Regierung will nichts ändern, sie will weder die Landprivatisierung noch Industrialisierungsstrategien. Warum? Vielleicht weil sie nur so ihre Macht erhalten kann. In den Städten hat sie ihre Anhängerschaft längst verloren.“ Nahrungsmittelhilfe aus dem Ausland, glaubt der 45-jährige Nega, trage nicht zur Lösung dieser Probleme bei, sondern zementiere sie. Die Geberländer und die Hilfsorganisationen sollten ihr Augenmerk auf die Demokratisierung Äthiopiens legen. „Eine nachhaltige Entwicklung kann ja nur von innen kommen.“

      Alle Fernsehteams drehen dieselben Hungerbilder

      Die Vertretung der EU hat ihren Sitz in Addis Abeba zwischen Stadtzentrum und Flughafen hinter dem großen Stahltor der einstigen DDR-Botschaft. Obwohl die EU an der Erstellung der offiziellen Prognosen über die drohende Hungerkatastrophe beteiligt war, sieht man hier das Zahlenwerk eher kritisch – jedenfalls, solange niemand namentlich zitiert wird. Die Zahlen seien schon deshalb „nur eingeschränkt glaubwürdig“, weil es in weiten Teilen des Landes gar keine funktionierende Verwaltung und somit keine verlässliche Datenerhebung gebe, merkt ein mit der Materie vertrauter Mitarbeiter an. Die zwei Dutzend Teams, die aus Mitarbeitern der äthiopischen Regierung, der UN sowie der Hilfsorganisationen bestanden und auf deren Arbeit sich das Zahlenwerk stützt, habe die Lage im November 2002 in einer Art „Raus aus den Geländewagen, rein in den Geländewagen“-Umfrage eingeschätzt. Anschließend hätten die Verantwortlichen beim Abfassen des Berichts „um die Millionen, die hungern werden, gefeilscht“. Zudem sei der Bericht auch Ausdruck des Verteilungskampfes um die jährlich zu vergebenden Hilfstöpfe. Seit Monaten rollt bereits eine Hilfswelle für Hungernde im südlichen Afrika. Um da überhaupt noch wahrgenommen zu werden, brauche es dramatische Zahlen.

      Die Vertreter der äthiopischen Regierung und des Welternährungsprogramms plädierten sogar dafür, die Weltöffentlichkeit mit einer noch höheren Zahl von Hungernden zu konfrontieren, die Leute der EU wollten niedrigere. „Irgendwie einigte man sich“, erzählt der Mitarbeiter.


      „Hilfsorganisationen und Medien haben eines gemeinsam: Sie leben von Katastrophen“, urteilt Hans-Josef Dreckmann. Bevor er 2001 nach Deutschland zurückkehrte, arbeitete er 13 Jahre lang als Afrika-Korrespondent für die ARD. Er kennt Äthiopien. „Das Reizwort Äthiopien ist ein wirksames Druckmittel auf zahlungskräftige Regierungen, weil sich viele Menschen immer noch an die verheerende Hungerkatastrophe von 1984/85 erinnern“, sagt der heute 64-Jährige. „Damals haben die äthiopische Regierung und die internationale Gemeinschaft es zugelassen, dass im Norden des Landes Zehntausende verhungerten. Dieses unbeschreibliche Sterben konnte man seinerzeit zum ersten Mal hautnah im Fernsehen miterleben. Diese Bilder waren ein Schock, und Äthiopien spielt diese Erfahrung seither immer wieder als Joker aus. Auch für die Hilfsorganisation ist es leicht, mit dem Symbol Äthiopien die Öffentlichkeit zu mobilisieren.“

      Sein letztes einschneidendes Erlebnis mit Hungerkatastrophen in Äthiopien hatte Dreckmann im Jahr 2000, als „über Nacht plötzlich schreckliche Bilder aus Äthiopien auf den Fernsehbildschirmen“ erschienen. Einmal mehr hatte das Welternährungsprogramm für die Publicity gesorgt und Fernsehteams eingeflogen, deren Bilder ihre Wirkung nicht verfehlten. BBC, Reuters, CNN – die Großen der Branche berichteten. „Äthiopien 2000“ wurde zum Selbstläufer: Die Heimatredaktionen forderten von ihren Afrika-Korrespondenten Berichte an über das, was sie bereits im Fernsehen gesehen hatten. Die Schlagzeilen der Boulevard-Presse überschlugen sich. Dreckmann: „Alles spielte sich nur in dem kleinen Ort Gode im Ogaden ab. Aber die Bilder im Fernsehen waren so verdichtet, dass man den Eindruck bekommen musste, ganz Äthiopien versinke wieder im Hunger. In Gode drehten praktisch alle Fernsehteams dieselben Hungerbilder und hatten dieselben Interviewpartner. Die Einzelsituation wurde aufs Land hochgerechnet. Und es kursierten Zahlen von mehr als zehn Millionen Hungernden.“

      Diese Übertreibung ging selbst der WFP-Chefin Catherine Bertini zu weit. Doch ihr Statement „Das ist keine Hungerkatastrophe“ verhallte nun ungehört, die Katastrophenberichterstattung war längst auf Touren, eine differenzierte Darstellung drang nicht mehr durch. Als der Korrespondent Dreckmann dem Ansinnen der ARD-Heimatredaktion nicht folgte, für eine quotenträchtige Katastrophenstory nochmals nach Äthiopien zu fliegen, schickte man kurzerhand den Kollegen Hans Hübner los.

      An Ort und Stelle konnte der heute 63-jährige Hübner, einst selbst Afrika-Korrespondent, dann zwar Unterernährung, aber keine Hungerkatastrophe entdecken. Er lieferte der Tagesschau in Hamburg daraufhin einen Bericht, der dem Spendenaufruf nicht das Wort redete. Ohne auf seine Rechercheergebnisse Rücksicht zu nehmen, habe die Tagesschau dennoch die Spendenaktion anrollen lassen, erinnert sich Hübner. Zwischen der Redaktion und dem Journalisten sei es daraufhin zu „Verstimmungen“ gekommen.

      Den Höhepunkt der diesjährigen Hungerkatastrophe prognostizieren die äthiopische Regierung und der Sprecher des Welternährungsprogramms, Wagdi Othman in Addis Abeba, für die Monate April und Mai. Sie mahnen zur Eile. Bis dahin müssten die vielen Millionen Dollar und Nahrungsmittel ins Land geschafft sein.

      Und niemand wird ihnen vorwerfen können, sie hätten nicht frühzeitig gewarnt.


      * Name von der Redaktion geändert


      (c) DIE ZEIT 16.04.2003 Nr.17
      Avatar
      schrieb am 14.06.03 17:35:29
      Beitrag Nr. 89 ()
      http://www.zeit.de/archiv/2002/06/200206_beistueck_geldse.xm…
      B Ö R S E

      Protokoll des Grauens

      Unter der Telefonnummer 0190-87 87 27 gibt Markus Frick täglich exklusive Börsentipps. Auszüge seiner Ratschläge vom 24. Januar:

      Aufgezeichnet von Marcus Rohwetter

      "Einen wunderschönen Tag wünscht Ihnen Ihr Markus Frick. Die Telefongebühren betragen 1,86 Euro pro Minute aus dem Festnetz der Telekom." (...)
      "Es ist Donnerstag, elf Uhr, recht herzlich willkommen auf meiner Börsen-Hotline. Morgen, morgen am Freitag und am Samstag geht es wieder weiter (...) ab elf Uhr, wie Sie das von mir gewohnt sind. Ich werde meine Zeit einhalten, das verspreche ich Ihnen. Und somit kann ich Ihnen jetzt auch noch gleich etwas versprechen, denn ich habe gestern hier auf dem Fondskongress in Mannheim einige sehr, sehr interessante Kontakte geknüpft. Und ich kann Ihnen eines sagen - was ich dort hier alles erfahren habe, das möchte ich Ihnen nun mitteilen: Es war hier ein ganz klarer Trend zu sehen. Es waren sehr, sehr namhafte Fondsmanager da, es war hier sehr stark die Gilde der großen Fondsmanager anwesend. Und es war wirklich sehr, sehr positiv zu sehen, wie hier wirklich momentan manche immer wieder versuchen, in der letzten Zeit die neuen Trends auszumachen." (...)

      "Ich kann Ihnen sagen, was hier ganz stark angesprochen worden ist, das waren die Aktien aus dem M-Dax. Man sagt, diese Aktien sind gut. Und sehr viele sind dort noch viel zu günstig beziehungsweise vernünftig bewertet. Und das ist der Grund, warum viele sagen, aus dem Grund erwarten wir eigentlich hier bei diesen Aktien einiges an Potenzial. Es wurden auch hier einige Aktien genannt, die hier wirklich sehr, sehr stark momentan hier immer wieder genannt werden." (...)

      "Ich habe hier mit einigen Fondsmanagern gesprochen, die meinten zu mir: Wenn man hier momentan Aktien aus dem M-Dax kaufen muss, dann muss man ganz klar in eine Boss hineingehen, weil man hiervon davon ausgehen kann, dass man in der nächsten Zeit höhere Kurse erleben wird und vor allem steigende Kurse erleben wird. Und das sind letztendlich die Gründe, warum ich sage, wir werden hier auch noch höhere Kurse erleben." (...)

      "Einer meinte gestern zu mir: Herr Frick, man muss dann auf die Aktien setzen, wenn sie überhaupt nicht besprochen beziehungsweise, wenn überhaupt nicht darüber geschrieben wird. Dann hat man schon die ersten 40 Prozent gemacht." (...)

      "Das Gute ist doch: Gerade jetzt in dieser Konjunkturflaute, die wir in Deutschland erleben, da kommt uns ein Brötchenbäcker wie Kamps gerade gelegen. Denn gegessen und getrunken, das wird immer, das können Sie mir glauben. Und mit diesen Aktien verdienen Sie natürlich dann auch in dieser Zeit recht viel Geld." (...)

      "Morgen ist wieder Faxabruftag. Morgen am Donnerstag werde ich Ihnen wieder einen neuen Faxabruf präsentieren. Dort wird es wieder einige Überraschungen geben. Sie wissen, gerade der letzte Faxabruf - da habe ich Ihnen gezeigt, wie man mit einer Datadesign, wie man mit einer Computerlinks, wie man mit einer Net AG, wie man hier die ein oder andere schnelle Mark verdienen kann." (...)

      "Bei einer Datadesign - und das ist recht interessant, nachdem ja gestern die Zeitschrift Der Aktionär auf diese Aktie hingewiesen hat, als der Toptipp spekulativ. Und inzwischen steht eine Datadesign bei 3,50 Euro." (...)

      "Denken Sie dran, was ich Ihnen immer wieder gesagt habe: Unter 15 Euro, so zwischen 13 und 14 Euro, kaufen wir uns ganz gemütlich in eine Computerlinks ein." (...)

      "Es gibt eine Aktie, die hier viele wahrscheinlich überhaupt nicht auf der Rechnung haben, eine Aktie aus Amerika. Es handelt sich um die Aktie von Siebel Systems. Die habe ich Ihnen schon einmal empfohlen, das weiß ich. (...) Inzwischen steht eine Siebel Systems aktuell hier bei 34,8 Dollar, und das spricht für diese Aktie. Denn ich kann Ihnen eines sagen, bei einer Siebel Systems haben wir immer wieder einige Überraschungen zu verzeichnen." (...)

      "Vielen Dank für Ihren Anruf. Sicher waren auch für Sie einige interessante Wirtschaftsnews dabei, von denen Sie eventuell erst in den nächsten Tagen in der Presse lesen können. Mir mir sind Sie immer einen Schritt voraus. Auf Wiederhören."
      Avatar
      schrieb am 14.06.03 20:37:38
      Beitrag Nr. 90 ()
      `89 - Ich kann Ihnen sagen und das ist auch die Meinung vieler meiner Freunde, die ich heute getroffen haben. Man ist der Meinung, dass dieser Tag in einigen Stunden zu Ende geht und das man sich darauf verlassen kann. Deshalb habe ich heute eine Überraschung für Sie bereit: Ich sage Ihnen bereits jetzt: Gute Nacht - und das in jeder Beziehung
      Avatar
      schrieb am 23.06.03 16:29:29
      Beitrag Nr. 91 ()
      Dieser Artikel von Dr. Marc Faber dürfte auch interessant sein. Ist aus dem englischen übersetzt und ist sehr interesant!!!!

      Der Artikel ist vom Dez. 02.

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      Im Zusammenhang mit der Diskussion um Inflation und Deflation ist meine Meinung, daß in einer Welt in der die Zentralbanken das Angebot an Papiergeld und Kreditexpanison ständig weiter schnell wachsen lassen eine allumfassende, weltweite Inflation so wie in den 30ern sehr unwahrscheinlich ist. Mit der Öffnung von effizienten und billig produzierenden Zentren in Asian, v.a. in China, Indien und Vietnam – hervorgegangen aus dem Zusammenbruch des Kommunismus – kann Deflation für Industrieprodukte und handelbare Dienstleistungen eine Zeit bestehen und Chaos für europäische und amerikanische Hersteller und IT-Service-Provider verursachen. Gleichzeitig ist es einleuchtend, dass eine Freisetzung von einer solch großen Anzahl neuer Konsumenten in die weltweite, freie Marktwirschaft und in das kapitalistische System als Ergebnis des Zusammenbruchs des Kommunismus die Nachfrage für einige Güter und Dienstleistungen, die unter dem strengen Planwirtschaftsmodell von Sozialismus und Kommunismus nicht erwerbbar waren explodieren wird. Somit hat weltweit das gleichzeitige Auftreten von Deflation im industriellen Sektor als Ergebnis der vielen neuen Produktionszentren und Inflation in den Rohstoffmärkten, verursacht durch die angestiegene Nachfrage aus Ländern wie China eine sehr ausgeprägte Wahrscheinlichkeit.
      Tatsächlich denke ich, dass die Investoren die ökonimische Bedeutung des Zusammenbruchs des Kommunismus schwer unterschätzt haben. In der westlichen, popülaren Vorstellung ist das Ableben des Kommunismus verbunden mit dem Sieg der USA über die UDSSR (auch wenn es nie zu einem militärischen Konflikt kam), welcher zum Ende des kalten Krieges führte. Wie auch immer – viel wichtiger nach meiner Ansicht, war der Sieg der freien Marktwirtschaft über das Zentralplanwirtschaftliche System des Sozialimus. Es ist aber sehr unklar wer als letzter Sieger aus der neuen Weltordnung hervorgehen wird, seit dem einige Regionen, die sich jetzt geöffnet haben ein weitaus größeres Potential haben – v.a. in ökonomischen Gesichtspunkten – als die industrialisierten Länder des Westens und Japan. Somit ist es möglich, dass die letzten Gewinner des kalten Krieges nicht die USA und Westeuropa sein werden, sondern eher die Regionen, die als Verlierer des kalten Krieges wahrgenommen werden – die ehemals kommunistischen Länder, deren ökonimisches Potenital sehr groß scheint und in einem deflationärem Umfeld sich sogar verstärkt wegen der extrem niedrigen Kostenstrukturen, den neu gefundenen Energie gegenüber der ökonomischen Anreize, die das kapitalistische System bietet und ihrem Aufholpotential, weil sie von einem sehr niedrigen wirtschaflichen Entwicklungsstand starten und eine Fülle von angestauter Nachfrage besitzen. Konsequenterweise ist es sehr wahrscheinlich, dass wir uns inmitten einer enormen Veränderung der geo-ökonomischen und geo-politischen Ordnungen befinden.
      (…;)
      Die USA mir ihrer absoluten militärischen Überlegenheit und ihren imperialistischen Ambitionen werden einer immer größer werdenden, feindlichen Welt gegenüberstehen, v.a. in armen Ländern, die die wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft der USA und ihrer Alliierten mit einem Aufreibungskrieg – also durch Terrorismus und urbaner Guerilla-Kriegsfürhung unterminieren. Um dieser Terror-Bedrohung zu begegnen und die strategischen Interessen zu schützen werden die USA und andere westliche Nationen gezwungen sein, deren riesige monetären und militärischen Ressourcen weltweit auszuweiten und sich in die Politik der „Schurkenstaaten“ einzumischen, was wiederrum nur zu größerer Feindschaft und mehr Gewalt von Minderheiten führen wird, deren einziges Mittel von Verteidigung und Angriff der Terrorismus ist. Zusätzlich müssen die USA und ihre Verbündeten mit einigen ungeliebten Staaten Freundschaft schliessen und diese unterstützen (Saudi-Arabien, Uzbekistan, Georigen usw.), was ein anti-amerikanisches und anti-westliches Sentiment in der Bevölkerung dieser Länder einen Auftrieb geben wird. Von diese äußerst delikaten politischen Umständen wird China profitieren, deren Einfluss-Sphäre in den kommenden Jahren weiter wachsen wird.
      Ein unmittelbarer Ausblick ist, dass nicht wie in den vorangegangenen Rezessionen der Rückgang der wirtschaftlichen Aktivitäten, den wir seit den späten 90ern erfahren haben in den USA zu einem zu einem Ausspülen der Exzesse und eine Anpassung der Ungleichgewichte, die mit exzessivem Schuldenwachstum, fallenden Sparraten und einem ständig steigenden Aussenhandelsdefizit entstanden sind geführt hat. Sondern durch die künstliche Stimulierung wurde die Wirtschaft zeitweise davon abgehalten in die Rezession zu fallen , was zu noch viel größeren Ungleichgewichten und einem kompletten Fehlen von angestauter Nachfrage auf der Seite des Konsumenten geführt hat. Somit ist es unausweichlich, dass in der Zukunft diese Ungleichgewichte korrigiert werden müssen – am wahrscheinlichsten mit einer zweiten Rezession oder Depression. Mit diesen Gedanken im Kopf bin ich weiterhin der Meinung, dass in den folgenden Jahren die jetzt relativ schleppenden Emerging Markets und die sehr gedrückten Rohstoffe die höchsten Erträge aller Asset Classes bringen werden.
      (…;)
      Ein Besucher in Asien wird im Jahr 2010 ein vollkommen anderes ökonomisches, soziales und politisches Bild vorfinden als heute. Dann werden eine Reihe von Ländern die bisher unter totalitären oder sozialistisch-kommunistischen Ideologien im Winterschlaf gehalten wurden (Myanmar, Laos, Vietnam, Kabmodscha, Nord-Korea und China bis Ende der 80er) oder unter politischer Autokratie und feindlichen Bewegungen gegenüber ausländischen Investoren (Indien und Bangladesch) standen zum Rest von Asien aufholen und sogar einige der Wohlastands-Zentren im Sinne von ökonomischer Entwicklung übernehmen. Auf der anderen Seite werden einige der heute „erfolgreichen“ westlichen Länder einen harten Wettbewerb mit diesen „Newcomern“ erleben und „underperformen“ oder sogar Unterliegen in absoluten Rückgängen ihrer Vorteile. Darum geht es immer bei Veränderungen: Es gibt unausweichlich immer nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer.
      (es folgt eine seitenlange Beschreibung der Nach-WW2-Entwicklung in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht für den asiatischen Bereich mit parallelen zum europäischen, mittelalterlichen Feudalsystem, sowie die Stellung der USA im gesamten asiatisch-pazifischen Raum und deren Entwicklungen)
      (…;)
      (nun folgt eine Sichtweise von der Seite der chinesischen Führung – kein Zitat, sondern ein „Gedankenspiel“ wie es denn – aus heutiger Sicht - sein müsste)
      “(…;) Weiterhin können wir es uns nicht leisten von einer feindlichen Macht wirtschaftlich in der Form stranguliert zu werden, dass der Ölfluss vom Mittleren Osten nach China unterbrochen wird. Konsequenterweise müssen wir, um unsere Schifffahrtswege zum Mittleren Osten zu sichern starke Militärbasen vom Persischen Golf zu den nördlichen chinesischen Häfen aufbauen. Im Falle eines Krieges müssen wir direkten Zugang zur Adaman Sea via Myanmar und zur Arabischen See via Pakistan haben – mit beiden Ländern haben wir seit der Befreiung Tibets gemeinsame Grenzen. Auch müssen wir wegen unserer geographischen Nähe mehr Einfluss in Zentralasien haben und eine Pipeline nach Kasachstan zur Sicherung des Öls aus dem kaspischen Meer haben. Desweiteren müssen wir den US-Einfluss in Asien unterminieren indem wir Asiens wichtigster Konsument und Auslandsinvestor werden. Das dürfte nicht schwer sein, weil unser Land arm an Ressourcen ist. Abgesehen vom Öl können wir jeglichen Bedarf an Ressourcen von unserern asiatischen Nachbarn kaufen. Öl und Holz von Indonesien und dem Fernen Osten Russlands, Kaffee von Vietnam, Palmöl von Malaysia, Reis von Thailand, Kupfer von den Phillipinen und der Mongolei und alle landwirtschaftlichen Produkte von Australien und Neu-Sealand. Wenn unsere Wirtschaft weiterhin mit der aktuellen Rate wächst, sollten wir der welt-größte Käufer der meisten Rohstoffe werden und , weil wir Asiens bester Konsument sind, können wir uns geöffnete Märkte für unsere Industrie-Produkte sichern. Im Gegensatz zu den Gednaken der westlichen Bevölkerung sind wir viel unabhängiger von Exporten in die USA für unser wirtschaftliches Wachstum, als die USA von unserern Niedrig-preisigen und hochqualitativen Produkten um Ihre Inflations- und Zinssäte durch deflationäre Importpreise niedrig zu halten. Sämtliche Exporte machen gerade mal 10 % unseres GDP´s aus und unsere inländische Wirtschaft hat ein riesiges Potential für Wachstum, weil der Häuser- und Konsumentenmarkt weiterhin stark unter-entwickelt sind. Und zuletzt kann ein angriffslustiges und imperialistisches Amerika nur von Vorteil für unsere inländischen Ziele und geopolitischen Ambitionen sein. Zu Hause sollten wir wesentlich geringerem internationalem Druck für das Verhaften und Eliminieren von Dissidenten sein, weil wir die jetzt Terroristen oder potentielle Terroristen nennen können. Ausserhalb von China ist es offensichtlich, dass sich die USA immer mehr Feinde weltweit machen mit ihrer schikanierenden Einstellung. Wir sollten weiterhin fortfahren Brücken, Dämme, Kraftwerke, Strassen und Schulen in armen Ländern zu bauen, was uns fast nichts kostet, da wir einen gewaltigen Überschuss an Arbeitskräften haben, diese werden uns immer mehr Vertrauen schenken und unseren politischen und wirtschaftlichen Einfluss verstärken lassen. Und sollte der USA den Irak angreifen, wird es die islamische Welt verfeinden und uns die Möglichkeit geben neue Freunde zu machen, weil wir niemals öffentlich die Kriegs-Initiative der USA unterstützen.“
      (Ende der chinesischen Sicht)
      (…;)
      Bezogen auf die Statistik-Agentur Inegi haben 529 Fabriken mit 220.000 Arbeitsplätzen seit dem Jahr 2000 Mexiko verlassen und wurden durch Industrie-Kapazitäten in China wiederaufgebaut. Die Auslandsdirektinvestitionen in Mexiko sanken um 15 % auf 6,1 Mrd. $ im ersten Halbjahr 2002. Die FDI´s nach China stiegen um 19 % auf 24,9 Mrd. $. Es wird erwartet,dass die FDI´s bis Jahresende auf 50 Mrd. US$ steigen !
      Zur gleichen Zeit wird China jetzt der weitaus größte Konsument in Asien wegen seinem Bedarf an natürlichen Ressourcen und ihre grenzüberschreitenden Touristen sind bereits die größte Touristengruppe in vielen asiatischen Ländern. Die Anzahl der grenzüberschreitenden Touristen aus China hat sich in den letzten 6 Jahren verdreifacht, macht aber immer noch weniger als 1 % von Chinas Bevölkerung aus. Da in den asiatischen Ländern wir Japan, Südkorea und Taiwan die Abflugraten in etwa bei 15 % liegen, während die Rate in Großbritannien bei 100 % liegt, ist es nicht unrealistisch zu erwarten, dass diese Rate in den nächsten 10 – 20 Jahren auf 5 bis 10 % ansteigt, was bedeuten würde, dass es 60 – 100 Millionen chinesische Reisende jedes Jahr geben wird. Auch kaufen chinesische Firmen vermehrt andere Firmen in Asien um deren wirtschaftlichen und politischen Einfluss in Asien zu verstärken und des weiteren werden immer mehr Chinesen in Ländern wie Fern-Ost-Russland und Myanmar angesiedelt (dafür bauen die Chinesen jede Form von Infrastruktur – gratis), was für Sie strategisch wohl sehr wichtig ist.
      Der Aufstieg Chinas zu Asiens dominanter ökonomischer und politischer Macht bewirkt eine Reihe von Folgen. Es ist klar, dass mit einer Bevölkerung von 1,2 Mrd. Menschen China der größte Konsument für die meisten Rohstoffe und Dienstleistungen der Welt werden wird. Schon heute gibt es in China mehr Kühlgeräte, Mobiltelefone, TV´s und Motorräder als in den USA – es ist nur eine Frage der Zeit bis es riesige Märkte für nahezu jedes Produkt haben wird. Im Endeffekt wird die Rohstoffnachfrage beständig steigen und die Käufe der Chinesen von Öl, Kaffee, Kupfer, Getreide usw. werden die Rohstoffpreise dramatisch in die Höhe schiessen lassen. Man bedenke nur das folgende: Asien mit seinen geschätzten 3 Mrd. Einwohnern verbraucht täglich 19 Mio. Fässer Öl. Zum Vergleich brauchen die USA mit einer Bevölkerung von nur 285 Mio. rund 22 Mio. Fässer Öl. Das ist ein mehr als 10 mal so großer pro-Kopf-Verbrauch. Der asiatische Konsum steigt stark. Chinas Ölnachfrage hat sich in den letzten 7 Jahren auf rund 4,5 Mio. Fässer täglich verdoppelt. In Asien ex Japan kann ein ähnlicher Trend beobachtet werden. Meine Einschätzung ist, dass Asien in den nächsten 10 Jahren den Ölverbrauch noch mal verdoppelt - das sind dann 35 bis 45 Mio. Fässer pro Tag. Es ist betonenswert, dass wenn sich der asiatische Ölverbrauch auf rund 40 Mio. Fässer verdoppeln würde, wäre der pro-Kopf-Verbrauch immer noch geringer als heute in Lateinamerika. Somit denke ich, ist es durchaus realistisch wenn man die Wachstumsraten, schnelle Industrialisation und den ständigen Anstieg des Lebensstandards in den Ländern, die sich erst kürzlich geöffnet haben (China, Vietnam) bedenkt. Mit einer Nachfrage von 45 Mio. Fässern würde sich die geopolitische Umgebung der ölproduzierenden Regionen dieser Welt komplett verändern, weil Asiens Ölnachfrage dann mit Abstand die Größte von irgendeinem wirtschaftlichen Block sein würde. Somit erwarte ich, dass China viel stärker im Mittleren Osten und in Zentralasien involviert sein wird in den nächsten Jahren und es zu zusätzlichen Spannungen kommen wird. Ich schätze sogar, dass ein Konflikt zwischen chinesischen Interessen im Mittleren Osten und Zentralasien mit amerikanischen und auch russischen Interessen ist nahezu unvermeidbar. Eine Verdoppelung der asiatischen Ölnachfrage wird unausweichlich zu signifikant höheren Ölpreisen in der zweiten Hälfte dieser Dekade führen, wenn die Gesamtölproduktion wahrscheinlich ihren Höhepunkt erreicht hat.
      Aber es ist nicht nur der Ölmarkt, den das chinesische Wirtschaftswachstum bewegen wird. Man nehme zum Beispiel den pro-Kopf-Verbrauch von Nahrungsmitteln in China, den ich nicht mit dem Verbrauch der westlichen Länder vergleichen möchte, wo ein Großteil der Bevölkerung an Fettsucht leidet. Wenn wir auf den chinesischen Verbrauch von Fleisch, Milch, Fisch, Früchten und Geflügel in China, HongKong und Taiwan ansehen wird es klar, dass ein Anstieg des Lebensstandards in China zu Käufen von landwirtschaftlichen Produkten muss. Irgendwann werden die Verbrauchszahlen pro Kopf sehr ähnlich zu denen in HongKong und Taiwan sein.

      proKopfVerbruach pro Kilo / Liter

      China Taiwan HongKong
      Fleisch 15 81 91
      Geflügel 2 * 29
      Fisch 4 59 57
      Reis 154 85 60
      Früchte 12 92 92
      Milch 6 39 52
      Gemüse 19 70 78
      Fruchtsaft 0 19 3

      (Consumer Asia 1995), * bei Fleisch eingerechnet
      Oder man vergleiche den jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von Kaffee in China mit dem in westlichen Ländern. Der Verbrauch liegt in Deutschland bei 8,6 kg, in der Schweiz bei 10,1 kg und in Japan – wo der Verbrauch in den letzten 30 Jahren ständig gestiegen ist – liegt er bei 2,3 kg. In China gerade mal bei 0,2 kg. Wenn der Verbrauch nur auf 1 kg ansteigt (etwas weniger als in Südkorea), dann würde China 1,2 Mrd. kg verbrauchen – verglichen zum Gesamtverbrauch von rund 70 Mio. kg in der Schweiz. Was ich betonen möchte ist, dass wenn Chinas Lebensstandard beständig ansteigt, wird es einen gigantischen Einfluss auf die Welt-Rohstoffmärkte haben und die Preise beträchtlich in die Höhe treiben. Ich empfehle einen Korb von Rohstoffen zu kaufen – das ist die beste Art die Entwicklung Chinas zur weltweit dominantesten Macht zu „spielen“.
      (…;)
      Einige Leser werden natürlich meinen Optimismus über Chinas Wachstumsaussichten hinterfragen und herausstellen, dass China mit einer großen Anzahl von Problemen konfrontiert ist. Die größten Probleme betreffen das Finanzsystem, große, faule Kredite, staatseigene Banken, unbezahlte Pensionsfonds-Verbindlichkeiten, Korruption und ein Ungleichgewicht der Wachstumsaussichten zwischen den städtischen und ländlichen Gegenden. Mir sind diese Probleme sehr vertraut, weil ich regelmäßig eingeladen werde, bei Konferenzen in und um China mein bearishes Szenario von China zu erzählen. Mein bearisches Szenario betrifft mehr den Punkt, dass es für ausländische Investoren sehr schwer werden wird viel Geld in China zu machen – wegen der deflationären und hoch wettbewerbsfähigen Umstände in denen die Ausländer regelmäßig zu den „Putzfrauen“ gebracht werden – ähnlich wie es der Fall war im 19. Jahrhundert in der amerikanischen Wirtschaft. Aber in Bezug auf Chinas eigene Probleme denke ich, wenn deren Reichweite erheblich ist, können Sie gelöst werden. Ich betone können, weil es bisher verfehlt wurde mit den Problemursachen effektiv umzugehen und radikale Finanzreformen immer wieder vertagt wurden. Wie auch immer, bin ich überzeugt davon, dass China eine starke Finanzkrise erleben wird, die die Politiker zwingen wird mit den faulen Problemen und den Themen der Pensionsfonds umzugehen. Der Leser sollte über diese Krise nicht sonderlich besorgt sein. Die amerikanische Wirtschaft erlebte im 19. Jahrhundert eine Vielzahl von Krisen und auch einen Bürgerkrieg und trotzdem war die wirtschaftliche Entwicklung zwischen 1800 und 1900 bewundernswert. Alle schnell wachsenden Regionen erleben von Zeit zu Zeit furchtbare Rückschläge- ein Phänomen, dass auch dem Vater der Geschäftszyklen bereits bekannt war – Clement Juglar, der herausstellte, dass der Reichtum von Nationen über die Härte der Krise, die sie erfahren, gemessen werden können.
      (nun kommen wieder seitenweise Ausführungen in der Finanzgeschichte aus dem 18. und 19. Jahrhundert bzgl. USA, UK, Deutschland und er kommt noch mal auf das feudale System des Mittelalters zurück)
      Es gibt einen weiteren Punkt der mich optimistisch sein lässt. Als die ehemals kommunistischen und sozialistischen Länder Ende der 80er und Anfang der 90er begonnen haben sich zu öffnen, waren sie schlecht vorbereitet auf die Marktwirtschaft und einen Wettbewerb im Unternehmenssektor.
      Diese sich verändernden Wirtschaften hatten nicht nur eine arme physische Infrastruktur, sondern auch einen Mangel an Insitutionen, die notwendig sind um den Kapitalismus zu bestehen. Man kann sich die Komplexität des Wandels von einer kommunistischen zu einer marktwirtschaftlichen Wirtschaft nur schwer vorstellen. Zum Beispiel gab es unter der Planwirtschaft der kommunistischen Systeme keine Besteuerung, weil die Arbeiter ein Nettogehalt bekamen und die Unternehmen dem Staat gehörten. Jetzt plötzlich sehen sich diese Wirtschaften mit der Marktwirtschaft konfrontiert, in der man Steuern einsammeln muss. Noch dazu war der Unternehmenssektor als die Wirtschaften begonnen haben sich zu öffnen komplett unvorbereitet für den internationalen Wettbewerb. Den Unternehmen mangelte es an Kapital, Management Know-How, Marketingstrategien, modernen Produktionstechiken und Vertriebskanälen. Die lokalen Unternehmen hatten quasi gar keinen Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten, weil die Banken entweder gar keine Kredite ausgaben oder die nur für staatseigene Unternehmen machten. Es ist nicht verwunderlich, dass westliche multi-nationale Konzerne, die sich in diese sich ändernden Wirtschaften wagten riesige Wettbewerbsvorteile hatten. Mit ihrer überlegenen Produktqualität, Marketingstrategien und einem fast unendlichen Zugang sich an den iinternationalen Kapitalmärkten zu finanzieren war es für sie einfach schnell 50 – 70 % Marktanteile für Ihre Produkte in den Märkten zu erwerben. Tatsächlich waren die 90er für Firmen wir Coca Cola, Gillette, Procter&Gamble, Unilever, Nestle, Nike, McDonalds, Kellogg, Starbucks usw. sehr positiv. Zusätzlich steig die Produktivität vieler multinationaler Unternehmen, weil „Outsourcing“ auf der Tagesordnung stand. Mit dem Schliessen von teuren, westlichen Produktionsstätten und dem outsourcen der Produktion in asiatische Länder konnten die Gewinnspannen enorm vergrößert werden. Aber in den folgenden Jahre sehe ich die Rache der Firmen, die in den emerging markets beheimatet sind kommen. In den 90ern lernten die lokalen Unternehmen von deren ausländischen Wettbewerbern wie man erfolgreich ein Geschäft führt. Seit dem viele ausländische Unternehmen mit ihnen joint ventures geschlossen haben, konnte viel Wissen und Herstellungstechnologie zu den lokalen Partnern transferiert werden. Durch diesen Prozess des Outsourcings akquirierten die lokalen Firmen alle nötigen Technologien um ihre eigene Produkte unter ihrem eigenen Markennamen herzustellen. Deswegen habe ich überhaupt keinen Zweifel daran, dass wir mit der Zeit mehr und mehr chinesische Firmen und andere Marken sehen werden, die Marktanteile in deren lokalen Märkten und auch in den Weltmärkten gewinnen werden und mit den heute etablierten Marken konkurrieren werden. Wer hat vor 30 Jahren etwas gehört von Marken wie Samsung, Kia Motors, Hyundai, Daewoo, Acer, Shu Uemura, Issei Myiaki, Yamatomo, Shiseido und Red Bull oder von Firmen wie Dr. Reddy, Wipro, Infosys,Reliance Industries, Taiwan Semiconductors, UMC, Sampoerna, Posco, Legend, Konka, Haier und Singapoe Airlines – um nur einige wenige zu nennen ? Somit waren die 90er die Dekade der westlichen Unternehmen, aber ich denke, dass die nächsten 10 Jahre die Dekade der aufstrebenden und sehr machvollen lokalen Marken in den heimischen Emerging Markets sein werden und die Dekade des Aufstiegs der Chinesischen Marken im Weltmarkt. Bitte vergesst nicht, dass in den 50ern japanische Marken wie Sony, Panasonic, Honda und Toyota quasi unbekannt waren. Ab sofort wird das Leben für die Multinationalen schwer werden, ein Fakt der sich bereits in der armen Entwicklung der Aktienkurse der Multinationalen wieder spiegelt.
      Es gibt einen weiteren Punkt, den es im Zusammenhang mit den Multinationalen zu bedenken gibt. Bis vor Kurzem waren Gebühren für Patente und Lizenzen fast nicht diskutiert. Aber mit dem Aufstieg der Anti-Globalisierungsbewegung sind die Patentgebühren erheblich unter Druck gekommen. – vor allem bei den pharmazeutischen Unternehmen deren Produkte in den verarmten Ländern in vielen Fällen nicht käuflich waren. Nach meiner Meinung wurde Pandoras Box jetzt geöffnet und wir werden mehr und mehr beobachten können, dass die aufstrebenden Länder entweder die Patente und Lizenzgebühren neu verhandeln oder sie einfach komplett missachten werden. Ich kann mir einfach überhaupt kein Szenario vorstellen unter dem die 2 Milliarden Chinesen und Inder ein paar hundert Dollar Gebühren für Microsoft und rund 50 Dollar für eine HP Durckerpatrone bezahlen werden, wenn das erste so einfach kopiert und das letztere auch für 1 Dollar hergestellt werden kann.
      Es gibt einen weiteren Faktor, der meinen Optimismus für die asiatische Region und die aufstrebenden Märkte generell verstärkt. Da der feudalistische Kapitalismus auf den ich mich oben bezog (Anmerkung von Toby: diese paar Seiten habe ich nicht übersetzt), die Stärke der amerikanischen Wirtschaft in den 90ern verstärkte, litten die Emerging Markets unter massiver Kapitalflucht. Als Folge haben die Privatinvestoren und die Notenbanken ihre riesigen Konten hauptsächlich in den US Kapitalmärkten geparkt. Wenn – wie auch immer – die politische, soziale und ökonomische Transformation wie oben erläutert stattfindet, werden Konditionen für eine massive Rückführung der Guthaben von Übersee geschaffen und zu höherer Investmentaktivität führen und die lokalen Anlagewerte in die Höhe treiben. Konservativ würde ich schätzen, dass die Indonesier rund 100 Milliarden Dollar ausserhalb ihres Landes unterhalten. Argentinier halten mindestens 50 Mrd. Dollar auf Auslandskonten und die russischen Auslandvermögen sind ebenfalls sehr erheblich. Noch einmal, ich möchte den Leser daran erinnern, dass das Preislevel der asiatischen Länder in Folge der Asienkrise im Vergleich zu den industrialisierten Ländern extrem günstig wurde und somit eine Rückführung der ausländischen Guthaben sobald Sinn machen würde, sobald die Marktwirtschaft und das kapitalistische System mehr institutionalisiert werden. Zusätzlich möchte ich betonen wie ich im letzten Report herausgestellt habe, haben die internationalen Banken enthusiastische Kredite bis direkt zur Asienkrise gegeben haben und unmittelbar danach haben Sie ihre Ausleihungen um rund 50 % reduziert. Wie auch immer, ich habe keinen Zweifel daran, dass die Ausleihungen wieder an Fahrt gewinnen, wenn das Verhältnis von „asiatischen Risiko“ zu „sicheren Hafen“ in den USA sich verändert. Daher wird die Kombination von Rückführung der heimischen Investoren, eine Wiederaufnahme der Bank-Verleihungen und ein verbessertes Klima gegenüber asiatischen Schuldnern an den internationalen Finanzmärkten sicherlich zu sehr begünstigenden Liquiditätskonditionen in Asien führen wird.
      Obwohl ich eine weitere Liste von Gründen anführen könnte, warum ich sehr optimistisch für die langfristigen Aussichten der asiatischen Region bin, wäre es egal, wie gründlich so eine Analyse sein würde, so wäre sie gleichsam oberflächlich, wegen der großen Komplexität der Themenbetrachtung und den riesigen sozialen und ökonomischen Unterschieden die es in Asien gibt. Wie kann man auch Asien generalisieren, wenn wir von gut-entwickelten Ländern wie Japan, Südkorea, Taiwan und Singapore und zugleich über schwer unterentwickelten Regionen wie er ländliche Sektor in Indien, China und all den anderen asiatischen Ländern ? Oder wie können wir Asien generalisieren wenn wir über Länder wir Bangladesch mit einer Bevölkerung von 110 Mio. Leuten sprechen, dessen GDP kleiner ist als das von Singapore mit nur 3 Mio. Einwohnern ? Wenn wir die sozialen und wirtschaftlichen Konditionen des heutigen Asiens mit denen von Westeuropa zu Beginn der industriellen Revolution vergleichen, so gab es in Westeuropa niemals solch massive Unterschiede in der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung wie wir sie heute in Asien vorfinden.
      (…;) (jetzt kommt wieder seitenweise ein Vergleich zu dem Thema)
      Es ist klar, dass ein Handel zwischen zwei gleichen Regionen wie Deutschland und Frankreich eine limitierte makroökonomische Auswirkung hat. Wenn Deutschland 100.000 französische Autos importiert und Frankreich 100.000 deutsche Autos importiert, dann werden die Wachstumsraten nicht angehoben. Lediglich die Konsumentenbefriedigung wäre verbessert, wenn einige Deutsche verzweifelt wünschen ein französisches Auto zu fahren und umgedreht. Aber vergleichen Sie hierzu einen Handel in Asien zwischen Bangladesch und Japan. Japan produziert Güter, die nicht in Bangladesch produziert werden können und Bangladesch kann mit seinen extrem billigen Arbeitskosten arbeitsintensive Waren herstellen, deren Produktion in Japan total kostenuneffizient wäre. Somit kann Aussenhandel in dieser Instanz die Wachstumsraten beider Ländern steigern und den Lebensstandard erheblich vergrößern. Nun nehme man den ganzen asiatischen Wirtschaftsblock und bedenke was ein nahezu komplett freier Markt für die gesamte Region tun könnte. Mit der Zeit werden Handel und Investmentbewegungen in die Regionen und Sektoren führen, die einen Wettbewerbsvorteil bringen und die Wachstumsraten für die Region als ganzes anheben. In diesen Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass die ASEAN-Länder und China kürzlich der Eliminierung von Zöllen für eine große Anzahl von Gütern zugestimmt haben. Somit bin ich sehr sicher, dass in der Zukunft Asien wesentlich weniger von Exporten in westliche Länder abhängig sein wird – aufgrund ihrer eigenen wirtschaftlichen Entwicklung.
      Das Wohlstandsungleichgewicht muss ebenfalls genannt werden.
      Ich habe neulich geschrieben, dass die Einkommens- und Wohlstandsunterschiede nicht nur in Asien, sondern in der ganzen Welt bedacht werden müssen, weil Armut die Brutgrundlage für alle Arten von wirtschaftlichen und politischen Probleme sind – Terrorismus eingeschlossen. Die „Far Eastern Economic Review“ vom 07.November hatte auf dem Cover die Überschrift „China´s Zeitbombe – Die Städte verlieren das Rennen Arbeitsplätze zu schaffen und Stabilität zu gewähren“ (www.feer.com). Der Artikel stellt heraus, dass seit 1998 ca. 26 Mio. Arbeiter in China von staatseigenen Unternehmen vor die Tür gesetzt wurden, was – zusammen mit der Bevölkerungswanderung von den ländlichen Gebieten in die Städte einen geschätzte arme Bevölkerung von 37 Millionen Städtern geschaffen hat – oder rund 12 % der städtischen Bevölkerung. (Inoffiziell, aber gut geschätzt liegt die Arbeitslosigkeit in den Städten bei über 15 %). Nun, unter dem gegebenen Fakt, dass es nicht nur in China, sondern auch in Indien, Vietnam, Indonesien und fast allen anderen asiatischen Ländern riesige Reserven von unterbeschäftigten Landarbeitern gibt, ist es schwer zu sagen, ob die Löhne der ungelernten Arbeiter in diesen bevölkerungsreichen Ländern überhaupt jemals wesentlich steigen wird. Diese Konditionen lassen die städtische Bevölkerung arm bleiben – mit unausreichender Kaufkraft, was zu Unter-Konsum führt (das heisst, dass die Armen gerne konsumieren würden, aber sie haben nicht die Mittel dazu). Für eine Zeit in den 90ern, als die industrialisierten Länder Willens waren den weniger entwickelten Ländern Geld zu leihen und als die heimischen Kredite in phänomenalen Raten wuchsen, ist der Konsum stark angestiegen. Aber sobald der Kreditkreislauf sich abschwächte, ist der Konsum kollabiert und ist seitdem nur moderat gestiegen. Nun einmal angenommen das niedrige Lohnniveau der ungelernten Arbeiter ist das Hauptproblem (neben vielen anderen) – wozu führt das ? Man könnte argumentieren, dass mit der Globalisierung die Löhne in den weniger entwickelten Ländern eine ansteigende Tendenz aufweisen könnten. Bedauerlicherweise ist das nicht der Fall. Nehmen wir zum Beispiel die modernen und hochproduktiven Produktionsmethoden, die nur einen sehr niedrigen Bedarf an Arbeitskräften erfordern. Die Größe und der Handlungsspielraum dieser Produktionsprozesse ermöglicht es modernen und effizienten Unternehmen Güter zu niedrigeren Preisen zu produzieren als die kleineren Firmen, die einen Mangel an notwendigen Finanzmitteln haben um die modernen Produktionsanlagen zu installieren. Ausserdem können diese finanzstarken Unternehmen auch Dumping betreiben um Marktanteile zu gewinnen oder die heimischen Wettbewerber zu eliminieren. Das können sich Unternehmen mit Niederlassungen in verschiedenen Ländern und Zugang zu den internationalen Finanzmärkten locker leisten. Solange ein multinationales Unternehmen Profite von anderen Ländern oder Regionen in einem großen Land erhält, ist es in der Lage den Verlust in einer Stadt oder in einem Land auszugleichen und kann die lokalen Wettbewerber in den Bankrott treiben. Später, wenn der heimische Wettbewerber mal eliminiert ist, können die Preise angehoben werden und zu einem wesentlichen Profit führen. Somit könnten Auslandsdirektinvestitionen in Form von Joint Ventures oder in Form eigener Niederlassungen von großen und effizienten Unternehmen in den aufstrebenden Wirtschaften sogar zu einem Anstieg der Arbeitslosen führen. Der Optimist mag wohl denken „Großartig !“ und argumentieren, dass die Produktivitätszuwächse in der Landwirtschaft zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Europa Arbeitskräfte für die Arbeit in den Fabriken freigesetzt hat und somit werden die Produktivitätsfortschritte in den unterentwickelten Ländern Arbeitskräfte freisetzen um als Softwareingenieure, Disney Park Mitarbeiter oder Forschungsassistenten zu arbeiten. „Eine Katastrophe“ wird wohl die Meinung des Pessimisten sein, der herausstellt, dass die De-Industrialisierung in Indien im 19. Jahrhundert eine Folge der Produktivitätsfortschritte in Großbritannien war. Klar, es gibt ein Problem mit den modernen arbeitsarmen Produktionsmethoden. Nehmen wir als Beispiel China. Die Staatsunternehmen sind extrem ineffizient, beschäftigen aber 110 Mio. Leute. Wenn China eine freie Marktwirtschaft hätte, ohne Staatsunternehmen (in Form von Bankkrediten, die nicht bezahlt werden), wären 80 % der Leute auf der Strasse. Aber wenn die Arbeitslosigkeit bereits rund 15 % und mehr beträgt, würden weitere soziale Probleme auftauchen. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo zwischen diesen beiden extremen Ansichten, aber es gibt wenig Zweifel daran, dass ein plötzlicher Abbau der Staatsunternehmen zu massiven zeitlich begrenzten Verwerfungen führen würde (was das ständige verschieben von notwendigen Reformen erklärt).
      Ein anderer Weg das „Billiglohnproblem“ in den niedrig entwickelten Ländern zu beseitigen wäre die Preise für Güter und Dienstleistungen dramatisch zu senken (massive Deflation weltweit) und sie somit für die armen Länder erschwinglich zu machen. Wenn die Preise von PC´s, Handys, Arzneimittel, Autos, Boeing 747´s und anderen produzierten Gütern zusammenbrechen würden, würde die nachfrage derart steigen, dass wir einen regelrechten „Deflationsboom“ bekommen würden. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Trend, der teilweise ja bereits begonnen hat zu einem langanhaltenden Trend wird und es ist möglicherweise der einzige Weg aus dem Wohlstandsungleichgewichtsproblem. Aber ich bezweifle, dass die Regierungen der westlichen Länder und die multinationalen Unternehmen so eine Entwicklung als vorteilhaft betrachten würden, weil ihre Produkt- und Service-Preise fallen würden und deren Profitabilität darunter leiden würde.
      Quelle: [Thread: Kein Titel für Thread 7455596
      Avatar
      schrieb am 04.07.03 00:30:01
      Beitrag Nr. 92 ()
      Die kleine Allianz für zwischendurch

      Wenn Sie etwas wollen: Machen Sie sich Freunde.
      Dann geht alles – jedenfalls in Brasilien



      Text: Carl D. Goerdeler


      ----- Das Land: Brasilien. Der Ort: eine Behörde. Ein Brasilianer macht eine Eingabe. Der Antragsteller ist dem Amtsinhaber unbekannt. Seine erste Reaktion ist deshalb Ablehnung und Verzögerung, getreu dem Beamten-Motto: Haben wir nicht, kennen wir nicht, haben wir noch nie gemacht. Im Übrigen gelten die üblichen Gesetze und Bestimmungen. Das sei alles sehr kompliziert und dauere ewig. Am besten sei es, der Antragsteller nehme seinen Antrag zurück oder gehe damit zu einem anderen Amt.
      Doch diese Reaktion hat der Antragsteller erwartet. Er wechselt nun zu einer weit verbreiteten brasilianischen Umgangsform, um Gegensätze aufzulösen, die Konturen zwischen den Parteien zu verwischen und vor allem harte Konfontrationen zu entschärfen: den Jeitinho, den kleinen Trick. Das geschieht meist durch die Suche nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner mit der Amtsperson, der Basis einer kurzfristigen Allianz. Zum Beispiel könnte der Bittsteller herausfinden, dass der Beamte den gleichen Namen trägt, aus der gleichen Ecke Brasiliens stammt, den gleichen Wagen fährt, Anhänger desselben Fußballvereins ist oder Fan derselben Samba-Schule. Ist ein solcher kleinster gemeinsamer Nenner erst einmal gefunden, ist man schon weiter.
      Ein Wort gibt das andere, man trinkt einen kleinen Kaffee, kommt so recht ins Plaudern, und schon stellt sich ein Gefühl von Nähe und Gemeinsamkeit ein. Antragsteller und Amtsinhaber kommen sich näher, sie haben die gleichen Hobbys, Schicksale oder Krankheiten, am Ende sind sie fast so etwas wie verwandt. Wunderbar! Darüber kann man reden – und nebenher auch noch mal auf diese verdammte, etwas missliche, im Grunde lästige Eingabe zurückkommen. Doch zu diesem Zeitpunkt ist der Antrag, der Stempel, die Unterschrift eigentlich nur noch eine Formalität – Gesetze und Vorschriften hin oder her. Man hat es doch mit einem Amigo, Kollegen, Landsmann zu tun! Kurz gesagt: In Brasilien ist es wichtiger, Leute zu kennen und sie ins eigene Boot zu ziehen, als Gesetze zu beachten.
      Der Jeitinho liegt zwischen dem persönlichen Gefallen, den man einer anderen Person tut, ohne dabei einen unmittelbaren Vorteil zu erwarten, und der Bestechung, die auf einen handfesten Vorteil abzielt. Der brasilianische Anthropologe Roberto DaMatta sieht im Jeitinho einen Grundbegriff zum Verständnis seiner Heimat, er ist für ihn die Synthese von Unvereinbarem. Brasilien sei hin- und hergerissen zwischen den äußeren Gesetzen und Normen der Zivilisation und den Bedürfnissen privater Personen. Mit dem Jeitinho versuche man immer wieder, diesen Abgrund zu überbrücken. In Nordamerika oder Nordeuropa, so DaMatta, gebe es gesellschaftliche Regeln, Verbote und Gebote – und die würden beachtet. Was verboten ist, ist verboten – oder besser: Nur was nicht verboten ist, ist eventuell erlaubt. In Brasilien gilt dagegen eher: Es ist alles erlaubt, solange es nicht ausdrücklich verboten ist – und wenn es verboten ist, gibt es vielleicht einen Jeitinho, um das Verbot zu unterlaufen.
      In dem sehr amüsanten autobiografischen Buch „Brasilien für Anfänger“ des Österreichers Peter Kellemann aus dem Jahr 1946 schildert der Autor seine erste Begegnung mit dem Jeitinho. Kellemann bemüht sich um ein Einwanderungsvisum für Brasilien und gibt seinen Beruf korrekt als Arzt an. Der brasilianische Konsularbeamte aber macht aus ihm per Federstrich einen Agronomen, denn Brasilien braucht Landwirte, und nur als Agronom bekommt Kellemann das Visum. Der brave Antragsteller wundert sich: Er habe von Ackerbau und Viehzucht keine Ahnung. Das macht nichts, meint der Konsularbeamte, die eigene Bürokratie produziere täglich so viel Blödsinn, da käme es auf einen falschen Agronomen auch nicht an. Tatsächlich braucht Kellemann nach seiner Einwanderung kein einziges Diplom vorzulegen. Der großzügige Beamte aber dürfte mit seinem Jeitinho wohl eine Kopfprämie für die Anwerbung eines Agronomen gewonnen haben.

      Sage nicht: „Herr Professor!“ Sage lieber: „Mein guter Freund!“

      Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass der Jeitinho ein Ur-Element der brasilianischen Nationalkultur darstellt, vielleicht sogar der Angelpunkt ist, um den sich die Gesellschaft dreht. Beim Jeitinho profitieren immer zwei, während der Dritte die Rechnung zahlt. Das sind meistens die Gesellschaft, der Staat oder die Kommune – Einrichtungen, die dem Brasilianer so gut wie nichts bedeuten. Der liberale Ökonom und Ex-Minister Roberto Campos meint sogar, der Jeitinho sei weder legal noch illegal, sondern paralegal. Aber ist das eine Erklärung? Oder nur ein intellektueller Jeitinho?
      Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen über den Jeitinho und seine Mechanismen. Interessant sind auch seine linguistischen Aspekte. „Mein Bruder“, „Kollege“, „Herzchen“ oder „Nachbar“ – solche Anreden verraten sofort, dass der Sprecher einen Jeitinho plant oder sich zumindest anbiedert, um etwas zu erreichen. Das brasilianische Portugiesisch steckt voller Jeitinho-Frasen, ja, die Manie der Brasilianer, alles und jedes durch die grammatische Form der Verkleinerung zu verniedlichen, ist im Grunde nur eine permanente Verbalisierung des Jeitinho. Wer dagegen formale Anreden wie „Herr Doktor da Silva“ oder „Sehr geehrter Herr Präsident“ wählt, ist auf Konfrontation aus und signalisiert damit Kampfbereitschaft bis zu physischer Aggression. Einen Jeitinho aber geht man so nicht an. Da muss man reden, reden, reden. Um nicht entscheiden zu müssen, vor allem aber auch, um das Gesicht zu wahren und in Verhandlung zu bleiben. Denn wer redet, sündigt nicht.

      Der kleine Trick hilft sofort. Morgen sehen wir weiter.

      Wer sich nicht zutraut, in solche Verhandlungen einzutreten oder die Sprache und die sehr subtilen Codes einer solchen Unterhaltung nicht versteht, mietet sich am besten einen Despachante, einen Eisbrecher auf zwei Beinen, der professionell das Geschäft mit dem Jeitinho betreibt. Ein solcher Despachante betreibt im Extremfall Malandragem, sozusagen berufliche Gaunerei. Und der Malandro, der kleine Gauner, der sich mit mehr oder weniger faulen Tricks durchs Leben schlägt, ist in Brasilien ein durchaus angesehener Zeitgenosse.
      Der Brasilianer ist ein pessimistischer Optimist. Man sagt: O jeito de ser brasileiro – der Trick, ein Brasilianer zu sein. Doch der Optimismus der Brasilianer sieht anders aus als etwa der der Amerikaner. Denn im Grunde glaubt kein Brasilianer an die Machbarkeit der Welt, er glaubt nur daran, sich erst mal vor dem Unheil zu retten. Das reicht vorläufig. Wer weiß schon, was morgen kommt? Das ist keine Lebensphilosophie eines jungen Volkes – darin steckt die Erfahrung von Niederlagen. Der Jeitinho Brasileiro ist purer Existenzialismus, er folgt der Erkenntniss, dass man am Lauf der Welt nichts ändern kann. Was bleibt, ist die Suche nach einer provisorischen Lösung. Die Nische seiner Existenz ist der Jeito, der Trick, in ihr fühlt sich der Brasilianer zu Hause.
      Es ist die Gerissenheit der Sklaven, die den Brasilianern im Gedächtnis geblieben ist. Ein Aufstand gegen den Zustand der Welt führt zu nichts. Doch der kleine Widerstand, die Schlauheit, Gebote und Befehle zu unterlaufen, die Partisanentaktik des Alltags – sie öffnen dem einfachen Mann Freiräume, die er durch Aufbegehren nicht bekommt. Der Jeitinho ist die Schmiere, die Brasilien vor dem sozialen Kolbenfresser bewahrt. -----|


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      schrieb am 04.07.03 00:30:57
      Beitrag Nr. 93 ()
      _Heldt + Partner


      Fadenspiel für sechs Hände

      Sie bauen auf Vertrauen.
      Sie zahlen sich keine Gehälter und machen keine Verträge.
      Sie nisten sich beim Kunden ein, als ob sie kein Zuhause hätten. Sie ernähren sich von Fachliteratur und Suppengrün.
      Und wo die anderen outsourcen, schaffen sie Vorsprung durch Insourcing.
      Heldt + Partner pflegen die etwas andere Partnerschaft.


      Text: Oliver Driesen Foto: Gisi Rameken


      ----- An der östlichen Außenalster, wo Hamburg die schönsten Perspektiven bietet und die Spaziergänger ihre Runden um das in der Sonne schimmernde Gewässer drehen, steht in einer Weggabelung eine Gruppe von drei mächtigen Linden. Sie sind sicher mehr als 100 Jahre alt und so eng aneinander geschmiegt, als seien die drei aus einer einzigen Wurzel gewachsen. Das sind Günter, Rita und Ursel. Die Firma Heldt + Partner.
      Natürlich nicht wirklich. Die drei haben sich die Baumgruppe nur als Symbol für ihre Arbeits- und irgendwie auch Lebensgemeinschaft gewählt, die man schon fast symbiotisch nennen muss. „Jede Linde hat die anderen mit hochgezogen“, sagt Heldt, „jede von ihnen hat eine besondere Ausprägung. Zusammen bilden sie die stärkste Gruppe weit und breit.“
      In Günter Heldts Powerpoint-Präsentation des Geschäftsmodells taucht das Baumgruppenfoto so um Folie 46 herum auf, wenn einem schon der Kopf schwirrt von Balken- und Pyramidengrafiken, Kreis- und Schnittdiagrammen, sich ständig ä ndernden Schaubildern für Problemlösungsstrategien mit Input hier, Output da, Sprüngen und Querverweisen von A nach B, falls nicht C.
      Der Mann hat es geschafft, die ganze Komplexität des Druckingenieurwesens kurz und klein zu denken, bis es in seine Diagramme passte. Bevor er auch noch den „Heldt-Radar“ erklärt, eine von ihm entwickelte grafische Trend-Analyse für Produktlebenszyklen und Innovationskreisläufe, muss man ihn mal kurz unterbrechen, sonst ist zu befürchten, dass er nie aufhört. Erschiene auf Folie 132 schließlich die Weltformel, wunderte man sich nicht.
      Es geht jedoch auch plastischer. Die Linden Nummer zwei und drei, die eineiigen Zwillingsschwestern Rita und Ursel Habermann, demonstrieren für Doofe die Kerntätigkeit der Firma Heldt + Partner. In diesem mit PCs, Bildschirmen, Druckern, Plottern und Proof-Geräten dicht bestückten und durchaus nüchternen Großraumbüro, in dem die beiden Produktionstechnik-Ingenieurinnen normalerweise Datenbestände für die Druckvorstufe aufbereiten, stehen sie sich gegenüber und spielen für den Besucher das Fadenspiel. Ganz recht: das, was kleine Mädchen früher in der Schule auf dem Pausenhof spielten, wenn sie nicht gerade gummitwisteten. Rita hat ein kompliziertes Bindfadenmuster zwischen ihren erhobenen Fingern gesponnen, in das Ursel mit konzentrierter Miene greift und das Geflecht blitzartig zu einem neuen Muster sortiert.

      Das Team sorgt für Durchblick in Firmen – was anderen Beratern überhaupt nicht gefällt

      Das soll uns sagen: Die Firma Heldt + Partner bereitet komplexe digitale Daten so geschickt auf, dass ihr Kunde damit in kürzester Zeit die unterschiedlichsten Publikationen wie Kataloge, Bestelllisten, Werbeplakate oder Broschüren in Druck gehen lassen kann. Und dabei nicht mehr die meisten Arbeitsschritte an externe Dienstleister vergibt, sondern alles im eigenen Haus herstellen kann – bis es an die Druckerei geht. Neudeutsch gesprochen, betreiben Heldt + Partner Insourcing für Inhouse Publishing.
      Von seinem derzeitigen Arbeitsplatz aus kann das Team seine Stellvertreter-Bäume beinahe sehen, denn es arbeitet momentan auf der gegenüberliegenden Seite der Alster, im feinen Stadtteil Rotherbaum für die Deutsche Grammophon Gesellschaft (DGG). Momentan heißt seit fünf Jahren. Und die DGG ist der einzige Kunde von Günter Heldt und den Zwillingsschwestern.
      Mal kurz zwischendurch: Als Günter Heldt, 62, Rita und Ursel Habermann so um 1990 kennen lernte und beschloss, mit den damals 37-Jährigen zusammen Heldt + Partner zu gründen, „da habe ich sie erst mal aus der Gewerkschaft abgemeldet“. So etwas sagt Heldt tatsächlich, und statt zu protestieren, ergänzt Ursel mit großer Selbstverständlichkeit: „Wir hatten die Gewerkschaft nicht mehr nötig, weil wir von der EKS viel mehr profitierten.“
      Bevor die Abkürzung – oder ist das gar schon die Weltformel? – EKS erklärt wird, erst noch die Begründung für den einzigen Kunden: Die Kapazität von Heldt + Partner reicht immer nur für einen. Und den sucht das Team sich auch noch aus: „Wir würden nie was für Leute machen, die fürs Militär oder für die Pornoindustrie produzieren.“ Genau genommen, ist die DGG in der 13-jährigen Geschichte der Firma erst der zweite große Auftraggeber: Der erste war Sony Classical, eins von Sonys Plattenlabeln, das Hamburg inzwischen verlassen hat. Dort erschien einmal im Jahr ein Katalog; im März begann die Planung, im August lag er in den Plattenläden. Die Entwürfe, Aktualisierung der Daten, Layout, Lektorat und Proof kosteten Sony netto drei Monate Arbeit und 660000 Mark.
      Dann zogen Heldt + Partner ein. Das muss man sich wörtlich vorstellen, wie jetzt bei der DGG, wo sie sich im Erdgeschoss eingemietet haben und ihre gesamte Hard- und Software installierten, modernste Druckvorstufentechnik. Als sie bei Sony etwa zwei Jahre später wieder abrückten, dauerte es noch ein Jahr des Übergangs – und dann kostete der Katalog nur noch 36000 Mark. „Die Aufträge an Dienstleister und die Abstimmung waren weggefallen, diese Jobs hatte unsere intelligente Datenbank übernommen“, bilanziert Heldt: „Und wir haben für den Katalog zwei Wochen gebraucht.“
      Das Team verbringt aber nicht nur die reine Installationszeit im Haus des Kunden – sie trainieren auch das Personal („Wir arbeiten daran, uns überflüssig zu machen“;), optimieren das neu installierte System – und lernen. Bezahlen muss der Kunde dennoch nur die Kataloge oder Broschüren, die Günter Heldt und die beiden Frauen in der Zwischenzeit anstelle der externen Dienstleister produzieren. Dabei sind die Lernphasen das A und O bei Heldt + Partner.
      Jetzt, im Haus der DGG, steht im Büro von Heldt ein Ikea-Regal mit „drei Metern Software-Literatur“, durch deren grausam abstrakte Programmiercodes sich alle drei Experten komplett durchgearbeitet haben. „Und davor“, ergänzt Heldt, „stand da dieselbe Menge an Fachbüchern über Management.“ Was die Brücke baut zur ominösen EKS. Das Team schwört auf die so genannte Engpass-Konzentrierte Strategie, kurz EKS, die der 79 Jahre alte Management-Publizist und Lehrgangsveranstalter Wolfgang Mewes schon 1971 entwickelt hat. Sie führt Probleme in Betrieben im Kern auf den Engpass zurück, an dem angesetzt werden müsse. So weit, so banal. Wie der Engpass aber zu finden und auszutricksen ist, das füllt Bände.
      Es gibt eine Gemeinde, die an Mewes’ Lehre glaubt und nach ihr wirtschaftet. Bundesweit existieren rund 35 Regionalgruppen des so genannten Strategieforums, in dem sich laut Eigenwerbung „über 2000 Männer und Frauen zu der wahrscheinlich weltweit größten Vereinigung von Kybernetikern zusammengefunden haben“. Heldt gibt sich mit diesen Amateur-Treffen nicht ab, er ist schon seit Jahrzehnten aktiv in der noch ernsthafteren Beratergruppe Strategie, dem Inner Circle dieser Gemeinschaft. An die Art und Weise wie er das Universal-Konzept für seine Druckvorstufen-Sparte umgesetzt und ausgebaut hat, daran glaubte zunächst nicht mal der Papst, also Mewes. „Das war ihm zu technikorientiert“, sagt Heldt nicht ohne Stolz. „Er durchschaute nicht die Innovationskraft der Informationstechnologie.“ Dass Heldt und später seine beiden Mitstreiterinnen dennoch erfolgreich waren und von ihrer Insourcing-Strategie leben können in Zeiten, in denen ansonsten alle nur outsourcen, um Kosten zu sparen, liegt am genau identifizierten Engpass: „Know-how“, verrät Heldt. Das erkläre fast alles.
      In Unternehmen weiß heute oft niemand mehr, wie komplexe Abläufe fachlich zu optimieren sind. Deshalb die vielen Berater, die Dienstleister für alles und jedes im Orbit jeder namhaften Firma.
      Gib einen Auftrag raus und zahl die Rechnung, es wird schon billiger sein, als wenn du jemanden dafür anstellen musst.
      Heldt + Partner aber wissen es besser. Weil sie Kostenrechnung beherrschen – und ihr Fach tiefer und breiter durchdringen als viele Spezialisten da draußen. Weil sie das Personal des Kunden schulen, bis es auf dem Stand ihres Wissens ist. Weil sie im Dienste des Kunden lesen und diskutieren und kalkulieren wie die Besessenen, oft von neun bis 22 Uhr, auch gern mal am Neujahrstag, wenn sie sich auf die Aktualisierung des Booklets zur Neujahrskonzert-CD stürzen. Schon in den Anfängen, als die Zwillinge aus der Gewerkschaft austraten, spielte Freizeit keine Rolle. Da paukte und debattierte Heldt mit den beiden Zauberlehrlingen nächtelang EKS – am Lagerfeuer im Sachsenwald.
      Seither haben die drei immer erst alles analysiert und in Diagramme gegossen, bevor der erste Handschlag getan wurde. Ergebnis: Sie sind zur Avantgarde geworden. „Wenn wir bei einem neuen Kunden antreten, stehen als Erstes die Dienstleister auf der Matte“, sagt Heldt, „weil sie um ihre Aufträge fürchten.“ Sehr zu Recht, denn sie werden sie los, unweigerlich. Es gab schon regelrechte Drohungen gegen die kleine Firma, „aber dann gehen wir in der Diskussion mal kurz auf die fachliche Ebene, und nach 15 Minuten packen die ein und ziehen ab.“ Auch Betriebsräte fürchteten übrigens anfangs den Inhouse Publishing Service, denn das Insourcing bedeutet neue Techniken im Haus und daher sichere Arbeitsplätze nur für diejenigen, die fähig und bereit zum Umlernen sind. „Aber durch die Umstellungen und Schulungen sichern wir ja die Mehrzahl der Jobs beim Kunden überhaupt erst“, sagt Heldt.

      Weil die Familie Heldt den ganzen Menschen beansprucht, besteht sie aus überzeugten Singles

      Der zweite Teil der Erklärung für den Erfolg der bemerkenswerten Geschäftsidee liegt in der Anatomie dieses Teams. Wer inzwischen glaubt, eine der drei Linden überrage doch die beiden anderen um ein Beachtliches, der hat Recht – und auch wieder nicht. Einerseits ist Günter Heldt eindeutig der Vater im Trio, das aus drei überzeugten, kinderlosen Singles besteht (Familien würden nur von der Arbeit abhalten). Primus inter Pares will Heldt, der „als Boss erzogen“ wurde, aber nicht sein: „Die absolute Stärke der beiden Zwillinge ist Teamarbeit, die hab’ ich von ihnen gelernt“, sagt er.
      Ist die Arbeit also eine Art Ersatzfamilie? Heldt: „So kann man es auch sehen.“ Rita Habermann: „Es ist ein Familienunternehmen.“ Die Familie hat sogar Pläne, beim nächsten Projekt in eine gemeinsame Villa zu ziehen und häufiger nur noch per Datenleitung mit dem Kunden in Kontakt zu treten. Auf einer von Heldts Powerpoint-Folien ist schon die Grafik des Traumhauses zu sehen „Da unten ist die Sauna, da wohnt Rita, da Ursel, und hier haben wir die Haushälterin.“ Wie ernst das gemeint ist, bleibt offen. Jedenfalls war in diesem engen Beziehungsgeflecht kein Platz für den vierten Mann, den sie mal kurzzeitig ausprobiert haben: einen Art Director. „Er hat unser Lerntempo nicht mitgehalten“, sagt Heldt – der Mann hatte eine richtige Familie.
      Eine solche Gemeinschaft muss wohl anders ticken als die Belegschaft herkömmlicher Betriebe. So gibt es bei Heldt + Partner auch keine Gehälter. Von den versteuerten Einkünften – Umsatz im Jahr 2002 etwa 260000 Euro, es waren aber auch schon mal mehr als 500000 – entnimmt jeder mit der Scheckkarte, was er zum Leben braucht. Interne Buchhaltung darüber: keine. Es gab mal eine Durststrecke, da kam ein Wochenende, an dem der Geldautomat nichts mehr hergab. Rita Habermann beginnt zu berichten: „Wir hatten zusammen noch fünf Mark …“, da reißt Heldt, wie so oft, den Erzählfaden an sich: „… und damit ging Rita auf den Markt und kam mit einem Bund Suppengrün zurück und mit einer Mark Restgeld, von der wir noch eine Briefmarke kaufen mussten.“ Daraufhin beschloss das Team, seine gerade laufende Lernphase abzubrechen, trat den Job bei Sony an und klotzte ran, wie nur drei Leute ranklotzen können, die sich ansonsten von Suppengrün ernähren müssten.
      Verträge machen Heldt + Partner nicht gern. Die DGG bekam anfangs auf Wunsch einen, aber der lief dann aus und wurde nie erneuert. Vertrauen sei viel schöner, sagt Heldt, „das ist unser wichtigstes Gut. Wer uns anschmiert, macht das einmal und nie wieder. Aber wir haben noch nie ein Problem gehabt. Und wenn wir was sagen, dann ist das so.“
      Der aktuelle Kunde DGG bleibt bei alledem durchaus entspannt. Drei Stockwerke höher sitzt Hartmut Pfeiffer, Head of Creative Services, der die Beraterfirma ins Unternehmen holte: „Wir hatten beim Publishing den Anschluss an das elektronische Zeitalter verpasst. Es gab zu viele externe Partner und dadurch sehr kostentreibende Kommunikationsprobleme.“ Pfeiffer schätzt, dass sich die Kosten durch Heldt + Partner mindestens halbiert haben. Und der Stil der drei, der Wirbel, den sie anzetteln? „Wenn man sich so etwas mit drei flippigen jungen Typen vorstellt, das wäre schwierig.“ Doch die geballten 162 Lebensjahre Kompetenz der drei Druckspezialisten sorgen für eine unaufgeregte Partnerschaft.
      Dabei schöpfen Günter Heldt einerseits und Ursel und Rita Habermann andererseits ihre Reserven auch aus einer Gemeinsamkeit, die sie durch einen merkwürdigen Zufall verbindet: Alle sind frühere Leistungssportler auf beachtlichem Niveau. Heldt war 1975 Vize-Weltmeister in der olympischen Tempest-Klasse der Segler, Ursel Habermann zwei Jahre zuvor Weltmeisterin in der Wildwasserabfahrt der Kanadier und Rita mehrfach deutsche Meisterin in derselben Disziplin mit dem Kajak. Das war lange bevor die Zwillingsschwestern den damaligen Einzelgänger Heldt kennen lernten.
      Der Sport hat alle drei geprägt. Als die Rede darauf kommt, dass sie anfangs immer das Chaos beim Kunden verstärken, wenn sie bei laufendem Produktionsbetrieb alles umzukrempeln beginnen, sagt Rita Habermann nur, als ob sie über Wildwasserstrudel spräche: „Das muss man aushalten können.“ Und wenn das Fahrwasser dann mit zunehmendem Erfolg ruhiger wird und das Team sich wieder seinen Lernphasen hingeben kann, fällt Heldt dazu eine Segler-Erfahrung ein. Vor der kanadischen Küste geriet sein Boot mal in eine Windhose. Weil er es mitten hinein steuerte, geschah ihm nichts: „Man muss erst einmal durch Turbulenzen hindurch. Im Auge des Wirbelsturms ist es dann still. Und da halten wir uns als Firma auf.“
      Die Firma indes lassen Heldt + Partner an diesem schönen Nachmittag Firma sein. Die drei packen zeitig ihre Sachen und gehen gemeinsam zum Segeln auf die Alster. Das Boot nimmt rasch Fahrt auf, und am östlichen Ufer ziehen rauschend drei große Bäume vorbei.

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      schrieb am 04.07.03 00:40:56
      Beitrag Nr. 94 ()
      Das Experiment

      Was Deutschland vor sich hat, hat Neuseeland hinter sich.
      Nach Liberalisierung und Deregulierung steuern die Kiwis bereits wieder sanft um.
      Stimmen aus einem unternehmungslustigen Land.



      Text: Anja Jardine

      ----- Neuseeland hat es getan, und zwar bereits vor fast 20 Jahren. Genauer gesagt: Roger Douglas tat es, Wirtschaftsminister in der Labour-Regierung von 1984. Radikal wie sonst nur in ehemals kommunistischen Staaten hat er mit seinen „Rogernomics“ die Wirtschaft seines Landes liberalisiert und das Sozialwesen reformiert. Fernab der Welt, in dem Inselstaat so groß wie die alte Bundesrepublik, wurden 3,9 Millionen Neuseeländer zu Versuchskaninchen eines einmaligen Experiments, dessen Verlauf sämtliche Industrienationen mit Interesse verfolgten.
      Die Zwischenbilanzen der Rogernomics waren ernüchternd: Nach einem kurzen Aufschwung zeigten Asienkrise und Dürre Ende der neunziger Jahre die Verwundbarkeit der liberalisierten Wirtschaft, das soziale Klima wurde bedenklich rau. Die Kluft zwischen Arm und Reich wurde beständig größer, Mindestlöhne sanken, Neuseeland fiel in der Rangliste der OECD-Staaten von Platz neun im Jahr 1970 auf Platz 20 im Jahr 1999 zurück.
      Da wählten die Neuseeländer nach 16 Jahren lupenreiner Freie-Markt-Politik eine Frau an die Macht, die seitdem einen Teil der Reformen rückgängig gemacht und heute erstaunlich gute Wirtschaftsdaten vorzuweisen hat. Unter Premierministerin Helen Clark legte Neuseelands Bruttosozialprodukt im vergangenen Jahr um knapp vier Prozent zu, die Arbeitslosigkeit ist mit fünf Prozent die niedrigste seit 13 Jahren, und der Haushalt weist ein Plus aus. Ist das Experiment also geglückt? Oder wurde es rechtzeitig abgebrochen? Eine Spurensuche.

      How is it going, mate?

      Tony Reilly ist Milchbauer. Seine Farm liegt in Motupipi im Norden der Südinsel. Mindestens zwölf Flugstunden vom Haupt-Absatzmarkt entfernt, abgeschottet vom Takaka Hill, weiden die Kühe auf grünen Hügeln, die sich sanft hinabschwingen zur Golden Bay. 1852 haben Tonys Vorfahren das Land von den Maori gekauft und urbar gemacht. In der aus dunklem Holz getäfelten Küche des großen Farmhauses hat schon sein Großvater gesessen, die Elektrogeräte allerdings sind nagelneu.

      „ Alle reden vom America’s Cup, doch der bringt Peanuts im Vergleich zu uns. Wir holen gut 20 Prozent der Devisen ins Land. Und das, obwohl wir uns ohne einen Pfennig vom Staat am Weltmarkt behaupten müssen. Die vergangenen Jahre waren verdammt gut: international hohe Preise für Milchprodukte, der schwache Neuseeland-Dollar, niedrige Zinsen. Das hat die Wirtschaft in Gang gebracht. Aber das wird nicht so weitergehen, die Rohstoffpreise sinken. Die meisten Kollegen halten sich bereits seit Monaten mit Investitionen zurück. Trotzdem: Ich bin zuversichtlich. Bauern in Neuseeland sind Geschäftsleute, das haben wir Roger Douglas zu verdanken.
      Vor zwei Jahren haben wir unsere Kräfte gebündelt. Die kleinen Molkereien, die meist nur ein oder zwei Produkte herstellten, waren zu anfällig. Es war an der Zeit, die ganze Palette von Milchpulver bis hin zu Butter und Käse unter einem Dach zu vereinen. Also haben wir aus weit über hundert Milch verarbeitenden Betrieben Fonterra gegründet. Ein Mega-Merger. Ich bin wochenlang über Land gezogen und habe die Leute überzeugt. Fonterra ist jetzt eines der größten Unternehmen Neuseelands, es gehört rund 13000 Bauern, wir kontrollieren fast vollständig den Export der Milchprodukte. Wir mussten eine Organisationsform finden, die uns Einkommensstabilität gewährleistet und dem Farmer bis zum letzten Moment Kontrolle über sein Produkt lässt.
      1995 war ich ein paar Monate in Europa und habe mich mit der Agrarpolitik dort beschäftigt. Wir haben auch die kleinen Höfe in Bayern besucht, die sind wirklich schön anzusehen. Aber ich finde, wenn man die Leute unterstützen möchte, damit sie in den Bergen leben können, sollte man vielleicht einen Weg finden, der den Markt nicht für uns alle kaputt macht.
      Ich kann den europäischen Steuerzahler nicht verstehen, der zahlt doch doppelt: erstens viel zu viel für das Produkt und zweitens auch noch hohe Steuern, um die Farmer am Leben zu erhalten. Von uns will niemand zu diesen Zuständen zurück. Unser Ziel ist es, in Zukunft auch den Mehrwert aus der Verarbeitung an Land zu ziehen, deswegen haben wir uns Nestlé ins Bett geholt. Da geht es im Moment vor allem um den Vertrieb in Südamerika. Tja, auch wenn es nicht so aussieht, wir sind hier an vorderster Front.“

      Die Südküste der Tasman Bay entlang durch den Obstgarten Neuseelands. Wo noch vor fünf Jahren fast ausschließlich Apfel- und Birnbäume standen, unterbrochen von den Pinien der Forstwirtschaft, liegen die Hügel jetzt nackt, aufgeteilt in unzählige Baugrundstücke, auf denen Villen – bevorzugt im mediterranen Stil – aus dem Boden wachsen. Eine davon, grau verputzt und halbrund wie ein Sichelmond, hat Nick Marer gebaut, der Baumeister.

      „ Das größte Problem im Moment ist, Leute zu kriegen. Hier in Nelson haben wir Vollbeschäftigung. Wir haben einen regelrechten Bau-Boom. Viele Ausländer kaufen sich Grundstücke, ausgewanderte Neuseeländer kehren in die Heimat zurück, das hat sicher mit dem 11. September zu tun, aber vor allem mit der guten Stimmung hier. So manchem Ortsansässigen passt das natürlich gar nicht, weil die Grundstückspreise in den Himmel schießen. Wir betrachten es hier als Geburtsrecht, dass jeder ein eigenes Haus bauen kann, und das wird schwieriger.
      Es gab zum Beispiel viel Protest gegen einen Amerikaner, der einen ganzen Küstenstreifen gekauft hat und 200 Villen draufsetzen wollte. Mit Golfanlage und Tennisplätzen. Dazu musste er ein Stück vom Kliff abräumen – das gab einen Aufschrei, als habe er Mutter Erde verletzt. Dabei war das ein hässlicher Lehmklumpen, den die ersten Siedler so bestimmt nicht vorgefunden haben. Da ist dann auch viel Heuchelei im Spiel. Und Neid. Neuseeländer mögen es nicht, wenn einer aus der Menge herausragt. Dabei profitieren doch alle: Wenn die Bauindustrie gut zu tun hat, geht es unseren Subunternehmern gut, die gönnen sich dann Urlaub und rennen ins Reisebüro, der Reisebürobesitzer kauft sich eine neue Küche, so kommt die Kiste in Gang.
      Im Moment ist es noch so, dass sich jeder einfach einen Hammer schnappen und Baumeister nennen darf. Es gibt Diskussionen in der Branche, der Behörde mehr Autorität in der Überwachung zu geben, denn wir hatten hier einen Skandal um Pfusch am Bau. Ich habe das Handwerk in einer Lehre gelernt und mich dann selbstständig gemacht. Mit einem alten Kombi, einem Bohrer und einer Motorsäge. Fünf Jahre lang habe ich für den sozialen Wohnungsbau Häuser hingestellt. Ganz allein. Allein das Fundament gelegt, die Holzgerüste errichtet, Türen und Fenster eingesetzt. Bezahlt wurde nach Quadratmetern, je schneller ich das Haus hingezaubert habe, desto mehr Geld gab es, aber es reichte nie für einen Mitarbeiter. Irgendwann hatte ich so starke Rückenschmerzen, dass ich zumindest für die schweren Arbeiten tageweise jemanden anheuern musste. Durch Zufall habe ich mich dann auf Häuser aus Lehmziegeln und Strohballen spezialisiert. So hat man schon im 18. Jahrhundert gebaut, die Isolation ist fantastisch, das Klima sehr gesund, und durch die dicken Wände haben diese Häuser ein sehr eigenes, rustikales Aussehen. Heute sind wir fünf Mann. Ich zahle einem Maurer, der fünf Jahre im Beruf ist und 45 Stunden die Woche arbeitet, rund 2500 Dollar im Monat (1230 Euro), Kollegen sagen mir, das sei zu viel. Aber ich will gute Leute, und ich will langsam wachsen.“

      In Rangiora, einem Vorort von Christchurch, steht ein Einfamilienhaus auf grüner Wiese. Es ist der Firmensitz von Preston International. Carol McGeady bittet ins Wohnzimmer. Der Blick aus dem Fenster zeigt einen Schuppen im Rohbau, Wiesen bis zum Horizont. Im Ofen duftet ein Kuchen. Auf dem Sofa sitzt die Belegschaft: Carols 70 Jahre alte Eltern und Lebensgefährte Dave. Daneben stehen eine Wiege und ein L-förmiges Gitterbett. In das Gitterbett eingehängt ist eine Art Hängematte für Säuglinge, Carols Erfindung. Sie strahlt.

      „ Das ist Ezee Rocker: Es schaukelt sehr sanft, ähnlich wie im Mutterleib, wird von Kinderärzten gelobt. Als meine Kinder klein waren, ist mir aufgefallen, wie unpraktisch, sperrig und schwer all die Babysachen sind, so ist mir die Idee gekommen. Ich wollte schon immer ein Produkt, das ich in Container verpacken und verschiffen kann. Ich wollte Geld verdienen.
      Am Anfang war es nur ein Stück Stoff mit einem Rahmen aus Plastikrohr. Mit dem Prototypen bin ich vor zehn Jahren einfach zur Fachmesse nach Dallas geflogen – und fünf Jahre lang immer wieder gekommen. Ich musste viel lernen. Zweimal habe ich Lizenzverträge mit Firmen unterschrieben, um dann auf Umwegen zu erfahren, dass die Ezee Rocker in der Tonne verschwinden lassen wollten, um Konkurrenz für eigene Produkte zu verhindern. Es kostete Zeit und Nerven, die Lizenzen auf juristischem Wege zurückzuholen.
      In der Zwischenzeit haben wir Ezee Rocker weiter verbessert, einen Ständer und einen Wickelaufsatz entwickelt und alle Sicherheitsregeln, die es rund um den Globus gibt, berücksichtigt. Allein nach dem Verbindungsstück für den Aufsatz habe ich monatelang gesucht, bis mein Vater selbst eines entworfen hat. Er ist sozusagen der technische Direktor bei uns. Als der Import von Plastikrohren sich als zu teuer herausstellte, haben wir mit Besenstielen herumprobiert und sind auf Holz umgestiegen. Außerdem haben wir das Sortiment durch Lizenzen erweitert – lauter kluge Erfindungen von Müttern wie die Baby-be-save-Matratze mit leicht erhöhtem Kopfteil oder das Gitterbett für Zwillinge. Das wurde übrigens auf der letzten Messe zum Produkt des Jahres gekürt. Unsere Produkte stehen mittlerweile in jedem Babyladen in Neuseeland, wir beliefern alle großen Ketten Großbritanniens und exportieren auch nach Amerika. Nebenbei hatte ich all die Jahre noch meinen Job bei der Versicherung, erst vor sechs Monaten habe ich gekündigt und mir gesagt: jetzt oder nie. Dave hat sein Haus verkauft, er arbeitet noch immer im Schichtdienst bei Air New Zealand Cargo und fertigt in seiner Freizeit die Holzteile an.
      Unterstützung vom Staat? Vor zehn Jahren war da gar nichts, inzwischen gibt es die so genannten Enterprise Awards. Ich wurde aber immer abgelehnt, weil ich angeblich nicht innovativ genug bin. Dass ich nicht lache!
      Ich glaube, jeder siebte Neuseeländer gründet sein eigenes Unternehmen. Aber mehr als die Hälfte wird nicht mal vier Jahre alt, und von denen, die überleben, beschäftigen 84 Prozent weniger als fünf Personen. Aber immerhin. Das ist der Kiwi-Spirit. Auf der letzten Messe in London waren wir elf Anbieter aus Neuseeland. Wir teilen uns Schiffscontainer und sind nicht knauserig mit Kontakten. Unsere Exportkurve für Babysachen ist in den letzten fünf Jahren steil gestiegen. Ich gehe jetzt in den deutschen Markt. Es geht gerade richtig los. Endlich.“

      Kaikoura. Steil fallen die Hänge der fast 3000 Meter hohen Kaikouras zum Meer hinab. Schneebedeckte Gipfel, türkisfarbenes Meer. Ungewöhnliche Geräusche lassen sich hier vernehmen. Urlaute. Es ist das Ausatmen der Pottwale. Wer sie sehen will, bucht eine Bootsfahrt mit Whale Watch Kaikoura. Wie Felsen liegen die 20 Meter langen Meeressäuger im Wasser. Bis sie mit einem einzigen kraftvollen Flossenschlag wieder abtauchen. Whale Watch gehört dem Maori-Stamm der Ngai Tahu. Ihr Chairman ist Wally Stone.

      „ Als Whale Watch 1987 gegründet wurde, war das Verhältnis zwischen den Maori und Pakeha, den Neuseeländern europäischer Abstammung, ziemlich angespannt. Mit den Rogernomics nahm die Arbeitslosigkeit unter den Maori verheerende Ausmaße an. Es gab keine Perspektiven. Ältere Ngai Tahu haben damals gespürt, dass die Wale unsere Rettung sein könnten. Der Legende nach ist einer unserer Vorfahren, Paikea, auf dem Rücken eines Wals an diese Küste gelangt. Und nun würden wir also auf ihrem Rücken wieder in eine neue Zukunft reiten.
      Das mag euch Weißen seltsam vorkommen, aber wir ticken anders, für uns ist jeder Stein beseelt. Allerdings mussten wir uns auf diese Kraftquelle erst wieder besinnen. Meine Eltern gehörten in den fünfziger Jahren zum Strom der Landflüchtlinge, sie stellten die Arbeiterklasse in der industriellen Revolution Neuseelands. Ich war das neunte von zehn Geschwistern. Wir zogen in einen Vorort von Christchurch. Die anderen Kinder in der Schule hatten Keksdosen zu Hause, bei uns hingen Aale von der Decke. Ich konnte keine Verbindung zu ihrer Welt herstellen. Mit 13 wurde ich als Analphabet von der Schulpflicht entbunden. Ich war ein ziemlich wütendes, verbittertes Kind. Mit 18 wurde mir klar, dass meine größte Kraft die ist, Entscheidungen zu treffen. Ich wurde hungrig auf das Glück. Ich habe mir dann Lesen und Schreiben beigebracht und alles, was ich sonst noch wissenswert fand. Eines meiner ersten Projekte war es, Kinder von der Straße zu holen. Ohne einen Pfennig Geld. Um im Winter Zugang zum Skifeld zu haben, haben wir im Sommer die Straßen repariert. Hunderte von Kindern waren dabei, und für viele war es der Start in ein gutes Leben.
      Die Regierung hat meine Methode später als landesweites Programm eingeführt. Damals habe ich angefangen, mich mit Arbeitslosigkeit zu beschäftigen und nach Lösungen zu suchen. Als ich zu einer Entwicklungskonferenz nach Indien eingeladen wurde, war das ein Schock. Wir sind so reich! Ich kam mit der Erkenntnis zurück, dass unser größtes Problem unsere Haltung ist. Wir haben diese fantastischen Ressourcen, und nun geht es darum, einen Mehrwert zu schaffen. Es bedarf einer Idee.
      Whale Watch hat mittlerweile 50000 Passagiere pro Jahr. Aber Größe ist nicht das Kriterium. Die neuen Katamarane sind mit Motoren ausgestattet, die den Lärm unter Wasser minimieren, kein Tropfen Schmutzwasser gelangt ins Meer, wir führen exakt Buch über jeden Trip, registrieren jedes Anzeichen von Stress unter den Tieren und reagieren sofort.
      Wir Ngai Tahu haben unsere eigene Schöpfungsgeschichte. Da war dieser junge Gott, der die Aufgabe hatte, die Küste Kaikouras zu gestalten. Als sein Lehrer kam, um das Ergebnis zu begutachten, fand er ihn schlafend vor und geriet außer sich vor Wut. Doch dann sah er sich um, und je länger er hinsah, desto mehr nahm er die Tiefe und Vielfalt der Farben und Formen wahr. Der junge Gott musste vor Erschöpfung eingeschlafen sein, und als er erwachte, war der Alte in Tränen. Die Schönheit hatte ihn überwältigt. So ungefähr stelle ich mir Whale Watch Kaikoura in Zukunft vor.“

      Christchurch, State Highway 75 Richtung Akaroa, kurz vor dem Schild „Welcome to Selwyn County“ steht auf der linken Seite ein Tor wie ein Monument: eisern, schlicht, massiv. Kein Schild, nirgends, aber ein Riegel, der sich öffnen lässt. Um hindurchzufahren, reicht es, eine Seite zu öffnen. Geschwungen führt die Auffahrt hoch zu einer Villa, die noch einmal ummauert ist wie ein Herrenhaus im Burghof. Vom Parkplatz aus sieht man die Kinder im Swimmingpool baden. Hier wohnt und arbeitet Dennis Chapman, von Beruf Business Angel.

      „ Man muss dem Nachwuchs eine Chance geben, sonst wandert er aus. 1999 habe ich meine Firma für Starkstromschaltanlagen, Swichtech, an die britische BTR verkauft. An einem Tag durfte ich den Profit von neun oder zehn Jahren einstreichen. Seitdem stecke ich Kapital in junge Unternehmen, an Venture Capital hat es in Neuseeland immer gefehlt.
      Am Anfang habe ich den Fehler gemacht, mich nur mit dem Potenzial der Idee zu beschäftigen, und habe mir die Leute nicht genau genug angesehen. Gerade haben wir einen Laden dichtgemacht, nachdem bereits eine Dreiviertelmillion Dollar hineingeflossen sind, denn derjenige, der für den Verkauf zuständig war, hat keine Abschlüsse zu Stande gebracht. Beiseite treten wollte er auch nicht. Das größte Problem ist, dass Leute nicht wissen, was sie nicht wissen.
      Daraus habe ich jetzt die Konsequenz gezogen und ein eigenes Business Incubation Center gegründet. Ein halbes Dutzend Start-ups aus den Bereichen Technologie und Ausbildung sitzt da nun unter einem Dach. Ein Buchhalter, eine Art General Manager sowie ein Verkaufs- und Marketing-Fachmann stehen ihnen beratend zur Seite. Da ich in der Regel nur ein Drittel an den Start-ups halte, kann ich niemanden zwingen, das Angebot anzunehmen, aber die meisten tun es früher oder später doch. Einige werden sehr erfolgreich sein, glaube ich. Die einen produzieren eine extrem clevere Lern-Software für das Gymnasium. Ein anderes ist HuHu Enterprises, die machen die Fernseh-Zeichentrick-Serie „Buzz & Poppy“ und dringen gerade in den amerikanischen Markt ein.
      Allerdings macht mir die gegenwärtige Regierung etwas Sorge. Für die sind wir wieder reiche Bastarde; den Höchststeuersatz haben sie wieder von 33 Prozent auf 39 angehoben. Die Rogernomics waren das Beste, was Neuseeland passieren konnte. Allein deshalb konnten wir Swichtech zu einer erfolgreichen Firma machen, denn statt 66 Prozent Steuern mussten wir plötzlich nur noch 33 Prozent zahlen und konnten investieren. Zuvor war das Land pleite, die Wirtschaft bestand hauptsächlich aus Unternehmen, deren Geschäftsfeld es war, die Staatskassen zu melken. Unter Roger wurde endlich frischer Wind reingelassen, die Zölle verschwanden, wir konnten kosteneffizient exportieren. Wer mit hochwertigen Produkten handelt, die nicht allzu sperrig sind, kann die für ein paar Cent in alle Welt verschiffen. Mal sehen, ob das so bleibt. Aber unsere Zukunft hängt davon ab, ob uns der Wechsel in die wissensbasierten Industrien gelingt.“

      Dunedin, Universitätsstadt und eine der letzten nennenswerten Siedlungen vorm Südpol. Die zerklüftete Küste, Wind und Regen machen augenblicklich klar, warum die schottischen Siedler sich hier so heimisch fühlten. Von hier ist 1882 auch das erste Kühlschiff nach Großbritannien aufgebrochen und hat dem neuseeländischen Lamm seine internationale Karriere ermöglicht. Die scheint kein Ende zu nehmen, das Schaf steckt voll ungeahnter Möglichkeiten, behauptet Mike Tate vom Biotechnologie-Unternehmen Ovita.

      „ Der Volksmund sagt, Schafe seien dumm – ich weiß es nicht. Das Irre ist nur, dass gewissermaßen auf dem Rücken dieser scheinbar dummen Tiere gerade eine der innovativsten Industrien entsteht.
      Um es gleich zu sagen: Es geht nicht darum, Gene zu verändern, sondern darum, jene zu identifizieren, die auf ganz konventionellem Wege von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden sollen. Zucht bedeutet Selektion. Wir versuchen Voraussetzungen zu schaffen, um eine optimale Wahl treffen zu können. Bisher musste der Bauer seine Herden über Generationen hinweg beobachten, um zu wissen, welches Mutterschaf beispielsweise öfter Zwillinge austrägt. Wir entwickeln nun Tests, mit deren Hilfe man anhand eines Bluttropfens feststellen kann, ob ein Schaf – vereinfacht gesagt – ein ,Zwillings-Gen‘ in sich trägt oder nicht. Das ist Biotechnologie.
      Unser Kapital ist eine gigantische Datenbank, in der die Stammbäume und die genetische Historie von Millionen von Schafen dokumentiert sind. Mit ihrer Hilfe untersuchen wir nun, was in einer natürlichen Population die fruchtbaren von den weniger fruchtbaren Tieren, die gegen Krankheit resistenten von den anfälligen unterscheidet. Ein Lamm hat sehr zartes Fleisch, das andere nicht. Das eine hat dicke Wolle, das andere nur dünne Flusen. Was unterscheidet beide genetisch? Wir stehen zum Beispiel kurz davor, das Gen zu identifizieren, das kontrolliert, wie sich Fett und Muskeln im Körper einlagern.
      Und wir haben bereits zwei Gene entdeckt und patentieren lassen, die mit dem Eisprung in Zusammenhang stehen. Das hat weltweit große Resonanz hervorgerufen, weil es ein brandneues Verständnis über den Eisprung an sich mit sich bringt – nicht nur bei Schafen, sondern auch bei anderen Tieren und nicht zuletzt beim Menschen. Das eröffnet neue Wege bei Empfängnisverhütung und Sterilisation.
      Die Biotechnologie-Forschung ist langwierig und teuer. Deswegen haben wir uns mit Ovita ein Modell ausgedacht, das Geld von der Regierung und Geld aus der Industrie zusammenbringt. Für jeden Dollar, den die Industrie investiert, gibt die Regierung einen Dollar dazu. Fünf Jahre haben wir Zeit, auf eigenen Beinen zu stehen, dann zieht die Regierung sich zurück. Der Vorteil der Industrie liegt darin, dass zielstrebig im Sinne der Schafzucht geforscht wird. Die Bauern reden mit. Wer von denen die Rogernomics überlebt hat, zählt zu den innovativsten und besten Unternehmern des Landes. Und Schafe mögen dumm sein, langweilig sind sie nicht.“

      Christchurch, mit knapp 350000 Einwohnern die größte Stadt der Südinsel. Das Klima ist rauer hier, die Menschen sind ärmer als in Auckland oder Wellington, und nach Einbruch der Dunkelheit treibt man sich besser nicht mehr am Strand herum. Vicki Buck hat neun Jahre die Geschicke dieser Stadt bestimmt. Sie ist eine Frau, die so viel lacht, dass sie manchmal schwer zu verstehen ist.

      „ Als ich 1989 Bürgermeisterin wurde, haben wir die Scherben aufgesammelt. Es war gut und richtig, die Bürokratie abzubauen, die Subventionen zu streichen, die Wirtschaft zu liberalisieren. Ich finde es großartig, dass es in Neuseeland so einfach ist, ein Unternehmen zu gründen – du kannst deine Firma für 200 Dollar im Internet registrieren lassen. Aber du kannst eine Regierung nicht aus der sozialen Verantwortung entlassen. Die, die den Preis bezahlen mussten und es noch immer tun, sind die, die es sich am wenigsten leisten können.
      Was ist das für eine Freiheit, wenn ein Kind nur noch die Wahl hat, entweder auf der Straße herumzuhängen oder zu einem manisch-depressiven arbeitslosen allein erziehenden Elternteil nach Hause zu gehen? Die hohe Arbeitslosigkeit hatte verheerende Auswirkungen auf das soziale Gefüge in der Stadt. Die Schließung der Eisenbahnwerkstätten beispielsweise – bis dahin eine Ausbildungsstätte für hoch qualifizierte Leute – hat viele junge Maori über Nacht überflüssig gemacht, was wiederum zerstörerisch auf deren Familien wirkte. Da war so viel Ohnmacht, so viel Wut. Wir sind ein kleines Land, in dem großzügig verstreut wenige Menschen leben. Woanders gäbe es Bürgerkrieg. Wir haben als Erstes beschlossen, innerhalb eines Jahres 2000 neue Jobs zu schaffen, und haben die Wirtschaft involviert. Ich habe eine Hotline in meinem Büro eingerichtet und gesagt: Wenn Sie ein Problem haben, rufen Sie mich an. Das haben die Leute getan. ,Ich würde gern drei Leute einstellen, dafür müsste ich anbauen, aber das Nachbargrundstück ist nicht als Industriegebiet ausgewiesen, was kann ich tun?‘ Ich habe die dann mit jemandem vom Bauamt in die Bürgermeister-Lounge gesetzt, Kaffee hingestellt und gesagt, sie sollen erst wieder rauskommen, wenn das Problem gelöst ist. Jede Firma, die Jobs geschaffen hat, wurde in der Zeitung veröffentlicht. Und einmal im Monat habe ich all diese Unternehmer bei einem guten Wein zusammengebracht. Denen dankt sonst niemand.
      Ich wollte auf Teufel komm raus die Stimmung aufhellen. Wenn Leute glauben, die Rezession steht vor der Tür, dann tut sie es auch. Wir sind in die Cafés gegangen und haben die Betreiber gefragt, ob sie nicht Tische vor die Tür stellen wollen, wir würden ihnen den Platz für ein Jahr mietfrei überlassen. Bis dahin war immer der Gesundheitsinspektor gekommen und hatte das verboten. Aber eine Stadt muss pulsieren. Heute beziehen wir gute Mieten für diese Flächen.
      Wir haben acht oder zehn neue Festivals geschaffen, Eintritt frei. Wir haben Freizeitbäder, Sportplätze und Büchereien eingerichtet, vor allem in armen Stadtteilen. Wir haben keine Straßen gebaut, sondern Fußwege. Außerdem das Convention Center und andere Veranstaltungsorte, damit Touristen und Geschäftsleute in die Stadt kommen. Inzwischen sind ausländische Studenten hier ein großer Wirtschaftsfaktor. Ihre Zahl ist allein von 2000 auf 2001 um 47 Prozent gestiegen, landesweit leben hier mehr als 12000 Studenten, die meisten kommen aus China oder Taiwan. Sie bringen Devisen ins Land. Rund um die Fachhochschulen und Universitäten entstehen Läden, Copy-Shops, Restaurants und Bars. Du brauchst nur eine Idee.

      Richmond, ein rapide wachsender Wohnort für alle, denen das benachbarte Nelson zu teuer ist. Im Ortskern findet sich, was der Mensch braucht: das Ärztezentrum, zwei Supermärkte, das Kaufhaus Farmers, eine Tankstelle, der Fish-&-Chips-Shop und neuerdings auch eine Espresso-Bar sowie ein indischer Imbiss. Der Pensionär John Jardine und seine Frau haben sich ein kleines Haus im Neubaugebiet gekauft. Die Grundstücke sind durch mannshohe Zäune voneinander getrennt. Besonders für John ist das gewöhnungsbedürftig, denn John war sein Leben lang Farmer. Er hatte Auslauf, und der Blick war frei.

      „ 1950 bin ich als 22-Jähriger auf einem Dampfschiff aus Schottland gekommen. 15 Jahre später habe ich meine eigene kleine Milchfarm gekauft. Es gab damals eine staatliche Organisation, die Farmern günstige Kredite gegeben hat. Wir haben unsere Milch an die lokale Molkerei geliefert, und die hat ihre Produkte über das Dairy Board auf dem Weltmarkt verkauft. Mitte der sechziger Jahre kam ein Berater dieser Organisation zu mir und sagte, es gebe Unsicherheiten auf dem Absatzmarkt. Die einzige Möglichkeit langfristig zu überleben, sei zu wachsen. ,Think big!‘, lautete der Schlachtruf der Regierung für die nächsten zwei Jahrzehnte. Bereits zu dieser Zeit gab es eine große Misswirtschaft bei den Reedereien, den Hafenarbeitern und auch in der Milch verarbeitenden Industrie, die Gewerkschaften waren extrem stark und stellten immer abstrusere Forderungen. Also stiegen die Preise in der Produktionskette, während das Dairy Board auf dem Weltmarkt nur die Summe X bekam, worauf wir keinen Einfluss hatten.
      Das Nachsehen hatten die Bauern, denn die waren die letzten in der Reihe, die ihr Geld bekamen. Damals fingen die Subventionen an, weil die Regierung das tatsächliche Problem – nämlich die große Misswirtschaft in der Produktion – nicht anfassen wollte. Das war ein zu heißes Eisen. Die wollten ihre Wähler in den Gewerkschaften nicht verlieren. Gleichzeitig mussten sie die Bauern am Leben erhalten, weil die Landwirtschaft immerhin 80 Prozent der Export-Einnahmen erwirtschaftete, noch heute sind es 66 Prozent. Damit geriet alles aus den Fugen. Die Bevölkerung hatte das Gefühl, sie füttere den faulen Bauern durch.
      Wir haben uns also eine größere Farm auf der Südinsel gekauft, Fläche und Herde verdoppelt. Ich habe 60 Stunden in der Woche gearbeitet – um die Hypothek abzuzahlen. Da war mir das Ganze schon nicht mehr geheuer. Durch den Eintritt Großbritanniens in die Europäische Gemeinschaft hat sich der Absatzmarkt drastisch verkleinert. Ich bin dann auf Kiwis umgestiegen. Wir hatten in Golden Bay ein ideales Mikroklima ohne Frost. 1977 war das. Nach zwei, drei mühsamen Lehrjahren fing das Ganze an, richtig gut zu laufen.
      Und was tut die Regierung? Sie lockt mit Steueranreizen Investoren in die Kiwi-Produktion. Bei einem Steuersatz von 66 Prozent für Spitzenverdiener suchten die immer nach Schlupflöchern. Das holte jede Menge Spekulanten an Bord. Der Geschäftsmann in Auckland fand es plötzlich todschick, am Wochenende auf der eigenen Kiwi-Plantage herumzuspazieren. Banken versprachen den Investoren noch zwölf Dollar pro Tablett, als wir tatsächlich schon längst über dem Zenit waren und gerade noch 6,80 bekamen. Gleichzeitig wurde der Export durch einen starken Dollar gedämpft.
      Dann kamen die Rogernomics. Wir hatten uns gerade einen Packschuppen gebaut und ein Kühlhaus. Als ich den Kredit dafür aufgenommen hatte, lag der Zins bei zehn Prozent, und ich bin davon ausgegangen, dass wir bis zu zwölf Prozent würden handhaben können. Er stieg über Nacht auf 25 Prozent.
      Das war’s. Fünf Jahre lang habe ich versucht, da herauszukommen. Als sich 1992 endlich ein Käufer fand, bekam ich von der Dreiviertelmillion, die die Plantage wert war, gerade mal ein Drittel. Damit war meine Alterssicherung im Grunde vernichtet. Aber andere hat es noch schlimmer getroffen, viele Schaf- und Viehbauern waren vollständig ruiniert, und nicht wenige haben sich im Stall erhängt. Die Regierung schickte damals Psychologen über Land, mich haben sie auch besucht, aber was konnten die schon tun? Als wir dann bei der nächsten Wahl Labour abgewählt haben, hat die National Party genauso weitergemacht. Schlimmer noch: Der freie Markt wurde zur Religion. Sie fingen an, mit dem Ausbildungs- und Gesundheitswesen herumzuspielen. Vor Jahren hatte ich ein Augenleiden, das mich das Augenlicht hätte kosten können. Ich hatte die Wahl: entweder zwei Jahre unter großen Schmerzen auf eine Operation zu warten oder 5000 Dollar auf den Tisch zu legen. Da ging es plötzlich innerhalb von zwei Tagen. Meine Frau und ich bekommen heute alle 14 Tage eine Rente von 367 Neuseeland-Dollar für beide, ich verdiene uns ein bisschen Taschengeld als Erntehelfer dazu. Ich bin jetzt 75 Jahre alt, von der Politik habe ich die Schnauze voll.“

      Nelson, Sonnenstadt, Hippie-Hochburg im Kolonialstil, Paradies europäischer Auswanderer. Auf dem Wochenmarkt gibt es samstags deutsches Sauerkraut. Suzie Moncrieff möchte nirgendwo sonst auf der Welt leben und hat ihrer Stadt eine große Attraktion geschenkt.

      „ Wenn am Eröffnungsabend die Lichter ausgehen und die Show beginnt, stockt mir selbst jedes Mal der Atem: bizarre Fabelwesen, wandelnde Skulpturen, tanzende Kaffeekannen, archaische Urgestalten und metallische Außerirdische fügen sich zu einer extravaganten Show mit Musik und Tanz. Um mich herum 2500 Menschen, deren Augen leuchten. Das ist die ,World of Wearable Art‘. Die tragbare Kunst wird uns von Künstlern aus aller Welt zugeschickt und in monatelanger Arbeit choreografiert. Das Trafalgar Center ist sechs Abende pro Woche bis auf den letzten Stehplatz ausgebucht. In der ersten Reihe sitzen die VIPs, Botschafter, Wirtschaftsbosse, Politiker – all jene also, die lange gesagt haben, ich solle mir doch einen Strick nehmen.
      Vor 20 Jahren habe ich in der Zeitung von einer Ausstellung mit dem Titel Wearable Art gelesen und bin hingereist. Da hingen dann ein paar Kleider an der Wand, die mit Blumen bemalt waren. Ich war enttäuscht, doch in mir hatte ein Funke gezündet. Ich war damals arbeitslos und fing an, Sponsoren zu suchen. Einmal quer durch die gelben Seiten. Die fragten: ,Wearable what?‘ und steckten ihr Geld weiterhin in Rugby oder Cricket.
      Die erste Show habe ich mit ein paar Freunden im Vorgarten eines alten Cottage veranstaltet. Wir hatten einen Laufsteg aus Apfelpaletten aufgebaut, als Sitzbänke dienten Heuballen, die Stereoanlage jaulte unsäglich, und es goss wie aus Kübeln. Doch der Abend wurde ein voller Erfolg und die Party danach legendär. Es waren immerhin 50 oder 60 Ausstellungsstücke eingereicht worden, und eine Freundin von mir hatte das Ganze ein bisschen choreografiert. Seitdem mache ich jedes Jahr eine Show.
      Im dritten Jahr hatte ich die Nase voll von mobilen Klos und all den Provisorien und habe das Trafalgar Center gebucht. Das ist das Sportstadion in Nelson, 2500 Leute passen hinein. Was hatte ich für Albträume! In dieser Zeit habe ich eine schöne Mappe gebastelt und bin damit zum Bürgermeister gegangen, um ihn um Unterstützung zu bitten. Er blätterte mit gerunzelter Stirn, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: ,Girlie, den einzigen Rat, den ich dir geben kann, ist, verschwinde aus der Stadt.‘
      Später, als Wearable Art das größte Ereignis in Nelson überhaupt wurde, hat er sich bei mir entschuldigt. Jedenfalls konnte mich seit dieser Begegnung nichts mehr erschrecken. Vor einiger Zeit habe ich im Büro der Premierministerin angerufen, und die hat prompt zurückgerufen. Sie ist großartig. Der erste Premier, der sich für Kunst einsetzt. Ich verstehe nicht viel von Politik und von Wirtschaft erst recht nicht, aber ob sich eine Gesellschaft gut anfühlt, das kann ich beurteilen. -----|


      Zusatzinformationen:

      Reformen in Neuseeland
      1984 machen Auslandsverschuldung, Haushaltsdefizit und Geldwertverlust die Regierung der National Party nahezu handlungsunfähig. Es kommt zu vorgezogenen Neuwahlen, die die Labour Party gewinnt. Premierminister wird der 41-jährige David Lange, sein Wirtschaftsminister Roger Douglas beginnt sofort mit den – heute nach ihm benannten – Reformen von Wirtschaft und Sozialem. Als die National Party 1990 wieder an die Macht gewählt wird, setzt sie die Reformen fort:

      1. Die Steuern werden gesenkt (der Spitzensteuersatz auf 33 Prozent halbiert), das Besteuerungssystem vereinfacht.

      2. Subventionen für Landwirtschaft und Produktion werden ohne Übergangsregelungen gestrichen (Die staatlichen Zuschüsse machen zu diesem Zeitpunkt im Durchschnitt 35 Prozent der Bruttoeinnahmen eines Bauern aus).

      3. Import-Lizenzen werden durch Einfuhrzölle ersetzt, später werden die Einfuhrzölle stufenweise abgebaut.

      4. Regularien im Bereich Transport und Energie sowie im Finanzsektor werden aufgehoben.

      5. Die Sozialleistungen werden drastisch gekürzt.

      6. Die Gewerkschaften werden per Gesetz entmachtet, individuell ausgehandelte Arbeitsverträge eingeführt.

      8. Studenten bekommen nur noch auf Darlehensbasis Unterstützung.

      9. Ausländische Investitionen werden erleichtert.

      10. Staatseigentum – u. a. Krankenhäuser, Häfen, Flughäfen, die Bahn- und Telefongesellschaft – wird privatisiert. Ein Beispiel für die Effizienz der Staatsunternehmen vor der Privatisierung: Ein Ticket für die staatliche Eisenbahn kostete auf gleicher Strecke sechsmal so viel wie ein Busticket und ein Drittel mehr als ein Taxi.

      11. Die Tomorrow’s School Reform überträgt die Zuständigkeit für 2700 Grundschulen und Sekundarschulen an die Kommunen. (Je nach Ausstattung der Kommunen sinkt die Qualität der Ausbildung in einigen Gegenden dramatisch.)

      1999 löst die Labour Party die alte Regierung ab. Die neue Premierministerin Helen Clark macht einen Teil der Reformen rückgängig:

      _Der Spitzensteuersatz wird von 33 Prozent wieder auf 39 Prozent erhöht.
      _Nachdem der feste Zinssatz für Studien-Darlehen zuletzt über dem Marktzins gelegen hatte, werden die Zinsen nun ganz aufgehoben.
      _Sozialleistungen für die Mieter von Sozialwohnungen und für sozialschwache Maori werden erhöht.
      _Mit der Employment Relations Bill wird das Streikrecht wieder eingeführt und Kollektivverträge begünstigt.
      _Der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn wird erhöht.
      _Die von Insolvenz bedrohte Air New Zealand wird mit Steuergeldern unterstützt.
      _Als Antwort auf die Schließung vieler Bankfilialen wird eine neue öffentliche Bank, die Kiwi Bank, genehmigt. Hintergrund: Nach einem Jahrzehnt bedingungsloser Akzeptanz fremden Kapitals sind alle wesentlichen Industrien in den Händen ausländischer Investoren, der Bankensektor etwa wird von australischen Großbanken kontrolliert. Das hat dazu geführt, dass Neuseeländer mit geringem Einkommen kein Bankkonto mehr eröffnen konnten, weil die Banken an diesem Kundenkreis nicht interessiert sind.
      _Die neu gegründete Kiwi Bank wird das Filialnetz der bereits wieder verstaatlichten Post nutzen. Im Gegenzug hat die Post sich verpflichtet, in Zukunft auf die Extra-Zulieferungsgebühr für den ländlichen Raum zu verzichten. Nach der Privatisierung hat die Post 432 Filialen geschlossen.
      _Nachdem die Privatisierung der Energiekonzerne alljährlich zu dramatischen Versorgungsengpässen geführt hat – 1998 war das Banken- und Geschäftsviertel von Auckland 66 Tage nur wenige Stunden am Tag mit Energie versorgt, was viele Unternehmen in den Konkurs trieb –, bemüht sich die Regierung jetzt um verbindliche Vereinbarungen mit der Industrie, die Grundversorgung sicherzustellen.
      _Der weitere Abbau von Einfuhrzöllen wird blockiert. _

      http://www.brandeins.de/magazin/was_wirtschaft_treibt/artike…" target="_blank" rel="nofollow ugc noopener">http://www.brandeins.de/magazin/was_wirtschaft_treibt/artike…
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      Sozialisieren-->Liberalisieren--->wieder sozialisieren -->irgendwann vielleicht wieder lieberalisieren?????
      Ein in Gesellschaften möglicher, sehr langfristiger Zyklus??
      Avatar
      schrieb am 04.07.03 00:42:15
      Beitrag Nr. 95 ()
      Familie Friedman

      Seine Theorien sind extrem: Er träumt von einer völlig unkontrollierten Marktwirtschaft.
      Seine Kinder sind extremer: Sie leben in Kommunen, spielen Poker und wollen Anarchie.
      Ein Besuch bei Nobelpreisträger Milton Friedman, seinen Kindern und einem Enkel.



      Text und Foto: Thomas Jahn



      ----- Patri Forwalter-Friedman parkt seinen verbeulten Kombi. Seine langen Haare sind lila gefärbt. Der livrierte Portier schaut indigniert. Patri geht durch die riesige Marmor-Empfangshalle und fährt mit dem goldenen Fahrstuhl in den 20. Stock zur Wohnung seiner Großeltern. Die wohnen seit einem Vierteljahrhundert in einem der wenigen Hochhäuser auf dem Russian Hill in San Francisco. Die Außenwände sind ganz aus Glas, mit herrlichem Blick auf die Golden-Gate-Brücke, Alcatraz und das Finanzviertel. Das Apartment ist modern eingerichtet, mit Glastisch und rechtwinkliger Sitzgarnitur. Der Teppich ist so weich, dass man fast bis zu den Knöcheln darin versinkt.
      Rose und Milton Friedman sind entsetzt. Schon Enkel Rick verdarb die Vorstellung seiner neuen Freundin, weil er einen Ohrring trug. Aber Patris Auftritt beim Familientreffen ist ein Schock. „Wogegen will er nur protestieren?“, fragen die Großeltern ihren Sohn David, den Vater von Patri. Der lacht nur und sagt, dass man mit so einem Aussehen vor einem Vierteljahrhundert rebellierte – heute sei das nur eine Mode. Patri kann die Aufregung nicht verstehen: „Das ist doch nur Ästhetik, es bedeutet mir nichts.“
      Als Patri den Großeltern seinen Plan für ein Anarchisten-Projekt erklärt, findet er noch weniger Verständnis. Aus Beton und Stahl will er eine Art Floß bauen, das einem halben Dutzend Menschen auf 900 Quadratmetern Platz bietet. Das Floß sieht von oben aus wie eine gespiegelte Toblerone und kann mit anderen Flößen verbunden werden. Die Floßgemeinschaft „Seastead“ soll sechs Seemeilen vor Gibraltar festgemacht werden. Dort würde aufgrund einer Lücke im internationalen Seerecht – in dem von Schiffen, nicht von Flößen die Rede ist – ein rechtsfreier Raum entstehen. Keine Polizei, kein Gericht. Es sollen die Regeln gelten, die von den Bewohnern aufgestellt werden – egal, ob sie russisches Roulette erlauben oder das Klonen von Menschen. „Das Projekt ist mein Traum“, sagt Patri aufgeregt, der sein ganzes Erbe in Seastead stecken will. Rose und Milton schütteln den Kopf. „Das ist verrückt.“
      Dabei ist für den Nobelpreisträger Milton Friedman der Staat eigentlich ebenfalls ein Feind. Der Begründer des Monetarismus und einer der Vordenker der Chicagoer Schule predigt den Kapitalismus als bestes aller Wirtschaftssysteme. Geldpolitische Instrumente wie die Beeinflussung der Zinssätze sind demnach genauso verwerflich wie der gesamte keynesianische Wohlfahrtsstaat. In seinem 1962 erschienenen Hauptwerk „Kapitalismus und Freiheit“ predigte Milton die Rückkehr ins 19. Jahrhundert: Steuern drastisch senken, Subventionen abschaffen, Schulen und Sozialversicherungen privatisieren. Ronald Reagans und Margaret Thatchers Wirtschaftspolitik waren stark von diesem Denken geprägt: „Der Handlungsraum für die Regierung muss begrenzt werden. Ihre Hauptaufgabe muss sein, unsere Freiheit zu schützen, Ordnung und private Verträge zu gewährleisten sowie wettbewerbsfähige Märkte zu fördern“, schreibt Milton Friedman.

      Familie Friedman: drei Generationen im Kampf für Freiheit, Vernunft und persönlichen Erfolg

      Mit seinen erzliberalen Theorien veränderte Milton aber nicht nur die Welt, sondern auch seine Familie – mehr als ihm lieb sein dürfte. Der Kontrast ist stark: Milton und Rose gingen 70 Jahre lang im Weißen Haus ein und aus und berieten Regierungen in der ganzen Welt. Sie halten viel von einem eigenen Heim, konservativer Kleidung und sauberen Fingernägeln. Ihre Kinder und Kindeskinder dagegen gründen Patchwork-Familien, leben in Kommunen und sind Anarchisten – allerdings ohne linke Glücksfantasien. „Ich bin Anarchist, aber ich glaube an keine Utopie“, sagt Miltons Sohn David. Milton ist Rechtsprofessor und schickte seine Kinder in eine Schule, in der sie sich selbst aussuchen konnten, was sie lernen. Patri machte gerade seinen Master of Computer Science, verdient Geld mit Pokern und arbeitet an seinem Ultra-Anarchie-Projekt Seastead.
      Auch Miltons Tochter Janet hält nichts vom Staat und fand früher als Anwältin und Steuerberaterin für ihre Kunden Steuerschlupflöcher. Ihr Sohn Rick folgte der Rockgruppe Phish als Fan durch das Land und kümmert sich jetzt um das Soundsystem der lokalen Pop-Rock-Band Mumbo Gumbo.
      Seit dem besagten Besuch vor einigen Jahren sahen die Großeltern Patri nicht sehr häufig. Der Friedman-Clan trifft sich sowieso nicht allzu oft. „Sie leben ihr Leben, und wir leben unseres“, sagt Rose. Obwohl die Alten der Kinder wegen von Chicago nach San Francisco zogen. Nun verteilen sich die Friedmans über Nordkalifornien, leben nahe beieinander, und sind trotzdem unverrückbar getrennt – mit Rose und Milton im Zentrum. Fast jeden Tag sitzt der 90-jährige Milton im Büro und arbeitet vor allem an Bildungsfragen. „Früher brauchte ich Bibliotheken, heute habe ich Google“, sagt er. 1996 rief er die Milton & Rose D. Friedman Foundation ins Leben, die Eltern bei der Ausbildung ihrer Kinder unterstützt und die Privatisierung von Schulen fördert. US-Notenbankchef Alan Greenspan und seine Frau kommen bei ihren Freunden gern zum Frühstück oder Abendessen vorbei. Und auch andere hochrangige Vertreter der amerikanischen Hochfinanz sind regelmäßig zu Besuch.
      Die Straßen um den Russenhügel sind steil, trotzdem gehen die beiden täglich spazieren. „Gestern war ich am Union Square“, erzählt Rose – der Weg zur Einkaufsmeile dürfte für eine 91-Jährige dem Aufstieg zum Mount Everest gleichen. Trotz seines Alters kaufte sich Milton vor kurzem einen neuen Lexus. Ein BMW-Cabrio steht ebenfalls in der Tiefgarage. Als Tochter Janet und Miltons Sekretärin Gloria Valentine vor einiger Zeit vorschlugen, einen Fahrer einzustellen, blickte der Alte noch nicht einmal vom Schreibtisch auf und grummelte: „Lasst mich in Ruhe.“
      Er ist ein harter Knochen. In Interviews sagt er gern Sachen wie: „Ich glaube, die Frage ist nicht sinnvoll.“ Die große Narbe über seiner Oberlippe – als Kind flog er durch die Windschutzscheibe des Wagens seines Vaters, einem Ford T – verleiht seinem Gesicht eine kriegerische Note. Im Laufe der Jahrzehnte legte er sich mit der amerikanischen Notenbank, linken Studenten, konservativen Senatoren und dem Nobelpreiskomitee an. Sogar seinen akademischen Ziehvater Arthur Burns vergrätzte er. Die beiden versöhnten sich erst Jahrzehnte später. „Diplomatie ist nicht meine Stärke“, schreibt Milton Friedman in seiner Biografie.
      Und doch steckt in ihm eine große Freundlichkeit. Die zeigt er seiner Familie, Freunden und Studenten. Liebevoll erzählte er früher seinen Kindern auf langen Autofahrten selbst erfundene Märchen. Noch heute erinnert sich seine Tochter Janet an den vom Vater ersonnenen Zirkusdirektor Gazookis, der mit seinen Tieren und Artisten eine Familie besucht und deren Tochter und Sohn mit allerlei Kunststücken unterhält.
      An der University of Chicago im Kurs „Ökonomie 301, Preis- und Verteilungstheorie“ der Volkswirtschafts-Koryphäe Jacob Viner trafen sich Rose und Milton 1932 zum ersten Mal. Noch heute kichern beide bei der Frage, was sie damals aneinander fanden. Rose überlegt eine Weile, Milton will am liebsten das Zimmer verlassen. „Mich zog seine aufmerksame und rücksichtsvolle Art an“, sagt sie schließlich. Sicherlich imponierte ihr, dass er einen Fehler bei Viners Ableitungen fand. Der Professor gab den Schnitzer erst nach Ende der Vorlesung zu. „Sie war sehr attraktiv und ist es heute noch“, sagt Friedman. „Sie interessierte sich für meine ökonomische Arbeit, zumindest täuschte sie es vor.“
      Oft bis spät in die Nacht saßen Rose und Milton in der Fakultät an Tabellen und Kalkulationen für statistische Nachfragekurven. Doch nichts passierte zwischen ihnen. Der Wink mit dem Zaunpfahl durch den schwedischen Assistenten Sune Carlson, der die beiden nach der Arbeit in einen Fahrstuhl schubste und im Treppenflur verschwand, nutzte nichts. Artig verabschiedeten sich die beiden, Rose verweigerte sogar einen Abschiedskuss. Bis zum Händchenhalten vergingen Jahre. Auch danach war an Ehe nur zu denken, „wenn man sich vernünftig versorgen kann“, so Rose. 1938 war es so weit. Die beiden heirateten in New York im kleinen Kreis, den Eltern zuliebe nach jüdischer Tradition mit Chupa und zerschmetterten Weingläsern. Übrigens: Carlson ging nach Schweden zurück, wurde dort Wirtschaftsprofessor und saß 1976 im Ausschuss des Nobelpreis-Komitees, das Milton den Preis zugesprochen hat.

      Rose und Milton Friedman: Zwei Flüchtlinge werden Amerikaner und ein Kellner Nobelpreisträger

      Rose und Milton haben vieles gemeinsam. Beide sind Kinder von Immigranten, die vor der judenfeindlichen Stimmung in Osteuropa Anfang des 20. Jahrhunderts nach Amerika flohen. Noch in einem polnischen – später russischen, heute ukrainischen – Dorf geboren, verbrachte Rose die ersten zwei Lebensjahre im Chaos. Ihr Vater versteckte sich tagelang und fürchtete um sein Leben, als ein Russe in der von ihm beaufsichtigten Getreidemühle mit dem Mantel in das Räderwerk geriet und umkam. Dumpfer Antisemitismus traf auf uralten Aberglauben. Rose erinnert sich, dass sich bei Schwierigkeiten bei einer Geburt alle unverheirateten Frauen die Haare kurz schneiden mussten. Als Roses Schwester an Diphterie erkrankte, musste die Mutter mit ihr zwei Tage in einer Friedhofsecke übernachten.
      Rose wollte Konzertpianistin werden, folgte aber ihrem Bruder Aaron nach Chicago, um dort als eine der wenigen Frauen Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Ihre Doktorarbeit zur Geschichte der Kapitaltheorie beendete sie jedoch nicht. „Ich wollte Milton niemals auf beruflicher Ebene den Rang streitig machen – vielleicht, weil ich klug genug war einzusehen, dass ich keine Chance hatte“, sagt sie. „Sie hatte einen unglaublich hohen Anteil an meiner Arbeit“, sagt er.
      Milton Friedman wurde in Brooklyn geboren. Seine Eltern waren jüdische Emigranten aus Ungarn. Die Mutter arbeitete als Näherin unter unmenschlichen Bedingungen, doch sie beklagte sich nicht über die Ausbeutung. Im Gegenteil, sie war dankbar für das Geld und die Chance, Englisch zu lernen. Zu Hause sprachen sie ungarisch, jiddisch und englisch. Der Vater starb früh. Im neuen Haus in New Jersey eröffnete die fünfköpfige Familie einen Kramladen. Eine Eisdiele scheiterte kläglich. Mit viel Arbeit und Sinn fürs Geld schlug sich Friedman durchs Studium: Verkaufte Hüte im Kaufhaus Roselle’s, kellnerte im Restaurant für ein Mittagessen, verscherbelte Feuerwerkskörper, gab Nachhilfe.
      Ihre Herkunft prägt das Denken der beiden stark. Ihre Familien und auch sie selbst mussten hart arbeiten. Aber das empfinden sie als eine Gunst, nicht als Last. Genauso erwarten sie von anderen, ohne Hilfe zurechtzukommen. „America gonif“, sagte Roses Mutter immer verzückt. Das ist Jiddisch und heißt etwa: Alles ist möglich in Amerika. Tatsächlich ist Milton Friedmans Aufstieg vom Kellner zum Nobelpreisträger ein amerikanischer Traum. Zu seinem 90. Geburtstag vor knapp einem Jahr gab Präsident George W. Bush ein Festessen im Weißen Haus. Rose und Milton kamen – das war eine Gunstbezeugung. „Solche Dinner sind sterbenslangweilig“, sagt er. „Alles hängt davon ab, neben wen man gesetzt wird“, ergänzt sie. Deswegen schlagen sie die häufigen Einladungen aus Washington – die Reise im Privatflugzeug ist sowieso Voraussetzung – so gut wie immer aus.
      Eine Fehlgeburt traf die Friedmans hart. Erst die Geburt von Janet 1943 veränderte alles. „Janet war wie ein Geschenk aus dem Himmel. Nichts anderes interessierte mich mehr“, sagt Rose. Auf seine Weise zeigte auch Milton seine Vaterliebe: Akribisch notierte er Gewicht und Essen von Janet, um daraus statistische Tabellen und Kurven anzufertigen. Ebenso gewissenhaft listete er Janets erste Wörter auf. Als das Baby an einer Magenkrankheit litt, rannte Milton durch New York, um trotz Kriegs-Mangelwirtschaft die vom Arzt empfohlenen Bananen zu ergattern. Tagsüber grübelte er für die Statistical Research Group der Columbia University über die Ballistik der Flak-Abwehr oder die Flugfähigkeit des Bombers B-29. Die Arbeit für die US-Armee war geheim, selbst seiner Frau durfte er kein Wort davon erzählen.
      Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde David geboren. Rose war erleichert, weil sie bei der Fehlgeburt einen Jungen verloren hatte und dieser ihr in gewisser Weise wiedergegeben wurde. Es gab aber noch einen weiteren Grund zur Freude. „Als Milton mir sagte, es sei ein Junge, rief ich aus: Gott sei Dank! Ich brauche keine Kinder mehr zur Welt zu bringen. Wir hatten nie vor, eine große Familie zu gründen.“

      Die Kinder Janet und David: Ein Anarchist liebt das Mittelalter und eine Anwältin das Steuernsparen

      Der Eingang von Janet Friedmans Haus ist kaum zu finden. Ein von Gras und Blumen überwucherter Pfad führt nach hinten zur Tür. Die beiden ersten Ziffern der Hausnummer 2400 sind verschwunden. Über der Garage hängt der Rahmen eines Basketballkorbs. Es gibt keine Klingel, nur ein angerostetes Glockenspiel. Das Haus ist groß, aber im Wohnzimmer fühlt man sich trotz der hohen Decke wie in einer Höhle. Die Kacheln sind braun, die Möbel dunkel. Trotz großer Fenster und Terrassentür dringt nicht viel Licht ins Innere: Die Bäume und ein Gartenhaus sperren die Sonne aus. Janet sitzt hier gern in einem schwarzen Sessel mit Fußstütze und schreibt auf ihrem Apple-Laptop, lauscht Hörbüchern oder spielt mit Chip, ihrem Mann, Bridge.
      Das Haus von David Friedman ist fast hundert Jahre alt.
      Den Blick von der Straße versperren zwei uralte Fichtenriesen. Im Garten wächst es wild und bunt. Auf der Holzveranda stehen Stühle und ein selbst gebasteltes Kinderbett, das David nach mit-telalterlichen Zeichnungen baute. Seit acht Jahren wohnt er hier mit seiner zweiten Frau und zwei Kindern. David sieht seinem Vater verblüffend ähnlich, ein rundes Gesicht mit Halbglatze und einer großen Nase. Aber Milton Friedman würde sich nicht so anziehen: David trägt ein kurzärmeliges Hemd mit mexikanischen Verzierungen und altmodische schwarze Sportschuhe.
      Die Geschwister sind grundverschieden. „Erst hatten wir wenig miteinander zu tun, dann verbündeten wir uns gegen die Eltern“, sagt David. Die introvertierte Janet zögert beim Sprechen, Hände und Finger führen ein Eigenleben, sie unterstreichen das Gesagte. David kennt keine Scheu, zitiert freihändig aus Gedichten und lächelt ohne Unterlass. „Janet ist organisiert und willensstark. Sie denkt wie eine Anwältin“, sagt der Vater. „David ist extrovertiert und originell. Er braucht die Abwechslung.“
      Wie alle Friedmans kämpfte auch Janet gegen den Staat – nur auf pragmatische und bürgerliche Weise. „Ich rebellierte gegen meine Eltern, indem ich mich nicht für Politik interessierte“, sagt sie. Als Anwältin einer Kanzlei in San Francisco vertrat sie Unternehmen gegen Schadenersatzklagen. Später beriet sie wohlhabende Kunden beim Steuersparen. „Früher lagen die Steuersätze extrem hoch“, sagt Janet. „Da hat es noch Spaß gemacht, Schlupflöcher im Gesetz zu finden.“ Die Arbeit ihres Vater führte während der Amtszeit von Ronald Reagan zu dramatisch niedrigeren Steuern vor allem für Besserverdienende. Heute kümmert sich Janet nur noch um ihre drei Pferde und Dressurreiten. Und natürlich um Bridge. Ihr Mann Chip wurde fünfmal Weltmeister, im vergangenen Jahr war Janet Kapitän der siegreichen Mannschaft. „Beim Poker denken die Menschen zu Unrecht, dass Glück wichtig sei“, sagt sie. „Bei Bridge denken sie, Glück spiele keine Rolle. Doch auch das stimmt nicht.“
      David Friedman liebt Gedichte aus dem Mittelalter. Er übersetzte nicht nur als Erster das Hildebrandslied ins Englische, sondern erfand auch ein Ende für das 1200 Jahre alte altdeutsche Frag-ment. Derzeit versucht er seinen fantastischen Roman „Harald“ an einen Verlag zu verkaufen. Die Idee entstand aus den Gutenachtgeschichten für seine Kinder. Wie sein Vater, der früher im Auto vom Zirkusdirektor Gazookis erzählte, erfand David für seine Tochter und seinen Sohn eine Königssage um das mittelalterliche isländische Volk Northvales. Das fasziniert ihn seit langem, seiner Meinung nach herrschte dort fast Anarchie. „Es gab Gerichte und Anwälte“, sagt David, „aber keine Polizei oder Armee. Die Durchsetzung des Rechts war komplett privat organisiert.“
      David Friedman ist eigen. Früh las er haufenweise Bücher, als Teenager machte er sich ernsthaft Gedanken über die Welt. Warum braucht man Richter und Polizisten? Sie wären machtlos, wenn sich die Mehrheit nicht an Gesetze hielte. David war verunsichert und beschloss vorläufig gesetzestreu zu leben, weil sonst die Gesellschaft zusammenbrechen könnte. Der heutige Anarchist David befolgte mustergültig alle Gesetze. Er weigerte sich sogar, einem minderjährigen Freund ein Glas Wein zu kaufen. „Alle dach-ten, ich spinne“, sagt David. „Ich bin ein wenig begriffstutzig, aber irgendwann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Niemand fühlt sich moralisch verpflichtet, sich an die Gesetze zu halten.“ Die Geschichte des Sience-Fiction-Autors Robert Heinlein „Der Mond ist eine herbe Geliebte“, in der Heinlein eine Gesellschaft auf dem Mond ohne Staat, aber mit Eigentumsrechten beschreibt, öffnete ihm endgültig die Augen: David wurde Anarchist.

      Ein Disput zwischen Vater und Sohn: Muss sich der Staat zurückziehen, oder muss er abgeschafft werden?

      „ Mit David haben wir viel herumgepfuscht“, sagt Rose Friedman. „Praktisch seit seiner Geburt denkt er wie ein Ökonom, geht wie ein Ökonom und atmet wie ein Ökonom.“ Die Eltern drängten ihn trotzdem zu einem Physikstudium, aus Angst vor dem langen Schatten des Vaters. David fügte sich lange. Erst als frisch gebackener Doktor der Physik veröffentlichte er 1973 das Buch „Das Räderwerk der Freiheit – Leitfaden zum radikalen Kapitalismus“. In dem heutigen Anarchistenklassiker schwärmt er von einer Gesellschaft, die sich langsam von staatlichen Zwängen befreit. Mit dem Buch befreite er sich vom Druck der Eltern und begann mit 28 Jahren das Studium der Wirtschaftswissenschaften. „Einige sahen in mir nicht mich selbst, sondern meinen Vater. Das war nicht einfach.“
      Heute lehrt David Friedman in der juristischen Abteilung der Santa Clara University, wo er sich mit der ökonomischen Theorie des Rechtssystems beschäftigt. Er setzt sich etwa mit Anreizstrukturen für Polizisten, Verbrecher oder Richter auseinander. In einem wöchentlichen Seminar diskutiert David außerdem umwälzende Erfindungen in der Nano- oder Biotechnologie und deren mögliche juristische und ökonomische Konsequenzen. „Mein Vater veränderte die Welt des 20. Jahrhunderts, ich kümmere mich um das 21. Jahrhundert“, sagt er lächelnd.
      Vater und Sohn sind aus gleichem Holz geschnitzt. „Wir streiten uns, seitdem ich denken kann“, sagt David. „Nachdem ich Milton kennen gelernt hatte, konnte ich nur noch halb so viel sagen“, erinnert sich Rose. „Nachdem David geboren wurde, kam ich gar nicht mehr zu Wort.“ Milton Friedman vertritt konservativ-liberale Ansichten. Der Staat soll sich zurückziehen und bloß die Sicherheit nach innen und außen gewährleisten. Sein Sohn geht weiter und fordert die Abschaffung des Staates. „Ich finde es moralisch falsch, Menschen umzubringen“, sagt David. „Aber warum soll es falscher sein, wenn ein Gesetzgeber mir sagt, dass es falsch ist?“
      Der Weg zur Anarchie soll evolutionär, Schritt für Schritt erfolgen. David: „Revolutionen und Gewalt führen nur zu mehr Staat.“ Darüber gerät er regelmäßig in die Haare mit linken Anarchisten. Wie auch über die Rolle des Marktes, von dem es seiner Meinung nach nicht zu viel, sondern zu wenig gibt. In seiner Traumgesellschaft bezahlen die Einwohner private, dezentrale und gewinnorientierte Schutzagenturen, die ihre Sicherheit garantieren. Es gibt nicht ein Rechtssystem, sondern mehrere, die in Konkurrenz zueinander stehen. Sein Konzept des Anarcho-Kapitalismus erinnert stark ans Mittelalter – nicht aus Zufall fasziniert David diese Epoche.

      Der Enkel Patri lebt in einer Kommune, arbeitet als Pokerspieler und plant eine anarchistische Siedlung

      Alle nennen die Terrassentür „Darwin-Rampe“. Wer nicht aufpasst und nach draußen tritt, stürzt in die Tiefe. Früher war dort eine Holzterrasse, aber die haben die Termiten gefressen. Bei Partys stellt Patri Forwalter-Friedman brav einen Tisch vor die Tür, damit niemand tatsächlich von der Evolution ausgesiebt wird. Die Wahrscheinlichkeit wäre recht hoch, denn daneben steht die Bar mit unzähligen Flaschen. Auf dem Barhocker sitzt Mitbewohner Rob im braunen Bademantel und löst eine knifflige Frage aus der Qualifikation für die Endrunde der US-Rätselmeisterschaft. Er ist im Stress, die Antwort muss bis Mittag per Internet eingeschickt werden. Unten vor dem Pool hält Kommunen-Mitglied Andy im weißen Bademantel kleine quadratische Zettel ins Sonnenlicht. Das ist auch ein Rätsel, ein dreidimensionales sozusagen, für die Logik-Meisterschaft. „Man darf eine Schere benutzen“, erklärt Patri, was wohl etwas Besonderes ist.
      Das Haus fällt von außen nicht auf. Über der Garage hängt ein blaues Holzschild mit einem weißen Schmetterling, das Zeichen für „Alpine Butterfly“, dem Namen der Kommune. Der Schmetterling ist aus Bergsteigerseil geschnitten: Butterfly ist ein oft von Alpinisten verwendeter Knoten, die sich beim Bergsteigen gegenseitig mit einem Seil vor dem Absturz sichern. Ähnlich sehen sich die sieben Kommunenbewohner. Vor der Tür steht Patris Honda-Sportwagen. Kennzeichen: „Frrreak.“
      Die beiden Wandschränke im Wohnzimmer sind von innen mit blauen Kreisen und gelben Prismen bemalt. Ein Kompromiss. Im Rausch der Kommunengründung vor fünf Jahren wollte eine Bewohnerin das gesamte Haus so bemalen. Die anderen wehrten sich – Kommunen sind heute auch nicht mehr das, was sie in den sechziger Jahren mal waren. Im Haus ist nicht viel Platz. Unter der Wendeltreppe hängt ein Internetserver an Nylon-Riemen. Die Riemenkonstruktion spare Platz und symbolisiere das Seastead-Projekt, erklärt Patri: „Der Server schaukelt wie ein Floß im Meer.“
      Patri gleicht seinem Vater David. Patri sei das „Hirn“, sagt Gloria Valentine, die seit mehr als 30 Jahren als Sekretärin für Milton arbeitet. Wie Vater und Großvater spricht und denkt der Enkel mit einer gnadenlosen Logik und ist neugierig wie ein Zeitungsreporter. „Ich habe das Friedman-Gen“, sagt Patri. Er wuchs an der US-Ostküste bei seiner Mutter Diana Forwalter auf, die sich früh von David scheiden ließ. Patri war beliebt bei den Großeltern. Als Milton 1988 die Freiheitsmedaille von Präsident Ronald Reagan erhielt, durfte er mit. „Überall war das Logo vom Weißen Haus abgedruckt“, erinnert sich Patri an das Festessen. „Ich habe mir die Taschen mit den Servietten voll gestopft und in der Schule damit angegeben.“
      Obwohl er lange vom Vater getrennt war, entwickelte Patri die gleichen anarchistischen Neigungen. In der Schule stritt er sich mit Lehrern, die ihm das Tragen aufmüpfiger T-Shirts oder das Hören von Musik in der Cafeteria verbieten wollten. Früh entwickelte er eine Neigung zum Computer und kannte sich überhaupt gut mit Technik aus. So fand er einen Trick, mit dem er umsonst aus Fernsprechzellen telefonieren konnte. Mit Freunden baute er in einem Hotelzimmer die Kabelbox vom Fernseher um, damit sie umsonst Bezahlfilme sehen konnten. „Das ist ganz einfach“, sagt er. Als er als Teenager mehr Zeit mit seinem Vater verbrachte, entwickelte sich ein inniges Verhältnis. „Wir streiten viel“, sagt Patri, „aber zu 95 Prozent sind wir uns einig.“ Nicht einig sind sie sich über die verletzten Eigentumsrechte des Hotels und der Fernsehstation. „Das von uns genutzte Satellitensignal kostete das TV-Unternehmen keinen Cent“, verteidigt sich Patri. Was würde er dem Hotelbesitzer sagen, wenn der sie erwischen würde? „Wir schließen erst den Verkaufsvertrag, wenn wir auf die Einverständniserklärung auf dem Bildschirm klicken“, erwidert er. „Aber weil wir nie daraufklicken, brechen wir auch keinen Vertrag.“
      Patris Raum ist lila gestrichen. Auch sein Zungen-Piercing ist lila. Lila ist seine Lieblingsfarbe, bei einer seiner ersten Pokerweltmeisterschaften vor fünf Jahren in Las Vegas spielte er mit einem lila Irokesenschnitt. „Ein Fehler“, sagt der 26-Jährige, der jetzt kurze dunkelbraune Haare trägt. „Ich bin zu sehr aufgefallen und konnte mich nicht konzentrieren.“ Einmal die Woche stopft er sich 5000 bis 10000 Dollar in die Jackentasche und fährt mit dem Honda zu den Casinos der Umgebung. Patri spielt mit Walkman auf den Ohren und Baseballkappe tief in der Stirn – mit einer Sonnenbrille sieht er nicht genug. Er pokert seit fünf Jahren, gegen Vorstandschefs, Zockerprofis und Florida-Rentner. Manchmal verliert er alles, öfter gewinnt er viel. Nach seiner Rechnung verdiente er bislang im Schnitt 50 Dollar die Stunde. Beim Pokern kommt es kurzfristig auf Glück und langfristig auf Können an. „Der Trick ist, nicht viele Karten aufzunehmen und mit schlechten Blättern konsequent auszusteigen. Um dann mit einer guten Hand viel Geld zu setzen.“
      Vor kurzem schloss Patri sein Studium der Computerwissenschaften ab. Die Idee für Seastead hat er bereits seit Jahren. Jetzt will er sie verwirklichen. Anders als Freedom Ship oder andere Anarchistenfantasien, die im Mülleimer der Geschichte landeten, sind die Flöße laut Patri eine realistische Sache. Die Kosten lägen mit 400000 Dollar pro Floß nicht hoch, „weniger als ein Haus in Kalifornien“, und die Flöße könnten so miteinander verbunden werden, dass das Projekt langsam wachse. Erst mal will er mit zwei Partnern bis Ende 2004 einen Prototypen in der Bucht von San Francisco bauen. Das Trio erhofft sich dadurch Aufmerksamkeit durch die Presse, Geld von wohlhabenden Silicon-Valley-Bewoh-nern und die Unterstützung von Umweltschützern – auf dem Floß sollen Recycling-Ideen, Solarenergie und nachhaltige Techniken zum Einsatz kommen. Später, vor Gibraltar, sollen Hotels, die Drogen à la carte servieren, die Vermarktung von Fernsehrechten und verbotenes Glücksspiel Seastead profitabel machen.

      In jeder Generation wächst die Konsequenz. Und die Alten denken über die letzte Konsequenz nach

      Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los! Das Gedicht von Goethes Zauberlehrling könnte Milton Friedman durch den Kopf gehen, wenn er Gedichte so lieben würde wie sein Sohn David. Die liberale Lehre verstärkte sich im Lauf der Generationen in seiner Familie auf erstaunliche Weise. Der Erzliberalismus des Vaters wurde vom Sohn zum Anarcho-Kapitalismus weitergedreht. „David ist kein gefährlicher Anarchist“, sagt Milton. „Wenn man die heutigen Umstände bedenkt, wollen David und ich das Gleiche – es stellt sich nur die Frage, wie weit man gehen will.“ Die Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn gehen laut Rose unentschieden aus. „Wenn das stimmt“, sagt David, „dann ist das ein Weltrekord.“
      Patri dagegen will nicht diskutieren – er will Resultate sehen. Sein Großvater und Vater fordern die Freigabe von Drogen – er nimmt sie. „Aber erst nach gründlicher Information im Internet.“ Patri will keine graduelle Veränderung der gesamten Gesellschaft, sondern seinen Traum mit wenigen Menschen sofort verwirklichen. „Ich werde auf dem Floß leben.“ Dort erhofft er sich aber kein Paradies. Wie sein Vater ist er Realist, einen Revolver hat er sich bereits gekauft. Sein Großvater sagt: „Patri ist noch jung.“ Anarchisten-Projekte wie Patris Seastead habe es schon viele gegeben. „Und alle sind gescheitert.“ Patri kann das nicht aus dem Konzept bringen. „Ich sage das wirklich ungern, aber mein Großvater ist einfach zu alt für solche Ideen.“
      Tatsächlich zieht ein Schatten auf. Aaron Director, der 101-jährige Bruder und Förderer von Rose, fängt an, körperlich und geistig abzubauen. Er wiederholt oft Fragen und Sätze. Rose und Milton Friedman schauen bei ihren Besuchen dort in einen furchtbaren Zerrspiegel ihrer Zukunft. Der 25. Juni war ihr 65-jähriger Hochzeitstag, aber sie haben nicht gefeiert. Vom 75-jährigen Jubi-läum wollen sie erst recht nichts wissen: „Das erleben wir nicht mehr“, sagt Friedman. „So lange halten wir nicht durch.“
      http://www.brandeins.de/magazin/was_menschen_bewegt/artikel1…
      Avatar
      schrieb am 04.07.03 00:43:41
      Beitrag Nr. 96 ()
      Der Umbau des Sozial- und Wirtschaftssystems ist in vollem Gange – wohin aber soll die Reise gehen?
      brand eins stellt Visionen für morgen zur Diskussion

      Aus allen Ecken, aus allen Talkshows, von den Stammtischen, selbst aus den Schreibstuben gutmeinender Intellektueller tönt das Delirium der Krise: Reformunfähigkeit! Niedergang! Staatsbankrott!
      Wie wäre es stattdessen mit: Wir werden es schaffen?


      Text: Matthias Horx




      1. Ein Gespenst geht um in Deutschland
      Der Sozialstaat, so heißt es, liegt am Boden, er fliegt uns um die Ohren, er ist am Ende! Die Menschen müssen in Zukunft arbeiten, bis sie 80 sind! Sie müssen aufhören zu fordern! Sie sollen endlich der Wirklichkeit ins Gesicht sehen! All das kommt mal als larmoyante Gerechtigkeits-Rhetorik daher, dann wieder als Straf- und Drohgebärde, in deren Zentrum eine dubiose „globale Wettbewerbsfähigkeit“ steht. Das Resultat ist eine rückwärts gewandte Streiterei, ein sinnloses Ritual, das wir bei Sabine Christiansen und Co. jeden Abend im Fernsehen verfolgen können – bis uns die Augen zufallen.

      2. Lust am panischen Gemurmel

      Gegen diese Lust am panischen Gemurmel hier eine nüchterne Bestandsaufnahme. 50 Jahre nach dem Beginn des Wirtschaftswunders, das in den westlichen Nationen die Feuer der industriellen Revolution zu einem Sturm entfachte, befinden wir uns in einer Transformation von der Fabrikgesellschaft in eine Kultur des Wissens. In diesem Prozess verändert sich die Bedeutung des Individuums. Der Einzelne, der bislang in die Sicherheit von Familie, Klasse, Religion, Milieu und Beruf eingebunden war, wird „freigesetzt“. Das bedeutet den Ausschluss aus dem Erwerbsprozess, aber auch die Aufwertung seiner kreativen, sozialen, lebendigen Kompetenzen.
      Um den Übergang politisch zu gestalten, müssen wir die starren Sozialkontrakte des Industrialismus auf eine neue Basis stellen. Dass ein solches Umsteuern möglich ist, zeigen viele Beispiele in anderen Ländern. Doch zu welcher Gesellschaft wollen wir uns entwickeln? Wie lautet unser Zukunfts-Konzept? Welches Gesellschaftsmodell streben wir an?

      3. Zwei Prototypen der Wissensgesellschaft

      Prinzipiell gibt es zwei Prototypen, in denen die Wissensgesellschaft bislang reale Gestalt angenommen hat und an deren Modellen wir uns lernend orientieren können. Erstens: das homogene Hochbildungs-Modell der skandinavischen Länder (ähnlich: Kanada, Benelux, teilweise Frankreich und Singapur). Dieses Modell setzt auf eine konsequente staatliche Intervention zu Gunsten des Bildungsniveaus der Bevölkerung. Die Gesellschaft befindet sich dabei in einem permanenten Bildungs-Aufwärts-Drift, der schneller verläuft als der Strukturwandel. Der Nachteil der hohen Löhne wird über den Umweg der dadurch erzwungenen Produktivitätssteigerung zu einem Vorteil auf dem Weltmarkt: Das Land exportiert Technologie, Know-how, logistisches Wissen – und schließlich Intelligenz. Das Erfolgsrezept dieses Modells ist die Nutzung und Erzeugung sozialen Kapitals. Die hohe Qualifikation der Frauen wird den Unternehmen durch ein konsequentes Dienstleistungsangebot in Sachen Kinderbetreuung zur Verfügung gestellt. Bildung und Weiterbildung sind Kernelemente der Sozialpolitik. Die Ressourcen des Einzelnen werden der Gemeinschaft konsequent erschlossen. Niemand, der auch nur zwei Finger bewegen kann, ist länger als zwei Wochen arbeitslos. Dieses System ist mit einem Spitzensteuersatz von 60 Prozent teuer, aber gerecht und wird von Bürgern und Wirtschaft akzeptiert.
      Zweitens: das offene, auf sozialer Diversität aufgebaute angelsächsische Modell. Dieses Modell nutzt die Vitalität hungriger Newcomer für das Wachstum. Dies ist die klassische Tellerwäscher-Methode, bei der hohe private Bildungsinvestitionen auf der sozialen Treppenleiter nach oben führen. Das Erfolgsgeheimnis dieses Modells ist die Dynamisierung der Ungleichheit. Durch das Gerangel auf dem Weg nach oben entsteht ein Schornsteineffekt, von dem alle profitieren.
      Von Mentalität und Geschichte her steht die Bundesrepublik eindeutig dem skandinavischen Modell näher. Doch uns fehlt soziales Kapital. Die neue Studie „World Values Survey“ weist nach, wie eng das soziale Grundkapital mit dem Erfolg einer Ökonomie verknüpft ist. Dort, wo ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Menschen herrscht, wie in Skandinavien, kann der Staat seine Ausgaben erhöhen, ohne dass die Produktivität sinkt. In Misstrauens-Gesellschaften führt ein hoher Staatsanteil direkt in eine Stagnationsgesellschaft, es herrschen Neid, Passivität und Misstrauen.

      4. Zentrale Parameter einer Zukunfts-Politik

      Die zentralen Parameter einer Zukunfts-Politik lassen sich wie folgt beschreiben.
      Bildungsoffensive: Der zentrale zu verteilende Rohstoff der globalen Wirtschaft ist nicht das Geld, sondern Bildung. Dabei öffnet sich der Bildungs-Begriff aus seinem akademischen und schulischen Getto in den Raum der Sozialkompetenz. Sich ausdrücken können, sich verändern können, mobil sein, das ist die eigentliche Garantie gegen Armut. Auf dieses Empowerment der Bürger muss sich künftige Politik konzentrieren.
      Positive Welfare – Sozialpolitik in der Zukunftsgesellschaft benötigt ein aktivierendes Element, ein Mitleid mit starken Schultern, das konsequent Bedingungen stellt. Moderne Sozialpolitik muss die Menschen aktivieren, statt vor dem Fernseher ruhig zu stellen. Die amerikanischen und britischen Welfare-to-work-Programme sind zunächst teurer als klassische Arbeitslosenkosten, aber sie gehen das Problem an der richtigen Stelle an.
      Flexicurity: Deregulierung von Arbeit, wie sie für Wissens-Ökonomien typisch ist, erfordert neue Sicherheitssysteme. In der Gesellschaft des nächsten Jahrhunderts werden alle Arbeitszeiten frei wähl- und verhandelbar sein. Aber diese Deregulierung muss nicht zum Sicherheitsverlust des Einzelnen führen. Alters- und Sozialversorgung in einer alternden Gesellschaft gehören auf drei Beine, damit sie nicht wackeln: staatliche Grundsicherung, private Zusatzversicherung, Betriebsrenten-Angebote der Unternehmen an ihre Mitarbeiter. In der Schweiz ähnlich wie in Schweden existiert heute eine kontogeführte egalitäre Grundsicherung, die keinen Bürger allein lässt.
      Neue Bürger-Rechte, neue Bürger-Pflichten. Die sozialen Systeme bluten aus, weil es an sinnvollem und solidarischem Verhalten mangelt. Ein gutes Beispiel ist das Gesundheitssystem. Von ihm profitieren diejenigen im Grunde am meisten, die ein riskantes Gesundheitsverhalten an den Tag legen. Aber wer sich gesund ernährt und Sport treibt, tut etwas für sich und die Gemeinschaft. Er sollte belohnt werden.

      5. Neues politisches Denken

      „ In der künftigen Wohlfahrtsgesellschaft ist der Staat nicht aus dem Spiel und der Verantwortung zu entlassen, er wird aber seine sozialen Verantwortungen anders wahrnehmen. Als Katalysator für soziales Engagement, als Aktivator für gesellschaftliche Energien.“ So der Publizist Warnfried Dettling. Hier werden linke Ziele mit rechten Mittel erreicht – oder umgekehrt. Hier wird das Individuum in seiner Selbstverantwortung gestärkt, damit die Gesellschaft solidarische Räume schaffen kann. Am Ende lösen sich die alten ideologischen Schubladensysteme, die das Industriesystem und seine Politik geprägt haben, von selbst auf. Neue Parteien und gesellschaftliche Allianzen entstehen quer zu den alten politischen Lagern.
      Bei der Debatte um die Zukunft unseres politischen Systems geht es im Kern um nichts anderes als unser Menschenbild. Beharren wir auf dem Bild des Einzelnen als Opfer, als Abhängiger, als „kleiner Mann“, dem Menschenbild des Industrialismus, in dem tatsächlich die meisten Menschen in lebenslangen Abhängigkeitsverhältnissen lebten? Oder setzen wir in Zukunft auf die Eigenkräfte des Menschen, auf das autonome Individuum?
      Wir glauben, dass sich die Reise in dieses unbekannte Land der neuen Freiheiten lohnt. Die Gesellschaft der Zukunft ist eine Transformationsgesellschaft, in der sich der Einzelne aus dem „ehernen Gehäuse der industriellen Hörigkeit“ (Max Weber) zu neuen Ufern aufmacht.
      Wir stehen an der Schwelle zu einer komplexeren Gesellschaft, die mit größerem Reichtum und mehr Freiheiten ausgestattet ist. Um diesen Übergang zu bewältigen, müssen wir die schwarze Pädagogik des Niedergangs hinter uns lassen. Wir sind reich! Wir kommen voran! Wir werden es schaffen! -----|


      Zusatzinformationen:

      Literatur:
      - Anthony Giddens: The Third Way – The Renewal Of Social Democracy. Polity Press, 1998
      - Ralf Dahrendorf: Der moderne soziale Konflikt. DVA, 1992
      - John Rawls: Gerechtigkeit als Fairness – Ein Neuentwurf. Suhrkamp, 2003; 24,90 Euro
      - Wilfried Hinsch: Gerechtfertigte Ungleichheiten – Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Gruyter-Verlag, 2003; 29,95 Euro


      Der Umbau des Sozial- und Wirtschaftssystems ist in vollem G…
      __________________________________________________________
      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 09.07.03 03:42:08
      Beitrag Nr. 97 ()
      Lesenswert sind übrigens die Jahresberichte von Rhön-Klinikum. Oft gibt es in Geschäftsberichten keinen Zusammenhang zwischen der Management Discussion and Analysis und den wahren Faktoren die auf ein Geschäft einwirken. Herr Münch redet Klartext, auch gesundheitspolitisch.

      The Insatiable King Richard
      He started as a nobody in Selma. He became a hotshot CEO in Birmingham. He tried to be a country star in Nashville. The unlikely rise and even stranger fall of HealthSouth`s Richard Scrushy.

      http://www.fortune.com/fortune/investing/articles/0,15114,46…

      The Whistleblower and the CEO
      In the Lucent scandal, the ex-boss will walk. The woman who accused him is now an SEC target. And guess who`s paying the penalty? Owners like you.

      http://www.fortune.com/fortune/investing/articles/0,15114,46…
      Avatar
      schrieb am 13.07.03 09:23:03
      Beitrag Nr. 98 ()
      Du hast recht, die Ausführungen von Münch zur Gesundheitspolitik sind wirklich sehr interessant. Leider sind in sämtlichen Medien, keine so kompetenten Berichte und Analysen zur Gesundheitspolitik, zu finden, wie im RK-Geschäftsbericht.

      Sehr interessant fand ich auch den Artikel über "Neid" in der aktuellen GEO.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 22.07.03 14:47:50
      Beitrag Nr. 99 ()
      Hallo thomtrader

      Eine interessante Sammlung hast du hier zusammengetragen.

      Ein Leser deiner Ecke.
      Avatar
      schrieb am 29.07.03 20:24:31
      Beitrag Nr. 100 ()
      NOBELPREISTRÄGER AKERLOF ÜBER BUSH

      "Unsere Regierung wirft das Geld einfach weg"

      Arme werden benachteiligt, Sozialprogrammen droht der Kollaps: Der US-Ökonom George Akerlof erklärt die Steuer- und Schuldenpolitik der Regierung Bush für verhängnisvoll. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview spricht der Nobelpreisträger über das Risiko eines Staatsbankrotts - und sieht "die Zeit für zivilen Ungehorsam gekommen."

      SPIEGEL ONLINE: Professor Akerlof, offiziellen Prognosen zufolge fährt die US-Bundesregierung in diesem Fiskaljahr ein Defizit von 455 Milliarden Dollar ein. Das wäre zahlenmäßig das größte der amerikanischen Geschichte - aber George W. Bushs Budgetdirektor nennt das Fehl "kontrollierbar". Sehen Sie das auch so?


      George A. Akerlof: Langfristig gesehen ist ein Defizit dieses Umfangs nicht zu kontrollieren. Wir bewegen uns in eine Phase hinein, in der ab etwa 2010 die Generation der "Baby Boomer" in Rente geht. Das wird die Sozialprogramme Social Security, Medicare und Medicaid erheblich belasten. In solch einer Phase sollten wir sparen.

      SPIEGEL ONLINE: Also wäre Bush gut beraten, wieder einen Etatüberschuss anzustreben?

      Akerlof: Das wäre im Augenblick wohl unmöglich. Es gibt ja einerseits die Ausgaben für den Irak-Krieg - den ich für unverantwortlich halte. Andererseits gibt es eine Konjunkturkrise und den Wunsch, die Wirtschaft fiskalpolitisch anzuregen. Das ist durchaus legitim. Deshalb brauchen wir auf kurze Sicht ein Defizit - aber sicher nicht jenes, das wir jetzt haben.

      SPIEGEL ONLINE: Weil es zum großen Teil nicht durch Investitionen entsteht, sondern durch Steuersenkungen?

      Akerlof: Eine kurzfristige Steuerermäßigung für die Armen wäre sogar sinnvoll. Es wäre so gut wie sicher, dass sie das Geld ausgeben. Das aktuelle und das drohende Defizit wirken aber weniger stimulierend als möglich wäre - unsere Regierung wirft das Geld einfach weg.

      Wir bräuchten erstens ein Defizit, das klar auf den derzeitigen Abschwung abzielt. Unseres erstreckt sich weit in die Zukunft, da viele Steuersenkungen verzögert in Kraft treten und wahrscheinlich fortbestehen. Uns drohen rote Zahlen so weit das Auge reicht. Diese Dauerhaftigkeit des Defizits macht seine kurzfristig stimulierende Wirkung zunichte.


      SPIEGEL ONLINE: Und zweitens stören Sie sich daran, dass die Steuervorteile vor allem den Reicheren zu Gute kommen?

      Akerlof: Die Reichen brauchen das Geld nicht und werden es wohl bloß in geringerem Umfang ausgeben. Vermutlich sparen sie einfach mehr. Außerdem ist es besser situierten Familien in den USA in den vergangenen zwanzig Jahren sehr gut ergangen, während die ärmeren zurückgefallen sind. Die Umverteilungseffekte dieser Steuerpolitik gehen also in die absolut falsche Richtung. Am schlimmsten ist die Senkung der Dividendenbesteuerung - sie nutzt vorwiegend den Wohlhabenden, das ist nicht zu rechtfertigen.

      SPIEGEL ONLINE: Präsident Bush sagt, die Reform der Dividendensteuer stütze den Aktienmarkt - und das treibe die Wirtschaft insgesamt an.

      Akerlof: Das ist vollkommen unrealistisch. Wachstumsmodelle legen nahe, dass der Effekt unbedeutend sein wird. Sogar das Budgetbüro des Kongresses (CBO), eine der Regierung nahe stehende Stelle, ist zu einem ähnlichen Schluss gekommen.


      SPIEGEL ONLINE: Anfang des Jahres hat Bush bei einer US-Tournee für ein Steuersenkungspaket geworben, das noch umfangreicher war als jenes, das der Kongress dann abgesegnete. Damals versprach er, dass 1,4 Millionen neue Jobs entstehen würden. War das realistisch?

      Akerlof: Die Steuersenkung wird sich in gewissem Maß positiv auf den Arbeitsmarkt auswirken. Das steht aber in keinem Verhältnis zu den langfristig enormen Kosten. Hinzu kommt, dass die Republikaner in ihren Budgetprognosen eine große Zahl wichtiger Faktoren nicht berücksichtigen. Noch im März hat das CBO geschätzt, dass sich der Überschuss im kommenden Jahrzehnt auf eine Billion Dollar summieren würde. Diese Prognose ging - neben anderen fragwürdigen Annahmen - davon aus, dass die Ausgaben real konstant bleiben. Das ist noch nie eingetreten. Angesichts der Steuersenkungen muss man realistischerweise bis 2013 ein Defizit von insgesamt über sechs Billionen Dollar erwarten.

      SPIEGEL ONLINE: Vielleicht ist Ihre Regierung einfach schlecht im Rechnen?


      Akerlof: Es gibt einen systematischen Grund: Sie sagt dem amerikanischen Volk nicht die Wahrheit. Vergangene Regierungen haben, seit dem ersten Finanzminister Alexander Hamilton, eine überwiegend verantwortliche Budgetpolitik betrieben. Was wir jetzt haben ist eine Form der Plünderung.

      SPIEGEL ONLINE: Wenn das so ist - warum ist Ihr Präsident dann noch populär?

      Akerlof: Aus irgendeinem Grund erkennt die amerikanische Öffentlichkeit die furchtbaren Folgen der Budgetpolitik noch nicht. Meine Hoffnung ist aber, dass die Wähler bei der Wahl 2004 darauf reagieren und dass wir einen Politikwechsel sehen.

      SPIEGEL ONLINE: Was passiert, wenn der ausbleibt?

      Akerlof: Kommende Generationen und schon die Bürger in zehn Jahren werden mit massiven öffentlichen Defiziten und riesiger Staatsverschuldung konfrontiert sein. Dann haben wir die Wahl: Unsere Regierung kann dastehen wie die eines sehr armen Staates, mit Problemen wie der Gefahr eines Staatsbankrotts. Oder wir müssen Programme wie Medicare und Social Security gravierend beschneiden.

      Das Geld, das jetzt den Wohlhabenden zukommt, würde also durch Kürzungen bei Programmen für die Älteren zurückgezahlt. Die sind aber darauf angewiesen. Nur unter den reichsten 40 Prozent der Bevölkerung gibt es überhaupt nennenswerte eigene Einkünfte im Alter.

      SPIEGEL ONLINE: Ist es möglich, dass die Regierung vor neuen Kriegen zurückschreckt, weil das Bundesdefizit so groß ist?

      Akerlof: Die Regierung müsste den Schuldenstand bedenken, und die Militärausgaben sind bereits hoch. Aber das würde sie im Zweifelsfall nicht sonderlich abschrecken. Sie fangen den Krieg an - und ums Geld bitten sie hinterher.

      Eine andere Folge der Verschuldung ist wahrscheinlicher: Wenn es eine neue Rezession gibt, werden wir keine stimulierende Fiskalpolitik mehr betreiben können, um Vollbeschäftigung zu erhalten. Bisher bestand ein großes Maß an Vertrauen in den amerikanischen Staat. Die Märkte wussten, dass er seine Schulden zurückzahlt. Diese Ressource hat die Regierung vergeudet.

      SPIEGEL ONLINE: Werden die Zinsen wegen der Verschuldung anziehen und die Wirtschaft abwürgen?

      Akerlof: Auf die kurzfristigen Zinsen wird das Defizit keine bedeutenden Auswirkungen haben. Sie sind ziemlich niedrig, und unsere Notenbank wird sie unten halten. Mittelfristig könnten die Zinsen ein ernstes Problem werden. Wenn sie steigen, schmerzt die massive Verschuldung noch stärker.



      SPIEGEL ONLINE: Hat die Familie Bush eine besondere Neigung zum Schuldenmachen? Das zweitgrößte Defizit aller Zeiten, 290 Milliarden Dollar, hat 1991 George Bush senior verbucht.


      Akerlof: Mag sein, aber Bushs Vater hat Mut bewiesen, indem er die Steuern tatsächlich erhöht hat. Das war der erste Schritt, um das Defizit unter Clinton unter Kontrolle zu bringen. Außerdem war es ein wichtiger Grund dafür, dass Bush senior die Wahl verloren hat.

      SPIEGEL ONLINE: Man hat den Eindruck, dass die jetzige Regierung Sie in ungeahntem Maß politisiert hat. Allein in diesem Jahr haben Sie, zusammen mit anderen Nobelpreisträgern, zwei öffentliche Protestnoten unterzeichnet - eine gegen die Steuersenkungen, die andere gegen einen unilateralen Präventivkrieg im Irak.

      Akerlof: Ich denke, dass diese Regierung die schlimmste in der mehr als 200-jährigen Geschichte der USA ist. Sie hat nicht nur in der Außen- und Wirtschafts-, sondern auch in der Sozial- und Umweltpolitik außerordentlich unverantwortlich gehandelt. Das ist keine normale Politik mehr. Für die Bevölkerung ist die Zeit gekommen, zivilen Ungehorsam zu leisten.

      SPIEGEL ONLINE: Wie soll der aussehen?

      Akerlof: Ich weiß es noch nicht. Aber ich finde, wir sollten jetzt protestieren - so viel wie möglich.


      SPIEGEL ONLINE: Würden Sie in Erwägung ziehen, wie ihr Kollege Joseph Stiglitz unter einer Demokratischen Regierung in die Politik zu gehen?

      Akerlof: Meine Frau hat ja in der vergangenen Regierung mitgearbeitet und das sehr gut gemacht. Sie ist für öffentliche Aufgaben wohl besser geeignet. Aber ich würde jedes Amt ausfüllen, das mir angetragen wird.

      SPIEGEL ONLINE: Sie haben gerade den Begriff "ziviler Ungehorsam" benutzt. Der wird in den USA oft mit dem Schriftsteller Henry David Thoreau verbunden, der propagierte, aus Protest keine Steuern zu zahlen. So weit würden Sie nicht gehen, oder?

      Akerlof: Nein. Egal was passiert, unsere Steuern sollten wir zahlen. Sonst wird alles nur schlimmer.

      Das Interview führte Matthias Streitz


      http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,258978,00.html
      Avatar
      schrieb am 04.08.03 09:12:18
      Beitrag Nr. 101 ()
      Ein interessantes Fundstück bei http://www.elliottwave-investor.de vom 02.08.2003

      "Die amerikanischen Konjunkturzahlen konnten den Bullen keine rechte Unterstützung verleihen. Auch wenn sich der DAX in den letzten Wochen unter großen Mühen auf immer neue, wenn auch knappe Höhen schwingen konnte - man darf nicht übersehen, daß die Highs im Eurostoxx 50 schon vom Juni, die der Nasdaq und des S&P 500 von Anfang Juli stammen. Nur der Dow kämpfte sich mit dem DAX in der zurückliegenden Wochen neue Erholungshighs heraus.

      Von Bullpower kann also keineswegs die Rede sein. Angesichts nach wie vor in Extrembereichen notierender Sentimentindikatoren an Wallstreet kann dies auch nicht verwundern. Wer bullish ist, der ist bereits investiert. Aus welchen Segmenten sollen sich die Käufer rekrutieren, die frisches Geld in die Schlacht werfen, damit die Kurse weiter nachhaltig steigen können? Ich spreche nicht von 20, 30 Pünktchen, die es nach oben vielleicht zu erschließen geben könnte, ich spreche von einer mehrmonatigen, anhaltenden und raumgreifenden Fortsetzung der Hausse seit dem Frühjahr diesen Jahres, auf die man als Bulle ja setzten wird. Wenn den Bullen aber angesichts recht guter Nachrichten schon die Kraft fehlt sich kraftvoll vom aktuellen Kursniveau zu entfernen, was wird dann erst passieren, wenn es schlechte Nachrichten, egal aus welcher Richtung, geben sollte?

      Als aufmerksame Leserinnen und Leser meiner Markteinschätzungen kennen Sie meine Skepsis schon seit vielen Wochen und wissen, daß ich der Überzeugung bin, daß die große Korrekturwelle seit den Alltimehighs aus 1999/2000 noch nicht abgschlossen ist, daß wir uns lediglich im Finalstadium einer ausgeprägten Bearmarketrallye bewegen und der Beginn des dicken Endes unmitttelbar bevor steht bzw. schon begonnen hat, ohne daß dies der noch immer bullish gestimmten breiten Masse der Marktteilnehmer bewußt geworden wäre.

      Dabei liegen die Indizien glasklar vor den Marktteilnehmern ausgebreitet: Extrem bullishe Sentimentindikatoren, eine P/E-Ratio im S&P 500 von noch immer 32 (das entspricht dem Niveau am Alltimehigh) wo das historische Mittel bei rund 18 liegt, eine zunehmend nachlassende Aufwärtsdynamik in der Kursentwicklung. Viele Privatanleger lassen sich von der verzweifelt um Mittelzuflüsse und Umsatzankurbelung kämpfenden Finanzdienstleistungsbranche zum Wiedereinstieg und zu Zukäufen animieren, was die Fassade der potemkinschen Dörfer noch firsch verputzt erstrahlen läßt. Die Notenbanken gießen eifrig Öl in Form billigen Geldes ins Feuer und haben es so bislang verstanden den faulig stinkenden Sumpf hinter einer Wolke wohlriechenden Parfums zu verstecken.

      Doch jedem objektiv und nüchtern denkenden Menschen ist klar, daß der Sumpf trockengelegt werden muß, wenn man Land gewinnen will, sprich: viele Branchen sind bislang noch immer mit ineffizient organisierten Unternehmen besetzt, die die gesamte Branche in Gefahr bringen. Ganze Staaten und ihre Gesellschaftsstrukturen sind ineffizient, verkrustet, reformunfähig - und pleite. Allen Branchen voran muß man hier sicherlich den Finanzdienstleistungssektor nennen, der im Vergleich zur Industrie auf einem Effizienz- und Produktivitätsniveau der sechziger Jahre verharrt ist. Die Pleitewelle im Versicherungs- und Bankensektor hat wohl erst begonnen. Ob es für die fitten Konkurrenten sinnvoll ist, heruntergewirtschaftete Unternehmen wie die Commerzbank oder die Hypovereinsbank ins Unternehmesportfolio zu integrieren, ist höchst fraglich. Daß Sekt und Jauche nicht zwingend einen wohlschmeckenden Cocktail zum Ergebnis haben, das mußten die Aktionäre von DaimlerChrysler nach der von Analysten gefeierten Fusion am eigenen Leib erfahren. Bei der Allianz würde man sicher lieber heute als morgen die traditionsreiche Dresdner Bank abstoßen, wenn die Opportunitätskosten nicht so hoch wären. Auf dem Sparkassensektor in Deutschland werden in den kommenden Jahren nach dem Wegfall der Gewährträgerhaftung die Daumenschrauben erst so richtig angezogen werden. Angesichts leerer Kassen der Kommunen wird es hier einen gewaltigen Kahlschlag in den Filialnetzen und überregionale Vernetzungen der Institute geben müssen.

      Die zunehmende Angebotspalette an ETF´s und Indexzertifkaten bringt die Investmentfonds- und Vermögensverwaltungsbranche in ernste Schwierigkeiten, weil imme rmehr Kunden verstanden haben, daß ein passiv gemanagtes Portfeuille auf lange Sicht ertragreicher und risikoärmer darzustellen ist, als durch die Abzockerei der Kunden, genannt: aktives Management. Wenn man aber weder oppulente Ausgabeaufschläge noch unverschämte Managementgebühren kassieren , noch durch fleissiges Hin und Her die Speseneinnahmen der kontoführenden Mutterbanken ankurbeln kann, dann legt sich manche Stirn der überbezahlten Fondsmanager in Falten, von denen es auf lange Sicht nur 5 von 100 schaffen ihre Benchmark outzuperformen.

      Wenn nun aber der Finanzdienstleistungssektor durch Pleiteangst wie paralysiert scheint, zugleich die öffentliche Hand keinerlei Neuverschuldungsspielräume mehr hat, schadet dies der gesamten Wirtschaft, weil kaum mehr eine Bank in der Lage oder des Mutes ist, riskante Kredite an die Wirtschaft zu vergeben. Ohne Kredite aber keine Investitionen und ohne Investitionen kein Konjunkturaufschwung. Das Beispiel Japan mit seinem maroden Bankensektor sollte ein mahnendes Beispiel sein, was passiert, wenn man totkranke Strukturen nicht blitzschnell und gnadenlos durch den Markt, auch unter Inkaufnahme bitterer Erfahrungen, bereinigen läßt. Unsere Politiker neigen leider dazu zwar Marktwirtschaft zu prdeigen, aber Planwirtschaft zu realisieren. Dies muß ein Ende finden, wenn es wieder aufwärtsgehen soll.

      Nein, es muß wohl erst noch viel schlimmer werden, bevor es besser werden kann. Und darum bleibe ich mittelfristig bearish.

      Summa summarum ist mir bewußt, daß diese gesamtwirtschaftlichen Perspektiven keinem gefallen können, auch wenn man gottlob gewinnbringend auf fallende Kurse spekulieren kann. Doch bin ich kein Politiker, der seinem Wahlvolk wider besseren Wissens das blaue vom Himmel herunter versprechen muß, um wieder gewählt zu werden. Die Zeiten, als sich ein Norbert Blüm vor die Öffentlickeit stellen und von “sicheren Renten” phantasieren konnte, neigen sich langsam ihrem Ende zu. Selbst im Rot-Grünen Lager hat man erkannt, daß die normative Kraft des Faktischen nicht durch Bierzeltreden kaschiert werden kann, auch wenn man sich seit nunmehr fünf Jahren in hilflosem Dilletieren übt, statt Reformen mit Hand und Fuß auf den Weg zu bringen, die Deutschland und damit auch Europa fit für die nächsten 50 Jahre machen würden und nicht nur für die nächsten 50 Tage. Ein Meilenstein auf diesem Weg der Erneuerung war die bewußte politische Ausschaltung der Gewerkschaften und deren dadurch eingeleitete interne Selbstzerfleischung. Wenn man retrospektiv die Kanzlerschaft eines Gerhard Schröder würdigen wird, wird dies als eines seiner großen Verdienste um unser Gemeinwesen genannt werden müssen.

      Auf Basis der Chartbilder freue ich mich davon ausgehen zu können, daß sich diesbezüglich in den kommenden sechs bis neun Monaten sehr viel tun wird, denn irgendwoher muß schließlich die Initialzündung für eine untere Trendwende kommen. Eine gnadenlose Bereinigung ineffizienter Marktstrukturen und tiegreifende Reformen des Gemeinwesens könnten diese Basis des von mir erwarteten mehrjährigen Aufschwunges der Aktienmärkte auf neue Alltimehighs darstellen."
      Avatar
      schrieb am 19.08.03 16:01:46
      Beitrag Nr. 102 ()
      DER SPIEGEL 34/2003 - 18. August 2003
      http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,261555,00.html" target="_blank" rel="nofollow ugc noopener"> http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,261555,00.html

      Bundeswehr

      Stempeln in der Etappe

      Die größte Bürokratie des Landes trägt Tarnanzug. Das deutsche Militär ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass es nur mühsam genug Soldaten für Auslandseinsätze aufbringen kann.

      Dutzende Soldaten sitzen unter einem Tarnnetz an Biertischen, während vor ihnen deutsche Wurstschnittchen in der Hitze der afghanischen Sonne welken. Es redet der Verteidigungsminister - über die Gefahr des Einsatzes, über die Bedeutung der Aufgabe, über die Stabilität der Region.

      Danach beantwortet Peter Struck, der aus Berlin angereiste oberste Truppenchef, gern auch Fragen. Die des Kameraden da in der Mitte zum Beispiel. Was eigentlich davon zu halten sei, will der Uniformträger wissen, dass die Bundeswehr in Kabul Autos stilllege, nur weil deren Abgassonderuntersuchung abgelaufen sei?

      Struck zögert nur kurz: "Wenn ein Auto die ASU nicht erfüllt, dann lasst es trotzdem fahren." Er stutzt und blickt unsicher zu dem Offizier an seiner Seite: "Habe ich da was Falsches gesagt?" Missbilligend sieht der General seinen Dienstherrn an. Vorschriften sind Vorschriften, und Fahren ohne ASU ist eine Ordnungswidrigkeit. Auch in Kabul.

      Nun gut, stammelt der Minister, dann würde er doch wenigstens raten, "ernsthaft zu prüfen", ob man das Auto nicht dennoch benutzen dürfe.

      Das deutsche Militär im Jahr 2003. In Afghanistan versucht die internationale Gemeinschaft verzweifelt, einen neuen Staat aufzubauen. Die Straßen sind kaputt, Terroristen, Drogenhändler und Warlords beherrschen ein zerstörtes Land. Doch im Hauptquartier der Bundeswehr laufen die Verbrennungsmotoren im Einklang mit den deutschen Abgasnormen. Wenigstens das.

      In diesem kleinen Teil Kabuls gelten die deutsche Straßenverkehrsordnung und das deutsche Umweltrecht. Der Abfall wird sauber getrennt - und findet erst außerhalb des Lagers auf der Müllkippe wieder zueinander. Betriebsschutz- und Umweltbeauftragte sowie ein Lebensmittelveterinär sorgen dafür, dass die Vorschriften eingehalten werden und die afghanische Anarchie draußen bleibt. Die Autos müssen zum TÜV, FCKW-haltige Feuerlöschmittel werden entsorgt; nur das Dosenpfand hat es noch nicht nach Zentralasien geschafft.

      Der bürokratische Wahnsinn hat Methode - und beeinträchtigt die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr. Mit 283 000 Soldaten unterhält Deutschland zwar die größte Armee der Europäischen Union. Doch kaum sind gut 8000 Mann im Ausland, droht Strucks "starker Truppe" (Eigenwerbung) Überlastung.

      "Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht überfordern", verkündet der Kanzler voller Fürsorge, die "Grenze der Belastungen" sei erreicht. "Mehr geht nicht, weder finanziell noch personell", meint auch der Verteidigungsminister.

      Dabei war es Struck, der die im Frühjahr verkündete neue deutsche Wehrdoktrin auf einen griffigen Satz brachte: "Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt." Wie keine Regierung zuvor hatte die rot-grüne Koalition die Bundeswehr zu immer neuen Einsätzen ins Ausland geschickt: in das Kosovo, nach Mazedonien, nach Dschibuti, Mombasa und Kabul.

      Doch die Truppe mag nicht mehr, fühlt sich chronisch zu hart rangenommen. Dabei ergeben 283 000 minus 8000 immer noch einen stolzen Rest von 275 000 Soldaten. Fragt sich also, warum die Armee so überlastet ist, wenn sie nicht einmal drei Prozent ihrer Soldaten im Ausland einsetzt.

      Im Berliner Verteidigungsministerium sind Erklärungen rasch zur Hand. So

      sind rund 100 000 Uniformierte nicht einsetzbar, da sie entweder ihren Grundwehrdienst leisten - und deswegen nicht ins Ausland dürfen - oder die Rekruten ausbilden und betreuen;

      ist die Mehrzahl der 92 000 Angehörigen von Luftwaffe und Marine für die Bodenarbeit bei Friedensmissionen nicht zu gebrauchen;

      befinden sich 22 000 Soldaten immer in irgendeiner Ausbildung - an Bundeswehr-Universitäten, an Truppenschulen oder wo auch immer.
      Zudem werden für jeden Mann im Einsatz rechnerisch vier weitere daheim gebraucht, denn ein Soldat soll maximal sechs Monate ins Ausland geschickt und nachher möglichst für zwei Jahre geschont werden.
      So weit die offizielle Version. Die inoffizielle wird auf den Fluren des Verteidigungsministeriums allenfalls im Flüsterton verbreitet: Die Truppe hat sich in den 48 Jahren ihrer Existenz in eine gigantische Behörde verwandelt, die inzwischen das macht, was Verwaltungen schon immer am besten konnten: sich mit sich selbst zu beschäftigen.


      Die Wehrbürokraten in Uniform betreiben Dienst streng nach Vorschrift: Ein eigenes Regelwerk aus Zentralen Dienstvorschriften (ZDv), Technischen Dienstvorschriften (TDv) und Heeresdienstvorschriften (HDv) sorgt dafür, dass jede Eigeninitiative vorschriftsmäßig überflüssig ist. So erklärt die ZDv 10/5 ("Leben in der militärischen Gemeinschaft"), dass der Zapfenstreich der "Zeitpunkt ist, ab dem die Soldaten, die dem Zapfenstreich unterliegen, im Bett zu sein haben".

      "Die Papierflut", schimpft Oberst Bernhard Gertz, Chef des Deutschen BundeswehrVerbands, "hat die Truppe überrollt." Ein anderer Offizier pflichtet bei: "Viele Soldaten sind Militärbeamte geworden."

      Dabei sind für die Verwaltung der Armee - offiziell zumindest - gar nicht die Soldaten zuständig. Mit zusätzlich 128 000 Zivilisten beschäftigt die Bundeswehr eine gewaltige Hilfstruppe, die von morgens bis abends nichts anderes tut, als in der Etappe zu stempeln, zu lochen und zu heften. "Da könnte man die Hälfte rausschmeißen, und keiner würde es merken", sagt ein Verwaltungsexperte.

      So beschäftigt allein das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung in Koblenz insgesamt 13 700 Angestellte und Beamte. Die "größte technische Behörde in Deutschland" (Eigenwerbung) ist zuständig für den Ankauf des gesamten Materials der Truppe, vom Tarnanzug bis zur Panzerkette. Zur Koblenzer Wirklichkeit gehört aber auch, dass sich Kampfschwimmer der Bundeswehr ihre Schwimmflossen teilweise selbst kaufen müssen - weil die Beschaffer nicht rechtzeitig liefern.

      Auch viele Militärs sind weit davon entfernt, ihre neuen Aufgaben als "Armee im Einsatz" (Struck) erfüllen zu können. "Die Einsätze werden verwaltet wie im Frieden", klagt ein General.

      Denn die detaillierten Vorschriften über das Leben mit TÜV, Mülltrennung und Lärmschutz gelten für Feldlager in Rajlovac, Prizren oder Kabul, als lägen sie in Munster oder Regensburg. Da offiziell kein Kriegszustand herrscht, regiert die deutsche Friedensbürokratie. "Es gibt kein spezielles Einsatzrecht", meint Oberst Gertz. "Das ist vielleicht die Frage, die gelöst werden muss."

      Es gibt viele solcher Fragen. So braucht die Bundeswehr dringend Spezialisten für ihre Auslandseinsätze. Doch Spezialist wird nur, wer vorher einen entsprechenden Kurs belegt und dabei einen "Ausbildungs- und Tätigkeitsnachweis" erworben hat. Einen kleinen Fortschritt allerdings gibt es zu vermelden: Die Lehrgänge zur Einweisung von Filmvorführern und Feldheizgeräteführern wurden mittlerweile gestrichen.

      Die Spezialisierung trägt mit dazu bei, dass die in Deutschland aufgestellten Einheiten für Auslandseinsätze meist nicht geeignet sind. Die Expeditionskorps werden alle halbe Jahr in einer "Operation Heldenklau" aus der gesamten Republik zusammengezogen.

      Als Oberst Helmut Harff vor zehn Jahren die Bundeswehr in ihren ersten großen Auslandseinsatz nach Somalia führte, stammte sein 1700 Mann starkes Kontingent aus 163 Standorten in der Heimat. Kürzlich wurde in Bosnien eine Pionierkompanie gesichtet, deren 137 Mitglieder aus 18 verschiedenen Einheiten entsendet wurden. Effizienz sieht anders aus.

      Wenn es um komplizierte Strukturen geht, lassen sich die Militärbürokraten von niemandem übertreffen. So sorgt auch die konsequente Trennung der Teilstreitkräfte für dauerhafte Beschäftigung bis in die obersten Etagen der Hierarchie.

      Wenn der Generalinspekteur einen eigenen Führungsstab mit 7 Abteilungen und 47 Referaten unterhält, wollen die Kollegen Inspekteure von Heer, Luftwaffe, Marine und Sanitätswesen nur ungern zurückstehen. Also beschäftigt jeder von ihnen einen eigenen Führungsstab - mit weiteren Abteilungen und Referaten.

      Und weil das noch nicht reicht, unterhält jede Teilstreitkraft einen Wust von nachgeordneten Dienststellen, die vor allem eines eint: der klangvolle Name. So betreibt die Luftwaffe etwa das Luftwaffenführungsdienstkommando (LwFüDstKdo), das Lufttransportkommando (LTKdo) und das Luftwaffenunterstützungskommando (LwUKdo). Selbst Experten können nur mit Mühe erklären, was sie unterscheidet. Die "irrsinnige Anhäufung von Hierarchiestufen", klagt ein verzweifelter Beamter, folge offenbar der Erkenntnis des britischen Historikers Cyril Parkinson, wonach "alle mit der Verwaltung Beauftragten gezwungen worden sind, sich ständig zu vervielfachen".

      Die Kopflastigkeit zeigte sich bislang gegen Reformen resistent. Immerhin befürwortete die Heeresführung bereits vor drei Jahren, ihre aktive Truppe von damals 230 000 auf künftig 170 000 Mann zu verringern. Eine Gruppe allerdings sollte verschont werden: die Generäle. Gefreite hin, Obergefreite her - die Anzahl der rund 110 ranghöchsten Schulterklappenträger sollte "nur geringfügig" abgebaut werden.

      RALF BESTE
      Avatar
      schrieb am 03.09.03 11:52:45
      Beitrag Nr. 103 ()
      Aus der FTD vom 3.9.2003
      VWs neuer Slogan missfällt Markenexperten
      Von Guido Reinking und Oliver Fischer, Hamburg

      Mit dem neuen Marken-Slogan "Aus Liebe zum Automobil" hat Volkswagen bei Werbefachleuten und in der Autobranche eine hitzige Diskussion über Sinn und Unsinn solcher so genannter Claims ausgelöst. VW will seinen neuen Leitspruch über 60 Sekunden lange TV-Spots bekannt machen.

      Der größte Nachteil der mit oftmals riesigem Aufwand beworbenen Claims ist, dass sie nur eine Minderheit kennt oder sie der richtigen Marke zuordnen kann. Der Spruch von VW reihe sich ein "in die große Zahl der Autoslogans, in denen der Autoname nicht vorkommt", kritisiert Klaus Brandmeyer, renommierter Markenberater aus Hamburg. "In drei Jahren werden keine 50 Prozent der Betrachter in Deutschland sagen können, dass es ein VW-Slogan ist", prophezeit Brandmeyer.

      Diese Schicksal teilt der VW-Slogan mit den meisten anderen Werbesprüchen: 1999 hat das Institut für Markentechnik in Genf eine Umfrage in Deutschland zu Werbeslogans veröffentlicht. Ergebnis: Nur "Ihr guter Stern auf allen Straßen" ( Mercedes ), "Nichts ist unmöglich" ( Toyota ) und "Die tun was" ( Ford ) wurden von mehr als 50 Prozent der Befragten korrekt zugeordnet.


      Dennoch haben sich Ford ("Besser ankommen" ) und Mercedes ("Die Zukunft des Automobils" ) mittlerweile für andere Claims entschieden. "Der Slogan ,Die tun was` ist zu oft verfremdet und verulkt worden. Da wurde schon mal gefragt: Was tun die", gibt Ford als Begründung für den neuen Claim an. Mercedes fand seinen "guten Stern" schlicht zu sperrig. Dabei, so lobt Brandmeyer: "Der ehemals gute Spruch war auch belegt, Mercedes war das Leitbild."



      Seltene Glücksgriffe


      Nur wenige Leitsprüche in der Autoindustrie haben sich wirklich durchgesetzt. Als seltene Glücksgriffe gelten immer noch "Freude am Fahren" ( BMW ) und "Vorsprung durch Technik" ( Audi ). Letzterer hat sogar Eingang in den englischen Sprachgebrauch gefunden. Während BMW seinen Slogan mit "Sheer Driving Pleasure" (reines Fahrvergnügen) für englische Märkte übersetzt, bleibt Audi auch in England bei "Vorsprung durch Technik".


      "Einen eigenen Markenslogan zu haben ist durchaus positiv", so Professor Ferdinand Dudenhöffer von der FH Gelsenkirchen. "Er muss aber zur Marke und den Produkten passen." Hätten Audis nicht fortschrittliche Technik und BMWs nicht ein agiles Fahrverhalten, wirkten die Claims längst nicht so glaubwürdig und treffend.



      VW unter Zugzwang


      Das gilt auch für Opel : Als Vorstandschef Carl Peter Forster den Claim "Frisches Denken für bessere Autos" einführte, hagelte es Kritik. Doch nach den ersten neuen Autos wie dem Signum oder dem Meriva, die frischen Schwung in die Modellpalette gebracht haben, ist Ruhe eingekehrt. Dudenhöffer: "Der Spruch passt zu den Autos."


      Volkswagen fühlte sich offenbar unter Zugzwang, seinen alten Waschpulver-Claim "Da weiß man, was man hat" durch etwas neues zu ersetzen. "Wir wollen die Marke emotionalisieren", sagt ein VW-Sprecher. Vorstandschef Bernd Pischetsrieder, das Design- und Marketing-Team des Konzerns sowie die Werbeagentur DDB wählten jetzt den Spruch "Aus Liebe zum Automobil". Nach dem deutschen Markt soll er überall in Europa eingeführt werden - entsprechend übersetzt. Die Einführung allein in Europa dürfte einen zweistelligen Millionenbetrag kosten.


      Ob das Geld richtig angelegt ist, wird in der Werbebranche bezweifelt: Der Anteil von Konsumenten, der die Slogans der Autohersteller auch der jeweils richtigen Marke zuordnen konnte, lag bei der Umfrage im Durchschnitt bei nur 26 Prozent. Experte Brandmeyer sagt dazu: "Die Werbeinvestitionen erreichen an dieser Stelle also nicht annähernd die Payback-Werte, die für andere Unternehmensbereiche selbstverständlich gefordert werden." Einige der Slogans wurden sogar der falschen Marke zugeordnet. Hier werde also Geld nicht nur zum Fenster hinaus geworfen, so Brandmeyer, "sondern anteilig sogar in Wettbewerber investiert".



      © 2003 Financial Times Deutschland
      Avatar
      schrieb am 19.09.03 21:25:39
      Beitrag Nr. 104 ()
      „Ein Lehrling ist billig“

      Während andere über zu hohe Kosten klagen, bildet er aus. Andere geißeln den Standort – er produziert nur in Deutschland. Ein ZEIT-Gespräch mit Trigema-Chef Wolfgang Grupp

      die zeit: Herr Grupp, wie gut können Sie rechnen?

      Wolfgang Grupp: Ich versuche so zu rechnen, dass ich mein Unternehmen Trigema stets erfolgreich führen kann.

      zeit: Offensichtlich rechnen Sie anders als viele Unternehmer in Deutschland. Die beklagen nämlich, dass es sich immer weniger lohne, junge Menschen auszubilden. Sie haben bei 1200 Beschäftigten immerhin 40 Azubis. Wie kalkulieren Sie?

      Grupp: Wenn ich gute Leute haben will, muss ich sie selber ausbilden. Nur dann kann ich später beurteilen, wer für eine Führungsposition geeignet ist und wer nicht. Eine gute Ausbildung ist die Basis unserer Belegschaft. 80 Prozent der leitenden Verwaltungsmitarbeiter von Trigema haben auch bei uns gelernt. Selbst aus Jugendlichen, die am Anfang vielleicht noch etwas flatterhaft sind, können Sie durch Motivation und Lob Leistungsträger machen.

      zeit: Und das Kostenargument?

      Grupp: Ein Lehrling, der richtig eingesetzt wird, ist eher billig. Bei uns ist ein Auszubildender im dritten Jahr in der für ihn vorgesehenen Position, und er erfüllt dort 80 bis 90 Prozent seiner künftigen Aufgaben. Wenn ein Unternehmer behauptet, das sei zu teuer, dann stimmt etwas in diesem Betrieb nicht.

      zeit: Nach den neuesten Zahlen suchen 113000 Bewerber einen Ausbildungsplatz. Brauchen wir eine Ausbildungsplatzabgabe, um dieses Problem zu lösen?

      Grupp: Die Unternehmen durch eine Abgabe zur Ausbildung zwingen zu wollen, halte ich für den falschen Weg. Man trägt den Hund auch nicht zum Jagen. Besser wäre es, die Unternehmen zu motivieren, wieder vermehrt auszubilden – und die Unternehmer dazu zu bringen, dafür auch persönlich die Verantwortung zu übernehmen.

      zeit: Statt Strafabgaben also lieber Subventionen für Ausbildungsplätze?

      Grupp: Nein, keine Subventionen. Aber wer hier produziert und Arbeitsplätze schafft – und damit fast automatisch auch Ausbildungsplätze –, sollte steuerlich anders behandelt werden als ein Unternehmen, das den Standort Deutschland nur fürs Headquarter nutzt und ansonsten im Ausland produziert. Wenn ein Kunde nur bei mir kauft, weil er diese Ware gerade im Ausland nicht bekommt, muss er doch auch andere Preise zahlen als jemand, der das ganze Jahr bei Trigema seine Ware bestellt.

      zeit: Viele Unternehmen beklagen, dass sie zwar gern ausbilden würden, aber keine geeigneten Bewerber fänden, weil deren Qualifikation zu schlecht sei. Kennen Sie das Problem?

      Grupp: Nein. Ich habe bisher keinen Auszubildenden gehabt, der nicht willig war, etwas zu lernen. Es ist die Aufgabe eines Unternehmens, die Bewerber entsprechend ihren Fähigkeiten an der richtigen Stelle einzusetzen. Wir kennen das aus der Familie: Nur wer sich mit seinen Kindern befasst, erkennt auch ihre verschiedenen Fähigkeiten.

      zeit: Ein Auszubildender kann also bei Ihnen innerhalb des Unternehmens den Ausbildungsplatz wechseln, wenn sich herausstellt, dass er für eine andere Ausbildung besser geeignet ist?

      Grupp: Wenn ein Lehrling eine positive Einstellung hat, wird er nicht fortgeschickt. Dann suchen wir eine andere Möglichkeit.

      zeit: Dass die Jugendlichen durch die Bank schlechter vorbereitet und motiviert sind, als sie es früher waren, gilt so generell offenbar nicht?

      Grupp: Nein. Dass die Jugendlichen heute wesentlich schlechter motiviert oder ausgebildet seien als früher, kann ich nicht bestätigen. Das mag daran liegen, dass Trigema auf dem Land sitzt und nicht in einer Großstadt. Unsere Jugendlichen haben sich immer angestrengt. Sicher gibt es Ausnahmen, und diesen Jugendlichen muss man klarmachen, dass sie ihre Chance nicht vertun sollen.

      zeit: Auffällig an der Debatte über die Ausbildungsplatzmisere ist, dass die Arbeitgeber häufig die Schuld dafür anderen geben: der Politik, der Schule, den Bewerbern – bloß nicht sich selbst. Vernachlässigen die Unternehmen ihre gesellschaftliche Verantwortung?

      Grupp: Lassen Sie es mich so sagen: Die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen ist die Basis allen Wirtschaftens. Dazu gehört auch, Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten. Ich jedenfalls fühle mich persönlich verpflichtet, die Arbeitsplätze in meinem Unternehmen zu sichern. Davon hängen ja nicht nur 1200 Mitarbeiter ab, sondern auch deren Familien. Und wenn nun ein Mitarbeiter kommt und sagt, Herr Grupp, meine Tochter möchte bei Trigema eine Ausbildung beginnen, dann habe ich auch eine moralische Verpflichtung gegenüber diesem Mitarbeiter, denn vor 20 Jahren habe ich ihn womöglich gebeten, unbedingt bei mir zu arbeiten.

      zeit: Andere Unternehmen sagen, sie müssten Arbeitsplätze abbauen und ins Ausland verlagern, um wettbewerbsfähig zu bleiben und wenigstens ein paar Jobs im Inland zu erhalten.

      Grupp: Das mag ja für Branchen stimmen, die einen hohen Exportanteil haben. Bei Trigema aber macht der Inlandsabsatz rund 95 Prozent aus. Und außerdem: Wenn ich hier Leute entlasse, kann ich wohl kaum erwarten, dass sie dann jene Waren kaufen, die ich billig im Ausland produziere. Das passt nicht zusammen. Meine Aufgabe als Unternehmer ist es vielmehr, solche Aufträge hereinzuholen, die der Qualifikation der Mitarbeiter und ihrem Lohnniveau entsprechen. Mit Massenware geht das nicht. Die Schwierigkeiten der deutschen Textilindustrie sind doch entstanden, weil die Unternehmen im Boom Kapazitäten aufgebaut haben, die in normalen Zeiten nicht ausgelastet waren. Dann haben diese Unternehmen versucht, mit Massenware ihre Produktion auszulasten, und auf einmal waren sie nicht mehr wettbewerbsfähig.

      zeit: Sie produzieren ausschließlich in Deutschland – und schreiben Gewinne. Ist der Standort D besser als sein Ruf?

      Grupp: Ja, aber es gibt für Unternehmer trotzdem auch noch viele Hemmnisse…

      zeit: …etwa den Flächentarifvertrag?

      Grupp: Ich bin nicht im Verband und könnte meine Mitarbeiter daher auch anders bezahlen, als der Tarifvertrag vorsieht. Dennoch halte ich mich an den Tarif, sonst laufen mir die besten Mitarbeiter weg. Allerdings verstehe ich es, wenn der Flächentarif zunehmend kritisiert wird. Heute ist es doch so, dass ein Unternehmen, das wegen eigener Fehlentscheidungen in die Krise gerät, den Flächentarif unterlaufen kann, wogegen ein Unternehmen, das solide wirtschaftet, sich an den Vertrag halten muss. Das ist nicht in Ordnung, und das mehrt den Unmut im Mittelstand.

      zeit: Was ärgert Sie sonst noch?

      Grupp: Die hundertprozentige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall hätte nie abgeschlossen werden dürfen, da gibt es keine Diskussion. Leistung und Nichtleistung können nicht gleich hoch bezahlt werden. Als die alte Bundesregierung 1998 die Lohnfortzahlung auf 80 Prozent senkte, habe ich das sofort umgesetzt und meinen Mitarbeitern die Ersparnis als außergewöhnliche Lohnerhöhung gegeben. Das waren damals 0,9 Prozent, bezogen aufs Vorjahr. Die Mitarbeiter waren einstimmig dafür.

      zeit: Wie halten Sie es mit der Mitbestimmung?

      Grupp: Wir haben selbstverständlich einen Betriebsrat. Wenn die Mitarbeiter zufrieden sind und eine gewisse Sicherheit am Arbeitsplatz haben, dann gibt es auch gar nicht so viele Probleme.

      zeit: Gerade mittelständische Unternehmen beklagen, dass sie von den Banken kaum noch Kredite bekommen und deshalb in Schieflage geraten. Trigema arbeitet ganz ohne Kredite, nur mit Eigenkapital – eines Ihrer Erfolgsgeheimnisse?

      Grupp: Das kann man so nicht sagen. Ich habe mir allerdings immer nur das gekauft, was ich mir leisten konnte. Und ich habe in guten Zeiten vorgesorgt. Als Unternehmer gerät man schon ins Zweifeln, wenn die Banken einem Unternehmen wie Flotex oder Schneider Milliarden hinterherschmeißen und die Vorstände dieser Banken dafür keinerlei Risiko tragen müssen. Geht das Geschäft dann schief, bekommen die Bankvorstände weiter ihr Salär. Ausbaden müssen es die Unternehmer, die noch Kredit haben oder Kredit wollen – und nun viel mehr dafür zahlen sollen oder gar kein Geld mehr bekommen. Ein Mittelständler haftet mit Haus und Hof für das, was er tut. Ein Bankvorstand nicht. Das ist nicht in Ordnung.

      zeit: Nicht in Ordnung sind nach Meinung vieler Deutscher die Millionengehälter der Manager. Verdienen auch Sie Millionen?

      Grupp: Mir gehört die Firma, und ich verzichte auf ein festes Gehalt. Dafür bekomme ich, was am Ende übrig bleibt, und das kann entweder ein Millionenverlust sein oder eben ein Gewinn.

      zeit: Manager wie Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann sehen die Kritik an ihren Millionengehältern als Ausdruck der typisch deutschen Neidgesellschaft an. Zu Recht?

      Grupp: Unsere Gesellschaft ist nicht neidisch. Die Menschen sind unzufrieden, weil hohe Gehälter an jene gezahlt wurden, die Arbeitsplätze vernichtet haben. Ein Unternehmer, der sich einbringt und der Milliardenwerte schafft, soll Millionen verdienen, da wird sich auch bestimmt niemand aufregen. Dass aber Leute Milliarden vernichten und dafür Millionen bekommen, ist nicht begründbar. Wenn ein Manager wie Ex-Telekom-Chef Ron Sommer am Gewinn des Unternehmens beteiligt wird, aber für den Verlust finanziell nicht geradestehen muss, ist das ein Missstand, der die Menschen zu Recht aufregt.

      zeit: Sie sind jetzt 61 Jahre alt, da ist der Ruhestand nicht mehr fern. Was unternehmen Sie, wenn Ihre Kinder die Firma verkaufen wollen?

      Grupp: Nichts. Ich versuche zwar, meinem Sohn und meiner Tochter vorzuleben, was es heißt, ein Unternehmer zu sein. Aber wenn sie die Firma einmal nicht übernehmen wollen, werde ich mich nicht dagegen wehren.


      Das Gespräch führten Marc Brost und Marie-Luise Hauch-Fleck


      (c) DIE ZEIT 18.09.2003 Nr.39
      http://www.zeit.de/2003/39/Interview_Grupp

      ___________________________________________________________
      :) :) :) :) :) :)Der Mann versprüht Optimismus :) :) :) :) :) :) :) :) :) :) :)
      Ich wurde auf Wolfgang Grupp und Trigema aufmerksam, als ich gestern Deutschlands größte Tageszeitung durchblätterte. :D, und darin einen ähnlichen, aber kürzeren "Artikel" zu Trigema und Grupp fand. In diesem "Artikel" stand auch das Trigema allen Mitarbeiterkindern eine Lehrstelle garantiert!
      Grupps Leistung ist noch bewundernswerter, wenn man bedenkt, das es sonst praktisch keinem Unternehmen, aus der Textilindustrie, das ausschießlich ich Hochlohnländern produziert(Designermodehersteller ausgenommen), gelungen ist profitabel zu arbeiten.
      (BRKA hat das Geschäft schon vor 2Jahrzehnten aufgegeben, und die hatten mit Sicherheit keine zweitklassigen Manager).

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 29.09.03 12:14:56
      Beitrag Nr. 105 ()
      http://www.zeit.de/wirtschaft/momente/index
      Momente der Entscheidung
      Eine ZEIT-Serie über Unternehmer der vergangenen sieben Jahrhunderte

      Bis jetzt 27 zum Teil sehr interessante Artikel.
      Zu Nr. 27 Branson empfehle ich noch seine Autobiographie die ich vor kurzem gelesen habe.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 30.09.03 15:42:32
      Beitrag Nr. 106 ()
      Börsianer zeigen Anzeichen nichtvorhandener Intelligenz

      Preisentwicklung an der Börse kann besser mit "idiotischen" Börsenhändlern beschrieben werden

      Börsenhändler sind sicher intelligente Menschen. Aber mathematische Modelle, die von rational handelnden Börsenhändlern ausgehen, hatten bisher nur begrenzten Erfolg darin, die durch Angebot und Nachfrage bestimmte Preisentwicklung zu beschreiben. Doyne Farmer vom Santa-Fe-Institut im US-Bundesstaat New Mexico hat jetzt zusammen mit seinen Kollegen ein Modell entwickelt, das Börsenhändler als rein zufällig handelnde "Idioten" darstellt. Damit konnten sie die statistische Preisverteilung an der Londoner Börse sehr gut modellieren, berichtet das Fachmagazin Nature in seiner Online-Ausgabe.

      Wirtschaftswissenschaftler gehen seit dem 19. Jahrhundert in ihren Theorien von einem "allwissenden" Händler aus, der immerfort versucht, seinen Gewinn zu maximieren. Dabei ist er vollständig über jeden Aspekt des gesamten Marktes informiert. Erst seit kurzem untersuchen modernere Theorien, wie unvollständig informierte Händler sich verhalten.

      Farmer und seine Kollegen gehen noch einen Schritt weiter. Die Händler in ihrem Modell haben keinerlei Informationen und besitzen nicht mal den Hauch von Intelligenz. Sie handeln rein zufällig. Die Forscher unterscheiden lediglich zwischen zwei Typen von Händlern: Dem Ungeduldigen, der sofort zum besten Preis kaufen oder verkaufen will und damit so genannte Market Orders – unlimitierte Aufträge – erteilt. Und dem Geduldigen, der eine Preisgrenze festlegt, ab der er kaufen oder verkaufen will. Er erteilt Limit Orders – limitierte Aufträge.

      Die Händler, so die Modellannahme der Forscher, erteilen und stornieren Aufträge rein nach dem Zufallsprinzip und halten damit die Preisentwicklung in Bewegung. Farmer und seine Kollegen verglichen die statistischen Daten der Preisentwicklung in ihrem Modell mit den Daten der Londoner Börse zwischen 1998 und 2000 und fanden eine sehr gute Übereinstimmung.

      Die Forscher meinen natürlich nicht wirklich, dass Börsenhändler ihre Entscheidungen durch Werfen einer Münze treffen. Statt dessen zeigt ihr Modell, dass das Börsengeschehen so komplex ist, dass man es nur sehr schwer von zufälligen Vorgängen unterscheiden kann. Bei den von ihrem Modell beschriebenen statistischen Aspekten scheint dies auch nicht erforderlich zu sein.

      Die Forscher haben ihre Arbeit im e-Print-Archiv arXiv.org (cond-mat/0309233) veröffentlicht.

      http://www.wissenschaft.de/wissen/news/228879
      http://arxiv.org/PS_cache/cond-mat/pdf/0309/0309233.pdf
      Avatar
      schrieb am 02.10.03 12:36:37
      Beitrag Nr. 107 ()
      Aus der FTD vom 2.10.2003
      Geld kommt (auch) von Arbeit
      Von Stefan Biskamp, Hamburg

      Eine Studie des DIW gibt statistisch verlässlich Auskunft über das Leben in Haushalten mit hohen Einkommen. Lange Arbeitstage sind für sie demnach üblich, gut ausgestattete Wohnungen auch.



      Sie haben das gewisse Etwas: Sie haben Geld. 2,7 Prozent aller Haushalte in Deutschland haben ein Nettoeinkommen über 5100 Euro pro Monat - eine Gruppe, über die erstaunlich wenig bekannt ist. Um ihre prominenten Vertreter kümmern sich Illustrierte und Boulevard zwar mit Hingabe, aber seriöse, statistisch fundierte Analysen über das Leben der Wohlhabenden gab es bislang nicht. Es gibt schlicht zu wenige von ihnen - in den gängigen Bevölkerungsumfragen fallen sie nicht ins Gewicht.

      Das hat ein Ende. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat in einer vom Gesundheitsministerium in Auftrag gegebenen Studie 2002 die Stichproben für Haushalte mit hohen Einkommen aufgestockt und sie so aus dem Dunkel der statistischen Unschärfe ins Licht solider Statistik geholt.



      Verglichen mit den Umfrageergebnissen unter Beziehern mittlerer Haushaltseinkommen (3800 Euro bis 5100 Euro) und geringerer Einkommen (unter 3800 Euro) sind die Resultate sind ernüchternd und ermutigend zugleich. Geld kommt von Arbeit: 55 Prozent der Erwerbstätigen mit einem Haushaltseinkommen von mehr als 5100 Euro machen regelmäßig Überstunden. Aber weniger Geld ist kein Garant für mehr Freizeit. Denn 62 Prozent der Erwerbstätigen mit einem Haushaltseinkommen zwischen 3800 Euro und 5100 Euro sind lange Arbeitstage gewohnt.


      Geld macht glücklich: Mit dem "Leben im Allgemeinen" sind nur zwei Prozent der Bezieher hoher Einkommen unzufrieden, mit ihrem Lebensstandard nur ein Prozent. Aber die Gruppe mit mittleren Gehältern ist statistisch exakt genauso zufrieden.


      Geld kommt von Geld: Das Nettovermögen der einkommensstärksten Gruppe liegt im Durchschnitt pro Haushalt bei 960.000 Euro; die durchschnittliche Erbschaft summiert sich auf 180.000 Euro. Dementsprechend wird in dieser Gruppe auch am fleißigsten gespart: Rund 15.000 Euro legt ein Haushalt pro Jahr zur Seite. Haushalte mit weniger als 3800 Euro Einkommen bringen es durchschnittlich auf ein Vermögen von knapp 90.000 Euro und ein Erbe von 46.000 Euro.


      Allerdings warnen die Autoren der DIW-Studie: Ererbtes Vermögen spiele zwar eine große Rolle, die meisten wohlhabenden Haushalte würden ihr Einkommen jedoch auf der Basis einer überdurchschnittlichen Berufsqualifikation und langer Arbeitszeiten verdienen. In der Regel arbeiten Mann und Frau - und beide gehören zu den Besserverdienenden. 15 Prozent von ihnen arbeiten regelmäßig auch am Wochenende.


      Trotzdem haben sie offenbar Zeit für Familie: Während nur in jedem dritten der weniger vermögenden Haushalte Kinder leben, haben rund die Hälfte der wohlhabenden Familien mindestens ein Kind. Allerdings, so schränkt das DIW in der Studie ein, sei die "Wahrscheinlichkeit, ein Kind zu haben, auch in Haushalten mit Sozialhilfebezug hoch". Der "Einzeleffekt von Sozialhilfe" sei sogar etwa doppelt so groß wie der des Bezugs eines hohen Einkommens.


      Selbstredend lässt die häusliche Ausstattung unter Wohlhabenden erstklassig: Fast alle Haushalte haben Auto, Handy und PC - und rund 40.000 Euro an Gold, Schmuck, Münzen oder wertvollen Sammlungen im Haus. Diese Bevölkerungsgruppe besitzt rund 18 Prozent des Geldvermögens aller privaten Haushalte in Deutschland.


      Für die Studie befragte das DIW im vergangenen Jahr in einer Zufallsstichprobe 1224 Haushalte mit 2671 Personen, die über ein Haushaltseinkommen von mehr als 3800 Euro verfügen. 1130 der befragten lebten in - insgesamt 505 - Haushalten mit einem Nettoeinkommen von mehr als 5100 Euro.

      http://www.ftd.de/pw/ka/1064911495879.html?nv=hpm
      Avatar
      schrieb am 02.10.03 18:19:23
      Beitrag Nr. 108 ()
      @thomtrader:)

      danke mein Freund. Ich lese Deine
      Beiträge schon seit Jahren und bin
      immer wieder begeistert.

      Liebe Grüsse
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 02.10.03 20:28:20
      Beitrag Nr. 109 ()
      Bitte:)
      Das meiste im Thread ist ja nicht von mir verfasst worden.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 02.10.03 23:14:08
      Beitrag Nr. 110 ()
      @tt:)

      Na ja, wichtig ist es ja auch
      zu wissen,wo man was findet
      und es dem Publikum zugänglich
      zu machen:)

      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 03.10.03 20:26:37
      Beitrag Nr. 111 ()
      Der Spieler

      Peter hat Ökonomie studiert, seinen Doktor gemacht, einen guten Job gefunden
      und eine Familie gegründet.Heute lebt er hauptberuflich vom Pokerspiel.

      Text: Lukas Lessing

      ----- Das „Kadlitz“ ist kein typisches Kasino. Eine Fensterreihe lässt Blicke hinaus in den wuchernden Garten und das Tageslicht herein in die teppichbodenbelegten Räume. Freilich kümmert sich niemand drinnen um die reifen Kastanien draußen, aber ein Zeichen ist es doch. Dass die Welt rundherum nicht vergessen ist, dass es dort noch Tage und Nächte gibt. Dieser Tag geht bald zu Ende nach einer endlosen Nacht, doch die Pokerrunde drischt unverdrossen Karten. Ohne Alkohol, aber mit literweise Kaffee und stangenweise Zigaretten ausgestattet. Ab und zu ein Sandwich oder eine Gulaschsuppe.
      Mahmet versinkt im eigenen Qualm, Kugelfisch zählt und schichtet und zählt und schichtet seine Jetons. Der Sektionschef ist fahl vor Ernst. Fast alle hier rufen sich mit Spitznamen. „Kugelfisch“ steht für den dicklichen Chinesen, „Sektionschef“ für den Beamten im korrekten Anzugshemd. „Einstein“ ist ein Antiquitätenhändler mit hohem Haaransatz und zitternden Händen. Peter, 36 Jahre alt, hat keinen Spitznamen. Er rutscht während des Spiels ein wenig mehr auf seinem Stuhl hin und her als notwendig. Müde sieht er aus, aber konzentriert. Er ist ein bisschen ungeduldig, denn nach fast 30 Stunden macht das Non-Stop-Spiel keinen Spaß mehr, sondern ist nur noch Arbeit.

      Beim Pokern ist er nicht wirklich gut. Und wundert sich selbst, dass er trotz vieler Fehler gewinnt

      Aber Peter kann nicht aufstehen und weggehen. Peter ist mit rund 8000 Euro im Minus. Das geht nicht, denn Peter spielt beruflich. Muss nicht nur sich durchbringen, sondern auch seine Frau sowie ihr gemeinsames Kind. Das Gartenhäuschen am Stadtrand muss auch bezahlt werden. Die Wohnung in der Innenstadt. Der BMW und der Jeep Cherokee. Die gemeinsamen Urlaube, die Umbaupläne. Nein, er kann erst aufstehen, wenn er auf null steht. Mindestens. Also bestellt er noch einen Kaffee und Jetons für 500 Euro.
      Das Buy-In, das nötige Startkapital, beträgt 600 Euro. Die kleine Wette, wie der niedrigste Einsatz genannt wird, geht zwar nur über 30 Euro, die große über 60, doch wer hier in einem Schwung weniger als 500 Euro in Jetons wechselt, macht sich lächerlich. Nur in Fünfhundertern, den höchsten Euronoten. So muss das laufen am Tisch. Cool. Goldketten, Rolex und Siegelring sind obligatorisch.
      Alle haben sie, außer Peter. Halbweltthemen, Puffgehabe, auch wenn manche gar keine Puffs von innen sehen. Peter etwa. Auch das neueste Handy ist nötig. Das legt jeder vor sich auf den Spieltisch. Falls in einem der knapp zwei Dutzend anderen Kasinos Wiens ein besseres Spiel läuft, denn Spieler sind flüchtige Gesellen. Ist anderswo mehr los, sind sie fort. Hat sie ihr Glück verlassen, bleiben sie sitzen.
      Das Spiel heißt Texas Hold’em und funktioniert mit fünf gemeinsamen Karten, zu denen jeder Spieler noch zwei weitere Hole-Cards erhält, um daraus die höchste Kombination zu legen. Irgendwann gestern Nachmittag hatten sie beschlossen, diese Poker-Version zu spielen. Die gilt in Österreich wie Pokern überhaupt als Geschicklichkeitsspiel, weshalb jeder ein Kasino eröffnen kann, der eine Lizenz zum Kartenverteilen hat. Nur reine Glücksspiele wie Roulette oder Baccara fallen unter das Monopol. Das üben die staatlichen Casinos Austria aus und exportieren ihr Know-how mit großem Erfolg ins Ausland, vor allem in ehemalige Ostblockstaaten, aber auch in die Schweiz (Casino Bern) oder nach Australien.
      Kasinos sind für Peter nicht interessant, denn mit Glücksspielen lässt sich bekanntlich kein Geld verdienen. Genauso wenig wie mit Pokerautomaten. „Die Software ist schon zu gut“, sagt er. Maschinen sind nicht beherrschbar. Anders als das Pokerspiel mit Menschen, bei dem man, wenn man sehr gut ist, regelmäßig gewinnt. Was bei Peter aber nach eigener Einschätzung nicht der Fall ist: „Beim Pokern bin ich in nix wirklich gut“, sagt er, „ich spiele zu viele Hände aus. Meine Risikofreude ist zu groß. Aber oft kann ich trotz meiner vielen Fehler gewinnen. Das wundert mich selbst.“
      In der vergangenen Nacht waren es zu viele Fehler. Oder Fehleinschätzungen der Gegner. Aber Mahmet einzuschätzen ist auch wirklich nicht leicht. Der iranische Ex-Wasserballspieler mit den behaarten Riesenpranken und dem Goldgehänge hat ein undurchdringliches Pokerface. Er sagt stundenlang kein Wort, und wenn er mal spricht, dann macht er nur ein paar kurze Bemerkungen. Im Übrigen verzieht er keine Miene – auf eine Art, die den anderen suggeriert, sie wüssten, wie es um das Blatt in seiner Hand steht. Dabei irren sie sich meistens.
      Auch Mahmet ist Profi-Spieler. Allerdings keiner, der sein Wissen aus Büchern hat, sondern einer, der kein anderes Instrument kennt als seinen Bauch. Außer Peter sitzt nur Mahmet schon seit fast 30 Stunden, seit Beginn der Partie, am Tisch. Nicht, weil er verloren, sondern weil er gewonnen hat. Weil er mehr gewinnen will.

      Ein 3500-Euro-Gehalt als Banker ist lächerlich, wenn man in einer Nacht 8000 Euro verspielt

      Peter sitzt an derselben Tischseite wie Mahmet, die im Halbstunden-Rhythmus wechselnden „Dealer“, wie die Croupiers hier heißen, dazwischen. Keiner sieht den anderen an. Zumindest nicht so richtig. Alle sehen auf die Karten und die Jetons. Bei den beiden Profis hat die Spieler-Grundregel „Weak means strong“ keine Bedeutung mehr, denn sie wäre zu einfach: gute Miene zu schlechten Karten, schlechte Miene zu den guten. Das funktioniert nur bei Anfängern.
      Peter ist im Gegensatz zu Mahmet kein Bauch-, sondern eher ein Kopfspieler. Sagt er. Als Student hatte er mit dem Spielen um Geld begonnen. Backgammon im Kaffeehaus. Bei den ersten Pokerpartien betrug der Einsatz pro Partie einen – damals noch – Schilling. An einem Abend gab es nicht mehr als 400 Schilling zu verlieren, rund 30 Euro. Die verlor Peter regelmäßig, weil er nicht spielen konnte. Also beschloss er, sich den Einsatz zurückzuholen. Früher oder später. Denn das, was ihm am Spieltisch gelang, „das konnte unmöglich alles sein“. Er empfand das sehr deutlich. Also ließ er sich vom Gambler’s Bookshop in Las Vegas einen Schwung Bücher über Poker zuschicken und vertiefte sich in die Lektüre.
      Die zweite Hälfte seines Betriebswirtschaftsstudiums finanzierte er sich dann durch das Spiel. Als promovierter Wirtschaftswissenschaftler bekam er damals, das war 1996, leicht einen Job in einer Wirtschaftsprüferkanzlei, dann bei einer großen österreichischen Bank. Den füllte Peter lustlos aus und konnte ihn sich bald nicht mehr leisten: „Es ist lächerlich, einen Monat für knapp 3500 Euro zu arbeiten und in einer Nacht 8000 Euro zu verlieren.“ Ärgerlich auch, dass er sich das Geld nicht zurückholen konnte, weil die Öffnungszeiten der Bank nicht mit dem Marathon am Spieltisch zusammenpassen wollten.
      Also beschloss Peter vor drei Jahren, mit diesem in seinen Augen finanziell gefährlichen Unsinn namens geregeltem Bürojob aufzuhören und seinen Lebensunterhalt erst mal auf zwei Säulen zu stellen: die Börse und das Pokerspiel. Als Startkapital nahm er einen Kredit auf, teilte das Geld zwischen New Economy und Pokertisch, um bald darauf entsetzt festzustellen, dass das Kartenspiel im Vergleich zur Weltwirtschaft eine ziemlich berechenbare Sache ist. Seine Aktien waren trotz glänzender Prognosen und unzähliger positiver Expertenmeinungen bald weniger wert als das Papier seiner Depotauszüge.
      Dann lernte Peter seine Frau kennen und bekam zwei finanzielle Probleme auf einmal: ein Kind und die drängenden Rückzahlungsraten für den Kredit, beide konnte er fortan nur noch aus einer Quelle bedienen – aus den Spielgewinnen. „Es war die härteste Zeit meines Lebens“, erinnert er sich, „jeden Tag mit dem Gefühl im Kasino, gewinnen zu müssen, und am nächsten Morgen die Gewinne sofort auf die Bank zu tragen. Heute frage ich mich, wie ich das geschafft habe.“
      Ach ja, die Frau. Und das Kind. Eigentlich wollten Alexandra und er heute Nachmittag Spielzeug einkaufen für den zweiten Geburtstag des Sohnes Leo und dann gemeinsam zu Abend essen. Aber dafür ist es zu spät, und die Karten kommen zäh. Peter hat erst 2000 Euro der Schadenssumme wettgemacht. Am Handy erklärt er seiner Frau einfühlsam die Situation. Was nicht notwendig ist, weil Alexandra sofort versteht: Der Spieltisch geht vor. Das ist Einsicht ins Notwendige – der Bankangestellte kann während seines Dienstes auch nicht shoppen gehen.
      Also setzt sich Alexandra ins Taxi und kommt schnell vorbei, um das Auto zu holen, damit sie den kleinen Leo von der babysittenden Omi abholen kann. Es ist eine merkwürdige Szene, als Alexandra mit ihren Tüten aus dem pädagogisch wertvollen Spielzeugladen ins Kasino kommt und Peter herzlich begrüßt. Das hat keine Routine, Peters Frau im Kasino. Kommt nur alle paar Jahre vor. Aber jetzt braucht sie den Autoschlüssel. Und erzählt ihm während des Spiels gleich etwas von ihrem Tag, was er abgelenkt, aber erfreut zur Kenntnis nimmt. Sie zeigt ein neues blechernes Aufziehtier vor und lässt es fröhlich am Rande des Pokertischs paradieren.
      Da müssen sogar hartgesottene Spieler lächeln, aber aus der Ruhe bringen lassen sie sich nicht. Könnte ja eine hammerharte Finte Peters sein. Schließlich sind sie anderen zwischenmenschlichen Umgang gewohnt.

      „Das sind die glücklichsten Momente, wenn ich die Gegner erkenne. Wenn ich weiß, was los ist.“

      Charly etwa, der Oberösterreicher, der erst vorhin wieder an den Spieltisch zurückgekehrt ist. Frisch geduscht und nach zwei Stunden Pause leicht erholt von seinem mehr als 24-stündigen Einsatz zuvor. Mit einem dicken Päckchen Fünfhunderter hinter fahrigen Händen, die pausenlos Chips umstapeln. Charlys superblonde Freundin wartet inzwischen ein paar Tische weiter, weil sie mit ihm essen gehen will. Wartet. Und wartet.
      Aber Charly kommt nicht los. Eine Runde noch, noch eine. Weil es gerade gut geht. Leise nähert sich seine Freundin, murmelt ihm leicht gereizt etwas von Hunger ins Ohr. Er wird unwirsch, sie zieht sich wieder zurück. Pokerspieler brauchen geduldige Frauen. Frauen, die selbst pokern, sind selten. „Frauen riskieren zu wenig“, sagt Peter, „sie geben sich nicht ganz dem Spiel hin.“ Alexandra sieht das genauso: „Ich hätte am Spieltisch einen Herzinfarkt nach dem anderen“, sagt sie. „Bei diesen Geldbeträgen. Und bei den tausend teuren Entscheidungen, die man Minute für Minute fällen muss.“ Genau darin liegt für ihn der Reiz des Spiels. Diese Wachheit, Da-Sein, Entscheiden, Verfügen. Der Kampf: Eine Gruppe von Menschen an einem Tisch, der eine belauert den anderen. Und natürlich das Geld. Das viele Geld.
      Alexandra verabschiedet sich, fährt nach Hause. Ein neuer Spieler kommt, Ernstl. Scarface, vernarbtes Gesicht, lange, feingliedrige Hände, die die Jetons ununterbrochen von einem Haufen auf den anderen wirbeln. Ernstl blufft sofort, spielt aggressiv, erhöht immer, so weit es das Limit zulässt. Die Partie gewinnt an Drive. Mahmet muss einen Fünfhunderter nach dem anderen einlösen. Auch Peter kommt wieder in Fahrt. Er gewinnt nur jede zweite, dritte Partie, doch die Jetons stapeln sich bei ihm. Hunderter auf Hunderter fließt zu ihm zurück.
      „Das sind die glücklichen Momente“, sagt er später, „wenn ich die Gegner erkenne. Wenn ich weiß, was los ist. Wenn das Spiel kristallklar vor mir liegt, kann ich auch mit einem Ass gewinnen.“ Aber er kann nicht aufstehen, obwohl das die Warner immer meinen: Wenn du gewonnen hast, musst du gehen. Sofort. Kugelfisch macht das so. Ist aber nicht gut für den Ruf in der Spielergemeinde, in der jeder jeden kennt. Zumindest die Profis. Und die Freiberufler oder Gewerbetreibenden, die Zeit und Geld zum Spiel haben. Die Autohändler, die Handwerker, die Kaufleute, die Wirte. Die Chinesen mit ihrem immer größeren Anteil an der Spielergemeinde. „Die spielen alle“, sagt Peter, „und immer besser. Die haben das Spielen im Blut.“
      In dieser Gemeinde muss jeder jeden akzeptieren, sonst kann man nicht tage- und nächtelang an einem Tisch sitzen. Freundschaften entstehen so nicht, aber Beziehungen. Außerdem hat jeder Spieler seinen Stil. „Mein Stil ist es nicht, Gewinne einfach wegzutragen“, sagt Peter, „auch wenn das klug wäre. Aber ich merke immer mehr, dass ich meinen Stil spielen muss, sonst geht nichts.“ Selbstanalyse eines Spielers.
      Wir sitzen auf der Terrasse des kleinen Sommerhauses der Spielerfamilie, mitten in den buschigen Wäldern an der Wiener Peripherie, Blick auf Stadt und Fluss unten im Tal. Hat doch noch bis weit nach Mitternacht gedauert gestern Abend, und Peter musste sich mit einem Minus von gut 3000 Euro geschlagen geben. Was soll’s, es gab Schlimmeres. Vor ein paar Wochen hatte er die schwerste Verlustserie seiner Laufbahn und verlor binnen eines Monats zwei Drittel seines Vermögens. Dabei wollten sie das Häuschen ausbauen. Das muss warten.

      Die Profis leben von Laien, die das Spiel nicht kapieren, hoch setzen und ihr Unglück beklagen

      Aber nicht mehr allzu lange. Peter möchte noch bis 40 hauptberuflich spielen. Sein erklärtes Ziel: bei den besten Partien der Welt mitzuspielen, in Paris, in Las Vegas. Demnächst in Amsterdam, in Basel. Bei den großen Turnieren, wo es Preisgelder von 150000 Euro gibt. In Wien liegt das Limit bei 30000 Euro. „Auf diesem Weg muss ich natürlich auch mit Verlusten rechnen“, sagt er. „Dazu gehört, auch mal 20000, 30000 an einem Abend zu verlieren. Nur wer das kann, kann gewinnen.“ Und kräftig Trinkgeld geben, Gewinne begießen, das Geld loslassen. „Sattelfest“ sein bei den großen Partien, so nennt er das, technisch und psychisch. Wenn er das ist, vielleicht mit 40, kann er immer noch eine Firma gründen. Aber spielen wird er, bis er vom Hocker fällt, so viel ist klar. Bis dahin heißt es lernen. Aber nicht nur das.
      „Beim Gewinnen brauchst du einen guten Lauf“, sagt er. „Ohne Glück geht auch für den besten Spieler nichts.“ Seine Frau wundert sich: „Aber geh, du liest doch die Bücher, du studierst Partien …“ Peter winkt ab. Natürlich, die Bücher, ein ganzes Regal voll. Aber Spieltheoretiker ist er nicht. Er analysiert keine Partien am Computer, er stellt keine Wahrscheinlichkeitsrechnungen an. Das ist nicht seine Art. Nur Excel-Dateien über Gewinn und Verlust führt er. Das hat er im Studium gelernt.
      Vielleicht hat er seinen vermeintlich rationalen Zugang zum Poker auch ein bisschen rausgestellt, um seine Frau zu beruhigen. „Natürlich mache ich mir manchmal Sorgen“, sagt sie, „wenn er eine längere Pechsträhne hat. Immerhin hängen wir alle von ihm ab. Dann denke ich, dass bei meinem Job früher auch nicht weniger Glück dabei war.“ Bevor das Kind kam, hatte sie mit einem Partner eine gut gehende Agentur, Corporate-Design-Entwürfe für japanische und deutsche Firmen, Arbeit rund um die Uhr.

      Seine Frau tröstet sich mit dem Gedanken, dass auch normale Jobs einer Pokerpartie gleichen

      Wenn sie heute noch so arbeiten würde, bekämen sich die beiden so gut wie nie zu Gesicht, von dem Kind gar nicht zu reden. Ein Glücksspiel war die angeblich so seriöse Werbearbeit sowieso. Wenn bei einem Auftraggeber der Werbeleiter ausgetauscht wurde, war der Kunde weg und jahrelange Aufbauarbeit über Nacht futsch. Verloren. Wie eine Pokerpartie, bei der der höchste Einsatz flöten geht und den Erlös von Tagen harter Arbeit binnen 30 Sekunden pulverisiert.
      Eine halbe Minute, länger dauert keine Partie. Gestern Nacht lagen immer nur ein paar hundert Euro im „Pot“, auf dem Jetonhaufen einer Spielrunde. Klingt nicht viel, doch die rasende Geschwindigkeit des Spiels bringt den Cash-Flow. „Du sollst nicht ewig lang denken“, sagt Peter. Alle 30 Sekunden ein paar hundert Euro erleichtern den schlechteren Spieler in weniger als einer Stunde um ein paar Tausender. Geschah gestern Abend auch. Das war Peters Glück. Ein Klempnermeister, der nicht regelmäßig spielt, aber doch einiges an Geld mitbrachte.
      Wenn so einer am Spieltisch auftaucht, frohlocken die Profi-Spieler, denn von solchen Leuten leben sie. Von Spielern, die nicht professionell spielen, aber hoch. Die beschimpfen dann den Dealer, beschweren sich über ihr schlechtes Blatt, knallen wütend die Karten auf den Tisch, beklagen ihr Unglück und verlieren doch nur, weil sie nicht genau wissen, wann sie mitgehen sollen und wann passen: weil es ihnen an Wissen über das Spiel fehlt. „Wenn du dich an einen Tisch setzt, und du siehst kein Weh, dann bist du’s selber. Und damit in höchster Gefahr“, sagt Peter. „Weh“ ist der wienerische Ausdruck für Versager.
      Heute Abend wird sich Peter in diese Gefahr begeben, sehenden Auges. Im Concord Card Casino, einem der größten Privatkasinos Europas, halbwegs unter der Stadtautobahn und der Einflugschneise des Flughafens gelegen, findet eine 150-300er Partie Omaha-Hi-Lo-Split-8-or-better statt. Mindesteinsatz 150 Euro, erhöhen auf 300 Euro. Jeder Spieler muss wie immer das Zehnfache der großen Wette vor sich auf den Tisch legen, um zum Spiel zugelassen zu werden, also 3000 Euro.
      Mithaben sollte man aber 10000 oder besser 12000 Euro, um nicht in Bedrängnis zu kommen. Hier gehen alle 30 Sekunden ein paar tausend Euro über den Tisch, wer nicht aufpasst, ist binnen Minuten fünfstellige Beträge los. Bürgerliche Existenzen sind bei solchen Partien schon innerhalb weniger Stunden zerbrochen. Heute werden die besten Spieler der Stadt dabei sein. Leute, die schon hunderttausende im Spiel gewonnen haben. Eine Herausforderung für Peter.
      Das Handy klingelt immer wieder. Betreiber anderer Kasinos rufen an, laden Peter zu ihren Spielen heute Abend ein. Zu kleineren Spielen. Manche bieten ein wenig Geld, damit Peter kommt. Denn einer wie er sorgt für höhere Einsätze. Die bringen höhere Anteile für das Kasino, das direkt nach jeder Partie kassiert. Bei kleinen Spielen gute 150 Euro pro Stunde pro Tisch. Doch diese Angebote nimmt Peter nie an, denn für ihn muss klar sein, auf welcher Seite er steht: auf der der Spieler, nicht der der Kasinos.
      Dabei wäre es vernünftiger, heute zu so einer Partie zu gehen, bei der auch schlechtere Spieler dabei sind. Dort ist zwar nicht so viel zu holen, weil viel niedriger gespielt wird, das dafür sicher. „Aber ich bin nicht nur Profi, sondern auch Spieler“, sagt Peter.
      Auch ihn reizt das Risiko. Auch er kann nicht von den Karten lassen. „Länger als zwei Wochen waren wir noch nie im Urlaub, dann fängt’s bei mir zu kribbeln an.“ Abgesehen von halb dienstlichen Spielausflügen nach Las Vegas, Paris oder an den Kärntner Wörthersee, zur Touristensaison, wenn die Urlauber dort sind. Wie im vergangenen Sommer. Das war keine glückliche Woche. Regen und 10000 Euro minus. Die er sich Gott sei Dank in der letzten halben Stunde des Aufenthaltes zurückholen konnte. Den See bekam Peter kaum zu Gesicht. Macht aber nichts. „Ich kann ohnehin nicht urlauben, ich bin Spieler.“ -----|

      http://www.brandeins.de/magazin/was_menschen_bewegt/artikel1…
      http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,267136,00.html
      Avatar
      schrieb am 03.10.03 20:33:35
      Beitrag Nr. 112 ()
      Noch ein etwas älterer Artikel(1999), darüber wie man "schnell" an Geld kommt ;)
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      Sekundenglücksspiele
      Der Daytrader nutzt den kurzfristigen Trend einer Aktie: Er kauft für 118 1/4 und verkauft ein paar Minuten, noch besser: Sekunden später für 119. Wenn er genug Geld hat, hört er auf. Wieviel ist genug? Vielleicht ein paar Millionen. Und wann ist das? Vielleicht mit 25.
      Von Christoph Neidhart

      otznasen: Vor einem schmutzigen Eingang in den Häuserschluchten um die Wall Street hängen Jugendliche in Turnschuhen, Jeans und T-Shirts herum. Die Brillen sitzen schief, die Baseballmützen verkehrt. Einer bohrt in der Nase, andere rauchen. Einige von ihnen sind Millionäre.

      Die Finanzwelt gleitet an ihnen vorbei, im schwarzen Lincoln Continental - oder wenigstens im grauen Anzug. Sie schaut nicht her. «Sie hassen uns», sagt einer der Jungs - nennen wir ihn Roy.

      Die College-Kids sind Daytrader, sie spielen an der Börse. «Wir sind keine Investoren, das hier ist eher ein Videogame.» Die besten machen mehrere Millionen jährlich, ganz ohne Eigenkapital. Roy unterscheidet zwischen «sechsstelligen» Leuten und «siebenstelligen». Sechsstellig schaffe jeder, der die Personality dazu habe. Wer auf siebenstellig kommt, dem zollt Roy Respekt. Dann könne man sich überlegen, was man sonst noch machen wolle im Leben: «Ich bin schon fast 25.»

      Andere fallen auf die Nase - besonders jene, die allein von zu Hause aus traden. Ihnen fehlt der Rückhalt der Gruppe, in der man einen Taucher eher wegsteckt. Am 29. Juli erschoss Mark Barton in Atlanta in den Räumen der Daytrader-Firma All-Tech neun Leute. Er flippte aus, nachdem er binnen weniger Tage Verluste von 100 000 Dollar angehäuft hatte.

      uf lange Sicht ist die Börse das beste Instrument, die Substanz einer Firma zu bewerten. Kurzfristig jedoch ist sie ineffizient, irrational und ungenau: Sie schiesst immer übers Ziel hinaus. Daraus ziehen die Daytrader ihren Profit. Ob die Kurse steigen oder fallen, ist ihnen egal; und auch, ob die Titel, die sie grade handeln, unter- oder überbewertet sind. Manche kennen von den Firmen, deren Mitbesitzer sie vorübergehend sind, kaum mehr als das Börsensymbol.

      Ein Daytrader nutzt den kurzfristigen Trend einer Aktie: Er kauft IBM für 118 1/4 und verkauft einige Minuten später für 119; noch besser: ein paar Sekunden später. Dazu bieten sich ihm an gewissen Tagen mehrere Gelegenheiten, selbst wenn die Aktie, wie IBM in der letzten Septemberwoche, 10 Dollar verliert. 1000 IBM-Aktien, für 118 1/4 gekauft und für 119 verkauft, das ergibt 750 Dollar - kein schlechter Ertrag für ein paar Minuten. Der Daytrader bleibt jeweils nur ganz kurz im Markt engagiert, die übrige Zeit hält er sein Geld in Cash.

      Wer Firmen analysiert und Markttrends beobachtet, wer Position über Nacht hält, ist kein reiner Daytrader. Die agieren «nonjudgemental», ausschliesslich auf Grund der kurzfristigen Bewegungen am Markt. Dazu verfolgt der Trader den Kurs seiner Beute jeweils von Gebot zu Gebot auf der rollenden Tabelle am Bildschirm. Er hat den Chart im Auge, das Marktvolumen und die Teilnehmer. Sein Arbeitsplatz besteht aus vier Bildschirmen mit einer Highspeed-Online-Verbindung. Je volatiler die Börse, um so mehr Chancen bieten sich. Ein guter Trader hat die Geduld eines Jägers, ist aber «trigger-happy», das heisst, er hat keine Hemmung abzudrücken.

      Von den etwa 250 Markttagen jährlich sind 50 besonders günstig, sagt Roy. Wenn der Dow Jones zur Eröffnung 80 Punkte falle, könne man sicher sein, dass er im Laufe des Tages irgendwann plötzlich hochschnelle, selbst wenn er schliesslich tief im Negativen schliesse. Dieses «Bouncing back» müsse man abwarten, um zuzuschlagen. Wer an diesen fünfzig Tagen je etwa 10 000 Dollar macht, ist schon ganz ordentlich «sechsstellig».

      Roy handelt in der Bude nahe der Wall Street mit dem Geld der Firma, die etwa 30 Prozent seiner Gewinne als Kommission einbehält. Wenn er eine Million beisammen habe, mache er auf eigene Rechnung weiter. Allerdings scheitern viele gute Trader, sobald sie das eigene Geld riskieren. Sie verlieren ihre Sorglosigkeit.

      n den schäbigen Räumen hocken an 300 Computerarbeitsplätzen junge Trader, nur gerade vier von ihnen sind Frauen. Alles Absolventen von Elite-Universitäten. Andere Leute nehme die Firma nicht, sagt Roy: «Sie sagen sich: wenn du in Harvard oder Yale warst, dann bist du entweder intelligent oder fleissig - oder beides.» Neben den Computern stellt die Firma den Kids Billard- und Pingpongtische hin. Sie bemüht sich, sie in verspielter, aber aggressiver Laune zu halten: Schreien und Fluchen ist erwünscht, Individualismus wird gefördert.

      Jeder Trader entwickelt seine eigene Methode. Einige «shorten» über extrem kurze Zeit, das heisst, sie spekulieren auf einen fallenden Kurs, indem sie Aktien verkaufen, noch bevor sie sie, zum dann tieferen Preis, gekauft haben. Und alle erfolgreichen Trader betonen, happige Verluste gehörten dazu; aus ihnen lerne man, nicht aus den Gewinnen.

      Dem traditionellen Anleger ist es egal, ob er für seine IBM-Aktie 118 1/4 zahlt oder 119; und auch, ob das Geschäft heute oder morgen abgewickelt wird. Er wird die IBM-Aktie mindestens ein paar Monate, vielleicht auch ein Jahrzehnt lang halten; in dieser Zeit, so erwartet er, wird sich ihr Wert vervielfachen. Seine Entscheidung basiert auf einer soliden Analyse des Computerriesen und seiner Wachstumschancen. Das nervöse Rauf und Runter der Börse kümmert ihn nicht.

      Wer kurzfristig - short term - investiert, für Tage oder Monate, den interessieren die sogenannten Fundamentals einer Aktie weniger, für ihn ist die Stimmung am Markt wichtig, die Psychologie und die Nachrichtenlage. 1998 schoss alles hoch, was mit dem Internet in Verbindung gebracht wurde: ein «.com» im Firmen-Namen genügte. Im vergangenen April war die Online-Buchhandlung Amazon.com mit über 30 Milliarden Dollar bewertet, höher als Boeing damals, der grösste Flugzeughersteller der Welt. Das ist absurd, Amazon hat noch nie einen Gewinn ausgewiesen. Jeder weiss, die Aktie ist überbewertet. Aber wieso soll man nicht mitmachen, solange die Internet-Titel boomen? Wer möchte die happigen Gewinne, die das Internet an der Börse verspricht, einfach den andern überlassen?

      Net2Phone, eine überbewertete Internet-Telefongesellschaft, war jüngst ein Favorit der Daytrader und Kurzfristigen. Das Papier schwankte in den drei Monaten seit seiner Erst-Emission wild zwischen 15 und 92 Dollar hin und her.

      hort-Termer überprüfen die Kurse ihrer Titel täglich oder öfter: intra day. Diesen Investitionsstil ermöglicht Privaten erst das Internet. Aus den Studierstuben amerikanischer - und der Hongkonger - Universitäten, aus Büros und Wohnungen wird heute gehandelt. Eine Unzahl Websites, darunter auch jene der NZZ, liefern Aktienkurse aus aller Welt frei Haus - mit Verzögerungen von gut einer Viertelstunde. Indes genügen, angesichts der Volatilität etwa der Technologieaktien, diese Notierungen dem aggressiven Short-Termer nicht. Er will die wirklich aktuellen Kurse, Realtime-Quotes. Auch das gibt es auf dem Web, gegen eine bescheidene Abogebühr oder sogar umsonst, per Gratis-Subskription, inklusive Börsen-News: Wer zuerst um ein Ereignis - eine Pressemitteilung, einen Merger, eine politische Entscheidung oder eine Katastrophe wie das Erdbeben in Taiwan - weiss, kann die (Über-)Reaktion des Marktes antizipieren und damit Geld machen.

      Bald nach den Quotes tauchten die ersten Internet-Broker im Web auf: Sie erlauben ihren Kunden, Aktien online zu handeln. Damit wurde Daytraden möglich, zumal die Online-Broker mit ihren Kommissionen die Realworld-Konkurrenz massiv unterlaufen. Discounter wie Charles Schwab boten vor zwei Jahren Abschlüsse für 60 Dollar an (Schweizer Privatbanken nehmen das Fünffache). E*Trade verlangt heute für eine in New York kotierte Aktie $14.95 Kommission; wer mehr als 75 Online-Trades pro Quartal abschliesst, erhält grosszügig Rabatt. Professionelle Daytrader wie Roy zahlen sogar nur $1.50: Sie umgehen die Broker und handeln direkt am Markt.

      Erst dieser Preiszerfall der Kommissionen erlaubte das Entstehen des Daytrading. Die Pioniere wurden vor drei Jahren noch verlacht. Inzwischen richten auch grosse Investmentbanken Daytrader-Abteilungen ein.

      lles geht immer schneller: Einst genügte es dem Privatanleger, die Schlusskurse vom Vortag beim Frühstück der Zeitung zu entnehmen. Dann begannen Radio und Fernsehen aktuell Kurse zu melden. Seit bald zehn Jahren richten TV-Spezialprogramme wie NBC-Squawkbox und CNN-Financial sich an ein breiteres Publikum, mit laufenden Quotes am unteren Bildrand. Am Times Square, in New Yorker Bankfilialen und Brokerfirmen und in manchen Cafés laufen die Quotes übers Band. Mit Pagern kann man die Kurse abrufen, neuerdings auch mit dem Handy. Nokia entwickelt derzeit ein Handset, über dessen Anzeige man Aktien handeln können wird. Es geht nicht nur immer schneller; die Börse dringt auch immer tiefer in den Alltag ein.

      Realtime ist für einen Daytrader wie Roy nicht schnell genug. Das Internet verpackt die Daten zum Transport in elektronische Pakete, dies verursacht gewisse Verzögerungen: Zehntelsekunden, Sekunden, auch mal eine Minute. Solange Roy den Markt nur beobachtet, stört ihn das wenig. Die Exekution eines Deals indes muss blitzschnell abgewickelt werden, bevor der Markt dreht. Sonst kann das Geschäft ins Auge gehen. Ein während einiger Minuten hängengebliebener Auftrag ohne Limit kann einen ruinieren. Beispiele dafür kursieren viele. Trader, die von zu Hause aus arbeiten, prüfen mit Minikäufen und Gegenkäufen von verschlafenen Titeln die Exekutionsgeschwindigkeit ihres Systems. Wie real ist meine Realtime?

      Die Daytrader haben sich Zugang zu einer speziellen Software auf einem speziellen Profinetz - Nasdaq Level II - verschafft. Das garantiert ihnen eine Exekution binnen zweier Sekunden. Und Level III ist schon im Anmarsch: Real-Realtime. Geht es wirklich immer schneller? Einerseits: ja. Andrerseits zerlegt Roy die Zeit in immer kleinere Einheiten, gleichsam mit einem elektronischen Zeitmikroskop, um möglichst genau zu verstehen, zu welchem Bruchteil einer Sekunde das Ein- und das Aussteigen am profitabelsten ist.

      ie Verlockung ist gross. Viele möchten mit ein paar Stunden Videogame pro Tag Millionär werden. Deshalb schiessen Firmen aus dem Boden, die Daytrader-Stationen, Schulung und Software anbieten: Wer nachher mit Nichtstun Millionen macht oder zu machen hofft, der lässt sich den Einstieg gerne ein paar Tausender kosten. Spezielle Computerprogramme suchen die Börse nach günstigen Gelegenheiten ab, sie lesen die Charts und analysieren die Wahrscheinlichkeit von Ausschlägen.

      So verspricht das Geschäft mit dem Traum vom Daytrading vielleicht letztlich mehr Profit als das Daytrading selbst: Viele Leute möchten glauben, sie könnten mit der Leistung und dem Tempo ihrer Technik den Mangel an Kompetenz wettmachen. 5000 Dollar genügten für den Einstieg, locken manche Firmen die Dummen. Und stellen Leute vor, die in ihrem ersten Daytrader-Jahr aus 10 000 Dollar Startkapital mehr als drei Millionen gemacht haben sollen.

      Trader wie Roy dagegen arbeiten konzentriert, diszipliniert, geduldig und feilen ständig an ihrer Strategie.

      Daytrader hat es immer gegeben: die sogenannten Market-Makers, einst die Ringhändler, die nur eine oder einzelne Aktien handeln. Sie erhalten ihre Aufträge von den Brokern und vollziehen die Abschlüsse untereinander, heute meist elektronisch. Sie handeln im Namen der Kunden, also der Broker und Banken, machen aber - fast zwangsläufig: zumindest zum Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage - auch Geschäfte in die eigene Tasche. Wenn Roy eine Aktie beobachtet, studiert er ihr Verhalten auf seinem Bildschirm. Er schätzt ab, ob sie bluffen, ob sie den Kurs um ein paar Achtelpunkte hochtreiben, um besser verkaufen zu können, oder ob sie wirklich kaufen. Und dann mischt er sich ein, schlägt zu: Videopoker, in Realtime mit richtigem Geld. Er tut genau das gleiche wie die Market-Makers auch, nur ganz für die eigene Tasche. «Wir fischen den Haien die Beute aus dem Maul», sagt sein Kollege.

      Es gibt Daytrader, die ihrerseits die Manipulationen der Market-Maker kopieren. Sie ziehen ruhigere Börsen vor; jede eignet sich, an der man online traden kann. Sie suchen nicht die starke Schwankung, sondern imitieren das Spiel, mit dem ein Market-Maker eine weite Spanne von Bid und Ask, Geld und Brief, ausnutzt. Wer einerseits alles kauft, was zu einem gewissen Preis gerade angeboten wird, und einige dieser Aktien alsbald zu einigen Achteln höher zum Kauf anbietet, treibt den Kurs - durch ultrakurzzeitige Marktdominanz - um einige Achtel hoch. Ist er oben, verkauft man wieder, was man eben gekauft hat. Und das Spiel geht weiter, diesmal runter.

      ie Elektronik macht es nicht nur möglich, von überall her und zu jeder Zeit in Echtzeit zu handeln; sie öffnet den Markt auch: Die Daytrader schnappen ihre Gewinne den Institutionen weg, jenen, die so tun, als gehöre der Markt ihnen. In diesem Sinne ist das Internet subversiv und demokratisch: Die College-Kids holen sich einen Teil dessen, was die Banken und Broker den Privatanlegern abknöpfen. «Wir sind wie Mücken für sie, lästig; wir saugen ihnen etwas Blut ab, aber wir tun ihnen nicht weh», sagt Roy. Subversiv ist die Elektronik ohnehin: Die «New York Times» macht sich Sorgen um das Monopol der Wall Street. Mit ECN und Instinet bieten private Computersysteme sich als Marktplatz für den Aktienhandel nach Börsenschluss an, das After-Hour-Trading. Das zwingt die Nasdaq, die Börse mit den meisten Technologietiteln, künftig ihre Handelszeiten zu verlängern.

      Gemäss einer Untersuchung der US-Börsenaufsicht gab es im vergangenen Sommer in den USA etwa 5000 Daytraders wie Roy, die im Schnitt 35 Geschäfte pro Tag tätigten - dazu etwa 300 000, die mit ihrer Maus täglich mehr als drei Deals online klicken. Von ihnen machen nur 11 Prozent konsistent Gewinne.

      Die Branche hat einen miserablen Ruf. Das Gesetz erlaubt Daytrading-Firmen, ihren Kunden, die auf eigene Rechnung arbeiten, Kredite - sogenannte Margins - bis zum Zweifachen ihres Einsatzes zu gewähren. Im Internet bieten gewisse Firmen eine zehnfache Margin an. Wenn damit einer seine 10 000 Dollar Einstiegskapital verspielt, und das ist schnell passiert, vor allem am Anfang, dann steht er mit 100 000 in der Kreide.

      Intellektuell sei er völlig unterfordert, sagt Roy. Spass macht ihm der Wettbewerb, die andern zu schlagen. Er animiert seine Freunde, vor allem seine Freundinnen, ebenfalls einzusteigen. Wenn einer eine Frau bringe, dann steige sein Ansehen in der Firma. Aber sobald er genügend Geld beisammen habe, wechsle er auf long-term und mache was Ernsthafteres. Wieviel ist genug? Ein paar Millionen.

      Roy ist Inder, er kam als Elfjähriger nach Amerika. Nun versorgt er seine Familie; die Mutter kocht für ihn, sie spricht bis heute kein Englisch. Die meisten Daytrader stammen wie er aus bescheidenen Verhältnissen, viele von ihnen sind Einwandererkinder. Der Star in Roys Bude ist ein Russe. Das Traden verspricht diesen jungen Immigranten einen schnellen Aufstieg. Kids reicher Amerikaner findet man unter den Daytradern kaum.

      Nach dem Essen in Chinatown - wir teilen die spottbillige Rechnung - möchte Roy ins Kino: «In Midtown gibt es ein Ein-Dollar-Kino, gehen wir dorthin?» Und dann fährt er mit der Subway nach Hause. Ein Auto hat er nicht. Nur für Computer greift er tief in die Tasche.

      Viele Daytrader scheffeln Geld wie die Grossen, aber sie geben es aus wie Studenten: kniepig und sparsam. Sie passen so gar nicht ins Finanzestablishment, das sie mit ihren schnellen Mausklicks aufmischen, diese Rotznasen, Millionäre.


      Christoph Neidhart ist freier Journalist und zurzeit Visiting Scholar am Davis Center for Russian Studies der Harvard University, wo er an einem Projekt mit dem Titel «Semiotics of Transition» arbeitet

      http://http://www-x.nzz.ch/folio/archiv/1999/11/articles/nei…
      Avatar
      schrieb am 03.10.03 20:36:10
      Beitrag Nr. 113 ()
      Freimaurer :eek: :eek:

      Das Erlebnis

      Von außen scheint es geheimnisvoll: die Rituale, die Regeln, der Handschlag.
      Von innen ist es sehr solide: der Meinungsaustausch, die Gemeinschaft, die Arbeit.
      Doch im Kern ist es unbegreiflich: das Leben der Freimaurer.

      Text: Christian Litz

      ----- Florian Hammes-Scheidt ist Freimaurer. Im profanen Leben, so nennt er es, besitzt und leitet der 65-Jährige eine Zeitarbeitsfirma mit sechs Filialen. Aber wichtiger ist ihm, dass er seit knapp 25 Jahren Bruder der Johannisloge zur Hanseatentreue ist, weitere Erkenntnisstufen im Orden erreicht hat und so Bruder der Andreasloge Fidelis sowie des Kapitels Inviolabilis wurde. 40 ist so das Alter, in dem viele zu den Logen kommen, sagt er. „Da hast du eine Familie gegründet, deinen Beruf gefunden, das Haus angeschafft. Man sucht was Neues.“
      Der Mann hat eine hanseatische Ausstrahlung. Kleidung, Gestik, Wortwahl. Norddeutsch, bodenständig, zurückhaltend, fast kühl und dabei doch herzlich. Man kann ihn sich gerade noch im schwarzen Frack mit weißem Hemd, weißer Fliege und weißen Handschuhen vorstellen, auf dem Kopf den schwarzen Zylinder. Aber dazu gedämpftes Licht, ein paar große flackernde Kerzen? Sie bilden die Bruderkette, einen Kreis erwachsener Männer, die Hände ihrer Nachbarn haltend, Seltsames sprechend, ein Totenschädel auf dem Tisch, um an die Endlichkeit des Lebens zu gemahnen. Das passt nicht zu Hammes-Scheidt. Er wirkt wie ein sachlicher Kaufmann. Am Ende des Gesprächs wird er sagen, die Loge habe sein Leben geprägt und es ihm – ohne dass er klagen wolle – im Geschäft schwierig gemacht. „Früher war ich beim Heuern und Feuern dabei. Es ging nicht anders in meinem Job, dachte ich. Inzwischen sehe ich das ganz anders. Obwohl es für mich als Unternehmer sehr teuer ist, Freimaurerprinzipien anzuwenden.“ Doch er muss das. Er entlässt weniger Leute, gesteht den Mitarbeitern Fehler zu, geht mehr auf sie ein. Nicht im landläufigen Sinne geschäftstüchtig, aber eben freimaurerisch.
      Hammes-Scheidt geht die breite Treppe im großen, imposanten alten Logenhaus nahe der Hamburger Universität hoch und deutet auf die Wappen der Logen auf der Scheibe mit rotem, blauem und grünem Glas. Die Sonne erleuchtet sie wie in einer Sakristei. Sie gehören zum Sprengel seiner Provinzialloge: Zum Großen Christoph, Eintracht an der Elbe, Phönix zur Wahrheit. Hammes-Scheidt erklärt etwas zur Organisation, es ist kompliziert, macht aber klar, dass das nicht das Entscheidende ist. Dabei wirkt er sachlich. Doch mehrmals taucht er aus dieser Sachlichkeit auf, wenn er über die Atmosphäre, die Bedeutung der Rituale, ihre Wiederholung spricht. Immer dann spürt man das Feuer der Begeisterung. Oben auf der Treppe angekommen, sagt er: „Man kann das nicht erklären, das muss man erlebt haben.“ Er meint das Geheime, das kein Profaner erleben darf. „Na ja“, sagt er, „nichts ist wirklich noch geheim. In der Universitätsbibliothek stehen viele Bücher, in denen alles beschrieben ist.“
      Freimaurertum ist kompliziert, das Regelwerk, die Rituale kaum nachzuvollziehen. Fast nichts ist mehr geheim, alles irgendwo nachlesbar. Das Internationale Freimaurer Lexikon, das als Klassiker gilt, umfasst 950 Seiten, klein bedruckt und voller Fachausdrücke. Seltsame Worte, schräge Formulierungen, Widersprüchliches, Feinheiten, Insidertum. Das kann lächerlich wirken. Genau wie der Freimaurer-Standardsatz, ohne den keiner, auch Hammes-Scheidt, nicht auszukommen scheint: „Das kann man nicht erklären, das muss man erleben.“ Hat man das fünfmal gehört, besteht die Gefahr, dass dieses Totschlagargument zu einem Witz wird. Die Freimaurer aber brauchen diesen Satz und ihre Rituale, weil man das, was sie sonst bieten, heute auch woanders finden kann. Der Satz sorgt für den Verdacht: Die Freimaurerei bietet eine warme Kuschelecke für Männer, die fest im Leben stehen und etwas wie Freiraum brauchen, Freundschaft, Geheimnisse, was Eigenes. Wir hier drin, ihr da draußen.
      Früher war das wohl anders, da waren die Logen nicht nur Geheimnis, Ritual, Mystik, sondern auch Orte des Freigeistes und des Austausches von Gedanken, die anderswo verboten waren. Ein Reservat für Intellektuelle, Avantgarde, fast schon revolutionär, auf jeden Fall modern. Damals standen sie für Fortschritt, heute wirken Zusammenschlüsse, die Frauen ausschließen, altbacken. Es gibt viele Wege, auf denen man ein besseres Ich suchen kann. Den höchsten Erkennungswert der Freimaurerei liefern nun die kleinen Geheimnisse, das Verspielte.

      Eine kurze Geschichte der Freimaurerei: vom Club der Freidenker zu verfolgten Weltverschwörern

      Die Freimaurer-Historie ist erforscht und zerlegt: Im Mittelalter gab es die Kirchenbaumeister, Handwerker, die über die Landesgrenzen von Kirchbaustelle zu Kirchbaustelle zogen und dies mit einem kaiserlichen Freibrief auch durften. Diese Handwerker, die unabhängiger waren als andere, hatten Rituale und Erkennungszeichen – der elitäre Kreis wollte unter sich bleiben. Später kamen andere dazu, solche, die keine Kirchen bauten, da waren die Logen schon eher Männerbünde. Im 18. Jahrhundert entstanden in England Logen, die sich auf die freien Maurer beriefen und deren Symbolik benutzten, Winkelmaß und Zirkel. Die Großloge von London und Westminster entstand 1717 und gilt als Ausgangspunkt der spekulativen Freimaurerei, also derjenigen Freimaurer, die nicht mehr wirklich Stein auf Stein setzten.
      Von da an verbreitete sich die Clubidee extrem schnell. In jeder Kolonie gründeten britische Militärs und Verwalter ihre Bruderschaften, aber auch überall in Europa entstand eine Loge nach der anderen. Die Mitglieder waren Bürger und Adelige, jeder Mann konnte dazugehören. Standesunterschiede spielten kaum eine Rolle, die Freimaurer waren so etwas wie eine eigene Gesellschaft, allerdings mit einem Schwerpunkt im Bürgertum. Was in der Loge passierte, war geheim, und alle waren gleich. Titel und Geld spielten keine Rolle. Das war eine perfekte Institution, um über Politik zu sprechen. Die Logen machten Meinungsaustausch möglich, sie standen für Fortschritt, waren Protest gegen die Zustände in Staat, Gesellschaft und Kirche. Freimaurer waren Freidenker, eine Elite. Allerdings neigten die Logenbrüder nicht zu politischen Aktionen. Sie tendierten eher zu dem, was später als sittlicher Pathos in den Büchern auftaucht, zur Arbeit an sich selbst, ohne den Willen zur Missionierung.
      Die Liste der Menschen, die Mitglieder in Logen waren, ist beeindruckend, die folgende Auswahl völlig beliebig: Voltaire, Garibaldi, Mozart, Washington, Franklin, Stresemann, fast alle preußischen Könige seit Friedrich dem Großen. Die Französische Revolution war stark beeinflusst vom Freimaurertum. Zwei Drittel der amerikanischen Gründerväter waren Freimaurer. Der erste US-Präsident Georg Washington legte mit seiner Loge den Grundstein für das Capitol. Die Logen in Frankreich veränderten die Riten und entfernten sich von der Kirche, obwohl sie die Bibel als Symbol nutzten und ursprünglich auf einem christlichen Fundament basierten.
      In Deutschland gab es verschiedene Richtungen, die sich an Frankreich, England oder Schweden orientierten. In Preußen waren fast immer die Könige oder wenigstens die Thronfolger Mitglieder. Die Logen waren eher national, was zumindest bis zur Reichsgründung progressiv war. Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Logen in der reaktionären Ecke angekommen, auch wenn sie immer noch die persönliche Freiheit, die freie Rede und andere liberale Grundsätze betonten. Aber der Zeitgeist war
      gegen sie. Generalquartiermeister Ludendorff, mit Hindenburg Oberbefehlshaber des sieglosen deutschen Heeres, schob der Weltverschwörung der Freimaurer die Schuld an der deutschen Niederlage zu. In der Weimarer Republik zog er mit hysterischen Schriften gegen die Freimaurer zu Felde. Ein bezeichnender Satz: „Das Geheimnis der Freimaurerei ist überall der Jude.“ Viele Freimaurer sagen, Ludendorff habe Freimaurer werden wollen, wurde aber abgelehnt und war beleidigt.
      Hitler nahm den Freimaurerhass seines Protegés Ludendorff gern auf. Im Dritten Reich wurden Logen zwangsaufgelöst und das Freimaurertum völlig ausgelöscht. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Logen in Deutschland noch immer ein Imageproblem. Sie kamen, trotz ihrer Integrität, nie mehr richtig hoch. Bis heute wird über Nachwuchsmangel geklagt. In Deutschland gibt es, je nach Quelle, zwischen 8000 und 15000 Freimaurer. Immer wieder heißt es, man müsse sich öffnen, damit Junge kommen. Oder Frauen integrieren.
      Alle Freimaurer sagen, wir brauchen Nachwuchs, aber jeder einzelne betont auch, gerade seine Loge eigentlich nicht. Der Stolz auf die eigene Gemeinschaft scheint das nicht zuzulassen. Hammes-Scheidt: „Als ich aufgenommen wurde, war der Altersdurchschnitt dieser Loge 56, heute ist er 54. Wir haben uns also verjüngt.“ Seiner Loge gehe es gut, darauf ist er stolz. Sonst aber ist er sehr sachlich bei seiner Art von Öffentlichkeitsarbeit. „Helmut Schmidt hat 2001 als Redner bei der Feier zum 200-jährigen Jubiläum der vereinigten Fünf gesagt: Ihr Freimaurer tut so viel Gutes, ihr müsst auch darüber reden. Das sehen wir anders.“ Bescheidenheit gehört dazu. Alle Logen und Großlogen sind karitativ, früher haben sie vor allem Krankenhäuser finanziert und betrieben, heute fördern sie alles mögliche Gute. Hammes-Scheidts Großloge etwa unterhält mit einer Stiftung ein Heim für schwerstbehinderte junge Menschen, zum Beispiel Multiple-Sklerose-Kranke. Und sie hat Geld für die Opfer der Oderflut gespendet. Alle Logen haben ihre Projekte, und alle halten den Mund. Fotos von Scheckübergaben mit Freimaurern gibt es nicht.

      Freimaurer arbeiten an sich selbst. Sie verbessern sich und dadurch am Ende vielleicht die Welt

      Das Freimaurerwort schlechthin ist Arbeiten. Freimaurer arbeiten an sich selbst, um bessere Menschen zu werden, nennen die Treffen mit den Ritualen Arbeit. Und diese Arbeit ist ihr Geheimnis. In Büchern von Freimaurern über Freimaurer gibt es immer Passagen wie diese: „Der Ausdruck Arbeit für Logenversammlungen der Freimaurer hat sicherlich manchen profanen Leser verwundert. Die Bedeutung eines ernst genommenen Rituals kann einem modernen Alltagsmenschen kaum nahe gebracht werden. Es
      erfordert nicht nur die Kenntnisse der Spielregeln, sondern auch innerliches Engagement im Sinne des alchemistischen Leitsatzes ars totum requiret hominem“ (Hans Biedermann, Das verlorene Meisterwort, Bausteine zu einer Kultur- und Geistesgeschichte des Freimaurertums). Der Leitsatz bedeutet: Die Kunst beansprucht den ganzen Menschen.
      Ein Freimaurer will nicht die Welt verbessern, sondern sich selbst und damit am Ende vielleicht die Welt. Es geht nicht ums Missionieren, sondern um das Leben von Freimaurer-Ideen. Dinge selbst machen, nicht auf andere warten. Toleranz gehört dazu. Hilfsbereitschaft. Bescheidenheit. Humanitas und Caritas. In den Logen wird nicht über Tagespolitik gesprochen, auch nicht über Religion. Riten spielen eine große Rolle, sie vermitteln das Esoterische, Meditative. Die Wiederholung ist wichtig. Und Symbole sind von Bedeutung. Der Totenschädel steht für die Vergänglichkeit. Der Zirkel ist das Sinnbild der Mäßigung, das rechteckige Winkelmaß ist ein Symbol für das Exakte. Die Freimaurer fangen als unbehauene Steine an, werden durch Arbeit an sich selbst glatter und können dann ihre Rolle in der Mauer übernehmen. Wobei nicht alle gleich sind, es gibt verschieden große Steine mit verschiedener Bedeutung in einer Mauer. Man hilft sich gegenseitig in den Logen. Aber, und da legen alle großen Wert darauf: Geschäftsmaurerei ist tabu. Es dürfen keine Aufträge hin- und hergeschoben werden. Das Business hat draußen zu bleiben, das ist anders als bei den Lions oder den Rotariern.
      Es gibt inzwischen auch Frauenlogen, aber die sind nicht wirklich echt. Freimaurertum ist Männersache. Hammes-Scheidt erklärt das damit, dass Frauen bei den Ritualen ablenken würden, beim Streben nach Erkenntnis, bei der Arbeit an sich selbst. Und darum geht es vor allem, um diese Erkenntnis, nicht um Profanes. Aber wer ein Problem hat, kann darüber sprechen, ohne dass etwas nach außen dringt. „Das Schöne ist, dass die Brüder untereinander ein sehr vertrauensvolles und offenes Verhältnis haben. Oft reicht es ja schon, über seine Probleme nur zu reden.“
      Hammes-Scheidt trägt einen Kapitelring an der rechten Hand. Das bedeutet, er ist nach der Johannis- und Andreasloge noch eine Stufe höher angekommen. Die Freimaurer sind zwar immer Lehrlinge, arbeiten sich aber gleichzeitig erkenntnistechnisch nach oben. Dabei sind die so genannten Erkenntnisgrade bei den verschiedenen Logenarten unterschiedlich. Manche haben 33 Stufen, andere drei. Hammes-Scheidt mit dem Kapitelring ist kein rauer Stein mehr, so ein Freimaurerterminus für jemanden, der noch an sich arbeiten muss. Doch da widerspricht er sofort, und zwar, entgegen seiner sonstigen Art, mit Nachdruck: Ein Freimaurer sei immer ein Lehrling, er müsse immer an sich arbeiten. Freimaurer scheinen sich durch eine besondere Bescheidenheit auszuzeichnen. „Wir wollen nicht missionieren. Wir arbeiten an uns selbst, nicht an den anderen. Das ist ganz schön schwierig.“ Hammes-Scheidt versucht die Bedeutung der Rituale zu erklären. Sie schaffen Atmosphäre und sorgen für Abstand vom Profanen. „Wenn Sie darüber lesen würden oder es als Außenstehender sehen, könnten Sie es vielleicht als Kasperletheater wahrnehmen. Aber wenn Sie es intensiv erleben, erkennen Sie, dass das kein Mummenschanz ist.“
      Sven Jösting, Bruder der Loge Roland, beschreibt die Wirkung der Rituale so: „Es hat etwas sehr Meditatives. Die Kerzen. Ich komme von draußen, aus der Hektik, und dann plötzlich Ruhe.“ Seine Loge ist eine Montagsloge. „Der Montag ist ein super Entree für meine Woche.“ Weltflucht? Nein, sagt er. Es werde zwar nicht über Religion und Parteipolitik gesprochen, aber durchaus über Dinge, die für die Gesellschaft wichtig sind. Auch er legt Wert darauf: „Wir bleiben immer Lehrlinge.“
      Bernd Brauer ist der Meister vom Stuhl der Loge Roland in Hamburg, zu der Jösting gehört. Im profanen Leben leitet er die überbetriebliche Ausbildung des Bankenverbandes Hamburg. Der Begriff Meister vom Stuhl signalisiert, dass die Loge humanitär orientiert ist, weniger am Christentum. „Wir haben Muslime, Juden, Religionslose in unserer Loge. Die Religion spielt bei uns eine andere Rolle.“ Brauer ist 56 Jahre alt, hat graue Haare und trotz einer flotten Gestik eine ruhige, sachliche Ausstrahlung, in die er ab und zu einen ironischen Einschlag einbringt. Ganz ernst ist er jedoch, als er „eine Sternstunde unserer Loge“ schildert: Als der Irak-Krieg drohte, wollten die Logenbrüder darüber sprechen. Bei einigen sei klar gewesen, dass sie vehement gegen den Krieg sind, einige dagegen verstanden die Amerikaner. „Ich habe vier Brüder um kurze Statements gebeten, bei zwei von denen ahnte ich, dass sie eher positiv sind, bei den anderen, dass sie den Amerikanern gern in den Arm gefallen wären. Es ging hart her, aber es ist keine Bitterkeit geblieben.“ Einer der Brüder stammt aus Syrien und habe wichtige Informationen über den Islam geliefert. Und wie immer habe gegolten: Anerkennung kommt vor Bestätigung. Die Umgangsformen sind kultiviert, „sonst wird man ja zur Last“. Man lernt bei den Freimaurern, mit kontroversen Partnern umzugehen. „Man trennt sich davon, missionieren zu wollen.“
      Brauer betont die extreme Toleranz des Freimaurertums. Es gelte das Prinzip, erst mal an sich selbst zu arbeiten und die anderen nicht zu belästigen. Beide Logen, Roland und Hanseatentreu, gehören zur Vereinigten Großloge von Deutschland, der übergeordneten Einrichtung aller deutschen Großlogen. Nicht zu verwechseln mit der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland, in der die Hanseatentreue organisiert ist.
      An der linken Hand trägt Hammes-Scheidt noch einen Ring, allerdings zeigt der darauf abgebildete Zirkel und das Winkelmaß eine Stellung, die nicht dem der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland entspricht. Hammes-Scheidt erklärt: Den Ring hat ihm seine Frau geschenkt, die ihn in einem Antiquaritat gefunden hat. Es dürfte wohl ein englischer Ring sein, die Winkelstellung zeigt eindeutig, dass es ein Ring einer A.F.u.A.M-Loge ist. Das steht für Alte Freie und Angenommene Maurer. Die Loge Roland, deren Meister vom Stuhl Bernd Brauer ist, ist auch eine solche Loge. Beide Logenbrüder sind zudem bei der Vereinigten Großloge von Deutschland. Und es gibt weitere Überorganisationen. Die unterscheiden sich in Details, in kleinen Veränderungen am Ritual oder Ähnlichem. Aber da ist eine Grundidee, die allen gemein ist: Der Weg zum Ziel kann unterschiedlich sein.
      Bei Bernd Brauer, Meister vom Stuhl der Loge Roland, im Büro. Er zählt auf, welche Berufe die Brüder haben: Beamter, Kaufmann, Rechtsanwalt, Arzt, Kapitän, Sozialarbeiter, Journalist, Psychologe, Grafiker, Dozent, Elektriker, Kfz-Meister. Auch ein Student ist dabei. Die Liste ähnelt stark der, die Hammes-Scheidt für seine Hanseatentreue aufgezählt hat. Die Altersspanne reicht von 22 bis 90, der Altersdurchschnitt liegt weit über 50. Brauer sagt noch einmal: Man muss es erleben, erklären geht nicht. Und: Man ist immer ein Lehrling, bis man in den ewigen Osten geht. Ein kurze Pause. Hat er einen Witz gemacht? Anscheinend nicht. Das ist eine Freimaurer-Umschreibung für den Tod.
      Brauer erzählt, wie er zum Freimaurer wurde: Ein Kollege hat ihn angesprochen, es klang interessant. Er war auf Veranstaltungen, bei denen Gäste willkommen waren, wurde von Brüdern geprüft und schließlich Lehrling. „Den Wert und die Schönheit des Rituals habe ich erst kennen gelernt, als ich teilgenommen habe.“ So ähnlich klang das auch bei Hammes-Scheidt. Jemand lud ihn zu einem Vortrag ein und erklärte, er sei Freimaurer. „Da fiel bei mir erst mal die Klappe. Ich dachte an den KuKluxKlan, nahm aber die Einladung an, weil ich keine Vorurteile pflegen wollte. Die gingen dort mit mir um, als gehörte ich schon seit Jahren dazu. Das kommt aus dieser inneren Ausstrahlung, das kann man nicht fassen.“ Nein, beschreiben könne man die nicht. Er geht die Treppe hinab, vorbei an den Logen-Wappen. „Das Freimaurerische Geheimnis ist nichts anderes als das Erlebnis. Das ist wirklich das Einzige.“ -----|

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      schrieb am 03.10.03 20:46:25
      Beitrag Nr. 114 ()
      „Wirtschaft ist keine Religion.“

      Ob Marxisten, Neo-Liberale oder Globalisierungsgegner – alle glauben an die Allmacht der Wirtschaft.
      Der französische Philosoph und Schriftsteller Pascal Bruckner nicht.


      Interview: Lina Schröder

      brand eins: Herr Bruckner, Sie fordern die Säkularisierung der Wirtschaft. Was verstehen Sie darunter?
      Bruckner: Ich möchte damit sagen, dass aus der Wirtschaft keine Ersatzreligion gemacht werden soll. Die Wirtschaft zu säkularisieren heißt, sie an ihren Platz zu verweisen. Sie ist als materielle Seite des Lebens wichtig, doch darf sie nicht zu unserem alles beherrschenden Leitbild werden. Sie darf nicht vorgeben, anstelle der Politiker Politik zu betreiben, anstelle der Geistlichen für die Religion oder anstelle der Künstler für die Kultur zuständig zu sein. Die Wirtschaft ist ein Bereich unter vielen.

      Dann ist Säkularisierung das Gegenteil von Ökonomismus?
      Genau. Man soll aus der Wirtschaft nicht die einzig zulässige Wissenschaft des Menschen machen, so wie einige Liberale oder bestimmte Marxisten es beabsichtigen. Manche Marxisten behaupten ja, die Wirtschaft sei die letzte Instanz jeder Entscheidung, egal, ob es sich um Glauben, Ideologien, Lebensweisen oder Traditionen handelt. So aber reduziert man die Vielfalt und die Komplexität menschlichen Lebens ausschließlich auf die Funktion innerhalb des Produktionsablaufs. Das ist wahrscheinlich die Gemeinsamkeit zwischen Marx und den liberalen Ökonomen.
      Doch seit dem 11. September 2001 halte ich die ökonomistische Weltsicht für tot. Während der zwölf Jahre, die zwischen dem Fall der Mauer und dem 11. September lagen, dachten die westlichen Eliten, der Markt sei das geeignete Mittel für eine Neuerschaffung der Menschheit, und durch ihn ließe sich Demokratie mit Wohlstand verbinden. Der 11. September stellt jedoch das Ende dieses etwas naiven Glaubens dar. Der Glaube, Handel und Wirtschaft würden die Leidenschaften beruhigen, ist eine alte Utopie der Aufklärung aus dem 18. Jahrhundert. Diese Vorstellung ist zu finden bei Montesquieu, Thomas Paine und auch bei Adam Smith; es ist die Vorstellung, der Handel wäre das Ende des Krieges.
      Ich glaube, der 11. September ist aus mehreren Gründen das Ende dieser Utopie. Zum einen war man sich plötzlich bewusst, dass die Wirtschaft nicht den Nutzen und die Wohltaten bringt, die sie vorgibt: Der Terrorismus ist in einem der reichsten Länder der Erde entstanden, in Saudi-Arabien. Er ist die Antwort der verwöhnten Kinder der Bürgerschicht des mittleren Orients, die in den USA, in England oder Frankreich ihre Schulbildung erhalten haben. Eine Art wilder Hass auf die westlichen Werte treibt sie an. Dies hat gezeigt, dass die Wirtschaft allein doch nicht ausreicht, um die Welt zu regieren, sondern dass ein politisches Leitbild notwendig ist. Insofern stellt der 11. September einen Wendepunkt dar. Der beste Beweis dafür ist die Tatsache, dass am unmittelbar darauf folgenden Tag die Regierung von George W. Bush für mehrere Industriezweige wie Versicherungen, Luftfahrt und Rüstung große Finanzhilfen zusagte, womit sie das liberale Credo verletzte und zu Gunsten einer neo-keynesianischen Politik aufgab.

      Sie halten die jetzige Politik der USA für neo-keynesianisch?
      Ja, ich hielt bereits Reagans Politik für ein neo-liberales Lippenbekenntnis, praktisch war sie neo-keynesianisch. Indem der amerikanische Staat die Forschung finanziert hat und das Pentagon der Rüstungsindustrie riesige Aufträge hat zukommen lassen, wurde ein enormes Haushaltsdefizit geschaffen. In gewissem Sinne ist dies neo-keynesianisch. Und die jetzige Regierung macht meiner Ansicht nach letztendlich dasselbe. Der amerikanische Staat interveniert auf massive Weise in die Wirtschaftsabläufe. Daher herrscht auch ein ziemlich heftiger Streit zwischen den Ultraliberalen, die die Steuern noch stärker senken wollen, und den Realisten, die für eine Begrenzung der Steuersenkung eintreten.

      Den individuellen Wunsch nach Unabhängigkeit mit der notwendigen Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu vereinbaren ist Ihrer Ansicht nach die Hauptaufgabe, die in den kommenden Jahren vor uns liegt.
      Es ist das Paradox des westlichen Individualismus, dass jeder vollkommene Unabhängigkeit fordert, dass zugleich jedoch die Konsumgesellschaft eine Art Massenbewegung darstellt. Wir verfügen alle über die gleichen Produkte, und die Ironie liegt darin, dass wir, je stärker unser Wunsch nach Individualität ist, doch den anderen immer mehr gleichen. Außerdem denken wir, die kapitalistische Wirtschaft könne alle Probleme lösen, nur weil sie die Entfaltung des Individuums ermöglicht. Natürlich ist der Materialismus eine Art und Weise, sich von den materiellen Sachzwängen des Lebens zu befreien. Die materielle Bereicherung scheint der erste Schritt hin zu einer individuellen Emanzipation zu sein. Doch jetzt hat sich das Spiel pervertiert: Reichtum und Wirtschaft sind oberstes Ziel geworden. Anders ausgedrückt, erleben wir eine Umkehr von Mittel und Zweck.

      Obwohl Sie die Funktion der Globalisierungsgegner für wichtig halten, kritisieren Sie das Fehlen alternativer Wertvorstellungen. Können Sie das näher erläutern?
      Meiner Ansicht nach ist das Konzept der Globalisierungsgegner vollkommen inhaltlos. Die Globalisierung gibt es seit vier Jahrhunderten, sie ist keine Erfindung unserer Zeit. Im Prinzip entspricht die Verwendung des Begriffs genau der Art, wie im 18. Jahrhundert der Begriff „Gottes Gnaden“ verwandt wurde: Er muss für alles herhalten. Sobald man ein Phänomen nicht erklären kann, ist die Globalisierung daran schuld. Sie wird dazu missbraucht, Dingen einen Sinn zu verleihen, die keinen haben. Interessanterweise sind sich die Globalisierungsgegner selbst nicht einig darüber, wie sie eigentlich genannt werden möchten: Anti-Globalisten oder Anders-Globalisten. Das heißt, sie wissen gar nicht genau, was sie im Grunde sind, und es zeigt, dass diese Art zu denken kein System hat.
      Auch bleibt die Bewegung Attac, genau wie diejenigen, die sie kritisiert, dem Glauben an die Allmacht der Wirtschaft verhaftet. So meint man bei Attac, ein guter Kapitalismus und eine gute Wirtschaft seien in der Lage, alle Probleme auf einen Schlag zu lösen: Es gäbe keinen Terrorismus mehr, kein Elend, keinen ungerechten Handel zwischen Nord und Süd, selbst die Krankheiten würden allesamt besiegt. Doch fehlt dieser Vision, genau wie den Neo-Liberalen, die den Staat und das Parlament für überflüssige Einrichtungen halten, das politische Konzept.

      Sie stellen die These auf, der Wunsch nach einem gemeinsamen Schicksal sei eine genauso törichte Illusion wie der Weltfriede. Dieser Wunsch lässt sich aber doch immerhin anstreben. Um es mit Dahrendorf beziehungsweise Popper zu sagen: Die Geschichte hat keinen Sinn, außer dem, den wir ihr geben können – etwa der größten Zahl Menschen die größten Lebenschancen zu eröffnen. Und auf keinen Fall diesem Ziel Hindernisse in den Weg zu legen, die das Streben danach von vornherein sinnlos machen.
      Natürlich brauchen wir diesen kategorischen Imperativ. Was ich nur sagen will, ist dies: Die Utopie des Internets und das Börsenfieber der Neunziger veranlasste die Menschen zu glauben, die ganze Welt ließe sich zivilisieren und alle Menschen könnten miteinander versöhnt werden. Doch obwohl das Internet zweifelsohne eine außergewöhnliche Technik ist, ist es ihm nicht gelungen, die Ungleichheiten zu beseitigen; es hat auch nicht die Hungersnöte abgeschafft oder die Demokratie verbreitet. Es ist nicht das neue Gehirn der Welt, so wie manche dachten. Es ist lediglich ein neues Kommunikationsmittel; an den großen Problemen wie Elend, Tyrannei oder Bildungsmangel ändert es nichts. Das heißt, wir leben noch immer mit der Illusion, eine einzige Erfindung würde es ermöglichen, alle Probleme, die jahrhundertelang unlösbar waren, auf einen Schlag zu beseitigen; und das ist leider nicht möglich.

      Leicht zugespitzt, machen Sie in Ihrem Buch „Das Elend des Wohlstands“ folgende Feststellung: Die Arbeiter haben die Utopie, nicht mehr arbeiten zu müssen, während sich die höheren Klassen in eine regelrechte Sklaverei der Arbeit begeben.
      Ja, dies halte ich für das größte Paradox unserer Zeit. Es gilt insbesondere für Europa, und dort vor allem für Frankreich. Der alte Gesellschaftsvertrag lautete: Den Kindern wird es besser gehen als ihren Eltern. Dieser Vertrag hat heute jedoch seine Gültigkeit verloren, denn der soziale Aufstieg ist blockiert. Im Gegensatz zu ihren Eltern oder Großeltern können heute selbst Leute mit Diplom nicht mehr davon ausgehen, einen Arbeitsplatz zu finden. In Frankreich ist es so, dass Leute, die viel arbeiten, nicht unbedingt viel mehr Geld verdienen als diejenigen, die wenig arbeiten. Das ist traurig, aber es erklärt, warum der Anreiz zu arbeiten so zurückgegangen ist.
      Seit Jahren leben wir in Frankreich und auch in Deutschland mit einer Arbeitslosenquote von fast zehn Prozent. Die Arbeitslosigkeit wird so zum Schicksal. Ein Schicksal, bei dem man von einer sehr geringen vom Staat bezogenen Mindestbeihilfe lebt. Dieser Zustand erzeugt bei den Menschen eine schlimme Haltung: Warum soll man überhaupt arbeiten, wenn man doch vom Staat beinahe das Gleiche bekommt wie ein Geringverdiener? Solange dieses Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht gelöst ist, werden die Menschen die Lust zu arbeiten wohl kaum wiederentdecken.

      Haben wir es nicht mit einem echten Arbeitsplatzmangel zu tun?
      Das schon. Dessen ungeachtet gibt es aber in Frankreich eine Reihe von Berufszweigen, in denen die Arbeitskräfte knapp sind. Das gilt vor allem für das Handwerk, für Bäcker oder Elektriker. Dort findet man keine Mitarbeiter mehr, weil die Menschen diese Arbeiten nicht mehr machen wollen. Wir haben also ein doppeltes Problem: Einerseits ist manche Arbeit den Menschen nicht mehr gut genug, andererseits fehlt ihnen auch der Anreiz, weil die Hoffnung auf sozialen Aufstieg nicht mehr besteht.

      Plädieren Sie folglich für ein Anheben der Mindestlöhne und eine Senkung der Sozialhilfe?
      Ich glaube, wir brauchen wahrscheinlich mehrere Maßnahmen parallel. Ich habe auch kein Patentrezept, sondern stelle nur die Symptome fest. Und in einer Gesellschaft, in der zugleich Individualismus und Geldkult propagiert werden, ist es ein Fehler zu glauben, man könne die Menschen zur Arbeit ermuntern, ohne sie angemessen zu bezahlen. Es ist ein gravierender Fehler, denn je materialistischer eine Gesellschaft ist, desto wichtiger ist es, den Menschen das Geld zu geben, das ihnen zusteht. Wir dürfen nicht länger Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzende, die es oft nicht verdienen, überbezahlen, sondern müssen den anderen mehr geben, denn auch sie brauchen einen materiellen Anreiz.

      Welche Rolle sollten die Eliten Ihrer Ansicht nach übernehmen?
      Die Frage, die sich heute in erster Linie stellt, ist die nach der Bedeutung von Reichtum. Was viele Reiche grundsätzlich zu vergessen scheinen, ist, dass es nicht nur darum geht, diesen Reichtum in sicherem Abstand von der Masse zu genießen. Es ist notwendig, eine andere Bedeutung des Wortes Reichtum wiederzuentdecken, nämlich, dass Reichtum verpflichtet. Es wäre richtig, daran zurückzudenken, was die frühen Kapitalisten, namentlich die Puritaner, sagten. Sie waren der Auffassung, dass derjenige, der Erfolg hat, anschließend verpflichtet ist, einen Teil dieses Erfolges in die Gesellschaft, die ihm diesen Erfolg ermöglicht hat, zurückfließen zu lassen. Also Wohlstand für diejenigen zu schaffen, die von der Teilhabe bislang ausgeschlossen waren.

      Sie sprechen jetzt von den Reichen. Wie sieht es denn mit den kulturellen und intellektuellen Eliten aus?
      Ich bin überzeugt, dass es grundsätzlich darum geht, den Begriff der Verantwortung wieder ins Bewusstsein zu rufen. Die Eliten haben eine fundamentale Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Leider neigen sie oft dazu, sich von der übrigen Welt abzuschotten, statt sich von der Gesellschaft, der sie entstammen, anregen zu lassen, um diese Anregung in Form von klaren Ideen zurückzugeben. Denn im Grunde sind Eliten nichts anderes als Übersetzer beziehungsweise Interpreten der Gesellschaft. Sobald sie sich auf sich selbst zurückziehen, sterben sie. Das ist ihr Ende. Eliten bleiben nur so lange in ihrer Rolle, wie ihnen eine historische Aufgabe zukommt. Sobald diese Aufgabe beendet ist, setzt das Volk sie ab.

      Zeichnet sich schon ab, welchen Charakter die Elite der neuen Generation haben wird?
      Nicht wirklich. Die jungen Leute erscheinen mir wie ein Nebenprodukt der Ideologie der 68er, fast wie deren Klon. Egal, ob in den USA oder in Europa – sämtliche neue Ideen, die vorgebracht werden, haben ihren Ursprung in den sechziger Jahren. Selbst die Neo-Konservativen der Regierung George W. Bush sind zumeist alte Trotzkisten. Aus einigen Mitgliedern der Linken oder der extrem Linken sind Neo-Konservative geworden. Dies ist ein scheinbar allgemein gültiges, etwas merkwürdiges und doch interessantes Phänomen: Eine Generation, die an einem historischen Ereignis teilgenommen hat, hat bis zu ihrem Tod das Recht auf die Macht. Erst danach nimmt eine andere ihren Platz ein.

      Wie sieht in Frankreich die Debatte zu diesem Thema aus?
      In Frankreich kommt dieses Thema seit 10 bis 15 Jahren immer wieder hoch, doch ist es so eine Sache mit dem Zeitgeist: Etwas Neues entsteht, aber wir können es noch nicht genau erkennen. Das Einzige, was wir von der intellektuellen Elite fordern können, ist, dass sie sich nicht von ihrer Umwelt abschotten darf. Die Herausforderung für einen Schriftsteller, einen Philosophen oder Intellektuellen besteht heute darin, sich der aktuellen Geschichte, das heißt dem jetzt stattfindenden Geschehen, zuzuwenden. Auf Grund des Spiels mit Konzepten und komplexen Gedanken läuft er stets Gefahr, die Welt zu vergessen.

      Was man Ihnen zugute halten kann, ist, dass Sie verständlich schreiben.
      Natürlich! Geistige Klarheit ist ein Vertrag, der zwischen Schriftsteller und Leser besteht. Egal, wie komplex eine Idee ist, es gibt immer eine Möglichkeit, sie verständlich darzustellen. Klarheit ist gewissermaßen eine Ehrlichkeitsgarantie, die der Schriftsteller dem Leser schuldet. Wer sich nicht klar ausdrückt, hat im Grunde auch nichts zu sagen.

      Alan Greenspan sagte einmal zu Journalisten: „Wenn Sie mich jetzt verstanden haben, habe ich mich nicht richtig ausgedrückt!“ Ist das zynisch?
      Überhaupt nicht, das ist Humor. Das ist echt witzig. Vielleicht ein bisschen zynisch. Aber es ist auch eine Art Eingeständnis, dass die Volkswirtschaft ihre Grenzen hat, ein Ausdruck von Bescheidenheit. Es bedeutet: „Auch ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, dass ich die Situation vollständig begreife.“ -----|


      Zusatzinformationen:

      Pascal Bruckner, geboren 1948 in Paris, ist einer der wichtigsten Philosophen und Schriftsteller Frankreichs. Die Verfilmung seines Romans „Bitter Moon“ durch Roman Polanski machte ihn international bekannt. In seinem neuesten Buch „Das Elend unseres Wohlstands“ macht er eine Kosten-Nutzen-Rechnung der Marktwirtschaft auf. Und plädiert für einen neuen, zivilen Kapitalismus. Das Buch erscheint im nächsten Frühjahr auf Deutsch im Aufbau Verlag.

      Weitere Veröffentlichungen:
      Das Schluchzen des weißen Mannes – Europa und die Dritte Welt; eine Polemik (1989). Im Aufbau Verlag: Die demokratische Melancholie (1991). Bitter Moon – Die Geschichte von Liebe und Hass (1993). Die neue Liebesunordnung (1980). Ich leide, also bin ich – Die Krankheit der Moderne (1997). Verdammt zum Glück – Der Fluch der Moderne (2001). Diebe der Schönheit (2000) _


      http://www.brandeins.de/magazin/schwerpunkt/artikel6.html
      Avatar
      schrieb am 03.10.03 20:50:25
      Beitrag Nr. 115 ()
      Und zum Abschluss noch was zum schmunzeln :look:
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      Inflation der Wunderkinder

      Sie können zwar nichts dafür, gehen einem aber trotzdem gehörig auf die Nerven:
      vermeintlich hoch begabte Gören und ihre übermotivierten Eltern.

      Text: Jens Bergmann

      ----- Sie heißen Maximilian, Benedikt, Dominik, Charlotte, Justine, Nanette oder Antonia, sind vier, fünf oder sechs Jahre alt und können erstaunliche Dinge. Zum Beispiel an einer Hand bis zwei zählen, unverständliche, aber irgendwie süße Geschichten erzählen, abstrakte Bilder malen oder Schachfiguren umwerfen. Sie sind vorlaut, ziemlich von sich eingenommen und altklug, kurz: Sie sind hoch begabt.
      Und sie sind überall. Nehmen wir mal meinen Bekanntenkreis. Vom Landwirt bis zum Programmierer, vom Beamten bis zum Selbstständigen ist alles vertreten, die Meinungen über Gott und die Welt gehen wild durcheinander. Nur in einem Punkt sind sich alle, falls mit Nachwuchs gesegnet, sehr einig: Unser Kind ist hyperintelligent.
      Vor meinen Augen wächst eine Generation Schlau heran. Statistisch betrachtet ist das allerdings recht unwahrscheinlich. Denn, so behaupten jedenfalls Fachleute, die Zahl der Superhirne mit einem Intelligenzquotienten von mehr als 130 (das ist die Definition für Hochbegabung) liegt nur bei zwei bis drei Prozent der Bevölkerung.
      Aber was sind schon Definitionen? Und wer glaubt Statistiken? Schließlich gibt es Indizien. Wenn die kleinen Racker unruhig zappeln oder stets mucksmäuschenstill sind, miserable oder passable Zeugnisse nach Hause bringen, kerngesund oder eher kränklich sind, kann nur das eine dahinter stecken: ein verkanntes Genie. Mamis und Papis, die noch zweifeln, finden in einschlägigen Checklisten untrügliche Hinweise:
      Braucht Ihr Kind wenig Schlaf? Ist es unordentlich und unorganisiert? Hat es oft neue und originelle Ideen? Hat es einen besonderen Humor?
      Der Trend geht hin zur Intelligenzbestie – und auch Fachleute sind davon nicht uneingeschränkt begeistert. Manuela Heuthaler, Geschäftsführerin der Frankfurter Karg-Stiftung, die sich der Förderung Hochbegabter verschrieben hat, sagt diplomatisch: „Einerseits ist es gut, dass das Thema enttabuisiert wurde. Andererseits hat die steigende Popularität dazu geführt, dass manche Eltern dazu neigen, bestimmte problematische Eigenschaften ihrer Kinder monokausal auf Hochbegabung zurückzuführen.“
      Von solchen ketzerischen Ansichten lassen sich leidenschaftliche Mütter und Väter selbstverständlich nicht beirren. Sie spüren ja, dass ihre Kinder etwas ganz Besonderes sind. Zuweilen schon vor der Geburt, was Namen wie Leonie-Anastasia-Chiara, Doreen-Juliette, Benedict-Elias oder Julian-Noah-Achill erklärt, die für den Physik-Nobelpreis, ein hohes politisches Amt beziehungsweise einen Bestseller prädestinieren. Während die Karrieren all der Ralfs, Dirks und Tanjas hinter dem Postschalter oder der Fleischtheke (bei Minimal) enden.
      Ist der Hochbegabte erst einmal identifiziert, legen seine Eltern eine rastlose Aktivität an den Tag. Weil es ganz entscheidend ist, die Wunderkinder rund um die Uhr anzuregen und zu beschäftigen – andernfalls könnte das Gift der Langeweile wertvolle graue Zellen abtöten. Deshalb werden die Kleinen von Mami, manchmal auch von Papi, von einem Kurs zum nächsten (Italienisch, Kisuaheli, Wurzelziehen und Astronomie für Vorschüler) gekarrt. Das Allerallerschlimmste wäre es nämlich, die künftige geistige Elite im zarten Kindesalter zu unterfordern oder übermäßig lange normal-intelligenten – aus der Sicht des Hochbegabten grenzdebilen – Altersgenossen auszusetzen. „Die anderen Kinder behindern mich in meiner kognitiven Entwicklung“, beschwerte sich denn auch eine Zweitklässlerin resolut bei dem Psychologie-Professor Detlef Rost von der Begabungsdiagnostischen Beratungsstelle an der Universität Marburg.
      So viel Hirn in einem so kleinen Menschen kann recht anstrengend sein. Und führt bedauerlicherweise, anders als die Eltern meinen, nicht vollautomatisch in den Vorstand von DaimlerChrysler oder der Deutschen Bank, wie wiederum Manuela Heuthaler zu bedenken gibt. Etliche Superschlaue bringen es lediglich zum Lebenskünstler, Vollblutneurotiker auf Lebenszeit, Hinterbänkler oder Klassenclown. Wogegen im Prinzip nichts einzuwenden wäre, wenn sie und ihre lieben Eltern uns auf dem Weg dorthin nicht so auf den Wecker gingen.
      Was kann man da tun?
      „Abwarten“, sagt eine Begabungs-Beraterin aus Hamburg, die auf keinen Fall mit Namen zitiert werden möchte. Die Überzeugung der Eltern, Wunderkinder zur Welt gebracht zu haben, lege sich nämlich nachhaltig, wenn die in die dunkle Etappe der Pubertät eintreten. „Es gibt so gut wie keine Eltern“, so die Erfahrung der Pädagogin, „die ihre Kinder in diesem Alter noch für hoch begabt halten.“ -----|

      http://www.brandeins.de/magazin/schwerpunkt/artikel13.html
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      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 03.10.03 21:12:25
      Beitrag Nr. 116 ()
      Das Interview mit Bruckner gehört, meiner Meinung nach wirklich zum Lesenswertestens des Lesenwertes-Thread ;)

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 05.10.03 13:55:28
      Beitrag Nr. 117 ()
      Der Schein vom schönen Leben




      Um sich neue Möbel, Mobiltelefone oder den Urlaub leisten zu können, sind immer mehr junge Leute bereit, Schulden aufzunehmen. Die Kreditgeber freuen sich - und machen agressiv Werbung.

      Von Thomas Öchsner


      Ratenkredite hatten früher ein Schmuddelimage. Den Kühlschrank, ein Auto oder eine Einbauküche auf Pump zu kaufen, galt als verpönt. Fachleute sprachen von dem „sozialpsychologischen Mangel“ bei Ratenzahlungen. Dieses Image hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt. In weiten Bevölkerungskreisen gilt es inzwischen als ganz normal, für einen besseren Lebensstandard Schulden aufzunehmen.




      Das Geschäft mit Konsumentenkrediten floriert. Die klassische Regel, nur vorhandenes Geld auszugeben, gerate zunehmend aus der Mode, stellte die Hamburger Wirtschaftsauskunftsdatei Bürgerl jüngst in einer Studie fest. Vor allem Konsumartikel und Autos sowie neuerdings auch immer mehr Urlaubsreisen werden scheibchenweise bezahlt.




      Dieser Trend zur Ratenzahlung lässt sich auch statistisch nachweisen. Seit Ende der achtziger Jahre hat sich das Volumen der Konsumentenkredite nach Angaben der Deutschen Bundesbank auf knapp 230 Milliarden Euro (Stand: Juni 2003) mehr als verdoppelt.




      Allein zwischen 1997 bis 2001 wuchs der Anteil der Haushalte, die Konsumentenkredite abstottern müssen, von 18,8 auf 22,4 Prozent, so das Ergebnis einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Im Durchschnitt muss demnach jeder verschuldete Westdeutsche 207 Euro im Monat abstottern – Baukredite nicht mitgerechnet. (SZ, 1.10.03)




      Kommentar: Die meisten Bürger haben noch gar nicht realisiert, welches Risiko Schulden darstellen. In der kommenden Deflationskrise werden dann Millionen von Menschen mittellos sein. Schulden lohnen sich im Prinzip nur dann, wenn sie innerhalb sehr kurzer Zeit abbezahlt werden können und sich der gekaufte Gegenstand, z.B. Haus, im Wert steigert, sowie man in wirtschaftlich sicheren zeiten lebt. Ist dies alles nicht der Fall, so wie heute, so sind Schulden geradezu eine Todefalle.


      übrigens dürfte es sich z.B. in amerika nicht nur um die "meisten bürger" handeln...

      :mad:
      Avatar
      schrieb am 05.10.03 14:33:04
      Beitrag Nr. 118 ()
      Kommentar: Die meisten Bürger haben noch gar nicht realisiert, welches Risiko Schulden darstellen. In der kommenden Deflationskrise werden dann Millionen von Menschen mittellos sein. Schulden lohnen sich im Prinzip nur dann, wenn sie innerhalb sehr kurzer Zeit abbezahlt werden können und sich der gekaufte Gegenstand, z.B. Haus, im Wert steigert, sowie man in wirtschaftlich sicheren zeiten lebt. Ist dies alles nicht der Fall, so wie heute, so sind Schulden geradezu eine Todefalle.


      übrigens dürfte es sich z.B. in amerika nicht nur um die " meisten bürger" handeln...


      Ich stimme deinem Kommentar absolut nicht zu. Ich bin aber auch nicht an einer Diskussion dazu interessiert.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 05.10.03 15:05:44
      Beitrag Nr. 119 ()
      Ein Klassiker. Spiegel-Interview mit Hans Jonas, 1992

      Gruss 0,007

      Dem bösen Ende näher





      SPIEGEL* Herr Jonas, vor 13 Jahren haben Sie Ihr Buch "Das Prinzip Verantwortung" veröffentlicht. In diesem Werk rufen Sie die Menschheit dazu auf, sich ihrer Verantwortung gegenüber der von Technik und Industrie bedrohten Natur bewußt zu werden. 13 Jahre später: Hat sich im Umgang des Menschen mit der Natur irgend etwas verbessert?

      HANS JONAS Im tatsächlichen Umgang nichts, doch immerhin etwas im Bewußtsein der Menschen: 1979, als mein Buch erschien, war der Ruf nach Verantwortung des Menschen für die Natur noch nicht so oft gehört und diskutiert wie heute.

      SPIEGEL Und was hat sich am realen Zustand geändert?

      JONAS Der reale Zustand hat sich in summa nur verschlechtern können. Bis jetzt ist nichts geschehen, um den Gang der Dinge zu verändern, und da dieser kumulativ katastrophenträchtig ist, so sind wir heute dem bösen Ende eben um ein Jahrzehnt näher als damals.

      SPIEGEL Zusammengefaßt lautet mithin die Diagnose: Die Einsichtsfähigkeit des Menschen nimmt zu. Die Fähigkeit, nach diesen Einsichten zu handeln, nimmt jedoch ab.

      JONAS Ja, sie nimmt ab. Die Menschen können sich nicht freimachen von den Sachzwängen, in die sie sich mit dem technologischen Anschlag auf die Natur begeben haben. Der Raubbau an der Natur ist übergegangen in die Lebensgewohnheiten der Menschen, besonders die der westlichen Industriegesellschaft.

      SPIEGEL Ozonloch und Klimakatastrophe drohen; Luft, Wasser und Boden sind in weiten Teilen der Erde schwer geschädigt oder schon zerstört. Wie ist es zu erklären, daß solche Signale zu keinen durchgreifenden Verhaltensänderungen führen?



      * Das Gespräch führten Matthias Matussek und Wolfgang Kaden. Erstveröffentlichung im SPIEGEL

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      JONAS Wer nicht selber unmittelbar bedroht ist, ringt sich nicht zu einer wirklichen Revision der Lebensführung durch. Bei einer akuten Bedrohung ist das anders, individuell und kollektiv. Wenn der Vulkanausbruch beginnt, dann flüchtet man. Auf unmittelbare Bedrohung reagiert der Mensch unmittelbar, mal rational, mal irrational. Die Fernperspektiven aber, besonders wenn sie erst künftige Generationen betreffen, bringen die Menschen offenbar nicht zu Verhaltensänderungen.


      SPIEGEL Tschernobyl war ein Schock. Aber er wirkte nur kurzfristig. Man könnte die ketzerische Frage stellen: Braucht die Menschheit mehr Tschernobyls?


      JONAS Die Frage ist nicht unberechtigt. Sie ist zynisch, und die Antwort ist auch zynisch. Vielleicht ist der Mensch ohne ernsthafte Warnschüsse und schon sehr schmerzhafte Reaktionen der gepeinigten Natur nicht zur Vernunft zu bringen. Es könnte sein, daß es schon ziemlich schlimm kommen muß, damit man aus dem Rausch immer wachsender Bedürfnisse und ihrer unbegrenzten Befriedigung, zu der man die Macht hat, wieder zurückkehrt zu einem Niveau, das mit dem Fortbestand der dafür nötigen Umwelt verträglich ist.


      Es muß wieder ein einigermaßen stabiles Gleichgewicht zustande kommen. Es könnte bei der jetzigen Menschenzahl, die noch im Steigen ist, dafür schon zu spät sein. In dem Fall müßte die bisherige Vermehrung sogar in eine Wiederverminderung der Weltbevölkerung umgekehrt werden.


      SPIEGEL Kürzlich wurde in einer deutschen Fernsehsendung an die Zuschauer die Frage gerichtet: Ist die Erde noch zu retten? 75 Prozent derer, die sich meldeten, verneinten die Frage. Es ist doch erstaunlich, daß trotz solch apokalyptischer Einschätzungen die Menschheit einfach so weitermacht wie bisher.


      JONAS Was heißt hier "retten"? Was "Untergang"? In Gefahr ist nicht "die Erde", sondern ihr gegenwärtiger Artenreichtum, in dem wir eine schreckliche Verarmung anrichten. Erdgeschichtlich, über die Jahrmillionen, wird auch das nur


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      eine Episode sein, aber menschengeschichtlich kann es das tragische Scheitern höherer Kultur überhaupt bedeuten, ihren Absturz in eine neue Primitivvisierung, die wir durch gedankenlose Verschwendungssucht auf der Höhe unserer Macht verschuldet hätten.


      SPIEGEL Was meinen Sie mit Primitivvisierung?


      JONAS Daß es zu Massenelend, Massensterben und Massenmorden kommt, daß es dabei zum Verlust aller der Schätze der Menschlichkeit kommt, die der Geist außer der Ausbeutung der Natur ja auch hervorgebracht hat. Der Geist hat ja eine ganz merkwürdige Doppelrolle gespielt. Einerseits hat er die Gefräßigkeit der Menschen ungeheuerlich erhöht. Ausgerechnet der Geist ist ja das Instrument dafür gewesen, daß wir so ungeheuer anspruchsvoll in den Bedürfnissen unserer Leiber geworden sind.


      Andererseits hat der Geist ein Reich der Werte geschaffen, das um seiner selbst willen gepflegt wird; wofür Menschen das Äußerste einsetzen in der Kunst, in der Erkenntnis, aber auch in der Pflege der Emotionen. Das ist etwas, was das übrige Weltall vielleicht überhaupt nicht kennt. Was wirklich bedroht ist, mehr als die biologische Weiterexistenz des Menschen, ist die Existenz des Menschen, ist die Existenz dieser großen Schöpfung, die Hand in Hand gegangen ist mit der wachsenden Zerstörung der Bedingungen, die das möglich gemacht haben. Darin liegt die Paradoxie der Rolle des Geistes in der Welt: daß um seinetwillen sich dieses ganze Abenteuer Menschheit lohnt; daß er aber gleichzeitig auch die Bedingungen für die Fortsetzung dieses Abenteuers zerstört.


      SPIEGEL Ist denn der Geist auch zu einer anderen Kulturleistung fähig, der des freiwilligen Verzichts?


      JONAS Es gibt dafür Beispiele in der Geschichte. In Verbindung mit einem transzendenten Glauben, der ja auch eine Tat des Geistes ist, ist es geschehen, daß Menschen sich das Äußerste zugemutet haben an Verzichten. Es gab eine richtige Leibesfeindschaft in manchen Heilslehren, sie hat zeitweilig den Zustand ganzer Gesellschaften mitbestimmt. Daß wir


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      solche Meister der Umwelt geworden sind, die sich jede Ausschweifung des Konsums leisten können, ist ja eine ziemlich neue Tatsache.


      Frühere Kulturen waren weitgehend statisch, da änderte sich über Jahrhunderte hinweg kaum etwas. Die Geburt der modernen Wissenschaft im 17. Jahrhundert ist ein Wendepunkt, dessen Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Damit wurde ein Dynamismus entfesselt, der die ungeheuerlichste Form der Beherrschung und Umwandlung der Natur vorantreibt. Da scheint kein Halten zu sein. Es kommen immer neue Dinge hinzu. Neues wird erfunden, neue Wege eröffnen sich, auf denen die Bedürfnisbefriedigung des Menschen auf immer höhere Ebenen getrieben wird ...


      SPIEGEL ... ohne erkennbare Zeichen, daß der Mensch dieser Entwicklung Einhalt gebieten wollte oder könnte?


      JONAS Der Planet ist überfüllt, wir haben uns zu breit gemacht, sind zu tief eingedrungen in die Ordnung der Dinge. Wir haben zuviel Gleichgewicht gestört, haben zu viele Arten schon jetzt zum Verlöschen verurteilt. Technik und Naturwissenschaften haben uns von Beherrschten zu Herrschern der Natur gemacht. Dieser Zustand ist es, der mich dazu brachte, eine philosophische Bilanz zu ziehen und zu fragen: Darf die moralische Natur des Menschen das zulassen? Sind wir jetzt nicht aufgerufen zu einer ganz neuen Art von Pflicht, zu etwas, das es früher eigentlich nicht gab - Verantwortung zu übernehmen für künftige Generationen und den Zustand der Natur auf der Erde?


      SPIEGEL Die Philosophie begibt sich auf ein neues, unbekanntes Terrain?


      JONAS Sie muß es tun. Jedes bisherige Moralbemühen der Philosophie bezog sich auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Das Verhältnis von Mensch zur Natur ist noch nie Gegenstand sittlicher Überlegung gewesen. Das ist es jetzt geworden, und das ist ein philosophisches Novum. Doch das besagt nicht das Mindeste darüber, ob wir der Sache über-


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      haupt gewachsen sind, ob wir diesem neuen moralischen Imperativ nachkommen wollen oder können. Da treten Fragen der Psychologie auf, der Anthropologie, auch der Realzwänge, von denen ich nicht weiß, ob die heutige Erkenntnis sie überhaupt übersehen kann.


      SPIEGEL Liegt das Dilemma Ihrer Verzichtsethik nicht darin, daß ein Verzicht des einzelnen letztendlich vergeblich ist? Wer der Umwelt zuliebe seinen materiellen Konsum einschränkt, sieht sich am Ende als Verlierer: Die Mehrzahl der Prasser läßt es sich weiter gutgehen, der Planet wird weiter geplündert.


      JONAS Ich weiß nicht, wieviel Nachahmung Vorbilder finden können. Wir dürfen nicht von vornherein ausschließen, daß sich auch Einstellungen ändern und daß aufgrund einer eindringlichen Erziehung sich gewisse Einstellungen der Pflicht und der Scham und der Ehre, des Wohlverhaltens, herausbilden. Daß es sich einfach nicht mehr schickt, so weiterzuleben, wie die Menschen des 20. Jahrhunderts drauflosgelebt haben.


      SPIEGEL Das halten Sie für möglich?


      JONAS Möglich ist das, aber nicht wahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist schon, daß die Angst das Ihrige tut. Daß nämlich das Verderben sich nahe genug ankündigt, in sehr alarmierenden und für jeden schon sichtbaren und fühlbaren Erscheinungen. Daß die Furcht erzwingt und erreicht, was die Vernunft nicht erreicht hat. Ich habe eine gewisse paradoxe Hoffnung auf die Erziehung durch Katastrophen. Solche Unglücke werden eventuell rechtzeitig noch eine heilsame Wirkung haben. Wir sollten bei der Überlegung dieser Fragen, bei denen wir über Vermutungen sowieso nicht hinauskommen, eines nie aus dem Auge lassen: daß der Mensch das überraschendste aller Wesen ist und daß man überhaupt nicht vorhersagen kann, wie sich in irgendeiner Zukunft, in irgendeiner Situation, in irgendeiner Generation die Gesellschaft benehmen wird.


      SPIEGEL Sie meinen, der Mensch, der es so weit gebracht


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      hat mit der Naturzerstörung, könnte sich plötzlich wieder ganz anders verhalten?


      JONAS Sehr unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Es könnte beispielsweise eine verrückte neue Religion um sich greifen. Es hat keinen Zweck, darüber Vermutungen anzustellen. Das einzige, was ich sage, ist, daß die Sicherheit der Unglücksvorhersage nicht absolut ist.


      So, wie man ganz bestimmt nicht darauf rechnen darf, daß der Mensch Vernunft annehmen wird, so darf man doch nicht ganz daran verzweifeln, daß der Genius der Menschheit auch in der Richtung erfinderisch wird, in der eine mögliche Rettung der Zukunft liegt. Dies offenzulassen ist wichtig, damit wir nicht davon ablassen, einer solchen Chance, wenn es sie gibt, mit allen Kräften der Warnung und Mahnung zu Hilfe zu kommen.


      SPIEGEL Was können die politischen Eliten in den Demokratien tun, um eine Umkehr einzuleiten? Sind Demokratien womöglich unfähig zu einer Politik, die auf Konsumverzicht und Naturerhaltung ausgerichtet ist? Hilft nur, was manche radikale Umweltfreunde fordern, eine Art aufgeklärte Öko-Diktatur, in der die Philosophen die Könige sind?


      JONAS Man kann in abstracto einen Entwurf machen für eine Diktatur der Menschheitsretter. Aber wie stellt man sich vor, daß eine wirklich selbstlose Elite an die Macht kommen wird, daß diese selbstlos bleiben wird und in ihrer Selbstlosigkeit auch anerkannt wird? Das übersteigt völlig meine Vorstellungen. Dies ist eine Art des Utopismus, der sich nicht umsetzen kann in Wirklichkeit. Was ich mir viel eher vorstellen kann, ist das Hereinbrechen sehr schlimmer Zustände, die zu kompromißbereiten Abmachungen zwischen den ökonomischen, politischen und sozialen Machtgruppen führen; daß man sich auf einen Modus einigt, der sowohl den Menschen einigermaßen akzeptabel ist als auch der Natur. Dazu gehören internationale Vereinbarungen, der globale Verzicht darauf, weiter in ungehemmter Konkurrenz sich die begrenzten Schätze der Erde streitig zu machen.


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      SPIEGEL Demokratien sind Regierungssysteme mit sehr kurzfristigen Perspektiven: Die Politiker müssen sich spätestens alle vier oder fünf Jahre zur Wahl stellen, länger reicht der Horizont nicht. Die Erhaltung der natürlichen Umwelt erfordert ungleich längerfristige Sichtweisen. Dieser Gegensatz vor allem läßt den Verdacht aufkommen, unsere vorhandenen demokratischen Regierungssysteme seien ungeeignet, die ökologischen Aufgaben zu lösen.


      JONAS Den Verdacht habe ich, daß die Demokratie, wie sie jetzt funktioniert - mit ihrer kurzfristigen Orientierung -, auf die Dauer nicht die geeignete Regierungsform ist. Wieso sollte sie es auch sein? Wo steht geschrieben, daß in der Demokratie jetzigen Stils die endgültige Lösung der Frage des guten Staates gefunden worden ist?


      SPIEGEL Ein amerikanischer Professor namens Francis Fukuyama hat einen Bestseller mit dem Titel "Das Ende der Geschichte" geschrieben. Darin erklärt er die westlichen Demokratien zur endgültigen Regierungsform.


      JONAS Wer sich anmaßt zu wissen, daß irgend etwas ein für allemal gilt, der ist von vornherein nicht ernst zu nehmen. Aber ernst zu nehmen ist die Frage, zu welchen Freiheitsverzichten man bereit ist; zu welchen Freiheitsverzichten der Philosoph ethisch verantwortungsvoll raten kann. Da ist doch zunächst nicht zu übersehen, daß Freiheit sowieso nur existieren kann, indem sie sich selber beschränkt. Eine unbegrenzte Freiheit des Individuums zerstört sich dadurch, daß sie mit den Freiheiten der vielen Individuen nicht vereinbar ist...


      SPIEGEL . . . Sie halten Freiheitsverzichte der Individuen für unvermeidlich?


      JONAS Für selbstverständlich. Vor allen Dingen bin ich nicht der Ansicht, daß man das ohne weiteres als Unglück ansehen muß. Im alten Rom gab es zum Beispiel Gesetze, die den privaten Aufwand einschränkten. Gewählte Zensoren hatten das Recht zu prüfen, ob übermäßiger Luxus getrieben wird. Da der im Widerspruch zur Staatsmoral stand, konnten


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      sie ein solches Verhalten unter Strafe stellen. Das war eine große Einmischung in die persönliche Freiheit, aber gerade im Namen einer sich selbst regierenden Bürgerschaft.


      SPIEGEL Moderne Demokratien verheißen dem einzelnen die Möglichkeit individueller Glückserfüllung; "pursuit of happiness" heißt es in der amerikanischen Verfassung. Sind Sie der Ansicht, daß solche Präambeln ersetzt werden müssen durch andere, die das Allgemeinwohl und die Erhaltung der Natur als oberste Ziele herausstellen?


      JONAS Sie werfen eine Frage auf, die man ganz kapital so formulieren kann: War vielleicht die Modernität ein Irrtum, der berichtigt werden muß? Ist der Weg richtig, den wir mit dieser Kombination von wissenschaftlich technischem Fortschritt und der Steigerung individueller Freiheit erreicht haben? War das moderne Zeitalter in gewissen Hinsichten ein Irrweg, der nicht weitergegangen werden darf? Der Philosoph ist durchaus frei, das zu überdenken und sogar zu gewissen Schlüssen zu kommen. Aber ob das irgendwo Gehör findet, ob es möglich ist, die Menschen zu einer solchen Umkehr zu bewegen, ist doch die Frage, an die wir dauernd stoßen.


      SPIEGEL Viele Menschen werden es nicht sein, die sich von solchen Philosophen gewinnen lassen.


      JONAS So wird es wohl sein. Welche Macht hat Einsicht? Einsicht dieser Art ist notwendigerweise bei relativ wenigen. Erstens ist sehr große Kundigkeit nötig und sehr viel Sachverständnis. Zweitens ist sehr viel Freiheit von persönlichem Interesse nötig und ein gewisser Grad der Selbstlosigkeit und der Hingebung an die sozusagen wahren Interessen des Menschen.


      SPIEGEL Die Frage ist ja: Welches sind die wahren Interessen, wer legt sie fest? Die Aussicht auf neue Ideologien zum Zweck der Menschheitserrettung stimmt nicht gerade fröhlich.


      JONAS Man schaudert vor der Phantasie, es könnten neue Heilslehren auftreten, die die Menschen in ihren Bann schla-


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      gen; mit denen man alles mögliche mit den Menschen anstellen kann, unter anderem auch Askese, unter Umständen aber auch das Schrecklichste. Ich habe keine Antwort auf die Frage, wie die sich jetzt abzeichnende und unzweifelhafte Gefährdung der menschlichen Zukunft im Verhältnis zur irdischen Umwelt abgewendet werden kann. Ich weiß nur eines: Man darf die Frage nicht zur Ruhe kommen lassen. Sie immer neu zu stellen; immer neu zu überdenken; immer neu auch daran mitzuarbeiten, daß sich ein schlechtes Gewissen in den ungeheuerlichen Hedonismus der modernen Genußkultur hineinfrißt - dies ist eine unabweisbare Pflicht. Man darf nicht fragen, ob das zu irgend etwas führt. Es könnte sein, daß es zu nichts führt, aber das wissen wir nicht.


      Der Mensch ist ein vorausschauendes Wesen. Der Mensch hat außer der Fähigkeit, der Natur alles auf die rücksichtsloseste Weise abzutrotzen, auch noch die Fähigkeit, seine Verantwortung dabei zu überdenken. Er muß und kann den Wert dessen empfinden, was er im Begriffe ist, zu zerstören.


      SPIEGEL Von Brecht stammt der Satz: "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral." Ist der Dialog, den wir hier über den notwendigen Verzicht führen, vielleicht ein Dialog der Gesättigten, der Begünstigten? Wir reden von der westlichen Industriewelt; die östlichen Länder kämpfen derzeit verzweifelt um einen höheren Lebensstandard; von der südlichen Halbkugel wollen wir gar nicht reden, da können die Menschen auf gar nichts verzichten.


      JONAS Auf die große Vermehrung könnten die Menschen in der Dritten Welt schon verzichten. Aber es stimmt vollkommen, das macht unseren ganzen Diskurs verdächtig, daß es ein Gespräch unter den Bevorzugten ist. Wenn da von Bescheidung und Verzicht die Rede ist, haben wir in den westlichen Industriestaaten einen großen Spielraum; selbst ein beträchtliches Herabsteigen läßt uns noch auf ziemlich hohem Niveau. Man darf den Notleidenden und Hungern-

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      den dieser Erde nicht mit irgendwelchen Ansinnen kommen, sie sollten verzichten. Ausgenommen die Fortpflanzung, da kann man Beschränkung verlangen.

      SPIEGEL Dann dürfte Sie ja die Haltung des Papstes zur Empfängnisverhütung nicht gerade freuen.

      JONAS Dies ist ein Verbrechen gegen die Weltverantwortung. Es ist mir unbegreiflich, wie das jemand tun kann. Aber es zeigt, mit welchen Kräften, Irrationalitäten, Gewohnheiten, Trägheiten und Unvernünftigkeiten jede Menschheitspolitik zu rechnen hat. Auch beim zentralen Thema der Menschheits­vermehrung komme ich wieder zu der niederschlagenden Feststellung, daß wir zwar die Gefahr sehen und uns die Heilung abstrakt denken können; daß wir uns aber vorläufig gar nicht vorstellen können, wie dies praktisch durchgesetzt werden soll.

      SPIEGEL Ähnliches gilt sicher auch für die so ungemein erfolgreiche freiheitliche Wirtschaftsordnung des Westens. Die Wettbewerbswirtschaften sind auf Wachstum angelegt, Stillstand ist ihnen wesensfremd. Und Wachstum des Bruttosozialprodukts bedeutet in der Regel: weitere Zerstörung und Ausbeutung der Natur.

      JONAS Darf ich mal fragen, warum eigentlich eine gewisse Stabilisierung der Wirtschaft nicht möglich ist? Warum muß das Sozialprodukt immer weiter wachsen?

      SPIEGEL Zum einen lebt ein gut Teil der Unternehmen von den sogenannten Nettoinvestitionen, von der Produktion neuer Maschinen und dem Bau neuer Fabriken. Zum anderen kann ein einzelnes Unternehmen nicht stillstehen, wenn es nicht verdrängt werden will. Wachse oder vergehe - so heißt die unternehmerische Losung.

      OD: Weil das Volk die Reime liebt, weiß auch jeder Bauer: "Wachse! oder Weiche!" oder mehr unpersönlich, als objektives Gesetz formuliert: "Wachsen oder Weichen!" - sozusagen, als neu erworbene Volksweisheit. (Aber es ist leider wirklich so - im Kapitalismus.)

      JONAS Nehmen wir mal an, wir hätten eine Weltregierung und die würde die Bevölkerungsvermehrung einstellen. Dann wäre nicht einzusehen, warum die Produktion dauernd erhöht werden muß.

      SPIEGEL Dies ließe sich nur in einer zentralgelenkten Wirtschaft bewerkstelligen, nicht in einer freiheitlichen.

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      JONAS Ich habe mich noch nie als Fachmann für Weltwirtschaftskunde ausgegeben ...

      SPIEGEL ... wir wollen hier auch keine ökonomische Debatte führen. Wir wollen nur darauf hinweisen, daß eine Abkehr von der Wachstumswirtschaft selbst dann riesige Probleme aufwürfe, wenn eine solche Wende mehrheitlich gewollt wäre. Weder die Demokratie noch die Marktwirtschaft bilden einen Rahmen für ihre Verantwortungsethik.

      JONAS Aber kann man nicht etwas auch darauf setzen, daß die Menschen eine Zukunft wollen? Darauf, daß sie den Sinn des Daseins nicht nur im Verzehr sehen? Ist ein metaphysisches Bedürfnis des Menschen nicht auch mit einzukalkulieren in die weitere Geschichte der Spezies Homo sapiens? Es hat Religionen von Anfang an gegeben, sie standen meistens im Dienste sehr irdischer Bedürfnisse, Ängste und Wünsche. Aber es hat auch ein Trachten darüber hinaus immer gegeben, daß es noch um etwas anderes geht als um die maximale Befriedigung der Bäuche und der körperlichen Triebe. Der Stolz; die Scham; der Ehrgeiz, anerkannt zu werden - all das geht doch hinaus über das einfache Genießenwollen.

      Jenseits davon erscheint ein Bedürfnis, das eigene menschliche Dasein zu erhöhen und zu rechtfertigen durch etwas, was eben nur der Mensch kann. Es gibt den Begriff des Verzeihens, den Begriff des Helfens, den Begriff vor allem aber auch der Erweiterung der menschlichen Erfahrung. Was in der Kunst hervortritt, in der Poesie, in der Musik, selbst im einfachen Tanz, geht schon über alles hinaus, was man unter den einfachen Begriff der leiblichen Befriedigung rechnen kann.

      SPIEGEL Welche Rolle spielen die geistigen Eliten in diesem Prozeß? Mit dem Marxismus ist ein gigantisches Erziehungsprojekt gescheitert, an dem viele Intellektuelle mitgewirkt haben. Die Geistesmenschen waren befeuert von der Idee, die Menschheit zu einem Besseren zu führen. Im Moment ist bei den Intellektuellen ein Phantomschmerz zu registrieren. Ein Großprojekt ist gescheitert, eine Leerstelle ist da.

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      Sehen Sie die Notwendigkeit eines neuen Marxismus, einer neuen, großangelegten Ideologie?

      JONAS Ich weiß es nicht. Im Falle des Marxismus traf der Zauber einer großen, utopischen Vision einer gerechteren Gesellschaft zusammen mit einem Glücksversprechen, daß nämlich die weitere Meisterung der Natur nun allen zugute kommen wird, und zwar gleichermaßen; und schließlich mit dem Dasein einer Klasse, die daran besonderes Interesse hat, weil sie bisher um ihren Anteil gebracht worden ist. Hier hat ein großer sittlicher Impuls, der etwas mit Gerechtigkeit zu tun hatte, gewirkt, der gleichzeitig mit einem materiellen Glücksversprechen zusammenfiel. Das Glücksversprechen hat die bessere materielle Nutzung der Welt zum eigentlichen Gegenstand gehabt. Das heißt, es ging eigentlich in die Richtung dessen, was sich jetzt als verderblich herausstellt.

      SPIEGEL Wir können heute in den ehemals kommunistischen Ländern besichtigen, wie dort die Natur vom Menschen verwüstet wurde. Dies ist ohne Beispiel.

      JONAS Ja, das ist eine der großen Enttäuschungen. Ich gestehe, daß ich mich da völlig getäuscht habe. Ich habe gedacht, die Kommunisten hätten die größte Möglichkeit, bescheiden mit der Natur umzugehen, weil sie die Befriedigung der Bedürfnisse ja regieren können. Sie konnten sagen, soundsoviel wird bewilligt und nicht mehr.

      SPIEGEL Marx hat gefordert: Die Philosophie muß die Welt nicht interpretieren, sie muß sie verändern. An Sie die Frage: Kann der Philosoph, kann die Philosophie die Welt verändern? Welche Rolle spielt der Philosoph heute? Soll er sich einmischen? Kann er Prozesse einleiten, steuern?

      JONAS Nein, wahrscheinlich nicht. Die Philosophie kann dazu beitragen, daß in der Erziehung ein Sinn dafür entwickelt wird, wie sich menschliches Handeln auf längere Sicht auf das sehr delikate Gewichtsverhältnis zwischen menschlichen Ansprüchen und Leistungsfähigkeit der Natur auswirkt. Sie kann durch ihre Reflexion und Artikulation daran mitwirken, daß Initiativen zur Rettung und Erhaltung der

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      Umwelt zustande kommen. Kommt es zu ihnen, dann haben die Wirtschaftler, Politiker und Einzelwissenschaftler sehr viel mehr zu sagen als der bestinformierte Philosoph. Aber dann bleibt immer noch eine Aufgabe der Philosophie: zu wachen über die Menschlichkeit der Maßnahmen, mit denen man das Unheil zu stoppen versucht. Die könnten nämlich so sein, daß dabei die Sache, die man retten will, zum Teufel geht ...

      SPIEGEL ... was könnte zum Teufel gehen?

      JONAS Die Sache wird schließlich eine Machtfrage. Wenn die Vorräte der Erde - Wasser, Rohstoffe, Luft - zur Neige gehen, dann könnten doch die Stärksten die Dezimierung der menschlichen Bedürfnisse und der Menschenziffern mit Gewalt erzwingen. Dieses grausame Grundgesetz der Evolution, daß die Stärksten überleben, darf nicht zum Gesetz des Überlebens der Menschheit werden. Dann geht wirklich unsere Kultur, die Menschlichkeit des Menschen, zum Teufel.

      SPIEGEL Wäre das die Aufgabe der Philosophie, eine neue Metaphysik des Menschen zu formulieren?

      JONAS Meine Auffassung ist, daß die Philosophie eine neue Seinslehre erarbeiten muß. In der sollte die Stellung des Menschen im Kosmos und sein Verhältnis zur Natur im Zentrum der Meditation stehen. Hier Friedensstifter zu sein, wäre der künftige Utopismus, anstelle jedes politisch-sozialen der Vergangenheit.

      SPIEGEL Sie halten es nicht für ganz ausgeschlossen, daß so etwas wie ein Prinzip Verantwortung zu einem modernen kategorischen Imperativ wird?

      JONAS Es geht um eine Erziehung des Menschen zu Lebenseinstellungen, die weniger gierig und gefräßig sind, dafür aber vielleicht anspruchsvoller in anderer Hinsicht. Man darf nicht fragen: Wird denn das helfen? Kann sich das durchsetzen gegenüber dem Vulgären, den Massenwünschen, den Gewohnheiten? Nach dem, was wir wissen, muß der Glaube daran sehr klein und schwach sein. Aber aufgeben ist das letzte, was man sich erlauben darf.

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      SPIEGEL Dennoch: Warum erstmals in der Menschheit die Bereitschaft zum freiwilligen Verzicht auf materiellen Genuß die Massen erfassen sollte, können wir uns schwer ausmalen.

      JONAS Die Psychologie des Menschen ist noch nicht voll ergründet. Noch wissen wir nicht, welche Ressourcen sich im äußersten Notfall beim Menschen offenbaren werden. Der völlige Verzicht auf jede Hoffnung ist das, was das Unheil nur beschleunigen kann. Eines der Elemente, die das Unheil verzögern können, ist der Glaube daran, daß es abwendbar ist.

      SPIEGEL Wir erleben einen Hans Jonas, der am Ende dieses Gesprächs denn doch etwas Mut und Zuversicht verbreitet.

      JONAS Nein, nicht Mut und Zuversicht. Der aber auf eine Pflicht hinweist, der wir unterstehen. Man darf nicht erst die Aussichten bewerten und daraufhin beschließen, ob man was tun soll oder nicht. Sondern umgekehrt, man muß die Pflicht und die Verantwortung erkennen und so handeln, als ob eine Chance da wäre, sogar, wenn man selber sehr daran zweifelt.
      Avatar
      schrieb am 07.10.03 00:31:42
      !
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      Avatar
      schrieb am 07.10.03 14:05:04
      Beitrag Nr. 121 ()
      http://www.brandeins.de/magazin/archiv/1999/ausgabe_03/reali…

      Kritische Masse

      Der deutsche Atomausstieg ist gut fürs Gewissen und schlecht für die Sicherheit. Wer die alte Atomkraft nicht mehr will, muss Vorurteile überwinden: etwa, dass es sichere Kernkraft einfach nicht gibt. Ein Gegenbeweis.

      Text: Wolf Lotter Foto: Marek Vogel

      ____Rolf Linkohr ist ein guter Mensch. Der Abgeordnete der SPD im Europäischen Parlament vertritt Dinge, die die meisten Bürger für gut und richtig halten.
      Als aktives Mitglied von Eurosolar, der Europäischen Sonnenenergievereinigung, fördert er aktiv die populärste alternative Energieform. 100 000 Dächer in Deutschland, 500 000 in ganz Europa will Linkohr mit seinen Freunden in den nächsten sechs Jahren mit Sonnenkollektoren eindecken. Wer die Umwelt liebt, dem sind auch Menschen nicht egal. Rolf Linkohr macht sich auch dafür stark, dass die Europäische Union mehr Geld in die Entwicklung neuer Methoden zur Auffindung von Landminen investiert.
      Mit Tretminen und der Energiezukunft kennt sich Linkohr also aus.
      Die Sachkenntnis in beidem ist zur Ausübung seines Hauptjobs unerlässlich: Der Sprecher der sozialdemokratischen Europa-Fraktion für Forschungs- und Energiefragen weiß, dass Deutschland ohne Atomkraft auf Sicht nicht auskommt.
      Er plädiert dafür, dass die Europäer die Kerntechnik weiter erforschen und an neuen Reaktorkonzepten mitarbeiten. „Wenn wir die Kernkraft nicht ersetzen können, dann sollten wir sie auch nicht tabuisieren“, sagt er.
      Es gäbe Gründe genug, das Tabu zu knacken. Es gibt Reaktortypen, die Atommüll verbrennen können und damit auch gleich das Endlagerproblem lösen. Es gibt Reaktoren, die um Klassen sicherer sind als die heute arbeitenden. Und es gibt keine Chance, dass die Welt in den nächsten Jahrzehnten ohne Atomkraft auskommen könnte. Wer etwas anderes behauptet, lügt sich in die Tasche. Die Wahrheit ist ein Skandal.
      Seit zwei Jahrzehnten, in denen in den reichen OECD-Staaten Slogans wie „Atomkraft, nein danke“ zum festen Glaubensbekenntnis einer ganzen Generation wurden, gelten Befürworter der Atomkraft als potenzielle Killer. Wer, wie Linkohr, nicht allein in den regenerativen Energien die Lösung der Zukunftsprobleme sieht, wird ? längst nicht nur von der grünen Basis und Umweltorganisationen, sondern auch den eigenen Parteifreunden ?
      als Agent der Atomlobby denunziert.
      Nachdenken und Nachrechnen ist verboten. Was allein zählt, ist der Glaube. Und der ist stark, wenn er auch auf schwachen Argumenten fußt. Der grüne Katholizismus, der keinen Widerspruch duldet, verhält sich etwa so, als würde mit 30 Jahre alten Crashtest-Fotos das Auto als Todesfalle abgeurteilt ? und nicht zur Kenntnis genommen, dass inzwischen Automatikgurt, ABS und Airbag erfunden wurden. Was als berechtigte Sorge, als redlicher Einwand gegen die Großmannssucht der Industrie der sechziger und siebziger Jahre begann, ist selbst zum kritiklosen Dogma verkommen.

      Betroffenheit bringt nicht viel. Aber dafür kostet sie auch nichts.

      Statt Handeln ist Zetern angesagt. „Das ist wie der Ablasshandel vor der Reformation, die den Sünder von der guten Tat befreite“, sagt Rolf Linkohr. „Zu den SPD-Parteitagen kommen die meisten Delegierten mit dem eigenen Auto, auch wenn der Bahnhof in der Nähe ist.
      Zur Entlastung des schlechten Gewissens werden dann allerdings lange Traktate beschlossen, wie man die Eisenbahn fördert.“ Im letzten Jahr stieg der Stromverbrauch in den EU-Ländern wieder um 2,1 Prozent. Mitte des nächsten Jahrhunderts wird doppelt, vielleicht sogar dreimal so viel an Kilowatts vonnöten sein, um die Gier nach Energie zu befriedigen.
      Richtig, die Verbrauchswerte für elektrische Geräte sinken kontinuierlich. Das Problem ist nur: Wo früher in Haushalten nur ein Radio stand, gibt es heute außerdem Fernseher, Videorekorder, Sat-Anlage, Heimcomputer und unzählige andere Stromfresser. In Büros schlucken Computer statt Schreibmaschinen Energie. Kaum haben die Automobilentwickler einem Motor ein paar Tropfen weniger Verbrauch abgerungen, plustern sich biedere Kompaktfahrzeuge zum Großraum-Van auf, die Einsparung wird prompt verprasst. Alles muss machbar sein, alles muss möglich sein ? und das hat eben seinen Preis. Deshalb kann Rolf Linkohr das Wörtchen von der „Energiewende“, das seine rot-grünen Freunde in Berlin stets im Mund führen, nicht mehr hören:
      „Die Menschen sind alle für einen vernünftigen Umgang mit Energie. Doch dafür bezahlen wollen sie nicht. Den meisten genügen Bekenntnisse. Die sind billiger.“
      Die 20 Reaktoren, die in der Bundesrepublik installiert sind, tragen mit gut 30 Prozent zur Stromerzeugung bei. Nach den Vorstellungen des grünen Bundesumweltministers Jürgen Trittin soll der Ausstieg lange vor dem Ende der praktischen Nutzungsdauer, die bei Kernkraftwerken heute rund 40 Jahre beträgt, erfolgen. Die Ausstiegspropaganda orientiert sich dabei an den falschen Versprechungen der Atomindustrie aus den fünfziger Jahren: So wie damals die Kernkraft als allein seligmachende Energieform gepriesen wurde, sind es heute die regenerativen Energien, die alle Probleme lösen sollen. Ihr Anteil soll kontinuierlich steigen, bis 2010 auf zehn Prozent des deutschen Energiebedarfs, bis zur Mitte des nächsten Jahrhunderts sollen sie bereits die Hälfte der benötigten Kilowatts zur Verfügung stellen.

      Windkraft, Sonnenenergie und Biomasse liefern den Deutschen heute gerade zwei Prozent am Energiebedarf. Mit weit mehr als 5000 Windrädern ist Deutschland eine der führenden Nationen beim Ausbau dieser regenerativen Energie. Was die konsequente Forderung nach dem massiven Ausbau von Windkraftanlagen bedeutet, mag eine Berechnung der unverdächtigen Eurosolar belegen: Würde die Stromversorgung der Republik allein durch Windkraft erfolgen, müssten sich 125 000 Räder drehen, jedes davon auf 70 bis mehr als 100 Meter hohen Stahlbetonmasten.
      Doch schon die Anlagen, die es heute gibt, sorgen für massiven Ärger mit Bürgern und Umweltschützern. Und Wasserstoffspeicher, die die von Wind und Sonne erzeugte Kraft wie Akkus bunkern und an denen der umweltbewusste Atomfreund Linkohr einst forschte, sind noch weit von einer Realisierung entfernt.
      Der Ausstieg ? oder wie aus einer denkenden Elite eine elitäre Denke wird.

      Blieben Erdgas und Wasserkraft. Gaskraftwerke sind effizient und umweltfreundlich, arbeiten aber mit einer endlichen Ressource, die vorwiegend aus politisch labilen Krisenregionen bezogen werden muss. Der Ausbau der Wasserkraft scheitert in Europa seit Jahren regelmäßig an den Einwänden von Umweltbewegungen.
      Es ist mehr als wahrscheinlich, dass der großen Mehrheit der Bevölkerung diese Widersprüche weit klarer sind als der Ökologie-Elite, die es aber trotzdem versteht, Massenmedien und Meinungsführer auf ihre Seite zu ziehen.
      Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach vom September 1999 sind gerade 11,8 Prozent der Deutschen entschiedene Atomgegner. Am stärksten atombewegt ist die Generation, die mit Wackersdorf, Tschernobyl und Three Mile Island aufwuchs: Die 30- bis 44-Jährigen stellen mit 16 Prozent die größte Gruppe der Atomfeinde dar.
      Das ist nicht zu vernachlässigen. Aber demokratisch legitimiert, wie es stets heißt, ist der Atomausstieg dadurch noch lange nicht. Aus einer denkenden Elite, die zu Recht die Mängel der alten, allzu sorglos agierenden Atomindustrie der sechziger und siebziger Jahre beklagte, ist eine elitäre Denke geworden.

      Den Anti-Atom-Lobbyisten ist klar, dass Meiler nicht gleich Meiler ist.

      Mit der Ölkrise des Jahres 1973 schien der endlose Ausbau der Atomkraft beschlossene Sache. Doch dann kamen die ersten Risse: Zwischen 1976 und 1979 ereigneten sich mehrere schwere Zwischenfälle im AKW Three Mile Island bei Harrisburg im US-Bundesstaat Pennsylvania. Bürger wehrten sich gegen Wiederaufbereitungsanlagen wie Wackersdorf und Gorleben. Anfang der achtziger Jahre stand der Atomwiderstand als treibende Kraft hinter den politisch erstarkenden Grünen.
      Umweltkatastrophen machten sich bei Wahlen ? bei Umweltorganisationen im Spendenaufkommen ? bezahlt. Der Ablasshandel kam ins Laufen. Neue Märkte entstanden, Fakten und Legenden wurden unmerklich miteinander verwoben. Die Tschernobyl-Katastrophe von 1986 wurde als Beweis dafür angeführt, dass alle AKWs tickende Zeitbomben sind. Dass sich der russische RBMK- Reaktor, der in Tschernobyl hochging, dramatisch von westlichen ? und vor allem deutschen ? Druckwasser-Reaktoren unterscheidet, spielte da keine Rolle. Dabei weisen Greenpeace, Global 2000 und Anti-Atom-International zu Recht immer wieder auf die eklatanten Unterschiede bei der Sicherheitsauslegung zwischen östlicher und westlicher Kernkraft hin. Die Anti-Atom-Lobbys verfügen über ausgezeichnete Daten und anerkannte Experten. Dass zwischen russischen Meilern und deutschen Kernkraftwerken Welten liegen, war ihnen zu jeder Zeit bewusst.
      Dass derlei Widersprüche über Jahre hinweg unerwähnt blieben, hatten die Anti-Atom-Lobbyisten vor allem ihren Gegnern zu verdanken: der Atomindustrie und den Regierungen, die hinter der Großtechnologie standen.
      Anstatt die Atomdebatte zu versachlichen, wendeten die deutschen Regierungen seit den siebziger Jahren mehr als drei Milliarden Mark für die Sonderpolizei-Einsätze gegen Atomkraftgegner auf. Konzerne wie die Siemens KWU, Deutschlands führender Hersteller von Atomkraftanlagen, entzogen sich der stärker werdenden Debatte entweder durch beharrliches Schweigen oder durch arrogantes Abkanzeln der verunsicherten Massen. Dazu kamen Milliardenflops, fehlgeleitete Kerntechnologie wie etwa der „Schnelle Brüter“ in Kalkar ? eine sieben Milliarden Mark teure Ruine.

      Dogmen bei Befürwortern und Gegnern ersetzen eine sachliche Diskussion.
      In den USA brachten Mitte bis Ende der siebziger Jahre Kongress-Ausschüsse unfassbare Fehlkalkulationen bei der Errichtung von Kernkraftwerken ans Licht. Einer der Höhepunkte bildete das Kraftwerk Midland in Michigan, das von der Betreiberfirma „Lilco“ für 270 Millionen Dollar errichtet werden sollte. Tatsächlich ging es für mehr als 4,5 Milliarden Dollar ? und mit neunjähriger Verspätung ? ans Netz.
      Die USA, bis heute mit 104 aktiven Reaktoren mit Abstand größte Nuklear-Nation der Welt, begannen neue Bauprojekte zurückzustellen ? der Kosten wegen. Die Ölkrise war zudem überwunden. Und es stellte sich heraus, dass die Reserven an den fossilen Brennstoffen Öl, Gas und Kohle dank verbesserter Fördertechnologie weit länger reichen würden, als in den pessimistischen Szenarien Anfang der Siebziger befürchtet wurde.
      Das, und nicht der Unfall von Three Mile Island, ist der Grund dafür, dass in den USA der letzte Auftrag zum Bau eines kommerziellen Kernreaktors im Jahr 1978 vergeben wurde und sich die deutsche Atomindustrie seit Anfang der achtziger Jahre vorwiegend mit Service- und Wartungsarbeiten beschäftigt.
      Doch der Stillstand der Atomindustrie gilt nur für die USA und die EU. Für rohstoffarme Schwellen- und Entwicklungsländer bleibt Kernenergie nach wie vor die attraktivste Option, um ihre Energiezukunft unabhängig zu gestalten und Anschluss an die OECD-Staaten zu finden. Das mag nach der Logik westlicher Political Correctness nicht in Ordnung sein, doch die spielt in China, in Indien, in Osteuropa und Südkorea keine Rolle. In diesem Jahr werden zu den 440 bestehenden Kernreaktoren weltweit 36 neue hinzukommen. Bei fast allen davon sind westliche Atomkonzerne wie Siemens, General Electric, Framatome und ABB als Errichter oder Berater tätig. Bezahlt werden die Leistungen, wie am Beispiel der Slowakei und Tschechiens, Russlands und Chinas deutlich wird, durch Stromlieferungen an die atombewegten Bürger des reichen Westens. Erkauft werden diese Leistungen durch die grenzenlose Ignoranz aller Beteiligten: Sicherheit spielt bei den Neuerrichtungen eine untergeordnete Rolle.
      Deutschlands Kerntechnik ist die sicherste der Welt, der Maßstab dafür, wie Atomkraftwerke nach neuestem Stand gebaut und betrieben werden müssen. Nirgendwo gelten auch nur annähernd so strenge Sicherheitsregeln. Das macht deutsche Kernkraftwerke allerdings auch um bis zu zwei Drittel teurer als jene, die jetzt mit westlicher Hilfe im Osten und in Asien entstehen. Man könne nicht erwarten, so der Siemens KWU- Sprecher Peter Pauls anlässlich der Sicherheitsdebatten um das slowakische Kraftwerk Mochovce vor Jahren, im Osten für das bisschen Geld das Gleiche zu bekommen wie im Westen. Westliche Sicherheitstechnik sei bei den verfügbaren Mitteln „natürlich nicht drin. Ein Trabi, in den man einen Airbag einschraubt, wird dadurch ja auch nicht zum Mercedes“.

      Für Ausstiegsbefürworter ist ein Trabi sicherer als ein Mercedes.

      Das mag zwar zynisch klingen, ist aber die logische Folge des seit Jahren betriebenen Ausstiegs Deutschlands aus der Kernkraft: Discountschrott im Osten und in der dritten Welt, atomfreie Idylle im Westen.
      Seit Jahren liegen in den Schubladen des deutsch-französischen Kernkraftunternehmens Nuclear Power International (NPI) die Baupläne für einen Atomreaktor, der weit sicherer ist als alles, was heute glüht: der EPR (European Pressurized Water Reactor, Europäischer Druckwasserreaktor). Der EPR verfügt über eine Wanne aus Spezialkeramik, die unterhalb des Reaktorblocks ein Entweichen von radioaktivem Material verhindern soll. Supercomputer sorgen dafür, dass der Bedienungsmannschaft bei einem Störfall eine halbe Stunde Zeit bleibt, um die richtige Entscheidung zu treffen. Menschliches Versagen ? vor allem aus Zeitmangel ? ist die wichtigste Ursache bei atomaren Störfällen. Der EPR würde zudem auch den Aufprall eines Flugzeugs überstehen. Die Bauzeit für den EPR beträgt zehn Jahre, die Betriebszeit 60 Jahre ? ein Drittel länger als herkömmliche Reaktoren. Dem Reaktorkonzept können auch Kritiker bestehender Atomkraftwerke etwas abgewinnen
      Heuchelei im Westen ? neueste Technik wird nicht angeboten.

      Emmerich Seidelberger etwa, einer der angesehensten Kritiker von Ost-AKWs und Mitarbeiter des Wiener Instituts für Risikoforschung, erkennt im EPR einen Fortschritt. Das Institut für Risikoforschung gilt als erste Instanz bei der Beurteilung von Sicherheitsmaßnahmen bei Atomkraftwerken in Osteuropa. Seit Jahren belegen die Forscher westlichen Kerntechnik-Konzernen, dass ihnen die Sicherheit von Ost-AKWs weniger wert ist als jene im Westen.
      Emmerich Seidelberger etwa, einer der angesehensten Kritiker von Ost-AKWs und Mitarbeiter des Wiener Instituts für Risikoforschung, erkennt im EPR einen Fortschritt. Das Institut für Risikoforschung gilt als erste Instanz bei der Beurteilung von Sicherheitsmaßnahmen bei Atomkraftwerken in Osteuropa. Seit Jahren belegen die Forscher westlichen Kerntechnik-Konzernen, dass ihnen die Sicherheit von Ost-AKWs weniger wert ist als jene im Westen.
      Doch als die Regierung Russlands die deutsche und französische Regierung einlud, nicht den umstrittenen Umbau östlicher AKW-Technik zu finanzieren, sondern einen EPR zu spendieren, winkte der Westen ab. Kein umweltbewegter Politiker aus Deutschland und Frankreich fand die russische Bitte der Rede wert.
      Schweigen ist Gold ? das gilt nicht nur im Umgang mit den Fakten rund um neue Sicherheitskonzepte bei der Atomkraft, das gilt auch dann, wenn es um die längst überfällige Beseitigung von Altlasten geht. Das strahlendste Beispiel dafür ist der deutsche Atommüllberg, der sich mittlerweile auf 100 000 Kubikmeter aufgetürmt hat.
      Noch in diesem Jahr, so berichtet Bernhard Kuczera vom Forschungszentrum Karlsruhe, wird der ungelösten Entsorgungsfrage wegen das westlich von Hamburg gelegene Atomkraftwerk Stade „verstopfen“. Der Techniker-Slang beschreibt einen Notstand: Jedes AKW verfügt über ein Lager, das etwas atomaren Müll aufnehmen kann, bis er zur Wiederaufbereitung oder zur Endlagerung gebracht werden kann
      Das geht nur mit Castor-Behältern. Deren Transport ist aber von der Regierung ausgesetzt.
      Die Folge: Stade muss, wie bald danach die AKWs Biblis B und Obrigheim, die ähnliche "Verstopfungsprobleme" haben, aus Sicherheitsgründen abgeschaltet werden. Der Reaktor lagert dann über einer bis zum Rand gefüllten nuklearen Müllhalde. Szenen deutscher Ausstiegspolitik, von denen es künftig noch mehr geben wird.
      Selbst wenn die Castoren wieder rollen, reichen die Kapazitäten der Zwischenlager bestenfalls bis zum Jahr 2010. Dann braucht man ein Endlager, das, so Jürgen Trittin, frühestens 2030 vorhanden sein wird. Wo, kann er nicht sagen. Die Anti-Atom-Propaganda der letzten zwei Jahrzehnte war einfach zu gut.

      Atom-Endlager-Ignoranz: Noch nie gab es so viel atomaren Schrott wie heute.

      Gorleben ist heute überall, niemand will den Schrott haben.
      So führt die Ausstiegspolitik der rot-grünen Koalition schnurstracks zu dem, wovor es den meisten Atombewegten graut: Noch nie gab es in Deutschland so viel nuklearen Abfall wie heute.
      Beharrlich aber ignoriert die Regierung alternative Entsorgungsmöglichkeiten. Carlo Rubbia, Nobelpreisträger für Physik 1984 und ehemaliger Leiter des europäischen Teilchenforschungszentrums CERN in Genf schlägt vor, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Strahlende Kraftwerksreste ? Brennstäbe und Plutonium ? sollen in einem Atomkraftwerk verbrannt werden. Das "Rubbiatron" ist eine Art Nuklear-Müllschlucker. Pro Tag kann der Reaktor etwa ein Kilogramm Plutonium verbrennen und es zu kurzlebigen Spaltprodukten verwandeln. Transmutation heißt der Prozess, bei dem die enormen Halbwertszeiten radioaktiver Stoffe radikal verkürzt werden. Statt mehrerer 100 000 Jahre strahlen die Reststoffe aus dem Rubbiatron nur noch 30 Jahre und auch das auf niedrigerem Niveau als herkömmliche Abfallprodukte aus AKWs.
      Bereits nach 500 Jahren, in den bisher gewohnten Dimensionen des Atommülls eine geringe Zeitspanne, würden die Endprodukte aus dem Rubbiatron nur mehr so viel Radioaktivität abgeben wie gewöhnlicher Kohlestaub.
      Eine ausreichende Anzahl der "Energieverstärker", wie Rubbia seine Maschine nennt, würden genügen, um die weltweit ungelöste Endlagerdebatte zu beenden. "Man könnte an einen neuen Anfang denken", sagt Rolf Linkohr, einer der glühendsten Propagandisten des Rubbiatrons, und wir müssten nicht mit dem schlechten Gewissen leben, dass wir unzählige Generationen nach uns mit unseren Problemen belasten.
      Dabei geht es nicht bloß um Gorleben & Co: Auch die rund 260 Tonnen Waffenplutonium, ein Erbe des Kalten Krieges, könnten mit der neuen Technologie entsorgt werden. Doch in der EU fördern nur Italien, Spanien und Frankreich Rubbias Entwicklungsunternehmen LAESA, das bis zum Jahr 2005 den ersten einsatzfähigen Atommüllschlucker in Spanien bauen will.

      Bereit für einen besseren Neubeginn ist auch Alexander M. Bradshaw, Direktor des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik in Garching bei München. Der gebürtige Brite ist einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Kernfusion. Die hat mit riskanter Kernkraft im bekannten Sinne nichts gemein bis auf den Namen. Ein Fusionskraftwerk kann nicht "durchbrennen", ein Fusions-Tschernobyl ist undenkbar. Müll und Strahlung liegen weit unter den Mengen, die bei Spaltreaktoren anfallen.
      Bereits in den fünfziger Jahren meinten die Fusions-Fans, innerhalb weniger Jahre einen Fusionsreaktor bauen zu können: "Ein hoffnungsloser Optimismus", sagt Bradshaw, "das hat der Forschung nicht gut getan" und dem Image bei Politik und Bevölkerung auch nicht. Das Problem liegt darin, die "Fusions-Schallmauer" zu durchbrechen: mehr Energie aus den Systemen zu gewinnen, als man heute noch für das Aufheizen des Plasmarings braucht. Bis aus den heute verfügbaren Prototypen kommerziell sinnvolle Alternativen zu Kernspalt-Reaktoren oder Kohle-Kraftwerken werden, wird noch ein rundes halbes Jahrhundert vergehen.
      Das sind mehr als ein Dutzend Legislaturperioden. Im Klartext: politisch uninteressant.

      Dabei fehlt der Technik nicht mehr viel zum Durchbruch. Um die Fortschritte der letzten Jahre nicht versanden zu lassen, um die Energiewende in der Fusion zu schaffen, haben Europäer, Russen, Amerikaner und Japaner ein Projekt namens ITER entworfen. Ein leistungsfähiger Fusionsreaktor mit einem Durchmesser von 40 Metern soll entstehen, der zeigt, was in der sanften Kernenergie steckt.
      Die Pläne dafür sind fertig. Drei Milliarden Euro brauchen die Fusionsforscher, um ITER bauen zu können. Das ist bereits die Hälfte dessen, was die Forscher ursprünglich für den Fusionsreaktorbau gefordert haben, der bis 2010 gebaut werden soll.
      Doch die westeuropäische Politik zaudert. Statt an der Entwicklung der besseren Alternative zu arbeiten, versickert das Zukunftsprojekt Fusion in der ängstlichen Bürokratie der EU- Verwaltung.
      Was die Kernkraft angeht, sagt Bradshaw, „muss die Öffentlichkeit bei uns eben auch ihre Probleme lösen“. Als Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft sagt er das in Vorträgen landauf, landab. Er trifft aber dort immer nur die, die ihm ohnedies zustimmen. Etwa dabei, „dass es einfach unverantwortlich ist, in der jetzigen Situation sichere Atomkraftwerke, wie sie in Deutschland vorhanden sind, abzuschalten“. Nicht nur allein der mangelnden Alternativen wegen: „Die Deutschen gelten als besonders gute Techniker, sie haben eine Vorbildfunktion in vielen Ländern der Welt.“ Ginge es um Sicherheit müssten die Deutschen für jedes alte AKW, das sie abschalten, ein neues, modernes, sichereres ans Netz bringen. „Und es muss doch um Sicherheit gehen“, glaubt Bradshaw.
      Er irrt.
      Es geht beim Ausstieg um die Politik der Gefühle: „Die Atomdebatte“, weiß Rolf Linkohr seit langem, „ist keine Sicherheitsdebatte. Es geht um Psychologie.“____ //
      Avatar
      schrieb am 08.10.03 15:45:35
      Beitrag Nr. 122 ()
      Allgemeines amüsantes zur Börsenentwicklung....


      „Bild Dir Deine Meinung“ ...

      Von Andreas Hoose

      "Kaum ist man einmal ein paar Tage ausser Landes, schon spielen die
      Boersen verrueckt. Erst ging es tagelang abwaerts, am Freitag dann
      sorgten positive Arbeitsmarktdaten aus den USA fuer kraeftige
      Kursspruenge nach oben. Die rechte Orientierung scheinen die
      Aktienmaerkte derzeit nicht zu finden.

      Waehrend der juengsten Abwaertsspirale war es interessant zu
      beobachten, wie den Daueroptimisten das Blut in den Adern zu
      gefrieren schien. Kollegen, die noch vor wenigen Wochen im Brustton
      der Ueberzeugung zum Einstieg geraten haben, warnten jetzt kleinlaut,
      die Karten seien neu gemischt. Dabei hatte der Dax seinen
      Aufwaertstrend gerade erst nach unten verlassen....

      Vielleicht sollte man lieber auf uralte Kontraindikatoren
      achten. „Die Baisse an den Aktienmaerkten ist vorueber“, so lautete
      der Aufmacher des Handelsblattes noch vor wenigen Tagen. Der Dax
      hatte da gerade sein bisheriges Jahreshoch erreicht. Und die von der
      Fachzeitung befragten Bankanalysten gaben sich durchweg positiv.
      Uebrigens hat auch die Bild-Zeitung, die schon im Fruehjahr 2000 als
      exzellentes Warnsignal traurige Beruehmtheit erlangte, puenktlich zum
      juengsten Hoechstkurs beim Dax mit einem Boersenspiel begonnen. Es
      soll einen Porsche zu gewinnen geben. Wie lautete noch der
      Werbespruch der cleveren Blattmacher? „Bild Dir Deine Meinung“. Dann
      wollen wir das mal tun...

      Das gleiche „Bild“ in den USA: Das Anlegermagazin Barron’s, stellte
      kuerzlich fest, dass von zehn befragten Aktienstrategen in den
      kommenden Monaten ausnahmslos alle weitere Kurssteigerungen von fuenf
      bis zehn Prozent erwarten. Doch damit nicht genug: Die
      Boersenaufsichtsbehoerde NASD warnte kuerzlich vor einer auffallenden
      Zunahme der kreditfinanzierten Wertpapierkaeufe. Nicht einmal auf dem
      Hoehepunkt der Aktieneuphorie im Fruehjahr 2000 seien an der Nasdaq
      derart viele Aktien auf Pump gekauft worden. Ergaenzend muss man
      allerdings hinzufuegen, dass zahlreiche Papiere an der
      Technologieboerse erst kuerzlich wieder die Marke von 5,00 US-Dollar
      uebersprungen haben und damit fuer Kreditkaeufe ueberhaupt wieder in
      Frage kommen.

      Aus antizyklischer Sicht sind die aktuellen Umfragen der Kollegen von
      boerse_de derzeit sehr aufschlussreich: Fast 80 Prozent der befragten
      Leser sind der Ansicht, dass der Dax nicht noch einmal unter die
      Marke von 3000 Punkten fallen wird. Und die Frage, ob der japanische
      Nikkei nach mehr als 20 Jahren Baisse jetzt wieder in Feier-Laune
      ist, verneinen fast 90 Prozent.

      Was leitet der Kontra-Stratege daraus ab? Beim Dax, wie auch in den
      USA, sollte man bis auf weiteres Vorsicht walten lassen; ausserdem
      duerfte es ratsam sein, japanische Aktien in Zukunft staerker zu
      gewichten. Allerdings sollte man sich auch hier zunaechst
      zurueckhalten. Der juengste Anstieg der Nippon-Papiere war des Guten
      doch reichlich viel.

      Dass sich ganz allgemein wieder Optimismus breit macht, bestaetigt
      auch die Expertenanalyse der boerse_de-Redaktion: Waehrend der
      vergangenen Woche gingen dort so viele Kaufempfehlungen ein wie noch
      nie in diesem Jahr. Das Verhaeltnis von Kauf- zu Verkaufsempfehlungen
      verbesserte sich deutlich zugunsten der positiven Analystenstimmen:
      Von 3,37 auf einen neuen Jahreshoechststand von 4,16. Antizykliker
      ahnen es: Wenn die Analystengilde geschlossen zum Einstieg blaest,
      ist es an der Zeit ist, sich vorerst von den Maerkten zu
      verabschieden.

      Zu aehnlichen Schlussfolgerungen kommt man, beruecksichtigt man
      juengste Marktanalysen von Merrill Lynch-Chefstratege Richard
      Bernstein: Der Analyst stellt fest, dass die am meisten gehandelten
      Aktien im S&P500 derzeit mit einem Aufschlag zum Gesamtmarkt in Hoehe
      von 15 Prozent gehandelt werden. In der Vergangenheit war das
      Verhalten der Anleger zu Beginn eines neuen Bullenmarktes jedoch
      genau umgekehrt: Beim Start eines neuen Boersenaufschwungs waren die
      am meisten gehandelten Aktien regelmaessig mit einem Abschlag zum
      breiten Markt versehen.

      Weiterhin, so Bernstein, wuerden die Boersianer derzeit Unternehmen
      bevorzugen, bei denen Wachstum, Gewinne und Dividenden mit grossen
      Unsicherheiten belastetet seien – die Rede ist von den
      sogenannten „Wachstumsaktien“ des Technologiesektors.

      Riskante Spekulationsgeschaefte scheinen also wieder gross in Mode zu
      sein. Sieht man sich die juengsten „Hammermeldungen“ an, mit denen
      auch hierzulande neuerdings wieder angebliche „Kursraketen“ von
      einigen Boersenkommentatoren erfolgreich unters Volk gebracht werden,
      kann man diese Beobachtung nur bestaetigen.

      Leider muss man den Gluecksrittern sagen, dass sie sich erneut die
      Finger verbrennen werden: Stuenden wir heute am Anfang eines neuen
      Bullenmarktes, waere das vorherrschende Verhalten der Anleger von
      extremer Vorsicht gepraegt. Das Phaenomen der Jagd nach schnellen
      Kursgewinnen ist regelmaessig am Ende eines Bullenmarktes zu
      beobachten - nicht an dessen Anfang.

      Man kann festhalten, dass sich die Gier derzeit wieder in den Koepfen
      der Anleger festzusetzen scheint. Eine Zunahme von Aktienkaeufen auf
      Kredit ist keine gute Basis fuer einen nachhaltigen
      Boersenaufschwung. Auch erscheint es reichlich unwahrscheinlich, dass
      der Boden des groessten Baerenmarktes seit 100 Jahren erreicht ist,
      waehrend sich die Anleger fuer Aktienkaeufe schon wieder verschulden
      und die Regenbogenpresse das Thema Boerse neu entdeckt. "



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 09.10.03 07:22:16
      Beitrag Nr. 123 ()
      ein schöner Artikel zu legalen Bilanztricks

      http://www.wiwo.de/pswiwo/fn/ww2/sfn/buildww/id/179/id/2426/…
      Avatar
      schrieb am 09.10.03 13:34:49
      Beitrag Nr. 124 ()
      http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,268908,00.html

      KAMPF GEGEN AIDS

      Papst glaubt an kleine Löcher in Kondomen :eek:

      Der Vatikan torpediert die weltweiten Bemühungen, die Seuche Aids einzudämmen. In Ländern mit hoher Aids-Rate propagiert der "Heilige Stuhl", Kondome nicht zu benutzen. Begründung: Die Gummis hätten kleine Löcher.

      Hamburg - Der Papst spricht Kondome löchrig. Entgegen dem wissenschaftlichen Konsens, wonach das Verhütungsmittel für das HI-Virus undurchlässig ist, propagiert der Vatikan, die Gummis hätten kleine Löcher, durch die das Virus dringen könne. Diese Überzeugung herrscht in den Führungsgremien der Kurie vor. Die britische Zeitung "The Guardian" berichtet von einem leitenden Pressesprecher in Rom, der die Behauptung, Kondome seien virendurchlässig, unterstützt. Dabei scheint es die geistlichen Herren herzlich wenig zu interessieren, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) versichert, die Beurteilung des Vatikans sei falsch.
      Und sie ist nicht nur falsch - sie setzt möglicherweise Tausende dem Risiko aus, sich den Virus zu fangen. Der für Familienfragen zuständige Kardinal in Rom, Alfonso Lopez Trujillo, sagte gegenüber dem britischen Sender "BBC": "Das Aids-Virus ist grob 450 Mal kleiner als ein Spermium. Und das Spermium kann leicht durch ein Kondom dringen."

      Diese "Margen der Unsicherheit", so der Kardinal, sollten für die Gesundheitsministerien Verpflichtung sein, auf Kondomverpackungen - wie etwa auf Zigarettenschachteln - darauf hinzuweisen, dass der Inhalt Gefahren birgt.

      Bei der Weltgesundheitsorganisation ist man über die Thesen aus dem Vatikan empört: "Diese falschen Aussagen über Kondome und HIV sind gefährlich. Wir haben mit einer weltweiten Seuche zu tun, der schon mehr als 20 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Derzeit sind mindestens 42 Millionen Menschen von dem Virus befallen." Laut WHO reduzieren ordnungsgemäße Kondome das Risiko einer HIV-Infektion um etwa 90 Prozent. Ein Kondom könne reißen oder verrutschen, es gebe jedoch keine Löchlein, durch die das Virus dringen könnte.

      Wissenschaftliche Erkenntnisse einer Gruppe von Forschern von WHO und der Nationalen Gesundheitsbehörde der USA, wonach intakte Kondome selbst für die allerkleinsten durch Sex übertragene Viren undurchlässig sind und daher einen hochwirksamen Schutz gegen die Übertragung von Krankheiten darstellen, schlägt der Kurienkardinal in den Wind. Trujillo: "Da liegen sie falsch. Dies ist eine leicht zu erkennende Tatsache."

      Das Madigmachen von Kondomen entspricht der Sexualmoral der Katholischen Kirche. Nach deren Vorstellung unterbricht jede Form der künstlichen Empfängnisverhütung den Zusammenhang zwischen Sex und Zeugung.
      Avatar
      schrieb am 15.10.03 22:08:05
      Beitrag Nr. 125 ()
      Eiskalt abserviert

      Die Kunden wollen natürliche Lebensmittel ohne Zusatzstoffe. Sagen sie.
      Frosta hat konsequent alle Zusatzstoffe aus seinen Tiefkühlprodukten verbannt.

      Eine prima Idee. Oder?


      ----- Fishtown nennen die Menschen hier ihre Stadt, und wo Fishtown am fischigsten ist, da beginnt das Meer der Kühlhäuser, Verladerampen und Paniermehlsilos. Es riecht nach Fisch und Tang, eine graue Unterweser nagt an der Hafenmole, und auf der Hafenstraße vermodert eine platt gefahrene Möwe. Die Anrainer heißen Frozen Fish und Frigolanda, die Kneipen Heidi Lachs, Zum Kutter oder Cap Horn. Seeleute sind allerdings Mangelware. Nur selten noch kreuzt im Bremerhavener Fischereihafen ein Fischtrawler auf, aber wenn mal einer kommt, kann Thomas Braumann ihm direkt in die Schornsteine schauen.
      Es ist eine durch und durch unsentimentale Gegend, in der die Frosta AG ihren Sitz hat, und genauso nüchtern hat sich der Vorstandsvorsitzende in ihr eingerichtet. Braumanns Welt besteht aus grauem Teppich, ein paar Janssens an der Wand („leider nur Drucke“ ), einem Bord mit Büchern über Managementmethoden, Lebensmittelchemie und der Geschichte des Kabeljaus („Wussten Sie, dass Amerika ohne den Kabeljau nicht entdeckt worden wäre?“ ). Auf dem Regal verstaubt eine Tüte Katzenfutter.

      Bei Frosta wird nach dem Reinheitsgebot gekocht: ohne Farb-, Aroma-, Süßstoffe und Stabilisatoren

      Anfang dieses Jahres hat Thomas Braumann von diesem Büro aus eine kleine Revolution ausgerufen. Es ging um nichts weniger als die Neuerfindung der Tiefkühlkost, wie der deutsche Marktführer bei Tiefkühl-Fertiggerichten damals vollmundig verkündete. Eine konservative Revolution, denn Frosta begann plötzlich zu kochen wie früher, völlig ohne Farbstoffe, Geschmackszusätze, Aromastoffe, Süßstoffe und Stabilisatoren. Und das war tatsächlich neu in einer Branche, in der das Täuschen und Tricksen zum guten Gericht gehört.
      Was Frosta damals in Angriff nahm, war in etwa so, als würde man bei einem Schönheitswettbewerb die Kandidatinnen ungeschminkt auf die Bühne schicken und das Publikum ehrlich beurteilen lassen, wer wirklich die Attraktivste ist. „Wir haben uns gesagt: Ausgezeichnete Zutaten brauchen keine Zusatzstoffe. Also haben wir sie kurzerhand rausgeschmissen“, erklärt Braumann, ein promovierter Biochemiker, der vor sechs Jahren über Umwege in der Tabakindustrie zu Frosta kam.
      Dort stieß er auf eine Marke, die zwischen der übermächtigen Konkurrenz von Iglo und den Handelsmarken langsam zerquetscht wurde wie ein Schiff im Packeis. Zwar war der Umsatz mit Tiefgekühltem fast 40 Jahre lang gestiegen – allein in den vergangenen zehn Jahren legte das Segment um gigantische 58,5 Prozent zu, befördert vom Trend hin zu Bequemlichkeit und Mikrowelle und weg von Herd und Selbermachen. Durchschnittlich 34,3 Kilo eiskalte Kost kaufte der Deutsche pro Jahr, aber – und das bereitete Braumann & Co. zunehmend Verdruss – er holte sie vor allem aus den Truhen der Discounter. Fast die Hälfte des Marktes beherrschten bereits die Handelsmarken, und wie überall boten sie dasselbe wie ihre namhaften Konkurrenten, nur weitaus billiger. „Wenn Sie heute Fischstäbchen von Iglo, Frosta und einer Handelsmarke nebeneinander legen, schmecken Sie als Laie keinen großen Unterschied mehr“, muss Braumann zugestehen. „Da fragt sich der Kunde natürlich zu Recht, warum er für die Marke eigentlich noch mehr ausgeben soll.“
      Braumann muss es wissen, schließlich produziert sein Unternehmen unter anderem Namen auch für Aldi-Süd, Großmärkte, Burger King, Nordsee, Bofrost und andere Großverbraucher. Mit diesen Cash Cows fuhr das Unternehmen jahrelang satte Gewinne ein. Die Hausmarke Frosta jedoch verlor Tüte für Tüte Marktanteile, allein seit 1999 schmolz die Frosta-Scholle im Markenmeer um rund 30 Prozent. Anders als die übermächtige Konkurrenz von Unilever, die jedes Jahr rund das Zehnfache in ihre Iglo-Werbung investierte, konnte der Bremerhavener Mittelständler auch nicht mit kräftigen Kampagnen gegensteuern. Frosta, dessen Geschichte vor knapp hundert Jahren mit einer Fischereiflotte begann, wehte ein zunehmend kalter Wind ins Gesicht. Und das wollte Braumann schleunigst ändern.
      „Mit einer Marke kann man nicht halb schwanger gehen“, erkannte der gebürtige Bremer, „entweder man gibt ihr einen Lebenszweck, oder man verabschiedet sich langsam von ihr. Also haben wir gesagt: Lass uns das Steuer noch einmal rumreißen. Wir schaffen als Erste das Reinheitsgebot. Wir deklarieren als Einzige hundert Prozent unserer Zutaten auf der Packung. Und damit tun wir eigentlich nur das, was Verbraucher schon lange fordern.“
      Tatsächlich wünschen sich drei Viertel der Deutschen eine lückenlose Auflistung aller Zutaten auf Lebensmittelpackungen – so zumindest das Ergebnis einer Befragung, die das Meinungsforschungsinstitut Emnid im Auftrag von Frosta durchführte. 61 Prozent erklären sogar, sie würden den Kauf von Lebensmitteln mit Farbstoffen, Aromen und Geschmacksverstärkern meiden.

      Sicher ist sicher, dachten sich die Bremerhavener und engagierten den schärfsten Kritiker der Branche

      Frosta schien also auf genau dem richtigen Weg. Und weil die gefürchteten Chemikalien mitunter selbst für Fachleute schwer zu entdecken sind, engagierte Braumann den sensibelsten Spürhund, der sich hier zu Lande finden ließ.
      Udo Pollmer, Lebensmittelchemiker und Autor, ist bekannt als Deutschlands Mann fürs Kleingedruckte, also für jenes Formel-Esperanto, das auf der Rückseite von Nahrungsmittelpackungen die Zusatzstoffe auflistet. Berühmt wurde der bullige Ernährungsspezialist vor 20 Jahren, als er in seinem Bestseller „Iß und stirb“ dieses Esperanto bis ins unappetitliche Detail übersetzte – sehr zum Verdruss der Food-Multis und durchaus zum Entsetzen der Verbraucher, die plötzlich realisierten, welcher Chemiecocktail ihnen da täglich verabreicht wurde. Seitdem gilt der Chef des von ihm gegründeten Europäischen Instituts für Lebensmittel und Ernährungswissenschaften als einer der schärfsten Kritiker der Lebensmittelbranche.
      Dass er nun von Frosta engagiert wurde, kam etwa so überraschend, als würde Günter Wallraff plötzlich beim Axel Springer Verlag einsteigen. „Wir wussten, dass Pollmer unbestechlich ist“, sagt Braumann, „und wir wollten sichergehen, dass wir Zusatzstoffe in unseren Rezepten entdecken, bevor die Konkurrenz es tut.“ Über zwei Jahre hinweg fahndete der 49-jährige Fachmann Pollmer dann gemeinsam mit den Frosta-Produktentwicklern nach versteckten Zusatzstoffen. 60 wurden gestrichen, 200 neue Zutaten definiert und einige Frosta-Produkte, die sich einfach nicht zusatzstofffrei fertigen ließen, kurzerhand aus dem Sortiment gestrichen. Parallel experimentierte der Zwei-Sterne-Koch Christian Lohse im Auftrag von Frosta mit neuen, chemiefreien Rezepturen. Klar war: Nur beste Zutaten sollten künftig in die Frosta-Tüte kommen.
      Statt Margarine gab Lohse wieder Butter bei die Fische, traditionelle Käsesorten wie Gorgonzola und Parmesan ersetzten Schmelzkäse-Zubereitungen, die Frosta-Paella wurde fortan mit dem hochwertigen kalt gepressten Olivenöl angerührt, die Shrimps stammten aus Wildfängen, die Muscheln von den natürlichen Muschelbänken des Limfjords, der Fisch aus nachhaltiger Fischerei, und so weiter. Irgendwo in Frankreich konnten Pollmer und Kollegen sogar einen Hersteller auftreiben, der ihnen einen traditionellen Meeresfrüchte-Fonds in den benötigten rauen Mengen lieferte.
      „Ich war ziemlich erstaunt, wie konsequent die Frosta-Leute ihr Experiment vorantrieben“, sagt Udo Pollmer. „Vor allem aber war ich überrascht, dass es tatsächlich ohne Zusatzstoffe funktionierte.“ Denn in der Lebensmittelindustrie geht heute kaum mehr etwas ohne Glutamat zum Fleisch, Geschmacksverstärker beim Gemüse oder Stabilisator in der Sahne. Seit Julius Maggi 1886 die Fertigsuppe und Rudolf Oetker 1891 das Backpulver erfand, dreht sich das Hamsterrad des immer rationelleren, immer billigeren Kochens immer schneller. Industrielle Ingredienzen im Wert von zehn Milliarden Dollar kippt die Branche jährlich in ihre Gerichte, doch die Investition lohnt sich, denn was sie für die Chemie ausgibt, spart sie doppelt und dreifach bei Rohstoffen und Arbeitskräften. Meist werden anstelle von gehaltvollem Gemüse oder leckerem Fleisch lediglich Aromastoffe beigemischt, die guten Geschmack perfekt vortäuschen. Hinzu kommen Stoffe, mit denen die Rohstoffe gefügig gemacht werden – das ermöglicht eine reibungslose Produktion.
      Gegessen wird das Ganze von einer Verbraucherschaft, die immer bequemer essen, dafür aber nichts tun und möglichst wenig ausgeben will. Fast 40 Prozent aller Deutschen können heute kaum mehr kochen; in den USA, wo 95 Prozent alles Verzehrten aus industrieller Produktion stammt, wird schon in 60 Prozent aller Haushalte überhaupt nicht mehr gekocht.

      Die gute Nachricht: Qualität schmeckt besser.
      Die schlechte Nachricht: Qualität ist teurer

      „Technisch ist fast nichts mehr unmöglich“, schreibt Pollmer in seinem Standardwerk „Vorsicht Geschmack“*. Demnach ist es dem japanischen Wissenschaftler Mitsuyuki Ikeda vor einiger Zeit sogar gelungen, einen Fleischersatz aus Klärschlamm herzustellen. „Das Rezept: Man nehme die braune Brühe inklusive der festen Bestandteile, verkoche und trockne die Masse. Gemahlen und ein paar Sojaproteine hinzugefügt – fertig ist das Imitat. Erste Testesser überwanden den natürlichen Würgereiz und gaben ihr Geschmackserlebnis preis: Das Produkt erinnere an alte Hähnchen mit einem leichten Hauch von Fisch.“
      Von all dem (zumeist völlig legalen) Gepansche und Gemenge wollte Frosta sich ein für allemal absetzen. Und das bedeutete, wie Ralf Hrziwnak, Produktionsleiter im Frosta-Werk, anmerkt, vor allem „mehr Arbeit, mehr Kosten und mehr Aufwand“. Jedes Mal, wenn das Bremerhavener Werk von konventioneller auf Frosta-Produktion umstellt, werden beispielsweise die Fertigungsstraßen komplett leer gefahren und gereinigt. Drei Stunden vor Schichtbeginn muss heute ein Mitarbeiter zur Fertigungsvorbereitung erscheinen, um den Käse zu raspeln (anstelle des geriebenen und unter Schutzgas verpackten), die Vollmilch zu erwärmen (statt sie wie früher aus Milchpulver und warmem Wasser zusammenzurühren) oder Knoblauch, Kräuter und Meeresfrüchte-Fond für die Paella abzuwiegen, die man früher einfach mit einer Gewürzmischung aufpeppte.
      Die schlechte Nachricht: Gute Zutaten sind teuer. Die gute Nachricht: Bessere Qualität schmeckt auch besser, wie das Sensoriklabor der Universität Bremerhaven in Blindtests feststellte. „Wir können heute guten Gewissens behaupten, dass wir die Tiefkühlgerichte mit dem besten Geschmack bieten. Für unsere Marke ist das natürlich ein echtes Alleinstellungsmerkmal“, freut sich Braumann. Mit dieser Unique Selling Proposition, so das erklärte Ziel vor Start des Reinheitsgebotes, sollte sich der Marktanteil von Frosta binnen fünf Jahren verdoppeln.
      Am 2. Januar 2003 landeten die ersten Beutel mit dem „ neuen Frosta“ in den Tiefkühlregalen der Republik. Auf der Vorderseite klebte ein leuchtend buntes Siegel mit dem Schriftzug „Frosta Reinheitsgebot“, auf der Rückseite eine lückenlose Liste der rein natürlichen Inhaltsstoffe. Parallel ging eine sieben Millionen Euro teure Werbekampagne on air, die für die beste Tiefkühlkost warb. Das war auch nötig, denn pro Packung verlangte das Unternehmen 30 bis 60 Cent mehr als zuvor. „Qualität, das ist ja klar, hat nun einmal ihren Preis“, so Braumann.
      Das Dumme ist nur: Augenscheinlich will diesen Preis niemand zahlen. Kaum war das „neue Frosta“ auf dem Markt, schmolz der Umsatz binnen weniger Monate um dramatische 30 Prozent. Im ersten Halbjahr 2003 ging die Marktführerschaft bei Tiefkühlfertiggerichten an den Erzrivalen Iglo verloren, und weil zeitgleich auch die übrigen Produktlinien schlechter liefen, musste Frosta einen Sparkurs samt Stellenabbau ankündigen.
      „In der Branche gilt das Reinheitsgebot mittlerweile als Flop“, sagt Braumann zerknirscht. Dem Frosta-Vorstand ging es bei seinem Experiment wie den amerikanischen Marines auf dem Weg nach Bagdad: Am Ziel warteten wider Erwarten keine jubelnden Massen, sondern Menschen, die das alte System irgendwie ablehnten, aber das neue auch nicht wollten. Vor allem jene preissensiblen Familien, die das alte Frosta in Großmärkten eingekauft hatten, ließen die Marke nun links liegen.

      Dumm gelaufen: Die reine Ware kam zu einem denkbar unglücklichen Zeitpunkt auf den Markt

      Braumanns Pech: Sein Reinheitsgebot startete just zu einer Phase, in der der Absatz von Tiefkühlprodukten erstmals seit 40 Jahren einfror. Allein in den ersten vier Monaten 2003 sackten die Branchenerlöse im Vergleich zur Vorjahresperiode um mehr als drei Prozent – „die Leute sparen einfach an allen Ecken und Enden“, stellte Braumann traurig fest. Selbst die erfolgsverwöhnten Handelsmarken mussten Federn lassen, was für einen Markenartikler im Prinzip erfreulich wäre, wenn er nicht – wie Frosta – auch von ihrem Erfolg abhängig wäre. „Mit 20 Prozent weniger Umsatz hatten wir gerechnet, schließlich haben wir ja auch unser Sortiment verkleinert“, sagt der Frosta-Chef heute, „minus 30 Prozent sind aber schon ein unerwarteter Schlag ins Kontor.“
      Immerhin: Jenseits von Billig-Discountern und SB-Warenhäusern lief das neue Frosta besser als erwartet. Für qualitätsbewusste, betuchte Verbraucher ist Tiefkühlkost mit dem Reinheitsgebot plötzlich salon- oder besser küchenfähig geworden. „Wir haben ein ganz neues Verbrauchersegment an die Tiefkühlkost herangeführt“, sagt Braumann tapfer, „auf die werden wir uns jetzt in der zweiten Jahreshälfte konzentrieren. Wir geben der Marke Frosta drei Jahre Zeit. Dann muss sie sich selbst tragen.“
      Und wenn nicht? Was, wenn die vorgeblichen Wünsche der Verbraucher tatsächlich nur Lippenbekenntnisse waren? War es falsch, auf Kunden zu setzen, die mindestens genauso schizophren sind wie die Hersteller – öffentlich gibt man sich qualitätsbewusst, hinter verschlossenen Türen mit billigem Großküchengemansche zufrieden? Seltsam sei das schon, sagt Udo Pollmer: „Jeder ernährungsphysiologische Quatsch wird von den Medien hochgejubelt, jedes vermeintliche Wundervitamin kaufen die Leute wie blöd. Aber wenn mal jemand wirklich auf all die faulen Tricks verzichtet, interessiert sich niemand.“

      Wer die Leute auf den Geschmack bringen will, muss ihre Futterprägung ändern. Das dauert

      Auch Heino Fangmann, Projektleiter Audits beim Institut Fresenius in Taunusstein, kann über die Widersprüchlichkeiten der Leute nur noch lachen: „In Verbraucherbefragungen sagen die Leute immer, dass sie kein Nitritpökelsalz in der Wurst wollen. Wenn die Wurst aber grau im Regal liegt, wird sie nicht gekauft.“ Offenbar kann es, wenn’s um die Wurst geht, den Deutschen nicht billig genug sein, und dafür gibt es möglicherweise einen ganz einfachen Grund. „Der Verdauungstrakt von Menschen will im Prinzip immer das Gleiche. Wer sich einmal an den Geschmack gewisser Aromastoffe gewöhnt hat, wird immer wieder nach ihnen verlangen“, weiß Pollmer.
      Wie diese Futterprägung funktioniert, lässt sich gut an Kindern ablesen, die ihr Leben lang an künstliches Erdbeeraroma gewöhnt wurden: Sie reagieren enttäuscht über die wahre Frucht, die ihnen fade erscheint. Auf diese Weise erzieht sich die Industrie ihre Kunden, und es gehört zur Ironie dieser Geschichte, dass Frosta lange Zeit zu den erfolgreichsten Erziehern zählte. „Wenn heute plötzlich ein neues, reines Produkt auf den Markt kommt“, meint Pollmer, „begegnen ihm die Leute erst einmal mit einer gewissen Skepsis, schließlich hat man sie oft genug an der Nase herumgeführt. Auch ein vernünftiges Produkt braucht deshalb erst einmal Zeit.“
      Wie viel Zeit aber bleibt Thomas Braumann noch? Bislang steht die Kaufmannsfamilie Ahlers, die 75 Prozent der Frosta-Aktien hält, treu hinter seinem Konzept. Im Herbst soll eine zweite, wenngleich bescheidenere Werbekampagne dem Umsatz auf die Beine helfen. Von seinem ursprünglichen Ziel – Verdoppelung des Marktanteils binnen fünf Jahren – will sich der Frosta-Chef jedenfalls noch nicht verabschieden, auch wenn ihn die Schizophrenie der Verbraucher „schon gehörig nervt“.
      „Schaun’se mal her“, sagt der Vorstandsvorsitzende und greift die Whiskas-Tüte von seinem Bücherregal. „Dieses Katzenfutter hier kostet im Kilo genauso viel wie unsere neue Paella. Einziger Unterschied: Statt hochwertiger Zutaten sind bei Whiskas 83 Prozent Wasser, sechs Prozent tierische Nebenprodukte und sechs Prozent pflanzliche Nebenprodukte drin. Die Leute geben also für Wasser und Abfall liebend gerne etwas aus, was ihnen für ein anspruchsvolles Produkt zu teuer ist. Ist das nicht seltsam?“
      Während Frostas Qualitäts-Food nachhaltig schwächelt, war „Whiskas Lifecare“ eine der erfolgreichsten Produktneueinführungen des vergangenen Jahres, berichtet Braumann und blickt gedankenverloren aus dem Fenster.
      „Irgendwas“, seufzt der Vorstandsvorsitzende und fixiert irgendeinen Punkt weit jenseits des Bremerhavener Leuchtturms, „irgendetwas stimmt da nicht.“ -----|


      Zusatzinformationen:

      Udo Pollmer u. a.: Vorsicht Geschmack – was ist drin in Lebensmitteln? Rowohlt Taschenbuch, 2002; 344 Seiten; 10,50 Euro _

      http://www.brandeins.de/magazin/was_wirtschaft_treibt/artike…
      Avatar
      schrieb am 20.10.03 19:59:50
      Beitrag Nr. 126 ()
      Aus der FTD vom 17.10.2003 www.ftd.de/fricke
      Kolumne: Weltmeister wider Willen
      Von Thomas Fricke

      Auf die Meldung vom neuen Exportrekord reagieren Deutschlands Radikalkritiker mit kabarettreifen Bedenkenrufen. Dabei sind gängige wirtschaftspolitische Klischees dringend korrekturbedürftig.

      Was meinen Sie, wie Amerikaner reagieren würden, wenn bekannt würde, dass sie Weltmeister sind? Wahrscheinlich mit einem "Wow" und einem "Yeah" - oder einem "Mehr davon". Eher unwahrscheinlich, dass sie "obwohl" oder "nun ja" sagen und relativieren würden, dass das ja keinen Wert hat - so wie es chronisch traurige deutsche Wirtschaftsexperten seit Tagen praktizieren. Seit gemeldet wurde, dass das relativ kleine Deutschland wieder mehr exportiert als jedes andere Land der Welt.

      Natürlich ist das an sich nur ein symbolischer Titel. Bei genauerem Hinsehen drängt sich der Verdacht trotzdem auf, dass dahinter ein tatsächlich beeindruckendes Aufholen der deutschen Wirtschaft in den vergangenen Jahren steckt. Und das könnte so manche wohlfeile deutsche Krisendiagnose ad absurdum führen: über die angeblich schlimmen Folgen der Globalisierung; oder darüber, dass Deutschlands Problem vor allem in international zu hohen Kosten liegt. Eine nüchternere Analyse wäre dringend nötig, um wirtschaftspolitische Desaster zu vermeiden.

      Die These vom deutschen Exportabstieg wackelt schon länger. Noch bis Mitte der 90er Jahre hatte der Höhenflug der D-Mark deutsche Produkte in der Tat stark verteuert, die Lohnstückkosten stiegen nach der Einheit drastisch: Bis 1995 blieb Deutschlands Exportentwicklung um mehr als 15 Prozent hinter den Importen der Abnehmerländer zurück - ein enormer Verlust an Marktanteilen. Seitdem hat sich der Trend aber ebenso beeindruckend umgekehrt.

      Kein anderes großes Industrieland hat seine Exporte in den globalen Abschwungjahren seit 2001 so stark gesteigert wie Deutschland. Alleine in den vergangenen beiden Jahren stiegen die weltweiten Verkäufe sogar um fünf Prozent schneller als die Gesamtnachfrage auf den Absatzmärkten - während Briten und Amerikaner dramatische 15 Prozent gegenüber Ende der 90er Jahre verloren.

      In der Weltmeisterstatistik wurde das Phänomen bis 2002 noch überlagert, da der Euro stark unterbewertet war und die Exporte in Dollar-Rechnung somit relativ niedrig wirkten. Im August lag der Kurs jetzt wieder dort, wo Ökonomen ihn als vernünftig einstufen. Siehe da: Deutschlands Exporte liegen erstmals seit 1992 wieder höher als die der USA, dem bisherigen Exportweltmeister.

      Ein Teil des Erfolgs mag teuer erkauft sein, wie Skeptiker einwenden: durch Rationalisierung, gerade weil die Kosten zwischenzeitlich so stark gestiegen waren. Das gilt aber vor allem für die erste Hälfte der 90er Jahre, als Deutschland damit auch einen Teil des Industrieabbaus nachholte, den Briten, Franzosen und Amerikaner schon hinter sich hatten. Seitdem lässt sich in den Statistiken zum Produktivitätswachstum kein besonderer Rationalisierungsdruck erkennen. Im Gegenteil: Die Leistung der Deutschen steigt im internationalen Vergleich eher langsam.

      Das jüngste Aufholen der Exporte hat einfache Gründe: Die Löhne stiegen in den vergangenen Jahren tatsächlich wieder deutlich langsamer als bei der Konkurrenz, und deutsche Qualität zahlt sich wieder aus. Deutschlands Firmen liegen zudem in Wachstumsmärkten wie Osteuropa weit vorne.

      Umso absurder wirkt es, wenn Bundesregierung und Radikalskeptiker Reformen in Deutschland mit Angstszenarien zu begründen versuchen, wonach uns die globalisierte Billigkonkurrenz verschluckt. Deutschland verdient mehr Geld beim Export nach Osteuropa und in viele asiatische Länder, als es von dort importiert. Das spricht wie der neue WM-Titel erst einmal dafür, dass die Deutschen vom Globalisieren per saldo profitieren - und dafür, dass das hiesige Kostenproblem womöglich stark überschätzt wird.

      Natürlich ließe sich der ein oder andere Marktanteil zusätzlich gewinnen, wenn die Lohnnebenkosten sinken. Nur werden dadurch keine Millionen Jobs entstehen. Die Exporterfolge bestätigen eher, dass in Deutschland vor allem jene Arbeit zu teuer ist, die gar nicht im internationalen Wettbewerb steht: einfachere Servicebeschäftigung, die in der Tat zu boomen scheint, seit die Minijobs von Sozialbeiträgen befreit sind. Wenn die Vermutung stimmt, würde es im Zweifel sogar schaden, wenn der Rest der Republik per Dekret länger arbeitet oder auf Lohn verzichtet, wie es manchem vorzuschweben scheint.

      Vieles deutet darauf hin, dass hohe Arbeitskosten einen Teil, aber eben nur einen Teil der deutschen Krise erklären: neben globalen Phänomenen wie Konjunkturabstürzen, Devisenturbulenzen, hohen Ölpreisen oder platzenden Aktienblasen. Über Wachstum und Jobs entscheide "nicht nur der Preis für den Faktor Arbeit, sondern auch der Einsatz von Kapital, der von Zinsen beeinflusst wird", sagt der Pariser Ökonom Philippe Sigogne.

      Nach Sigognes Rechnung lagen die Kapitalmarktzinsen in den USA zwischen 1960 und 2003 mit inflationsbereinigt gut 2,5 Prozent unter dem jährlichen Wachstum der US-Wirtschaft von gut drei Prozent: Mit einer Investition in die Realwirtschaft ließ sich im Schnitt mehr verdienen als mit einer Finanzanlage. In Europa sei das in den vergangenen Jahren umgekehrt, so Sigogne. Die Zinsen müssten sinken, um die Wachstumskrise zu beenden.

      Für den WM-Titel allein kann sich Deutschland wenig kaufen, das stimmt. Genauso abwegig aber ist es, wenn der Erfolg jetzt aus lauter Angst davor kleingeredet wird, dass die Reformbereitschaft im Lande nachlassen könnte. So etwas ist nicht nur zynisch, sondern vielleicht auch unklug. Besser wäre, uralte Befunde zu korrigieren. Womöglich ließen sich vernünftige Reformen sogar glaubwürdiger vermitteln, wenn die Ökonomen im Lande aufhörten, den Deutschen mit etwas deplatziertem Sendungsbewusstsein einzureden, wie teuer, faul und unflexibel sie sind. So dumm sind Weltmeister nicht

      http://www.ftd.de/pw/de/1066030076366.html
      Avatar
      schrieb am 20.10.03 20:41:22
      Beitrag Nr. 127 ()
      Warum ist Deutschland Exportweltmeister?
      Der Einfluß laufender internationaler
      Transfers
      Sabine Hansen und Klaus Wälde∗
      15. Juli 2003
      erscheint in: Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften 2003

      Der Außenbeitrag einer Ökonomie wird nach dem intertemporalen Ansatz zum Verständnis der Leistungsbilanz verursacht durch inländische Spar- und Investitionsentscheidungen. Dieser Ansatz wird erweitert umeine theoretische und empirische Analyse der Auswirkungen laufender internationaler Transfers auf den Außenbeitrag. Es zeigt sich, dass über 80 %des Exportüberschusses der Bundesrepublik Deutschland durch internationale Transfers
      verursacht werden.

      Einleitung
      Die Bundesrepublik Deutschland ist bekannt für ihren Handelsbilanzüberschuß. Gleichzeitig ist sie bekannt für ihr defizitäre Dienstleistungsbilanz.Betrachtet man Handels- und Dienstleistungsbilanz (einschließlich der Ergänzungen zumWarenhandel) zusammen, erhält man den Außenbeitrag zum Bruttoinlandsprodukt (im folgenden kurz Außenbeitrag). Der Außenbeitrag der Bundesrepublik war im Zeitraum von 1971 bis 1995 in 22 von 25 Jahren
      positiv und belief sich relativ zum Bruttosozialprodukt durchschnittlich auf 2,4 %. Im Vergleich zu anderen G7 Ländern, deren relative Außenbeiträge zwischen -2,0 % (GB) und 1,7 % (Japan) lagen, ist Deutschland ”Exportweltmeister”. Die Höhe der Nettoexporte1 wird in wirtschaftspolitischen Diskussionen oft als Indikator für die ”Wettbewerbsfähigkeit” oder die ”Leistungsstärke” der Bundesrepublik betrachtet. Ist der Außenbeitrag möglichst groß, ist dies ein ”gutes” Zeichen, verringert er sich oder wird sogar negativ, muß es der
      Ökonomie ”schlecht” gehen.2 Ziel dieser Arbeit ist es, diese Sichtweise zu relativieren. Der aus der Literatur wohl bekannte intertemporale Ansatz zum Verständnis der Leistungsbilanz
      und des Außenbeitrags (Persson und Svensson, 1985; Obstfeld und Rogoff, 1995) wird um eine für das Verständnis des Außenbeitrags der Bundesrepublik sehr relevante Größe - laufende internationale Transfers - erweitert. Es wird sich im theoretischen Teil herausstellen, dass laufende internationale Transfers (regelmäßige Zahlungen der Bundesrepublik an das
      Ausland) den Außenbeitrag positiv beeinflussen. Umso größer die Transfers, umso größer der Außenbeitrag. Eine empirische Untersuchung zeigt dann, dass über 85 % des durchschnittlichen Außenbeitrags der Jahre 1971 bis 2000 durch Zahlungen der
      Bundesrepublik an das Ausland erklärt werden. Hätten diese Zahlungen nicht stattgefunden, wäre der Außenbeitrag von durchschnittlich 2,1 % des Bruttosozialprodukts auf 0,5 % gesunken. Da internationale Transfers verursacht werden durch politische Entscheidungen (z.B. Zahlungen an internationale Organisationen) oder persönliche Entscheidungen (z.B. Zahlungen an Angehörige im Ausland), wird der Außenbeitrag zu über 85 % von Determinanten bestimmt, die keine zeitnahen Indikatoren für die Leistungsstärke
      oder Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft der Bundesrepublik sind. Somit ist die oben angesprochene Verwendung des Außenbeitrags in der wirtschaftspolitischen
      Diskussion irreführend. Verschiedene Autoren haben schon Schwierigkeiten betont, die sich bei der Verwendung des Außenbeitrags als Maß für die Wettbewerbs- oder Leistungsfähigkeit
      einer Volkswirtschaft ergeben. Gries und Hentschel (1994) führen an, dass bei der Saldierung der Exporte und Importe die Kapitalbewegungen als wichtigster Gegenposten zu den Güter- und Dienstleistungstransaktionen unberücksichtigt blieben; am deutlichsten werde diese Schwäche bei ausländischen Direktinvestitionen. Dluhosch et al. (1992) merken an, dass die Verwendung der Handels- bzw. Leistungsbilanz als Maß der Wettbewerbsfähigkeit die Position der gesamten Volkswirtschaft als Summe der Wettbewerbspositionen einzelner Unternehmen auffasse, dass Wettbewerbsfähigkeit aber nur ein für einzelne Unternehmen sinnvolles Attribut sei. Boroch (1995) bemängelt, dass der Leistungsbilanzsaldo als ein Beispiel für nicht-preisliche Indikatoren der Wettbewerbsfähigkeit eines Landes nicht in
      der Lage sei, die technologische Entwicklung einzufangen, die aber ein entscheidender
      Faktor für das wirtschaftliche Wachstum sei. Vor dem Hintergrund des intertemporalen Ansatzes zur Analyse der Leistungsbilanz weisen Issing und Masuch (1989) darauf hin, dass sich der optimale Leistungsbilanzsaldo einer Volkswirtschaft im Zeitablauf ändern könne,
      beispielsweise in dem Maße, wie sich ihre Investitionsrate oder Zeitpräferenzrate ändere. Daher sei es wenig angemessen, die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie eines Landes an ihm messen zu wollen. Eine modellfundierte Erweiterung des intertemporalen Erklärungsansatzes
      um internationale Transfers und deren empirische Anwendung ist, nach dem besten Wissen der Autoren, in der Literatur nicht enthalten. Der große empirische Erklärungsgehalt internationaler Transfers macht dies jedoch besonders wichtig.
      Der nächste Abschnitt präsentiert ein einfaches dynamisches Modell mit optimierenden Haushalten, international integrierten Kapital- und Gütermärkten, internationalen Transfers und Nettoexporten. Abschnitt 3 analysiert die dynamischen Auswirkungen internationaler Transfers auf den Außenbeitrag und betrachtet dabei kurzfristige wie langfristige Effekte. Der
      vierte Abschnitt führt eine verblüffend einfache empirische Anwendung dieses Modells auf die Bundesrepublik durch. Der letzte Abschnitt fasst zusammen, betont wirtschaftspolitische Implikationen und zeigt weitere Forschungsmöglichkeiten auf.

      http://www.tu-dresden.de/wwvwliwb/mitarbeiter/waelde/pdf/Han…
      Avatar
      schrieb am 26.10.03 04:45:47
      Beitrag Nr. 128 ()
      Lesbares



      "Brave junge Generation

      Von Dr. Bernd Niquet

      Als die Renten zum Anfang dieser Woche gekuerzt
      wurden, konnte man ueberall einen grossen Aufschrei
      und Protest der Alten hoeren. Die Zukunft der
      jungen Generation hingegen ist schon lange
      verspielt. Doch von ihnen hoert man nichts, rein
      gar nichts. Was ist das fuer eine Generation,
      diese brave Generation? Werden sie uns einmal
      die Aktien kaufen, die wir Alten angespart haben,
      um fuer ihr Alter vorzusorgen? Wenn man es ihnen
      sagt, werden sie es sicherlich machen wollen.
      Doch sie koennen es nicht. Denn sie haben schlichtweg
      weder das Einkommen noch das Vermoegen dazu.

      Die 68er-Generation hat beinahe unsere Gesellschaft
      aus den Angeln gehoben, weshalb sich auch im
      Anschluss daran keine Generation mehr so fordernd
      und umwaelzend gezeigt hat. Doch was gab es nicht
      so alles in der Zwischenzeit – von moderaten
      Protestgenerationen bis hin zur Totalverweigerung
      der Punk-und-No-Future-Generation. So etwas Braves
      und Angepasstes wie heute habe ich allerdings
      noch niemals erlebt.

      Am besten erspuert man so etwas stets an der Musik.
      Neulich habe ich ein Konzert einer der grossen neuen
      Bands aus England gesehen, The Coral. So etwas haette
      es vor zehn, zwanzig oder dreissig Jahren niemals
      gegeben: Perfekte Instrumentation, musikalisch
      grosse Koenner, doch eine folkloristisch angehauchte
      Musik, dass ich jeden Moment darauf gewartet habe,
      dass Rex Gildo auf die Buehne springt und "Hossa!
      Hossa!" ins Mikrofon ruft. Nichts gegen Folklore,
      doch dass ein Haufen braver Jungs mit fast schon
      als Schlagermusik zu bezeichnenden Songs Trend-
      setter werden, so etwas hat es wohl noch niemals
      gegeben.

      Als ich Anfang der siebziger Jahr auf den ersten
      Konzerten war, sind wir noch ueber die Zaeune und
      Mauern geklettert, um in die Halle zu kommen.
      Das Geld fuer den Eintritt hatte niemand von uns.
      Und selbst wenn wir es gehabt haetten, waere es
      eine Frage der Ehre gewesen, es nicht dafuer
      auszugeben. Heute kosten die Konzerte ein Vielfaches
      des damaligen Preises und trotzdem sind ueberall
      Kids und Kiddies en masse zu finden. Und hat man
      sich damals noch gepflegt vor den Konzerten zu
      Hause betrunken und hoechstens noch einmal ein
      Bier nachgeschuettet, so gibt es heute selbst-
      verstaendlich nicht nur Bier, sondern vollstaendig
      ausgeruestete Bars.

      Was fuer die Alten wie mich durchaus Vorteile haben
      kann. Denn bei besagtem Konzert war ich sehr
      erkaeltet, habe jedoch ploetzlich gemerkt, dass
      ein Caipirinha nicht nur so gut wie Hustensaft
      schmeckt, sondern sogar besser als Hustensaft
      wirkt. Auch das ist naemlich so ein Mogelbereich –
      der Hustensaft. Der Hustensaft als Manifestation
      des Selbsbetrugs einer ganzen Gesellschaft.
      Der Wirkstoff in dem Hustensaft, den meine Frau
      fuer mich gekauft hat, ist: Efeublaetter! Das muss
      man sich einmal vorstellen! Efeublaetter! So etwas
      waechst auf dem Friedhof und an Hausfassaden. Und
      dem dummen Verbraucher verkauft man Zuckerwasser
      mit Efeuextrakt fuer 5 Euro in der Miniflasche.
      Das ist fast wie zu seligen Neue-Markt-Zeiten.
      Geriebene und getrocknete Efeublaetter! Ich habe
      das Gefuehl, den Verstand zu verlieren.

      Vielleicht sollte man der Politik und der
      Pharma-Lobby einmal vorschlagen, ob wir nicht
      mit Efeublattextrakt oder Schwarzwurzelsirup
      die Renten wieder sicher machen koennen. Die
      brave junge Generation findet das bestimmt
      klasse und schweigt dazu wie immer. Und die
      Alten koennen daher noch einmal richtig abzocken.
      Schliesslich braucht man durchaus auch Bares
      fuer die Altersvorsorge."


      Grüssels Tippgeber:)
      Avatar
      schrieb am 04.11.03 11:06:10
      Beitrag Nr. 129 ()
      REIZTHEMA RENTE

      Die Legende von der Altersarmut

      Von Carsten Matthäus

      Mit der Entscheidung, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Rentenbezüge zu kürzen, hat die Bundesregierung eine Welle der Empörung ausgelöst. Die Horrorvision von den verarmenden Alten geht allerdings an der Realität vorbei.

      Verdi-Chef Frank Bsirske redet davon, DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer hat sie im Repertoire, und mehrere Chefs der Sozialverbände stellen sie immer wieder in den Mittelpunkt ihrer Argumentation: die Angst vor der Altersarmut. Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbandes Deutschland (SoVD), vermutet beispielsweise, das geplante Renten-Notprogramm der Regierung werde zu "neuer Altersarmut" führen.

      Auf den großen Protestzug sind neben Kirchen, Gewerkschaften und Sozialverbänden auch noch die Globalisierungskritiker von attac aufgesprungen, die nun gemeinsam alle Register ziehen, um den "sozialen Kahlschlag" abzuwenden und den "Sparschweinen der Nation" zu Hilfe zu eilen.

      Auch die andere Seite - will sagen die selbst ernannten Interessenvertreter der jungen Generation - hat das schaurig klingende Wort schon gelernt. So fordert Buchautor Bernd Klöckner ("Wie die Alten die Jungen abkassieren", Eichborn Verlag), dass die Alten ab sofort weniger bezahlt bekommen, damit die Jungen später nicht in die Altersarmut abrutschen. Unvergessen natürlich auch die peinliche Hüftgelenk-Attacke von Philipp Missfelder, Chef der Jungen Union. Er regte an, Operationen an diesem Körperteil bei über 85-jährigen sein zu lassen, um Geld für schwere Zeiten zu sparen.

      Die Panikmacher beider Seiten sollten das Wort "Altersarmut" besser völlig aus ihrem Vokabular streichen. Renten-Experten weisen immer wieder darauf hin, dass die Geschichte von der armen alten Frau nicht mehr ist als ein Klischee. "Altersarmut als Massenphänomen gibt es nicht mehr", sagt beispielsweise Bernd Katzenstein, Sprecher des Instituts für Altersvorsorge. Auch Franz Ruland, Chef des Verbandes der Rentenversicherungsträger (VdR), sagte kürzlich in einem Interview, die Altersarmut sei in Deutschland kein Problem mehr.

      Wie unsinnig das Gerede von der Altersarmut ist, zeigt schon ein Blick in die Statistik. Am Jahresende 2001, so das Statistische Bundesamt, gehörten 1,4 Prozent der über 65-Jährigen zu den Sozialhilfeempfängern. Die Quote der Gesamtbevölkerung lag mit 3,3 Prozent mehr als doppelt so hoch. Die Altersgruppe mit dem höchsten Anteil an Sozialhilfeempfängern waren mit 6,4 Prozent Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt das Sozio-ökonomische Panel SOEP in einer Untersuchung aus dem Jahr 2000. Danach ist die Armutsquote von Kindern bis zehn Jahren in Deutschland etwa dreimal so hoch wie die der Älteren von mehr als 70 Jahren. In Ostdeutschland kommen die Statistiker sogar auf ein Verhältnis von fünf zu eins. Fazit im "Datenreport 2002": "Mit zunehmendem Alter sinkt die Betroffenheit von Armut und Niedrigeinkommen."

      Völlig unsachlich ist es zudem, die Höhe der Renten mit dem Einkommen der Rentner gleichzusetzen. So weist die Sprecherin des Sozialverbandes VdK darauf hin, dass die Hälfte der Rentner lediglich eine Altersversorgung von bis zu 1000 Euro beziehen. Sie zieht daraus den Schluss: "Für viele geht es jetzt ans Eingemachte." Dabei unterschlägt sie wie die meisten Empörten, dass die Rente natürlich längst nicht die einzige Einkommensquelle ist. Nach Schätzungen des Deutschen Instituts für Altersvorsorge macht das Altersruhegeld durchschnittlich etwa 80 Prozent der Einkünfte aus, ein weiteres Fünftel kommt aus anderen privaten oder betrieblichen Einkünften. Hinzu kommt, dass Rentner eine ungleich niedrigere Belastung mit Steuern und Sozialabgaben haben.

      Ein sinnvoller Vergleich, der allerdings weit weniger spektakulär ausfällt, ist die Betrachtung der Netto-Jahreseinkommen, wie sie das Statistische Bundesamt mit Zahlen für das Jahr 2000 geliefert hat. Die Statistiker haben errechnet, wie viel jedem Haushaltsmitglied im Jahr für Konsum und Sparen zur Verfügung steht. Der Durchschnitt in Deutschland liegt hier bei 14.300 Euro, Renter kommen auf 12.600 Euro, Pensionäre sogar auf 16.300 Euro. Zum Vergleich: Der Durchschnitt aller Arbeitnehmer - also der Beitragszahler - liegt bei 13.200 Euro. Von einer Annäherung der Einkommenssituation der Rentner an die der Sozialhilfeempfänger, die sich pro Kopf im Jahr mit 5700 begnügen müssen, kann nach dieser Rechnung überhaupt keine Rede sein.

      Nicht viel schlauer ist es, das Gespenst der Altersarmut unter den heutigen Beitragszahlern umgehen zu lassen - nach dem Motto: "Weil immer weniger Beitragszahler für immer mehr Rentner zahlen müssen, rutschen die Rentner von übermorgen in den sozialen Abgrund." Dabei wird außen vor gelassen, dass die kommende Rentnergeneration von völlig anderen Voraussetzungen ausgeht als die jetzige. Die Jungen profitieren nämlich nicht unerheblich vom Arbeitseifer der jetzigen Ruheständler. Fachleuten zufolge werden in Deutschland 200 Milliarden Euro vererbt - pro Jahr.

      http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,270669,00.html
      ___________________________________________________________
      Ich habe gerade ein wenig auf der Seite der Jusos( http://www.jusos.de/servlet/PB/menu/1080043/ ) gestöbert. Und wenn ich sehe welche Meinung die Jusos zu einem Thema wie der Rente haben, dann frage ich mich, ob es wirklich möglich ist, das diese Leute wirklich so blöd und ideologisch verblendet sind, oder ob sie nur ihre Wähler für so blöd halten. :confused:

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 05.11.03 02:28:49
      Beitrag Nr. 130 ()
      Wachstumsexplosion

      Von Dr. Bernd Niquet

      "Die Rechenknechte in den USA haben anscheinend
      ganze Arbeit geleistet: Um 7,2 Prozent ist das US-
      Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal gestiegen.
      Eine fast sensationelle Zahl. Mitten in einer
      schweren Krise das groesste Wachstum der letzten
      zwanzig Jahre. How come?

      Einerseits wachsen die Schulden ungebrochen weiter
      in den USA. Das ist gut, weil ohne Schulden auch
      die Wirtschaft nicht wachsen kann. Grosse Teile des
      Zuwachses kommen jedoch aus Ruestungsausgaben. Das
      ist neutral, weil es hier durchaus Mulitplikator-
      effekte gibt, ein richtig selbst tragender Auf-
      schwung jedoch nicht initiiert wird. Und: Der
      Hauptteil stammt aus statistischen Artefakten wie
      dem hedonistischen Preisdeflator, der aus tat-
      saechlichen Ausgaben fuer Computer in Hoehe von 5,9 Mrd.
      Dollar in der "Real"-Rechnung aufgrund der Berueck-
      sichtigung von Qualitaetsverbesserungen, die in den
      Preisen nicht ersichtlich sind, Ausgaben in Hoehe
      von 35,4 Mrd. Dollar macht.

      Erstaunlich dass bei einem derartigen Wachstum bei
      historisch niedrigen Zinsen und absoluter Preis-
      stabilitaet die Boerse nicht explodiert. Der Markt riecht
      demnach, dass etwas faul ist. Was also machen? Auf die
      Kraefte der aktuellen Rallye vertrauen und weiter
      kaufen oder eher auf die fundamentale Situation
      schauen und verkaufen?

      Vor kurzem bin ich auf einen Artikel im Netz bei
      Stockmove aufmerksam geworden. Titel "Gier frass Hirn –
      Die Rallye ist beendet". Ich schaue auf die Sentiment-
      Kurven und denke: Das ist nicht schlecht, das hat etwas
      fuer sich.

      Wenig spaeter habe ich die woechentliche Marktanalyse vom
      Smart Investor in meiner Mailbox. Ich kenne Ralf Flierl
      bereits seit laengerer Zeit und bewundere, wie gut er mit
      seinen Leuten in der ganzen letzten Zeit gelegen hat.
      Zu meinem Erstaunen wechselt der Smart Investor jetzt
      vom kurzfristigen Pessimismus zum kurzfristigen
      Optimismus. Bush will wiedergewaehlt werden, so das
      Hauptargument, und dafuer wird alles getan. Kursziel
      Dax 4.500 bis Juni 2004. Das ist nicht schlecht, das
      hat etwas fuer sich, denke ich.

      Nur einen Tag spaeter lese ich: Abby Joseph Cohen ist
      zurueck. Auf einem Seminar in London hat die Koenigin der
      Bullen gerade von steigenden Aktienkursen im naechsten Jahr
      geschwaermt – im Zuge einer dann deutlich anziehenden
      US-Konjunktur und steigenden US-Gewinnen. Diesmal denke
      ich nicht: Das ist nicht schlecht, das hat etwas fuer
      sich. Nein, dieses Mal bin ich froh, meine Aktienquote
      nicht aufgestockt zu haben.

      Am selben Tag noch begegnet mir Bob Prechter im Netz.
      Prechter ist, wie nicht anders erwartet, super bearish.
      Er sagt: "After this bear market is finally over, almost
      no one will remember the Pollyanna psychology that
      existed in the summer of 2000, the spring of 2002, the
      spring of 2002, or the fall of 2003. The S&P and Nasdaq
      will look like one big slide with a few rallies along the
      way, and historians will probably not even imagine that
      investors could have been stark raving bullish during any
      one of them." Das ist nicht schlecht, das hat etwas fuer
      sich, denke ich.

      Was nun also wirklich tun? Auf jeden Fall keine Null-oder-
      eins-Entscheidung treffen. Ich selbst halte derzeit 30 Prozent
      Aktien, davon etwa ein Drittel in Rohstoffwerten, 20 Prozent
      Bonds mittlerer Laufzeiten und 50 Prozent Cash. Etwas
      Besseres faellt mir nicht ein. Ich weiss natuerlich, dass
      viele Leute sehr viel cleverer sind als ich. Ich weiss
      andererseits auch, dass andere bald wieder voellig Pleite
      gehen werden. Im einen wie im anderen Fall. Manchmal ist
      es durchaus nicht verkehrt, sich nicht zu weit aus dem
      Fenster zu lehnen. Das ist nicht schlecht, das hat etwas
      fuer sich."


      Grüssels
      Tippi;)
      Avatar
      schrieb am 05.11.03 02:29:49
      Beitrag Nr. 131 ()
      Gegen den Strom: Die antizyklische Anlagestrategie - Teil 1

      Zu kaufen, was keiner haben will, ist eine bewaehrte
      Methode, an der Boerse auf Dauer ueberdurchschnittliche
      Gewinne zu erzielen

      Von Horst Fugger

      Ueber kaum eine andere Vorgehensweise an der Boerse gibt
      es so viele Missverstaendnisse wie ueber die antizyklische
      Anlagestrategie, oft auch kurz AZ-Strategie genannt.
      So mancher haelt sich schon fuer einen Contrarian, weil
      er heute eine Aktie kauft, die gestern gefallen ist.
      Viele verbinden mit dieser Strategie auch die Vorstellung,
      Antizykliker seien so etwas wie die ewigen Miesmacher
      und Stinkstiefel an den Kapitalmaerkten, quasi das per-
      sonifizierte „Ja, aber ...“ der Boerse. Nichts koennte
      falscher sein. Jeden Tag das Gegenteil dessen zu tun,
      was die Mehrheit der Boersianer fuer richtig haelt, kann
      nicht zum Erfolg fuehren, weil die Masse der Anleger nun
      einmal ueber mehr Geld und somit mehr Marktpotenz verfuegt
      als die paar Leute, die sich als eingefleischte
      Contrarians verstehen. Ausserdem wuerde es in laengeren
      Trendphasen zwangslaeufig zum Ruin fuehren. Man kann es
      als Quintessenz der AZ-Strategie bezeichnen, nur an den
      entscheidenden Wendepunkten der Boerse eine Position ein-
      zunehmen, die im Widerspruch zur Mehrheitsmeinung steht.
      Das gilt fuer Gesamtmarkttendenzen, Branchentrends und
      Einzelaktien. Manchmal genuegt es, die allgemeine
      Boersentendenz richtig einzuschaetzen. Ein Musterbeispiel
      ist der Zeitraum seit Maerz dieses Jahres. Damals hatte
      ein so umfassender Ausverkauf stattgefunden, dass man
      beim Kauf kaum einen Fehler machen konnte. Voellig anders
      lief es in den Jahren 2000 und 2001: Waehrend die Maerkte
      abstuerzten, konnte man mit AZ-Aktien wie Philip Morris,
      Reebok, VW, Toys „R“ Us und dergleichen ein Vermoegen
      verdienen.

      Wann ist eine Aktie billig?

      Beide Zeitraeume waren allerdings Extremphasen, die so
      nur selten vorkommen. Im allgemeinen tut der Antizykliker
      gut daran, die Gesamtmarkttendenz zwar zu beachten,
      aber gut 90 Prozent seiner Muehe der Auswahl von Einzel-
      aktien zu widmen. Aus antizyklischer Sicht interessante
      Aktien gibt es in jeder Boersenphase; mal mehr, mal
      weniger, aber immer mehr als genug. Soll heissen: mehr
      als man analytisch bewaeltigen kann, wenn man die Sache
      mit der gebotenen Gruendlichkeit angehen will. Was die
      Auswahlkriterien betrifft, gehen auch unter ueberzeugten
      Antizyklikern die Meinungen auseinander. Natuerlich geht
      es darum, Aktien moeglichst preiswert einzukaufen, aber
      dieses Kriterium ist leider recht schwammig: Wann ist
      eine Aktie billig, und wie schuetzt man sich davor, dass
      sie nach dem Kauf noch billiger wird, statt Kursgewinne
      abzuwerfen? Klar ist, dass es zur Beantwortung dieser
      Frage quantifizierbarer Kriterien bedarf. Spontankaeufe
      "aus dem Bauch heraus" sind die Hauptursache teurer
      Fehlentscheidungen. Harte Kriterien sind dagegen die
      bisherige Kursentwicklung, die aktuellen Kennzahlen
      und in gewisser Weise auch die charttechnische Lage.
      In gewisser Weise deshalb, weil man bekanntlich drei
      verschiedene Urteile erhaelt, wenn man drei Chart-
      spezialisten nach ihrer Meinung zur technischen
      Situation einer Aktie fragt. Ich darf das behaupten,
      weil ich es mehrfach ausprobiert habe.

      Fakten und Faustregeln

      Es liegt nahe, dass fuer AZ-Depots vor allem solche
      Aktien in Frage kommen, die einen Kurssturz von
      mindestens 50 Prozent hinter sich haben. Diese
      Voraussetzung haetten noch vor kurzem sehr viele
      Aktien erfuellt, aber in weniger dramatischen Boersen-
      phasen schraenkt dies Kriterium das Auswahlspektrum
      deutlich ein. Die wichtigste Aufgabe des Antizyklikers
      ist die Urteilsfindung, welche Aktien zu Recht ab-
      gestuerzt sind, und welche Aussichten auf eine Kurs-
      erholung bieten. Hier helfen fundamentale Kennzahlen
      weiter: In erster Linie KBV, KUV und KCV, also die
      Relationen des Kurswerts zum Buchwert, Umsatz und
      Cash Flow je Aktie. In der Literatur zum Thema werden
      Faustregeln genannt: Zum Beispiel sollte das KBV
      nicht wesentlich ueber 1,0 liegen, ebenso das KUV.
      Letztere Voraussetzung wird allerdings von so vielen
      Unternehmen erfuellt, dass man strengere Richtlinien
      anlegen sollte. Wenn das KUV unter 0,5 liegt, ist
      dies schon mal nicht schlecht. Das KCV sollte 10
      nicht ueberschreiten, Werte zwischen 5 und 8 gefallen
      mir allerdings besser.

      Auf die Branche kommt es an

      Hier draengt sich eine Frage auf: Und was ist mit
      dem Kurs-Gewinn-Verhaeltnis (KGV), dieser bei
      Anlegern so beliebten Kennzahl? Die Antwort muss
      mehrschichtig ausfallen: Bei Unternehmen aus wenig
      konjunktursensiblen Branchen, etwa Nahrungsmittel
      oder Haushaltswaren, die langfristig recht konstante
      Gewinne ausgewiesen haben, ist ein niedriges
      aktuelles KGV, soll heissen: ein deutlich niedrigeres
      als frueher, ein positives Signal. Vorausgesetzt
      natuerlich, dass es im Unternehmen keine Veraenderungen
      gegeben hat, die eine dauerhafte Verschlechterung
      der Gewinnsituation erwarten lassen. Man muss hier
      auf Details achten und im Einzelfall entscheiden.
      Fuer antizyklische Investoren interessanter sind
      allerdings Unternehmen aus stark konjunkturabhaengigen
      (zyklischen) Branchen. Hier fallen die Trends
      wesentlich staerker aus, hier bieten sich die besten
      Chancen, Qualitaetsaktien zu Ausverkaufspreisen zu
      erwischen. Eine Eigenart solcher Branchen und Aktien
      besteht allerdings darin, dass das KGV dann am
      niedrigsten ausfaellt, wenn der Kurs bereits stark
      angestiegen ist. Es klingt paradox, aber zyklische
      Aktien sind dann am teuersten, wenn sie nach dem
      KGV-Kriterium am billigsten aussehen.

      Daher aergere ich mich auch immer wieder darueber,
      dass diese Kennzahl so pauschal und unkritisch nach
      dem Motto: Je niedriger, desto besser, verwendet
      wird. Aktien aus zyklischen Branchen sind am
      attraktivsten, wenn das KGV im historischen Vergleich
      sehr hoch ist, oder wenn man in Ermangelung eines
      „G“, also eines Gewinns, gar kein KGV berechnen kann.
      Um zu einem Urteil zu kommen, bietet sich ein Lang-
      fristvergleich der Kennzahlen eben dieser einen Aktie
      ueber die Jahre an. Oft wird man feststellen, dass
      tatsaechlich dann guenstige Kaufzeitpunkte gegeben waren,
      als das Unternehmen Verluste schrieb oder herbe Gewinn-
      einbrueche erlitt. Das gilt fuer Branchen wie Stahl,
      Automobile, Chemie, Papier oder Industriemetalle.

      Ohne Risikomanagement geht es nicht

      Nicht weniger wichtig als die Auswahl der Einzeltitel
      ist eine breite Diversifikation. Eine sinnvolle Faust-
      regel besagt, dass zum Kaufzeitpunkt auf keine Aktie
      mehr als zehn, auf keine einzelne Anlageidee mehr
      als 25 Prozent des Depotvolumens entfallen sollten.
      Mit dieser Risikostreuung kann man sich recht gut davor
      schuetzen, durch eine einzelne Fehleinschaetzung viel
      Geld zu verlieren. Dass sich solche Flops trotz aller
      Sorgfalt nie voellig vermeiden lassen, gehoert zu den
      traurigen Wahrheiten an der Boerse. Es gibt sogar Phasen,
      in denen nicht einmal eine breite Diversifikation
      Schutz bietet, weil die allgemeine Boersentendenz
      bedeutsamer wird als die Aktienauswahl. Sie sind
      selten, aber schmerzhaft, und das Jahr 2002, auch
      die ersten drei Monate 2003, waren eine solche Phase.
      Meist kommt der Antizykliker recht gut ohne Stopp-Kurse
      aus, weil er auf Risikostreuung achtet und ohnehin
      nur Aktien kauft, die ihren Crash schon hinter sich
      haben. Doch in solchen Extremphasen zeigt sich doch,
      dass Stopp-Kurse ihren Sinn haben.

      Wo man einen Stopp setzen sollte, haengt von der
      Volatilitaet der Aktie, der Hoehe der Investition,
      der Charttechnik und der Risikotoleranz des Anlegers
      ab. Ganz darauf verzichten sollte man aber nicht.
      Die Auswahl der Aktien erfolgt wie gesagt nach
      fundamentalen Kriterien. Fuer den Zeitpunkt von Kauf
      und Verkauf kann allerdings auch die Charttechnik
      wichtige Hinweise liefern. Vor dem Kauf sollte man
      abwarten, ob die Aktie nach dem Absturz Ansaetze zu
      einer Bodenbildung zeigt. Eine Top-Bildung oder das
      mehrmalige Scheitern an einem Widerstand sind
      dagegen Zeichen, dass es an der Zeit sein koennte,
      die Position zu verkaufen...

      ******

      TEIL 2 des Beitrages folgt in einer der
      naechsten Ausgaben des DOERSAM-BRIEFes
      Avatar
      schrieb am 17.11.03 00:28:36
      Beitrag Nr. 132 ()
      Antizyklisch Investieren – Teil 2

      Auf der Suche nach verborgenen Schaetzen -
      Wie man Aktien fuer ein antizyklisches Depot findet

      Von Horst Fugger

      Eins vorweg: Die antizyklische Strategie ist mit Arbeits-
      und Researchaufwand verbunden. Waehrend in der Tagespresse
      und in den meisten Fachzeitschriften die aktuellen
      Boersenlieblinge auf dem Praesentierteller serviert
      werden, findet man selten wirklich gut recherchierte
      Artikel ueber abgestuerzte Aktien, die vor einer Erholung
      stehen koennten. Man muss sich also schon selbst die
      Muehe der Nachforschung machen und – extrem wichtig! –
      auf Zahlen und Fakten wesentlich mehr Wert legen als
      auf Kommentare, Einschaetzungen und Prognosen. Das
      heisst natuerlich nicht, dass man solche subjektiven
      Daten nicht beachten sollte, denn allgemeine Begeisterung
      fuer eine Aktie ist ein hervorragender Kontra-Indikator.
      Konservative Antizykliker meiden solche Aktien wie die
      Pest, spekulativere verkaufen sie leer oder erwerben
      Verkaufsoptionen.

      Ebenfalls wichtig ist die Selbstdisziplin. Oberste
      Grundregel: Kaufe niemals Aktien an Maerkten, von denen
      du keine Ahnung hast und/oder ueber die man keine
      zuverlaessigen Daten bekommt. Hier ist eine Einschraenkung
      faellig: Leider hat sich auch an den etablierten Maerkten
      die Zuverlaessigkeit der Unternehmensdaten verschlechtert.
      Das liegt zum Teil an den Skandalfaellen von dreistem
      Bilanzbetrug oder sonstigen Zahlenmauscheleien, selbst
      bei Unternehmen von Weltgeltung wie WorldCom, Enron
      oder Ahold. Mehr noch aber liegt es an der Unter-
      schiedlichkeit der Bilanzierungsregeln, an Unsitten
      wie der Ausweisung von „Pro-Forma-Gewinnen“, an fehlender
      Bilanzierung der Kosten von Mitarbeiteroptionen und
      dergleichen mehr. Es klingt absurd, aber manchmal
      ist es tatsaechlich Ansichtssache, ob ein Unternehmen
      im vergangenen Jahr Gewinne oder Verluste erzielt hat.

      Buchwert, Umsatz und Cash Flow sind weniger leicht
      manipulierbar und daher aussagekraeftiger. Die entsprechenden
      Daten findet man vor allem im Internet. Ein an der
      AZ-Strategie interessierter, aber unerfahrener Anleger
      koennte auf die Idee kommen, in eine solche Datenbank ein
      Suchraster einzugeben und alle Aktien herauszufiltern,
      die in Kursentwicklung, KUV, KBV und KCV die gewuenschten
      Anforderungen erfuellen. Das Ergebnis ist eine lange Liste
      von Aktien, darunter drei Viertel, die er nur dem
      Namen nach kennt oder von denen er noch nie etwas
      gehoert hat; meist aus Laendern, die nicht gerade den
      Ruf entwickelter Kapitalmaerkte geniessen. Wer wenig
      Zeit hat, tut gut daran, alle diese dubiosen Titel
      zu streichen. Hat man mehr Zeit, ist der Haertetest
      empfehlenswert: Alle Aktien, ueber die man im Internet
      innerhalb von zehn Minuten alle Informationen zur
      Geschaeftstaetigkeit und zur langfristigen Kurs- und
      Gewinnentwicklung bekommt, bleiben auf der Liste,
      die anderen fallen durch das Sieb. Das Resultat
      ist eine Liste von 20 bis 30 Titeln. Diese Titel
      sollte ein AZ-Anfaenger nun nicht etwa sofort
      kaufen, sondern zunaechst beobachten, Informationen
      sammeln und sich ein Urteil ueber die charttechnische
      Situation bilden.

      Wer sich schon laenger mit der antizyklischen Strategie
      beschaeftigt hat, verfuegt natuerlich ueber einen wertvollen
      Erfahrungs- und Wissensvorsprung.. Im Idealfall kennt
      er die Unternehmen in seinem engeren Blickfeld sehr
      genau. Er weiss, was dort passiert ist, er kennt die
      Ursachen des Kursverfalls und vermag zu beurteilen,
      ob der aktuelle Kurs eine Einstiegschance oder eine
      Zwischenstation auf dem Weg zur Insolvenz ist. Dieses
      Wissen laesst sich nicht kurzfristig erwerben; es hat
      viel mit Erfahrung und detaillierter Kenntnis der
      einzelnen Unternehmen zu tun. Wer sich mit der
      AZ-Theorie befassen will, sollte zunaechst einmal
      die Fachliteratur lesen. Empfehlenswert sind zum
      Beispiel „Antizyklisch Investieren“ von A. Gallea
      und W. Patalon (ISBN: 3-932114-22-1) und „Die besten
      Anlagestrategien aller Zeiten“ von J. O’Shaughnessy
      (ISBN: 3-478-36580-5)

      Das alles klingt natuerlich sehr theoretisch, daher
      die Ueberleitung zur aktuellen Boersensituation: Fuer
      das von mir verwaltete Stammdepot des Antizyklischen
      Aktien Clubs GbR habe ich kuerzlich einige allgemein
      unbeliebte Aktien gekauft. Darunter DaimlerChrysler
      (deutlich unter Buchwert), VW-Vorzuege (in etwa zum
      halben Buchwert) und Basismetalltitel wie Noranda und
      Inco. Verstehen Sie das nun nicht als Kaufempfehlung,
      aber diese Titel haben meine Anforderungen eben erfuellt.
      Ob das Kalkuel aufgeht, werde ich fruehestens in ein,
      zwei Jahren wissen, denn Antizykliker sind
      Langfristspekulanten.

      Natuerlich ist es im Rahmen dieses Beitrags nicht
      moeglich, auf saemtliche Details der antizyklischen
      Anlagestrategie einzugehen. Daher stehe ich den Lesern
      des DOERSAM-Briefes unter der Adresse
      h.fugger@antizyklik.de gerne fuer Fragen zur Verfuegung.



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 17.11.03 00:29:37
      Beitrag Nr. 133 ()
      Irrationale Rationalitaet

      Von Dr. Bernd Niquet

      Neulich habe ich in einem Buch folgendes Beispiel
      gefunden, anhand dessen die Autoren darauf
      schliessen wollen, dass Menschen generell nicht
      in der Lage sind, sich wirtschaftlich rational
      zu verhalten: "Zwei Frauen verdienen das Gleiche.
      Eine bekommt eine Gehaltserhoehung von zwei Prozent,
      die andere von fuenf Prozent. Allerdings erhoehen
      sich bei letzterer die Lebenshaltungskosten um
      vier Prozent. Wer ist nun gluecklicher?" Hier
      stehen sich also zwei Prozent und ein Prozent
      Real-Lohnerhoehung (fuenf minus vier) gegenueber.
      Wirtschaftliche Rationalitaet im strengen Sinne
      wuerde also erfordern, die erste Variante zu
      waehlen. Die meisten Menschen waehlen hingegen
      die zweite. Sind wir daher wirtschaftlich
      unvernuenftig?

      Ich bin voellig anderer Ansicht, weil das
      Beispiel naemlich total weltfremd ist. Niemals
      in der wirtschaftlichen Realitaet steht man
      vor einer derartigen Entscheidungsalternative.
      In der realen Wirtschaft muss man vielmehr
      vorher und nicht nachher entscheiden. Vorher
      zu entscheiden, bedeutet jedoch, nicht zu
      wissen, was kommt. Und was macht man da?
      Wahrscheinlichkeiten bilden, sagt die
      Wissenschaft. Doch damit geht dann das Elend
      dann eigentlich erst richtig los.

      Die beiden Psychologen Daniel Kahnemann und
      Amos Tversky versuchen mit ihren Arbeiten
      aufzuzeigen, dass die meisten Menschen zu
      falschen Einschaetzungen ueber Wahrscheinlichkeiten
      neigen. Werden den Menschen verschiedene
      Wetten angeboten, deren Eintrittswahr-
      scheinlichkeiten und Gewinnmoeglichkeiten
      unterschiedlich sind, so entscheiden sie
      sich meistens irrational und waehlen nicht
      die Alternative mit dem hoechsten Erwartungswert,
      sondern diejenige, die ihnen emotional am
      naechsten kommt.

      Kahnemann und Tversky haben dafuer jeweils den
      Nobelpreis fuer Wirtschaftswissenschaften
      bekommen. Mich erinnern ihre Untersuchungen
      hingegen vielmehr an den schoenen Witz mit den
      rosa Elefanten: Ein Mann geht durch den
      einsamen Wald und klatscht dauernd in die Haende.
      Ploetzlich trifft er jemanden, der ihn natuerlich
      sofort fragt, warum er denn hier, mitten im
      tiefen Wald, dauernd in die Haende klatsche.
      "Damit vertreibe ich die rosa Elefanten",
      antwortet der Mann. "Aber hier gibt es doch gar
      keine rosa Elefanten", entgegnet der andere.
      Darauf kontert unser Mann triumphierend:
      "Na bitte, sehen Sie!"

      Mit den Wahrscheinlichkeiten ist es auch nicht
      anders als mit den rosa Elefanten! Wenn mich
      jemand fragen wuerde, ob ich lieber eine Aktie
      kaufen moechte, die mit 50prozentiger Wahr-
      scheinlichkeit um 50 Prozent steigt oder lieber
      eine, die mit 100prozentiger Wahrscheinlichkeit
      um 1 Prozent steigt, dann wuerde ich mich entweder
      umdrehen und weggehen oder aber dem Frager
      eine Kopfnuss verpassen.

      Denn Wahrscheinlichkeiten gibt es in der realen
      Welt genauso wenig wie rosa Elefanten. Sie
      existieren vielmehr nur in unseren Koepfen.
      Deswegen kann man aus irrationalen Wahr-
      scheinlichkeitsentscheidungen der Menschen
      niemals auf wirtschaftliche Unvernunft schliessen.
      Dies ginge nur am Spieltisch im Casino, da sich
      tatsaechlich nur hier so etwas wie objektive
      Wahrscheinlichkeiten konstruieren lassen
      (also so etwas wie rosa angestrichene Elefanten).
      Nur hier sind naemlich die Spielbedingungen
      voellig durchschaubar, was im sonstigen
      wirtschaftlichen Leben und an der Boerse
      schon gar nicht gilt.

      Aus diesen Gruenden laesst sich aus dem Un-
      verstaendnis, dass die meisten Menschen der
      Wahrscheinlichkeitstheorie entgegen bringen,
      auch keinesfalls auf wirtschaftliche Un-
      vernunft oder Irrationalitaet schliessen.
      Irrational ist vielmehr, die Wahr-
      scheinlichkeitstheorie selbst fuer voll zu
      nehmen. Und rational, sie als irrelevant
      abzulehnen. Man stelle sich nur einmal vor,
      mit den rosa Elefanten wuerde bald einmal
      das selbe passieren wie mit der Wahr-
      scheinlichkeitstheorie. Man wuerde ploetzlich
      ueberall an ihre Existenz glauben. Was das
      auf einmal ueberall fuer ein Geklatsche, fuer
      einen riesigen Beifall gaebe ...



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 17.11.03 21:41:50
      Beitrag Nr. 134 ()
      CHINA

      Volkswagen-Republik auf der Überholspur

      Von Markus Deggerich, Peking

      China macht automobil: Internationale Hersteller investieren kräftig und hoffen auf dicke Geschäfte im Boom-Markt. In der grassierenden China-Hysterie übersehen sie große Risiken.



      Peking - Lin Hau ist stolz auf seinen fahrbaren Untersatz. Günstig im Verbrauch, billig in der Anschaffung, kaum Reparaturkosten und Platz für drei Personen. Nur der Verkehr macht ihm zu schaffen: Seitdem in China der Automarkt brummt, ist für Lin Hau auf seiner Rikscha in Peking trotz Fahrradstreifen nicht mehr viel zu holen. In der einstigen Fahrradnation hat der automobile Verdrängungswettbewerb begonnen: Willkommen in der Volkswagen-Republik China.
      Seitdem sich China politisch und wirtschaftlich etwas locker macht, heißt es Stop and Go für etwas freiere Bürger und go east für Hersteller. Es sind gigantische Zahlen, mit denen Chinas Ökonomie glänzt und die manchen Unternehmer vom Handel mit der sechstgrößten Wirtschaftmacht der Welt träumen lässt. In Peking verdoppelte sich die Zahl zugelassener Fahrzeuge in den vergangenen fünf Jahren auf zwei Millionen. In der Boomtown Shanghai werden Nummernschilder für Neuzulassungen bereits teuer versteigert. Doch die sich selbst erfüllende Prophezeiung vom neuen Produktions- und Absatzparadies ignoriert viele Warnzeichen.


      Dabei geht es für die Wirtschaft noch nicht mal um den stark steigenden Energieverbrauch oder Emissionen, die die Städte ersticken. "Wenn wir Chinesen alle Auto fahren, wird der Himmel über Peking nie mehr blau sein", sagt Liang Congjie, Chef der chinesischen Umweltschutzorganisation "Friends of nature". Diese Art Probleme überlässt die Wirtschaft den Chinesen und ihrer politischen Führung. Westliche und asiatische Automobilbauer drängen weiterhin auf den chinesischen Markt und sind dabei nicht nur auf dem Umweltauge blind.

      Die Auto-Bonanza lockt immer noch mit beeindruckenden Zahlen. In den ersten neun Monaten dieses Jahres wuchs der Markt um 87 Prozent. DaimlerChrysler will nun eine weitere Milliarde Euro investieren und demnächst in China die C- und E-Klasse bauen. Volkswagen wird in diesem Jahr in China erstmals mehr Autos verkaufen als in Deutschland. Der Marktanteil von VW liegt in China derzeit bei über 32 Prozent. Keine Automarke ist präsenter, gerne auch mit Uralt-Modellen: Allein 30.000 VW Santana kreuzen als Taxen durch Shanghai. Dazu verstopfen Polo, Golf, Jetta, Passat und Bora die Straßen. Der Golf IV folgt bald und soll die neue Yuppie-Generation in Chinas glitzernden Großstädten begeistern.

      "China ist der einzige boomende Wachstumsmarkt", hofft VW-Boss Bernd Pischetsrieder. Er rechnet damit, dass China der zweitgrößte Automarkt der Welt wird. Westliche Konzerne investieren laut "Financial Times" in den nächsten drei Jahren rund zehn Milliarden Dollar. Sie alle verlassen sich auf Prognosen, die bis zum Ende des Jahrzehnts Steigerungsraten von 15 bis 25 Prozent pro Jahr versprechen.


      Doch wer in China Geschäfte machen will, darf das nur mit einem Partner vor Ort. Die vier größten chinesischen Autohersteller (First Auto Works, Shanghai Automotive Industry Corporation, Guangzhou Auto und Dongfeng Automobile) haben Verbindungen zu mindestens je zwei großen internationalen Autobauern. Durch diese "Konkubinen-Wirtschaft" sammelt sich bei den chinesischen Partnern das gesamte Know-how der westlichen Welt in Sachen Auto: die Sicherheit eines Toyota, der Stern vom Daimler, der Motor vom Volkswagen, das Design von BMW. China sagt Danke und baut das Super-Auto. "Es ist kaum anzunehmen, dass die größten Autohersteller der Welt die Chinesen aufhalten können, ihre größten Konkurrenten zu werden", befürchtet bereits die "Financial Times".

      Ende Juli versetzte ein Papier die größten Autobauer der Welt in Aufregung, das nach Angaben des "Wall Street Journal" in chinesischen Regierungskreisen kursierte. Demnach sollen chinesische Firmen bis 2010 auch Entwicklung und Design von mindestens der Hälfte aller im Land verkauften Autos übernehmen. Hintergrund, so die Zeitung unter Berufung auf einen Automanager, sei das Vorhaben der chinesischen Regierung, Freihandelsabkommen "dem Buchstaben nach zu befolgen, ohne die Idee zu teilen".

      Fiebriger Wettlauf

      Doch weil sich beim fiebrigen Wettlauf um den Boom-Markt keiner abhängen lassen will, ignorieren von General Motors bis DaimlerChrysler alle ihre teure Entwicklungshilfe. Schon jetzt sind Rechtssicherheit, Patentschutz und Lizenzabkommen im roten Riesenreich dehnbare Begriffe.

      Wer über Automärkte in Peking schlendert, reibt sich verwundert die Augen und greift überall nach den Sternen. Der größte Automarkt Asiens ist voll gestopft mit Karosserien mit Mercedes-Sternen und VW-Ringen. Chinas Autobauer kopieren schon jetzt Design und Technik, und bedienen sich dabei gerne bei ihren amerikanischen oder deutschen Joint-Venture-Partnern. Die Karren sehen aus wie die Mercedes C-Klasse, nur kleiner und drinnen brummt ein Motor von Toyota. Zu haben ist das Plagiat für unter 6000 Euro, ein Bruchteil des Original-Preises. Volkswagen beschwerte sich immer wieder darüber, dass im chinesischen Modell Chery auf seltsamen Wegen beschaffte Originalteile des VW-Jetta eingebaut sind. Der Chery wird laut "Stern" von Saic Chery Automobile hergestellt, einer Firma, an der die Shanghai Automotive Industrial Corporation beteiligt ist - der langjährige Partner von Volkswagen in Shanghai.

      Keine Rechtssicherheit

      Wer sich in China gegen solches Geschäftsgebaren wehren will, stößt schnell an seine Grenzen. Denn über allem wacht noch die Partei. Provinzregierungen und Parteikader sind in der Regel in alle chinesischen Firmen als Teilhaber vertreten, ein unabhängiges Justizsystem existiert nicht, das Prinzip der Korruption dafür umso besser.

      Zudem will sich keiner der Investoren durch allzu provokantes oder lautes Klagen seine Chancen vermasseln. Denn in China wird um die Wette gebaut. Merrill Lynch rechnet mit einer Erweiterung der Produktion aller Marken von derzeit 1,9 Millionen auf bis zu sechs Millionen Stück bis 2005. Einer anderen Studie von AT Kearney zufolge werden die Autoverkäufe in China bis 2006 immerhin auf 3,5 bis 4 Millionen Autos steigen, die Produktionskapazität jedoch auf 4,5 Millionen.

      Doch weil der Wohlstand in China langsamer wächst und sich sehr ungleich verteilt - zwei Drittel der Bevölkerung leben auf dem Land meistens mit dem Existenzminimum - droht noch weitere Gefahr für die Autooffensive mit dem Bleifuß: Überkapazitäten und heftige Preiskämpfe. Die "Süddeutsche Zeitung" sieht für China bereits voraus, "dass diese Branche sich gegenüber der Billigindustrie, die sie nun wirklich nicht braucht, verhält wie eine Hebamme."

      http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,273555,00.html
      Avatar
      schrieb am 25.11.03 00:18:01
      Beitrag Nr. 135 ()
      In the long run we are all broke

      Nov 20th 2003
      From The Economist print edition


      How to stop governments going bust

      INVESTORS have good reason to worry about states defaulting on their loans: Argentina and Russia provide chastening recent reminders. But both were dysfunctional economies with troubled political pasts. Surely, there is no need to worry about the indebtedness of the governments of stable, advanced countries?

      Maybe not, but take a look all the same at the table below. Most countries` explicit net debt—issued as bonds and traded every day in financial markets—is at manageable levels, relative to GDP. However, embodied in current tax and expenditure policies are a lot of obligations for which governments have not yet had to make explicit provision. This implicit liability arises mainly from future increases in spending on pensions and health care. Include it, and total debt vaults to levels last seen (for explicit debt) in wartime. Governments often fall into bad habits when their debts are so high, usually by resorting to the printing press and using inflation to cut the real value of their liabilities.


      Credit-rating agencies are alerting their clients to the danger. Standard & Poor`s gave warning last year that many European governments will be relegated to the second division of borrowers if they do not tackle spending commitments that are set to soar as populations age. So far, however, investors do not appear to be charging higher risk premiums on explicit debt—the sanction that would most concentrate the minds of finance ministers.

      Yet the long-term budgetary risks are real and looming ever closer, says Peter Heller, deputy director of fiscal affairs at the International Monetary Fund, in a thought-provoking new book*. These risks arise not only from the effects of an ageing population on pension and health-care bills, but also potentially from medical technology, global warming, security and globalisation. Irrespective of ageing, advances in medical technology are likely to push up public spending on health care: the more medical science and public health services can provide, the more people will want. Climate change may increase the incidence of floods, storms and droughts—“extreme weather events”—after which governments often step in as insurers of last resort. Some governments are already under pressure to spend more on defence: the “peace dividend” made possible by the end of the cold war is exhausted. And globalisation may limit governments` ability to exploit their national tax bases as both capital and labour become increasingly footloose.

      There may be some pleasant surprises to set against this catalogue of doom. Rising productivity ought to mean that future generations are richer and will be able to afford bigger tax bills, especially if the world economy enjoys the sort of productivity growth that America has experienced in recent years. Europeans could start to have more children, who would prop up their onerous pay-as-you-go pension systems.


      Mr Heller accepts that there are huge uncertainties; after all, fiscal forecasts a year ahead, let alone a decade or more, are often wildly wrong. But he thinks that the balance of risks lies on the downside. Worse, risks may hit the public finances at the same time; for example, governments in Europe could find their outlays ballooning from weather-related damage as well as population ageing. As for appealing to the generosity of future richer generations, he is properly dubious about governments` ability to squeeze more tax out of their citizens. Higher tax rates might merely mean a bigger shadow economy, or an abandonment of over-taxed work in favour of untaxed leisure.


      Plan, plan and plan again
      So what is to be done? First, governments must look much farther ahead than they do now. An increasing number of western countries are planning their public finances on a basis of three to five years, but this is nowhere near enough, argues Mr Heller. They need to incorporate a long-range perspective (of at least 25 years and preferably more) into their budgets. Second, these projections should be vetted by independent agencies such as America`s Congressional Budget Office, because of governments` tendency to see the silver lining and not the cloud.

      Such long-range forecasts would alert both politicians and the general public to the need for pre-emptive action to avoid a future fiscal crunch. One way forward would then be to run budget surpluses over the next few years in order to create borrowing room in the more distant future. But Mr Heller cautions against pinning too much hope on this approach. It has been tried before. In the late 1990s, America`s Social Security surpluses were supposedly in a “lockbox”—which was prised open the moment the rest of the federal budget swung into deficit. Similarly, Norway`s supposedly separate rainy-day fund, financed from oil and gas revenues, was raided in 2001 to meet immediate budgetary pressures.

      If governments are to avoid going bust, politicians will have to grasp the nettle. They must cut back on the over-generous promises they have made to their citizens, above all in pensions and health care. And they must do so sooner rather than later. Delay means that future generations of pensioners will find themselves short-changed through an abrupt cut in benefits. Given due warning, they could take steps to protect their incomes in retirement.

      Politically, this is not much easier than promising to lock away surpluses. Even so, recent pension reforms by European governments are a small step in the right direction. But how much better it would be if governments published comprehensive long-range fiscal projections, scrutinised by independent bodies and open to public debate. Unless governments are forced to be honest about their predicament, it will be hard to stop them going bust.


      http://www.economist.com/finance/displayStory.cfm?story_id=2…
      Avatar
      schrieb am 25.11.03 02:10:13
      Beitrag Nr. 136 ()
      Luegen, Luegen, Luegen!

      Von Dr. Bernd Niquet

      Seitdem ich regelmaessig Kolumnen fuer einen Boersenbrief
      schreibe – und deswegen im dortigen Postverteiler
      enthalten bin, um mein Belegexemplar zu erhalten –
      muss ich einen postalischen Schwachsinn ueber mich
      ergehen lassen, der schon fast mit den andauernden
      Penis-Verlaengerungs-Angeboten gleichziehen kann,
      die meine Frau permanent per Mail bekommt.

      Die neueste Kuriositaet ist "Dr. Bauer´s Chart
      Performer". Dr. Bauer scheint faustdick die Feuchtigkeit
      hinter den Ohren zu haben, denn er verspricht bereits
      auf der ersten Seite seiner Postille: "Wie Sie die
      Kursentwicklung jeder Aktie in ihrem Depot jetzt
      sicher voraussehen koennen." Die Betonung liegt
      freilich in den Worten "jeder Aktie" und "sicher
      voraussehen". Aus meiner Sicht ist damit bereits
      der Tatbestand des Betrugs erfuellt, da so ein
      Versprechen schlichtweg niemals gehalten werden kann,
      doch meine Moralvorstellungen sind sicherlich nicht
      gerichtstauglich, und ein Verlag, der so etwas
      herausgibt, hat bestimmt gute Anwaelte.

      Dr. Bauer ist einer von der Sorte, die es schon
      immer gewusst haben. Allerdings anscheinend erst
      hinterher, denn waere es tatsaechlich so, wie er sagt,
      dann muesste er sich nicht fuer ein paar Kroeten
      oeffentlich laecherlich machen. Das ist freilich dann
      ein Zeitparadoxon der ganz besonderen Art. Doktor Bob,
      denn daran – an diesen Muppet-Arzt – muss ich die
      ganze Zeit denken, und nur von ihm will ich daher
      sprechen, wenn ich diesen Bloedsinn betrachte, hat
      hinterher bereits gewusst, dass vorher etwas faul
      an der Sache ist. Das ist in etwa so, als wenn ein
      Schwein, dass eigentlich zum Scheissen zu doof ist,
      sich selbst voellig besudelt.

      Doktor Bob ruft dazu das Beispiel "Deutsche Telekom"
      auf, verweist auf die Anlageempfehlungen der Banken,
      schreit "Luegen, Luegen, Luegen!", und zeigt dann einen
      Chart, aus dem man ablesen konnte, dass die anderen
      alle luegen und nur Doktor Bob die Wahrheit sagt.
      Na wunderbar, Doktor Bob. Und die Erklaerung, wie so
      etwas funktioniert, folgt auf Seite 4. Bitte nicht
      lachen, es scheint ernst gemeint zu sein:

      "Neueste Ergebnisse der "Verhaltensorientierten
      Kapitalmarktanalyse" (Behavioral Finance) zeigen,
      dass Menschen nach verhaltenspsychologisch genau
      vorhersagbaren Mustern reagieren. So wird ihr
      Urteilsvermoegen systematisch verzerrt."

      Man muss kein Professor fuer Logik sein, um zu er-
      kennen, dass den Autor der Geist sicherlich bereits
      lange vorher verlassen hat bevor er ihn ueberhaupt
      erreicht hatte. Zwei Saetze, von denen der eine aus
      dem anderen folgen soll, die jedoch nicht miteinander
      zu tun haben. Denn wie soll etwas, was genau vor-
      hersehbar ist, systematisch verzerrt sein?
      Verzerrt von was? Gegen wen?

      Am 15. November um 16:35 Uhr hat Doktor Bob, so
      erfahre ich weiter, in Guerzenich bei Koeln referiert.
      Ein Glueck, dass dieser Termin schon vorbei ist.

      Ich denke: Vielleicht sollte man die ganze Geschichte
      einmal voellig umdrehen: Aus meiner Sicht zeigt naemlich
      die gesamte Analyse menschlichen Verhaltens, dass
      anscheinend eine fatale Tendenz besteht, nicht nur
      den groebsten Unsinn zu verzapfen, sondern ihn ueberdies
      auch noch zu glauben. Und je unwahrscheinlicher das
      Behauptete, umso beharrlicher der Glaube daran.
      Und wahrscheinlich ist das die einzige Wahrscheinlichkeit
      die sich letztlich als wirklich wahrscheinlich erweist.


      P.S.: Wie unschwer zu erkennen ist, ist der Autor dieser
      Zeilen dringend erholungsbeduerftig, weswegen es nicht
      unwahrscheinlich ist, dass am naechsten Wochenende an
      dieser Stelle ausnahmsweise einmal keine neue Kolumne
      erscheinen wird.



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 25.11.03 02:11:02
      Beitrag Nr. 137 ()
      Altersvorsorge fuer Frauen: Doppelte Sparanstrengung vonnoeten

      Von Biallo & Team

      In Sachen Vermoegensaufbau und Altersvorsorge sind Frauen
      meist schlechter gestellt als Maenner. Das liegt zum einen
      daran, weil Frauen im Durchschnitt weniger verdienen,
      und zum anderen, weil sie geringere Beschaeftigungszeiten
      aufzuweisen haben, insbesondere wegen der Kindererziehung.

      Frauen erwerben nur etwa halb so hohe Rentenansprueche
      wie Maenner. So ueberwiesen die Rentenversicherungstraeger
      im Jahr 2002 durchschnittlich 477 EUR Monatsrente an
      Frauen im Westen, Rentnerinnen im Osten erhielten 650 EUR.
      Zum Vergleich: Maenner erhielten letztes Jahr im Schnitt
      982 EUR Monatsrente im Westen, Ostrentner 1.025 EUR.
      Die hoeheren Ostrenten haengen hauptsaechlich mit den
      laengeren Erwerbszeiten ostdeutscher Arbeitnehmer zusammen.

      Viele Frauen unterschaetzen das Risiko einer Verarmung
      im Alter. Wie das Deutsche Institut fuer Altersvorsorge
      herausfand, wird das Einkommen im Alter bei drei von
      vier Frauen nicht ausreichen, um den finanziellen
      Bedarf zu sichern. Das Bundesfamilienministerium
      geht in die gleiche Richtung: Nach deren Berechnung
      muss etwa ein Viertel aller Frauen mit einer
      monatlichen Versorgungsluecke von rund 500 EUR im
      Alter rechnen. Auch die zahlreichen Massnahmen der
      Bundesregierung zur Verbesserung der Situation von
      Frauen, insbesondere Muettern, bei der gesetzlichen
      Alterssicherung, bringen nur wenig Entlastung. Wer
      seinen gewohnten Lebensstandard im Alter weiter
      halten will, muss zusaetzlich privat vorsorgen.

      Doch wer sich umschaut, stellt schnell fest: Spezielle
      Vorsorgeprodukte fuer Frauen sind Mangelware. Dies
      erscheint zwar nachvollziehbar, da Geld und Geldanlagen
      zunaechst mal geschlechtsneutral sind. Ob eine Frau oder
      ein Mann einen Fondssparplan oder einen Ratensparvertrag
      abschliesst, bleibt sich gleich. Dennoch klafft hier
      eine Marktluecke. Den wachsenden Beratungsbedarf von
      Frauen in Sachen Altersvorsorge scheinen viele Banken
      noch nicht erkannt zu haben.

      Immerhin ist die Bundesregierung bereits aktiv geworden.
      Sie unterstuetzt im Rahmen der Riester-Rente den Aufbau
      privaten Vermoegens mit staatlichen Mitteln. Hiervon
      profitieren insbesondere Frauen, denn sie erhalten
      neben der jaehrlichen Grundzulage auch noch Kinderzulagen
      fuer jedes Kind. Besonders positiv: Ehefrauen erhalten
      auch dann Zuschuesse, wenn sie nicht berufstaetig sind.
      Es genuegt, wenn der Mann sozialversicherungspflichtig
      beschaeftig ist und den vorgeschriebenen Eigenbeitrag
      leistet. Alle gaengigen Sparformen wie Banksparvertraege,
      Fondssparen oder private Rentenversicherungen werden
      gefoerdert.

      Die Auswahl der Anlageform haengt von mehreren Faktoren
      ab: dem eigenen Alter, den aktuellen Lebensverhaeltnissen,
      der Risikobereitschaft sowie steuerlichen Aspekten.
      Allgemein gilt: Je eher mit der privaten Vorsorge
      begonnen wird, desto risikoreicher darf die Geldanlage
      sein, je spaeter, desto sicherer sollte die Anlageform
      gewaehlt werden. So sollten juengere Frauen bis 40 Kapital-
      aufbau zuallererst mit Aktienfondssparplaenen betreiben.
      Sie bestechen durch geringe monatliche Sparraten,
      hohe Flexibilitaet und sehr gute Renditechancen. Ein
      kleiner monatlicher Sparbeitrag bringt ueber Jahrzehnte
      ein beachtliches Vermoegen. Ist das Geld einmal knapp,
      zum Beispiel weil der Beruf voruebergehend wegen der
      Kinder ruht, so kann man den Sparbeitrag einfach
      aussetzen. Clevere Frauen zweigen monatlich 50 EUR
      vom Kindergeld ab. Wer einen Riesterfaehigen Sparplan
      abschliesst, erhaelt obendrein noch staatliche Zulagen.

      Aelteren Frauen bieten Banksparplaene oder Privatrenten
      Vorteile: Das Kapital waechst sicher und kontinuierlich,
      die Hoehe der spaeteren Rente ist kalkulierbar. Im Gegen-
      satz zur Bankrente, die nur solange zahlt wie Geld
      vorhanden ist, ueberweist die private Rentenversicherung
      lebenslaenglich Geld. So kann eine 40-jaehrige Frau,
      die 20 Jahre lang 100 EUR einzahlt, bei Asstel
      anfaenglich mit rund 210 EUR Monats-
      rente rechnen. Tipp: Riesterfoerderung gibt es auch fuer
      diese Produkte.



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 25.11.03 02:11:40
      Beitrag Nr. 138 ()
      Telefon-Discounter: Aus fuer viele Call-by-Call-Anbieter

      Von Biallo & Team

      Vielen Telefon-Discountern droht Ende November das Aus.
      Die Regulierungsbehoerde fuer Telekommunikation und Post
      (Reg TP) hat beschlossen, dass die Angebote im so
      genannten Call-by-Call-Verfahren ueber die 0190/0900-
      Rufnummern eingestellt werden muessen. In Zukunft duerfen
      diese Billig-Verbindungen nur noch ueber die speziell
      dafuer bereitgestellten Kennzahlen der Nummernkreise
      010xx oder 0100xx angeboten werden. Alle anderen
      Angebote sind innerhalb von drei Wochen einzustellen.

      Laut Regulierungsbehoerde verstossen 0190/0900-Call-by-
      Call-Angebote gegen das deutsche Telekommunikationsgesetz
      (TKG). Unter anderem darf hier die Auswahl vermittelter
      Telekommunikationsdienstleistungen gemaess dem TKG nur
      zwischen „unmittelbar zusammengeschalteten Netz-
      betreibern“ erfolgen. Diese Anforderung wird aber
      durch die 0190/0900-Angebote unterlaufen. Im Klartext:
      Call-by-Call soll dem Gesetz zufolge nur angeboten
      werden duerfen, wenn zwei Netze direkt verbunden sind.
      0190- und 0900-Nummern lassen sich aber ueber viele
      Netze weiterrouten.

      Die Entscheidung der Reg TP soll fuer den Verbraucher
      nachhaltige Vorteile bringen. Sie sorgt fuer Klarheit
      und Uebersicht der Vorwahlziffern, die fuer bestimmte
      Dienste von der Reg TP zur Verfuegung gestellt wurden.
      So werden in Zukunft unter 0190/0900-Rufnummern nur
      noch klassische Premium-Rate-Dienste angeboten, waehrend
      Call-by-Call-Angebote ausschliesslich ueber die Ver-
      bindungsnetzbetreiberkennzahlen 010xx oder 0100xx
      moeglich sind.

      Verbraucher koennen so bestimmte Nummerngassen und damit
      auch bestimmte Dienste gezielt bei ihren Netzbetreibern
      sperren lassen.



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 10.12.03 21:04:57
      Beitrag Nr. 139 ()
      Altern

      Henning Scherf geht mit gutem Beispiel voran. Er hat schon mit Anfang 40 eine Alten-Hausgemeinschaft gegründet, damit er sich als 70-Jähriger nicht langweilt.
      Mit brand eins unternahm Bremens Bürgermeister eine Reise in eine ergrauende Republik.

      Text: Anja Jardine
      ----- Greifen wir vor.

      Springen wir ruhig an den Schlusspunkt und machen dem letzten Besucher, diesem finsteren Gesellen,
      schon mal in Gedanken die Tür auf. (Haben wir ihn nicht alle im Hinterkopf, wenn es um dieses Thema geht? )
      „Ich will dem Tod in die Augen sehen. Alle sagen, tot umfallen sei das Schönste. Das finde ich nicht.
      Ich möchte mich mit ihm vertraut machen. Ich fürchte keine schweren Krankheiten. Ich hoffe nur, dass ich nicht allein sein werde.
      Dass da welche sind, die sagen: ‚Komm, wir machen das jetzt mit dir, kannst alles sagen …“
      Henning Scherf spricht leise – so wie er es manchmal tut, wenn er die Gedanken beim Reden sortiert.
      „Sich nach einem reichen Tag so richtig erschöpft lang machen, alles noch mal durch den Kopf gehen lassen und dann in den Schlaf fallen,

      das ist keine Katastrophe.“

      IC 2037 auf der Fahrt von Bremen nach Hannover. Vor dem Fenster, dem Thema angemessen: Herbst. An diesem Tag tatsächlich golden; die Äcker mussten ihre Kartoffeln herausrücken und liegen grau und aufgeritzt, das Laub trumpft im Abgang noch einmal richtig auf. „Herrlich!“, ruft Henning Scherf, „ist das nicht fantastisch?“, und seine Augen, blau wie der Himmel, strahlen mit diesem um die Wette, „ich liebe den Herbst.“ Das ist gut, denn sein persönlicher, im Gesetz verankerter Herbst hat im Oktober begonnen.
      Am 31. Oktober ist er 65 geworden und nun demografisch gefordert, mit dem Altern loszulegen. Sind erste Indizien zu erkennen? Der Schopf ist grau, das schon, aber der Blick lebhaft, die Gestalt schlank und aufrecht, die Physiognomie jungenhaft.
      Kaum zu glauben, dass er bereits mit Anfang 40 angefangen hat, sich vorzubereiten. Die Kinder gingen damals aus dem Haus, das Rad drehte sich merklich weiter, es gab einen kräftigen Ruck. Was nun, fragte sich das Ehepaar Scherf. „Es muss spannend bleiben“, sagt er. Freunde sahen das ähnlich, so haben alle gemeinsam überlegt, ob sie sich nicht zusammentun.
      Arbeitstitel: „Greisenkommune zum Abpflegen“. Es bedurfte gründlicher Klärungsprozesse: Wie viel Nähe halten wir aus, wie viel Distanz muss sein, was tun wir gemeinsam, was besser nicht? Mühsame Basisdemokratie. Gemeinschaftsraum? Lieber auf jeder Etage ein großes Zimmer. Gemeinsam essen? Ja, am Samstagmorgen als festes Ritual und sonst nach Lust und Laune. Das Ergebnis: eine Hausgemeinschaft aus separaten Wohnbereichen mit je eigener Küche und eigenem Bad. Fünf Jahre dauerten die Vorbereitungen. Zwischendurch immer wieder auch Zweifel: „Ist das spinnert?“
      Sie fanden ein altes Abrisshaus in der Innenstadt, das sich kaum wiedererkannte, nachdem die künftigen Greise ihm zu Leibe gerückt waren. Scherf und seine Mitbewohner standen noch voll im Saft, als sie sich auf schwellenlose Türen, rollstuhlbreite Flure und Fahrstuhlgehäuse verständigten. Das war vor 16 Jahren. Heute wohnen in dem weißen Stadthaus drei Ehepaare und zwei Junggesellen aus zwei Generationen und drei Konfessionen. Sie teilen sich unter anderem ein Auto und die Putzfrau.
      Und? War es spinnert, Herr Scherf? „Nein, es ist ein wahrer Segen. Wenn meine Frau nicht da ist, leere ich erst unseren Kühlschrank und dann einen nach dem anderen.“ Es sei ein Glück, dass sie so früh angefangen haben, man müsse üben: abgeben, teilen, sich auf andere einstellen. Auch die aus der Gemeinschaft erhofften Adrenalinschübe sind nicht ausgeblieben. Die Hausbewohner haben gemeinsam ein christlich-jüdisches Lehrhaus gegründet und eine ökumenische Gemeinde, sie gehen gemeinsam auf Reisen, sie schleppen einander Bücher an und organisieren Vorträge, lesen und musizieren.
      „Und jetzt wachsen uns mit jeder Verrentung neue Kompetenzen dazu“, sagt Scherf. Zwei Mitbewohner zum Beispiel steckten ihre ganze Liebe in den Garten. Das Abpflegen sei übrigens schneller gekommen als geahnt: Eine Gleichaltrige erkrankte an Krebs und starb, kurz darauf ihr Sohn. Beide haben bis zum Schluss in der Hausgemeinschaft gelebt. „Als wir uns zusammentaten, waren wir Freunde“, sagte Henning Scherf, „nach dieser Zeit waren wir eine Familie. Das wird man, wenn man Kummer gemeinsam aushält.“

      Die große Aufgabe: sich selbst darum kümmern, dass sich später jemand um uns kümmert

      Henning Scherf guckt der Aller hinterher, die die Landschaft an dieser Stelle in zwei Hälften schneidet. „Das Einigeln ist doch trostlos“, sagt er. Immer mehr Leute säßen allein in immer größeren Wohnungen. „Ich kenne so viele paranoide Alte, die der Überzeugung sind, der Verfassungsschutz bohrt sie an. Die sagen immer zu mir: Herr Bürgermeister, ören Sie es nicht knacken?“
      Und dann sagt der Politiker Scherf: „Wir müssen den Kurs korrigieren.“ Diese Vereinzelung sei in allen hoch industrialisierten, arbeitsteiligen Gesellschaften zu beobachten. Eine Sackgasse. „Das Dämlichste, was die 68er in die Welt gesetzt haben, ist der Jugendkult. Jetzt, wo sie selbst älter werden, merken sie mit Schrecken, wie kurzsichtig das war.“ Die Menschen müssten beieinander bleiben, über Generationen hinweg.
      Überhaupt, der Mitmensch. In jeder Form ein Gewinn: die Frau, die Kinder, die Enkel, die Freunde, die Wegbegleiter, die Nachbarn, die Mitbürger, die Zuwanderer. „Anbandeln, aufeinander achten, miteinander sein, einander aushalten, zusammenrücken.“ Übrigens sei das im vollen Gange, überall entständen ganz neue Lebenszusammenhänge – jenseits von klassischen Familienrastern. Auch gebe es längst Institutionen, die dem Rechnung trügen. So baue die Bremer Heimstiftung ihre Altenwohnanlagen mitten in Wohnvierteln, zwischen junge Familien, Alleinerziehende, Singles, Studenten. Kein Lebensabend auf der grünen Wiese mehr, sondern mit dem Leben verzahnt und verschachtelt – in Fußnähe zu Kino, Supermarkt, Bibliothek, Theater und Tanzschulen.
      Umdenken also. Als Gesellschaft umdenken. Das wollen wir jetzt mal sacken lassen. Schweigen im Zugabteil. So, wie wir lernen mussten, den Müll zu sortieren, damit wir nicht drin ersticken? So, wie wir lernen mussten, Salat zu essen, damit wir nicht zu früh dem Herzinfarkt erliegen. (Haben wir auch erst begriffen, als die Kassen uns nicht mehr jährlich zum Entfetten auf Kur schicken konnten.) So sollen wir jetzt lernen, uns selbst darum zu kümmern, dass sich später jemand um uns kümmert? Auch jenseits der staatlich organisierten Fürsorge?
      Bewusstseinswandel gehört nicht zu den leichtesten Übungen. „Nee“, sagt Scherf, „das geht nicht per Order de Mufti, das können wir nur freundlich vorleben.“ Klingt fast, als sei der Kollaps der staatlichen Altersabsicherung für die Gesellschaft eine Chance? Er lächelt: „Sagen wir mal: eine Herausforderung.“
      Scherf steht auf und stößt fast mit dem Schädel an die Abteildecke. In Hannover wird umgestiegen in den ICE nach Berlin. Auf dem Bahnsteig sehen die Leute zu ihm herüber und grüßen freundlich. Ein Mann wie ein Leuchtturm.
      Wieder im Zug und wieder auf Augenhöhe – nachdem er seine zwei Meter vier elegant im Sitz zusammengefaltet hat – wird es Zeit, ihn mit dem so genannten Altenquotienten zu konfrontieren. Heute stehen 100 Erwerbstätige rund 44 Rentnern gegenüber, schon im Jahre 2030 werden es 71 Alte sein. Die staatliche Rente der heute 30-Jährigen wird also eher mickrig ausfallen, schlicht, weil es an Nachwuchs mangelt. Und aus demselben Grund wird es leider auch mit dem generationenübergreifenden Kuscheln schwierig. Der Wirtschaftsprofessor Wolfram Engels hat bereits vor vielen Jahren festgestellt: „Die Deutschen haben sich entschlossen, zur Finanzierung ihrer Renten auszusterben.“
      Henning Scherf hat die Statistiken mit einer Art tiefem Durchatmen begleitet. Als es überstanden ist, schaut er freundlich, ja belustigt. Die Deutschen sterben aus? Und wenn schon. Er formuliert es so: „Wir müssen doch den ganzen Globus im Blick behalten. Wir können doch nicht den Chinesen und den Indern predigen, sich zurückzuhalten, und gleichzeitig die Deutschen auffordern, mehr Babys in die Welt zu setzen. Ich kann doch unseren hoch qualifizierten, karrierewilligen Frauen nicht sagen: Würdet ihr das, bitte schön, sein lassen und unser demografisches Problem lösen. Das Kinderkriegen ist eine individuelle Entscheidung und soll es auch bleiben. Ich freue mich über jedes asiatisches Gesicht, das ich bei uns sehe. Mit ihrem riesigen Geburtenüberschuss könnten sie unseren Bedarf an guten Leuten decken. In Bremen ist für 47 Prozent der Schulkinder Deutsch nicht die Muttersprache. Sie kommen aus 110 verschiedenen Ländern. Das ist doch wunderbar. Ich bin für geordnete Zuwanderung. Ich habe keine Angst davor.“
      Nur, wie bringen wir die Menschen zusammen, nicht nur im Rahmen des Generationenvertrages, sondern auch im Herzen? Wie kriegen wir alte Deutsche und junge Chinesen in eine WG?
      Henning Scherf schaut eine Zeit lang aus dem Fenster. Er wühlt in Gedanken in seinem unermesslich großen Fundus an Freunden, Bekannten und Bürgern. Und dann zaubert er einen nach dem anderen aus dem Hut: den Yuppie, der den Kindern seiner jugoslawischen Putzfrau ein Zimmer eingerichtet hat, in dem sie Hausaufgaben machen und manchmal auch übernachten. Die älteren Damen, die aufgeblüht sind, seit sie sich mit Kindertagesstätten verbündet haben, wo ein Großteil der Kinder Türken sind. Der Ruheständler, der Nachbarskindern Nachhilfeunterricht gibt. Das afrikanische Kindermädchen, das die eigenen Kinder mit zur Arbeit bringt, wo sie mit den deutschen Kindern spielen. Überhaupt sei das eine Chance: Kinderreiche Zuwanderer, die mit berufstätigen Singles Wand an Wand lebten und ihnen den Haushalt führten, für Sicherheit sorgten, den Einkauf erledigten – in New York oder auch Hamburg sei das schon lange üblich.
      Klingt irgendwie neokolonialistisch: Hoch qualifizierte, gut verdienende kinderlose Deutsche beschäftigen weniger gut qualifizierte, kinderreiche Zuwanderer als Bedienstete. In der Hoffnung, der Gesellschaft im gleichen Atemzug deren Nachwuchs einzuverleiben?
      Scherf richtet sich auf (die Wirkung ist nicht zu unterschätzen): „Daran ist nichts Hegemoniales. Zwei unterschiedliche Biografien tun sich aus ökonomischen Gründen zusammen. Beide begreifen schnell, dass es ohne Vertrauen zueinander nicht geht, und wem man vertraut, der ist einem nicht gleichgültig.“ Für die minder qualifizierten Zuwanderer, die auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht unterkämen, sei das als Einstieg allemal besser, als auf dem Sozialamt zu hocken oder in fiesen Kneipen das Ausgekotzte aufzuwischen. Sie würden angemessen bezahlt, ihre Kinder gingen zur Schule, sie stünden auf eigenen Beinen. Daraus könnten sich Aufsteigerbiografien entwickeln. Warum nicht? Und für den gestressten Wissenschaftler zum Beispiel, der Tag und Nacht an Teilchenbeschleunigern herumbastelt oder so etwas, wäre eine solche Familie, die zu Hause den Laden schmeißt, ein Geschenk Gottes. „Es ist ein Versuch, unsere bunte, brüchige, manchmal gefährlich brüchige Gesellschaft mit ihren gewollt offenen Grenzen zusammenzuhalten.“

      Altersgrenze verschieben: Der Sozialdemokrat sagt Nein. Für den Menschen Scherf ist sein Job ein Glück

      Der Schaffner kontrolliert die Fahrkarten. Bürgermeister Scherf bestellt ein Glas heißes Wasser und plaudert ein wenig mit dem Mann. Ohne Zweifel, er mag sie tatsächlich, die Menschen. Und sie mögen ihn.
      Manchmal laufe er durch den Bürgerpark und schwimme durch den Uni-See, sagt Scherf, an den Enten vorbei. „Ich bin dann richtig glücklich. Und habe keinen Cent bezahlt. Warum müssen es unerschwingliche Wellness-Dinger sein?“ Noch ein Beispiel: An der Universität könne man jeden Mittag ein Konzert besuchen, wenn die Musikstudenten ihre Meisterprüfungen spielten. Das sei öffentlich. Jeder Penner könne dorthin gehen. Es gäbe so viel zu tun, so viel zu sehen. Schon jetzt sitze er manchmal über dem Veranstaltungskalender und denke: Wenn ich Zeit hätte, würde ich mir das anschauen, und da würde ich mir vorher ein Buch aus der Bibliothek holen …
      Nur weil Fernsehen und Werbung mit ihrem „Immer größer, immer grüner, immer weiter weg“ uns jahrzehntelang weismachen wollten, der Ruhestand sei nur auf Mallorca auszuhalten, glaubten die Leute, sie müssten schnell weg. „Und dann, bitte schön? Das pure Elend.“ Als könne die Sonne Nachbarschaften ersetzen – gewachsene Lebensräume, in denen man mit der eigenen Geschichte vorkomme. So ein Unsinn! Die Frage sei doch die: Wie nehme ich so viel wie möglich von dem, was meine Identität ausmacht, auch ohne acht Stunden Arbeit am Tag in den neuen Lebensabschnitt mit? Mit staatlicher Altersabsicherung habe das nur am Rande zu tun.
      Dennoch, Herr Bürgermeister, Sie sind 65 und regieren ein Bundesland, statt vornehmlich mit den Enten zu baden. Was halten Sie von einem Verschieben der Altersgrenze auf, sagen wir mal, 67 Jahre? Experten haben ausgerechnet …
      Wieder dieses geräuschvolle Ein- und Ausatmen. (Vielleicht leidet er an einer Art Zahlen-Allergie?) Da müsse man unterscheiden, sagt Scherf. Sozialdemokratisch sei das Gift, weil die Sozis ganz auf Gewerkschaftslinie lägen, die die Arbeitslosigkeit als Hauptproblem betrachteten. Da könne es nicht angehen, dass die Alten den Jungen die Arbeit wegschnappten, die müssten ja auch über die Arbeit sozialisiert werden, sonst kämen die noch auf dumme Gedanken. Punkt.
      „Für mich persönlich allerdings ist die Tatsache, dass ich noch immer einen harten Job mache, ein Glücksfall.“ Es müsse also eine gesellschaftsverträgliche Form der Mitwirkung gefunden werden. Und da gäbe es bereits zahlreiche Ideen wie die Freiwilligen-Agentur in Bremen zum Beispiel, die großen Zulauf verzeichne. Junge Alte, die etwas Sinnvolles tun wollen, stellen ihre Kompetenzen unentgeltlich zur Verfügung.
      Welch große Chance für Stadtgesellschaften! Wie die Senior-Dienste, wo ausgediente Manager Jungunternehmern auf die Beine helfen. Kinderbetreuung. Müssen doch nicht unbedingt die eigenen Enkel sein? Was meinen Sie, wie vitalisierend auch im Alter ein bisschen Wertschätzung wirkt. Wir haben unsere Alten doch jahrzehntelang mutwillig lahm gelegt, die durften im Altenheim nicht einmal Kartoffeln schälen.
      Der Schaffner kommt und bringt einen Becher Kaffee. Das heiße Wasser hat er für einen Witz gehalten. Ist es aber nicht. Henning Scherf ist ein Heißwassertrinker und hat damit unter anderem schon eine jahrelange Migräne ertränkt. „Willst du denn ewig leben?“, fragen die Kollegen Landesvertreter, wenn sie während der Sitzung auf Rotwein umsteigen. Nee, sagt Scherf dann und lacht sich ins Fäustchen.
      Plötzlich richtet er sich auf und rutscht an die vordere Sesselkante wie ein aufgeregtes Kind: „Soll ich mal sagen, was ich mir im Ruhestand so vorstelle?“
      Sehr gern! Obwohl die Strecke von Berlin-Spandau bis Berlin-Zoologischer Garten vermutlich nicht ausreichen wird. Also, flott: Cembalo üben, bis es zur Kammermusik reicht, Barockorgel spielen lernen, Malen und Zeichnen lernen, Mittelmeerländer bereisen, zwei Bücher schreiben, sich ehrenamtlich engagieren, ein halbes Jahr New York, ein halbes Jahr Israel bei der einen Tochter, ein halbes Jahr London bei der anderen, Sport treiben. „Ich bin total gespannt auf die Zeit“, ruft Henning Scherf auf dem Bahnsteig und entschwindet zum nächsten Termin. -----|

      http://www.brand-eins.de/magazin/schwerpunkt/artikel24.html
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      schrieb am 25.12.03 17:49:56
      Beitrag Nr. 140 ()
      Essay

      Im Dreieck der Willkür

      Wer den Abzug der Amerikaner fordert, hilft nicht dem irakischen Volk, sondern seinen schlimmsten Feinden

      Von Najem Wali

      Je schlimmer die Nachrichten über Anschläge auf militärische und zivile Ziele werden, je undefinierbarer die Frontlinie des Krieges erscheint, desto lauter werden die Stimmen, die das Engagement der USA und Großbritanniens im Irak für gescheitert erklären. So forderten anlässlich des Besuchs von Präsident Bush in London an die hunderttausend Demonstranten den Rückzug der amerikanischen und britischen Streitkräfte. Sie konnten sich dabei der Zustimmung eines großen Teils der europäischen Öffentlichkeit sicher sein. Die Regierungen Frankreichs, Deutschlands und Russlands verlangen zwar nicht – wie die meisten arabischen Regierungen – einen sofortigen Truppenabzug. Doch sie drängen darauf, die Macht so schnell wie möglich „an das irakische Volk zu übergeben“ – ohne freilich zu erklären, wer genau sie dann ausüben und unter welchen konkreten Umständen dies geschehen soll.

      Die meisten Gegner der amerikanischen und britischen Präsenz im Irak sind nicht erst angesichts der Entwicklung seit dem Einmarsch der amerikanischen Truppen in Bagdad am 9. April zu dieser Haltung gekommen. Ihre Argumente gründen entweder auf einer prinzipiellen Antikriegshaltung oder auf der Überzeugung, die gewaltsame Beseitigung eines diktatorischen Systems wie das Saddam Husseins sei illegitim. Die Diskussion über die Zukunft des Iraks wird deshalb auch in Deutschland zumeist nicht auf der Basis von Kenntnissen über die aktuellen Verhältnisse in diesem Land geführt. Die Debatten sind vielmehr von Voreingenommenheit und Rechthaberei geprägt – wenn nicht sogar von nur mühsam unterdrückter Schadenfreude über die hohen Verluste der „arroganten“ Amerikaner. Auch die wenigsten so genannten Nahost- oder Terrorismusexperten, die derzeit in deutschen Fernseh-Talkshows vor einem „zweiten Vietnam“ warnen, sind in der Lage, ein wirklich realistisches Bild von den Zuständen im Irak zu zeichnen. Wäre dies der Fall, müssten sie eindringlich davor warnen, dass ein amerikanischer Rückzug für das Land – und die ganze Region – eine Katastrophe bedeuten würde.

      Neuerdings wird der anwachsende Terror im Irak in manchen Medien als Ausdruck eines zunehmenden „irakischen Widerstands“ bezeichnet. Dies ist ein unerträglicher Euphemismus, der die Wirklichkeit grob verfälscht. Betrachtet man die terroristischen Aktivitäten genauer, stellt man rasch fest, dass sich alle diese Operationen auf den Westen des Landes konzentrieren. In dieser Region haben sich jene Sippen formiert, die über die Jahre der Diktatur hinweg von dem System Saddam Husseins profitierten. Aus ihnen ist eine neue – ursprünglich beduinische – aristokratische Schicht hervorgegangen, die man als die „Kaste der Anwohner von Euphrat und Tigris“ bezeichnen könnte. Denn sie hat an den Ufern der beiden Flüsse in großem Stil Ländereien mit Beschlag belegt und dort ihre prächtigen Villen erbaut. Diese Kaste besetzte hohe Ränge in Militär, Sicherheits- und Geheimdienstapparat sowie in den Eliteeinheiten, aus denen sich die Republikanische Garde und die Fedajin Saddam Husseins rekrutierten. Sie stellt auch heute das soziale und politische Rückgrat des saddamistischen Untergrunds dar. Die Region der Profiteure erstreckt sich vom Westen Bagdads bis nach Tikrit und umfasst drei weitere wichtige Städte: Udschda (der Geburtsort Saddam Husseins), Samarra und Falludscha.


      Vor allem westliche Kommentatoren nennen diese Gegend gern „das sunnitische Dreieck“. Die Iraker aber vermeiden diese pauschalisierende Bezeichnung, denn sie zwängt die politischen Konflikte im Land in ein konfessionelles Schema. Im Irak wurde deshalb ein anderer Spitzname erfunden, der einen besonderen Hintersinn enthält: ta’assuf, das „Dreieck der Willkür“. In dem Wort ta´assuf finden sich die arabischen Anfangsbuchstaben der oben genannten Städte wieder. Es bezeichnet „Willkür“ in seiner ganzen Bedeutungsbreite von Missbrauch bis hin zu Sabotage.

      Selbst wenn sich die Mehrheit der Bewohner der genannten Region an Aktionen gegen die amerikanische Präsenz beteiligen würde – was nicht unterstellt werden darf –, würden sie doch nur einen Teil der sunnitischen Bevölkerungsgruppe ausmachen, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung des Iraks von westlichen Experten mit 13 Prozent beziffert wird. Nehmen wir die anderen religiösen und ethnischen Gruppierungen im Irak hinzu – Sunniten, Schiiten, Christen, Zaiditen, Mandäer und Juden, Araber, Kurden und Turkmenen –, kommen wir auf eine irakische Mehrheit von mehr als 24 Millionen, die am gewaltsamen „Widerstand“ des Dreiecks der Willkür nicht beteiligt ist. Der Irak insgesamt hat 26 Millionen Einwohner.

      Innerhalb dieser überwältigenden Mehrheit wiederum befürwortet nach Umfragen eine Majorität die amerikanische Präsenz, während eine Minderheit sie ablehnt oder nicht genau weiß, ob sie sich einen Rückzug oder einen Verbleib der amerikanischen Truppen wünschen soll. Was die Schiiten betrifft, die ihre Stimme zunächst gegen die amerikanische Präsenz erhoben haben – so die Gruppen um Muqtaddar al-Sadr oder Ajatollah Sistani –, so haben viele von ihnen ihren Standpunkt inzwischen geändert: Sie fordern die Amerikaner auf, ihrer Verantwortung als Besatzungsmacht nachzukommen und warnen vor dem Machtvakuum, das nach einem Rückzug der westlichen Truppen entstehen würde. Die Mehrheit der Iraker hat sehr gut begriffen, dass es den Amerikanern zwar möglich war, in relativ kurzer Zeit einen Krieg zu gewinnen, dass es aber jahrelang dauern kann, Frieden und Stabilisierung zu erreichen.


      Sie wissen: Ein Rückzug der amerikanischen und britischen Streitkräfte würde für den Irak schreckliche Folgen haben. Nicht nur, dass es dann zu einem Bürgerkrieg aller gegen alle kommen könnte – Schiiten, Sunniten, Araber, Kurden, Turkmenen würden ihre Streitigkeiten womöglich mit der Waffe austragen. Auch die Nachbarländer könnten in den Konflikt hineingezogen werden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der eine oder andere Nachbarstaat versuchen würde, sich sein Stück vom auseinander fallende irakischen Kuchen zu sichern – allen voran Iran und die Türkei. Das Ergebnis wäre eine Erschütterung der gesamten Region, was sich zu einem großen Krieg im Nahen Osten ausweiten könnte .

      Auch die Kriegsgegner sollten diese Gegebenheiten endlich akzeptieren. Sie sollten aufhören, die Meinung der Mehrheit des irakischen Volkes zu ignorieren und stattdessen nur auf den Lärm der Explosionen von Autobomben und Raketen zu hören, die von den verbliebenen Anhängern des Machtapparats Saddam Husseins und den mit ihm verbündeten islamistischen Terroristen gezündet werden. Es ist kein Geheimnis, worauf es die „schwarzen Todesschwadronen“ der Baathisten mit ihren Gewalttaten abgesehen haben. Sie zielen auf das, was sie für die schwache Stelle der westlichen Demokratien halten: deren Hochschätzung des individuellen Menschenlebens. Das Kalkül der professionellen Massenmörder, die selbst keinerlei Respekt vor Menschenleben kennen, ist simpel. Je mehr Soldaten und Zivilisten sie umbringen, desto mehr werde sich die öffentliche Meinung in den Ländern der Koalition gegen eine Fortführung des Krieges wenden. Und da demokratische Regierungen auf Dauer dem Druck ihrer Wähler nachgeben müssen, spekulieren Saddam Husseins Mörder auf einen baldigen Triumph. Inzwischen gilt es für sie, durch Terror die eigene Bevölkerung einzuschüchtern und an der Zusammenarbeit mit den „Besatzern“ zu hindern. Für diese Strategie gibt es keinen besseren Kronzeugen als Saddam Hussein selbst, den gelehrigen Schüler Stalins und Hitlers. Am 19. Juli 1979, direkt nach der Machtübernahme im Land, hielt der frisch gebackene Diktator als Erstes eine Rede vor einer Versammlung westlicher Journalisten. An sie gerichtet, erklärte er: „Ihr sollt wissen, dass unsere Regierung nicht wie eure Regierungen ist. Sie fällt, wenn es nur eine einzige abweichende Stimme gibt. Sie kam auf ihre eigene Weise und wird auf ihre Weise fortfahren.“ Noch bevor er seinen Satz beendet hatte, legte er die Hand auf seine Pistole. Was er damit meinte, davon zeugen die zahlreichen Massengräber, die seit seiner Vertreibung von der Macht gefunden werden. Mit derselben Verachtung für den Einzelnen, die Saddam Hussein bei seinem täglichen Terror gegen die eigene Bevölkerung und in zerstörerischen militärischen Aktionen unter Beweis stellte, wüten heute seine Terrortrupps unterschiedslos gegen Fremde und Iraker, Männer und Frauen, Greise und Kinder. Dabei betrachten sie längst nicht mehr nur Amerikaner und Briten als Zielscheibe. Wie das Selbstmordattentat auf den Stützpunkt der italienischen Streitkräfte in Nasirija, die Anschläge auf die Stützpunkte der Vereinten Nationen und des Roten Kreuzes in Bagdad sowie zuletzt die Angriffe gegen spanische Geheimdienstler, japanische Diplomaten und südkoreanische Aufbauhelfer zeigen, haben diese „Widerstandskämpfer“ allen den Krieg erklärt, die den Irakern beim Wiederaufbau ihres Landes beistehen wollen. Der Kampf ist längst über die Frage hinausgewachsen, ob die „amerikanische Besatzung“ berechtigt sei. Es geht den Terroristen darum, Kampfzonen zu schaffen und auszuweiten, in die sich Vertreter der Vereinten Nationen und von humanitären Organisationen nicht mehr hineintrauen. In diesem Zustand der Anarchie hofft der Mörder Saddam Hussein als einziger Garant für Ordnung an die Macht zurückkehren zu können – nach seinen Vorstellungen werden ihm dazu die Europäer verhelfen, um genau zu sein: Frankreich.

      Die Europäer sollten ihm und seiner Entourage diese Illusion so schnell und eindeutig wie möglich rauben. Wer den Irakern beistehen will, sollte das ohne Rücksicht darauf tun, ob er den Irak-Krieg für rechtmäßig hielt oder nicht. Der Krieg hat nun einmal stattgefunden, und die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Statt auf ein baldiges Ende der amerikanischen und britischen Vormachtstellung zu drängen, sollten sich alle Demokratien der Bekämpfung ihrer wirklichen Feinde zuwenden. Angesichts der Strategie der Saddamisten und ihrer Verbündeten ist es widersinnig, eine „Verbesserung der Sicherheitslage“ abzuwarten, bevor man sich im Irak engagiert. Ebenso wenig produktiv sind genüssliche Reflexionen darüber, dass die amerikanischen Neokonservativen und „Falken“ eine Lektion erhalten hätten. Auch wenn man der Ansicht ist, dass die Irak-Frage von der US-Administration falsch beantwortet wurde und die amerikanische Zivilverwaltung dort viele Fehler macht – die Frage selbst bleibt doch mit umso größerer Dringlichkeit bestehen.

      Wenn man die Amerikaner schon unbedingt unter Druck setzen will, sollte man von ihnen fordern, verstärkt humanitäre Hilfe zu leisten und mehr für die Förderung wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wiederaufbaus im Irak zu tun. Und man kann selbst mit gutem Beispiel vorangehen und durch Vorschläge und Hilfsangebote zur Verbesserung der Sicherheitslage, zum Funktionieren der zivilen und humanitären Einrichtungen und zur Hebung des Lebensstandards der Iraker beitragen.

      Es muss jetzt alles getan werden, was den Irakern zu Erfolgen verhilft – nur so können sie das Selbstvertrauen gewinnen, das sie brauchen, um den Wiederaufbau schließlich in die eigenen Hände zu nehmen. Erst wenn dies geschieht, kann für den Irak eine demokratische Zukunft beginnen. Die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben und die eigene Gesellschaft ist nämlich der wahre Grundstein der Demokratie – nicht der formale Akt von Parlamentswahlen, wie einige, die jetzt auf einen raschen Wahltermin drängen, zu glauben scheinen. Sie vergessen dabei, dass das Land gerade erst eine mehr als drei Jahrzehnte andauernde Tyrannei hinter sich gelassen hat. Zunächst einmal bedarf es einer Phase des freien Aufatmens, in der sich die nötigen zivilen und rechtsstaatlichen Strukturen für die erfolgreiche Durchführung von Wahlen entwickeln können. Fehlen diese Strukturen, könnten Wahlen direkt in eine neue Diktatur münden. Erinnern wir uns: Nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft in Deutschland 1945 dauerte es vier Jahre, bis (im Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik) freie Wahlen auf nationaler Ebene stattfinden konnten. Und das US-Besatzungsregime in Japan endete erst sieben Jahre nach dem Zusammenbruch der Diktatur.

      Wer heute den Rückzug der ausländischen Truppen oder auch nur eine Reduktion des westlichen Engagements im Irak fordert, verlangt nichts anderes, als die Iraker in ihrem Unglück allein zu lassen. Lange genug hat das der Westen getan – jahrzehntelang überließ er den Irak einem der blutigsten diktatorischen Regime der Weltgeschichte und schüttelte dem Diktator noch eilfertig und ermutigend die Hand. Jetzt, nach 35 Jahren Terror, Mord und Totschlag, ist endlich die geschundene irakische Bevölkerung an der Reihe: Sie hat ein Anrecht darauf, dass ihr alle demokratischen Nationen, einschließlich der angeblich so aufgeklärten europäischen, ihre helfenden Hände reichen.


      Aus dem Arabischen von Imke Ahlf-Wien


      (c) DIE ZEIT 04.12.2003 Nr.50
      http://www2.zeit.de/2003/50/Essay_Wali
      Avatar
      schrieb am 02.01.04 20:27:22
      Beitrag Nr. 141 ()
      Der Wunsch ist das Problem
      Bei der Kinderlosigkeit ist Deutschland Weltspitze. Seit dreißig Jahren warnt der Demograf Herwig Birg vor einer Katastrophe, die längst eingetreten ist
      BIELEFELD, im November. An Tagen wie diesem gibt es für Herwig Birg nichts als trübe Aussichten. Schaut der Professor von seinem Schreibtisch aus nach rechts, sieht er die nebelverhangenen Ausläufer des Teutoburger Waldes im Fenster; schaut er nach links, fällt sein Blick auf ein Stillleben aus Plastikkanne und Keksteller; und wenn er seine Aufmerksamkeit der Wand gegenüber widmet, hat er " Die demografische Alterung in Deutschland im 21. Jahrhundert" vor Augen. So ist eine Anschauungskarte überschrieben, die Birg entwickelt hat. Alle Kurven, die einen frohen Blick in die Zukunft erlauben würden, neigen sich. Lediglich eine Linie weist nach oben, der so genannte Altenquotient. Die Deutschen vergreisen, und Birg hat es schon lange gewusst.

      Herwig Birg leitet das Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik an der Universität Bielefeld. Zum ersten Mal in seinem Wissenschaftlerleben ist sein Fachgebiet öffentlich im Gespräch. " Die Demografie macht den Umbau unserer Sozialsysteme dringend notwendig" , ruft der SPD-Fraktionschef Franz Müntefering Betriebsräten zu. " Demografie wird zur Demagogie" , ruft die Gewerkschaft Verdi zurück. Die Demografie, so scheint es, hat Konjunktur. Der Demograf, der sich über so viel Aufmerksamkeit freuen könnte, bemerkt, dass sein Forschungsgebiet zum Spielball politischer Interessen wird.

      Herwig Birg ist vierundsechzig Jahre alt und sagt: " Ich fühle mich zunehmend elendiger. Je älter ich werde, desto weniger verstehe ich dieses Land." Ein Land, in dem das Staatsziel Nummer Eins Maximierung des Wohlstands heißt und in dem immer weniger Kinder geboren werden. Ein Land, dessen Zukunft in der Bildung seiner Menschen liegt und das den Hochschulen die Mittel kürzt. Ein Land, in dem Wissenschaftlerworte nur Gehör finden, wenn sie den Politikern passen und Politikerworte nur bis zur nächsten Wahl gelten. Es finde nichts mehr auf vernünftige Weise zueinander in diesem Land, in dem sich " eine Traurigkeit und Wurschtigkeit" ausbreite - dem politischen Aktionismus zum Trotz. " Es sind keine parteipolitischen Fragen zu lösen, es geht um die Veränderung der Gesellschaft. Die Zukunft des Landes steht zur Disposition."

      Auch wenn heute viele davon reden, begriffen hätten es die wenigsten, was die " demografische Katastrophe" , wie Herwig Birg sie nennt, schon bald bewirken wird. Die Spannungen in der Gesellschaft nehmen zu, die Konflikte zwischen Arm und Reich verschärfen sich, jene zwischen alten und neuen Bundesländern, zwischen Deutschen und Zuwanderern. Das Leben in den Städten wird stressiger. Herwig Birg sagt: " Wir sehen einer neuen Armut entgegen, die auch die Mittelschicht erreichen wird."

      Die Gruppe der jungen, gut ausgebildeten Menschen, der wichtigste Faktor einer jeden Volkswirtschaft, schrumpfe bereits jetzt um jährlich 400 000 Menschen. Selbst wenn sich die Arbeitsproduktivität erhöhe, verlange die Versorgung älterer Menschen immer größere Mittel. Denn die Zahl der über Achtzigjährigen wächst; sie wächst sogar am stärksten, von drei Millionen bis auf zehn Millionen zur Jahrhundertmitte. " Deshalb wird sich auch der Konflikt zwischen Alt und Jung verschärfen" , sagt Birg. " Durch Liebe und das Beschwören des Generationenvertrages ist das nicht aus der Welt zu schaffen. Da treffen existentielle Interessen aufeinander." Im Jahr 2050 muss nach seinen Berechnungen ein Erwerbstätiger für einen Rentner aufkommen, heute beträgt das Verhältnis zwei zu eins.

      Selbst mit verstärkter Zuwanderung ließe sich der Bevölkerungsschwund in Deutschland nicht aufhalten. Auch die Zuwanderer bekämen weniger Kinder, als es demografisch wünschenswert ist. " Seit Jahrzehnten decken wir unsere Lücke durch Einwanderer, das ist nichts anderes als demografischer Kolonialismus" , sagt Birg. " Wir holen Leute, die deren Heimatländern bald selber fehlen." Die Geburtenraten sind überall rückläufig.

      Deutschland ist für die internationale Demografie als Experimentierfeld der Geschichte von großem Interesse, weil hier seit Jahrzehnten Prozesse ablaufen, die andere Länder noch vor sich haben.

      Seit Jahrzehnten sagt Herwig Birg, dass in diesem Land zu wenig Kinder geboren werden. " Mein erstes Buch zu den demografischen Verwerfungen ist 1975 erschienen" , sagt er. Ältere Kollegen könnten auf noch frühere Veröffentlichungen hinweisen. Seit 1972 sei klar gewesen, was passieren würde. " Deutschland war das erste Land der Welt, in dem die Zahl der Sterbefälle die der Geburten überstieg." In der DDR sei das bereits 1969 der Fall gewesen, in der Bundesrepublik drei Jahre später. Die SED-Führung reagierte seinerzeit mit einem sozialpolitischen Programm, dessen Effekt aber nach zehn Jahren verpufft war. Auch im Osten des Landes sank die Geburtenrate seit Beginn der achtziger Jahre kontinuierlich; im Westen ohnehin. In ganz Deutschland hat sie sich in den vergangenen dreißig Jahren von 2,4 Kindern je Frau auf 1,4 Kinder fast halbiert, die Tendenz ist weiter fallend.

      Wenn Herwig Birg sagt, Bevölkerungsberechnungen seien im Grunde wie Physik und somit zuverlässiger als Wirtschaftsprognosen, die von diversen äußeren Faktoren abhängen, dann bedeutet das, Demografie ist nicht Prophezeiung, sondern vorweggenommene Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die sich nicht per Ignoranz außer Kraft setzen lässt. " Ich habe in der Vergangenheit jede Gelegenheit genutzt, den Leuten mitzuteilen, was auf die Gesellschaft zukommt" , sagt Birg. Dabei sei er auf die immer gleichen Reaktionen gestoßen: " Abwehren, abwiegeln, ignorieren, totschweigen." Heute sagt Franz Müntefering: " Wir Sozialdemokraten haben in der Vergangenheit die drohende Überalterung unserer Gesellschaft verschlafen." Was nach einem kleinen Malheur klingt, hält Birg für einen Betrug an kommenden Generationen. Solange die Wirtschaft wächst, könne nichts passieren, sei eine beliebte politische Illusion gewesen. So habe Norbert Blüms Rentenreformel auf der Annahme basiert, dass die Lebenserwartung in Deutschland nach dem 1. Januar 2000 nicht mehr steige. Es sei einfach so festgelegt worden. " Das ist völliger Unsinn" , sagt Birg, " natürlich steigt sie." Den Kommentar über Blüm muß ich mühsam unterdrücken.

      Jetzt wächst die Wirtschaft nicht mehr, nun sollen Kinder wachsen. Doch selbst wenn jede Frau in Deutschland ab sofort jene 2,1 Kinder zur Welt brächte, die rechnerisch zum Erhalt einer Bevölkerung notwendig sind, würde sich die Einwohnerzahl erst im Jahr 2080 stabilisieren. Die Katastrophe lässt sich nicht aufhalten. In fünfzig Jahren werden in Deutschland zwölf Millionen Menschen weniger leben als heute. Millionen Beschäftigte werden dem Sozialsystem fehlen, optimistisch gerechnet.

      Bei allem, was er weiß, dürfte Birg keinen Optimismus verbreiten. Er hat ihn sich mit Mühe auferlegt. " Schlimm wäre es, wenn die Leute jetzt sagen würden, es hat alles keinen Zweck; ich erlebe das sowieso nicht mehr. Dann hätten wir das Gegenteil von dem erreicht, was wir wollen." Die Kunst der Demografie sei es, schlechte Nachrichten so zu formulieren, dass die Menschen positive Schlüsse daraus ziehen. Der schönste Schluss wäre ein Kind.

      Doch wie bringt man Menschen dazu, sich aus Vernunft Kinder zu wünschen? " Jedenfalls nicht, indem man der Frau hundert Euro Rente mehr verspricht" , sagt Birg. " Bis sie in dem Alter ist, hat es dreißig Rentenreformen gegeben." Der Appell an die Vernunft sei schon der falsche Ansatz. " Wir brauchen eine Kulturrevolution. Kinder müssen wieder zu unserem Leben gehören."

      Dreißig Prozent aller Frauen in Deutschland bekommen gar keine Kinder, zweiundvierzig Prozent aller Akademikerinnen entscheiden sich dagegen. Statistisch sei die Zahl der Kinderlosen in Deutschland nicht nur doppelt so hoch wie beispielsweise in Frankreich, sondern sogar absolute Weltspitze. " Es ist ein Sonderfall, dass in einem Land so viele Frauen überhaupt keine Kinder bekommen wollen."

      Der Wunsch ist in Deutschland das Problem, sagt Herwig Birg, der Wunsch nach einem Kind. Familienpolitische Maßnahmen würden sich in erster Linie an Menschen richten, die schon Kinder haben. Bei ihnen wirken sie auch, die Schwelle zum zweiten Kind sei in Deutschland relativ niedrig, sagt Birg. Entscheidend für die niedrige Geburtenrate in Deutschland sei jedoch jene große Gruppe von Menschen, die überhaupt keine Kinder will. " Was nützt jemandem die Aussicht auf einen Kindergartenplatz, wenn er sich bereits entschlossen hat, keine Kinder zu bekommen?"

      Und was nützt jemandem erst die Aussicht auf keinen Kindergartenplatz. Viele würden sich nicht etwa aus Hedonismus gegen Kinder entscheiden, sondern aus " nacktem Systemzwang" . Diese Entscheidung falle längst nicht mehr im Schlafzimmer, sondern auf dem Arbeitsmarkt. Die geforderte Mobilität, lebenslanges Lernen, Ungebundenheit; all das stehe familiären Erfordernissen entgegen, sagt Birg. " Wenn der Arbeitsmarkt es verlangt, soll der Produktionsfaktor Mensch seine gesamte Lebenswelt austauschen. Die ökonomischen Optimierungsmodelle, nach denen sich die Menschen in Deutschland richten sollen, sehen Kinder nicht vor."

      Weil Herwig Birg Optimist sein will und Realist sein muss, glaubt er nicht an die Familienpolitik irgendeiner Regierung, sondern daran, dass künftig die Firmen stärker als bisher Verantwortung für ihre Angestellten übernehmen, und zwar aus eigenem Interesse. Kinder, die heute nicht geboren werden, fehlen morgen der Wirtschaft, als Produzenten und als Konsumenten.

      " Solange sich in Deutschland Arbeit und Familie nicht besser vereinbaren lassen, wird es keinen größeren Wunsch nach Kindern geben" , sagt Birg. Es gebe genug Vorbilder, in Frankreich und in Skandinavien, wie eine Ganztagsbetreuung für Kinder aussehen könnte, zur Not müsse man die kopieren.

      Demografisch ist die Not groß. Doch hält sie sich in Diagrammen noch gut versteckt. An diesem Nachmittag gibt Herwig Birg ein Seminar an der Bielefelder Universität. Elf Studenten sitzen in der Runde. Das Fach Demografie ist nicht der Renner. Es geht um die Berechnung der Geburtenrate, ein mathematisches Problem. Birg entwirft Formeln, Gleichungen, Brüche. Einige Studenten machen sich Notizen, andere nicht. Als Birg die Geburtenrate für Deutschland an die Tafel zeichnet, weicht das studentische Phlegma einem allgemeinmenschlichen Interesse.

      Birg sagt, das beste Mittel, Kinderwünsche zu wecken, wäre eine permanente Wirtschaftskrise. Erst wenn die Rentenversicherung Konkurs ginge, werde jeder begreifen, dass er eigene Kinder zur Altersversorgung brauche. Seine Hörer sind nach 1980 geboren. Sie werden um das Jahr 2045 in Rente gehen, zu einer Zeit, da die Prognosen ihres Professors höchstwahrscheinlich Wirklichkeit sind. Mit dem Satz: " Für ihre Generation tut es mir Leid" , schließt Herwig Birg das Seminar. Als er seine Tasche packt, geht ein Student auf ihn zu und sagt: " Ich habe ein Kind. Eigentlich ist das ganz schön."


      " Wir brauchen eine Kulturrevolution. Kinder müssen wieder zu unserem Leben gehören. " Herwig Birg.
      _____________________________
      Quelle:Thread: Hetzjagd auf Kinderlose ist eröffnet
      Avatar
      schrieb am 02.01.04 22:06:06
      Beitrag Nr. 142 ()
      Die Arbeit ist zu teuer
      Von Carl Graf Hohenthal
      Die Bundesregierung will die Schwarzarbeit schärfer bekämpfen. Wieder einmal, ist man versucht zu sagen. Denn es bedarf keiner besonderen Prognosefähigkeiten, um vorauszusagen, dass das Ergebnis der Bemühungen bescheiden sein wird. Schon in der Vergangenheit haben die Maßnahmen gegen die Schwarzarbeit kaum etwas gebracht. Trotz vielfältiger Kontrollen - etwa auf Baustellen - wo im großen Stil schwarzgearbeitet wird, hat die Beschäftigung an der Steuer und bisweilen auch an den Sozialabgaben vorbei im vergangenen Jahr noch einmal um rund sechs Prozent auf einen Wert von annähernd 370 Milliarden Euro zugelegt. Was Bundesfinanzminister Hans Eichel zu dem Glauben veranlasst, durch noch schärfere Kontrollen und härtere Strafen etwa eine Milliarde Euro an Steuern zusätzlich einzunehmen, bleibt sein Geheimnis. Schließlich kosten die zusätzlichen Kontrollen auch Geld. Angesichts der Versprechungen des Staates, Bürokratie weiter abzubauen, bereitet die Mitteilung des Bundesfinanzministeriums, eine neue Stelle " Finanzkontrolle Schwarzarbeit" mit 7000 Beschäftigten einzurichten, dem Bürger Unbehagen.

      Es ist der Staat, der immer wieder versichert, Schwarzarbeit sei kein Kavaliersdelikt. Die Bürger selbst sehen das offenkundig ganz anders. Das zeigt eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen vom vergangenen Mai, bei der mehr als die Hälfte der Befragten Schwarzarbeit für Privatleute akzeptierten. Rund ein Viertel hatte auch Verständnis für Schwarzarbeit bei Unternehmen. An dieser Einstellung wird sich auch dann nichts ändern, wenn die Beschäftigung von Putzhilfen, Aushilfskellnern und Küchenhilfen von einer Ordnungswidrigkeit zum Straftatbestand erhoben wird. Die Belastung der Wirtschaft durch Steuern und Lohnnebenkosten hat längst ein Ausmaß erreicht, dass sie in weiten Teilen nur noch funktionieren kann, wenn es staatsfreie Grauzonen gibt. Die Arbeitslosigkeit würde gigantisch zu- und der vom Bundeskanzler so ersehnte Konsum würde abnehmen, wenn es die Schwarzarbeit nicht gäbe. Ihre Existenz ist ein geradezu beruhigendes Zeichen dafür, dass es genug zu tun gibt in Deutschland. Die Arbeit ist nur zu teuer. Der Staat hat es in der Hand, dies durch eine weit blickende Fiskal- und eine marktwirtschaftlich ausgerichtete Sozialpolitik zu ändern. Das bringt auf längere Sicht mehr in die Kassen als immer neue Kontrollen und Drohungen.
      Quelle:Thread: Schwarzarbeit im Haushalt bald kriminell
      Avatar
      schrieb am 05.01.04 18:55:41
      Beitrag Nr. 143 ()
      Ein schlimmes Jahr 2004? Keineswegs!

      Von Dr. Bernd Niquet

      Eine drei Jahre waehrende, schlimme Baisse liegt hinter
      uns. In Deutschland war sie sogar schlimmer als die-
      jenige von 1929 bis 1932. Seit Maerz 2003 sind die Kurse
      der Aktien jedoch wieder deutlich angestiegen, im
      Schnitt um fast drei Viertel. Doch war das alles viel-
      leicht nur ein Intermezzo? Steht uns das Schlimmste
      vielleicht erst noch bevor? Soll man jetzt seine Er-
      sparnisse aus den Maerkten nehmen, sie einbunkern, in
      Gold tauschen. Wird es den Staatsschulden und den
      Waehrungen an den Kragen gehen?

      Gerade komme ich zurueck von meinem Silvester-Spaziergang.
      Ich habe propere Haeuser gesehen, gut genaehrte und gut
      angezogene Menschen, neue, teure und blitzblank
      geputzte Autos. In einigen Haeusern stehen Wohnungen
      zum Verkauf und zum Vermieten, manche Leute haben
      kein Auto und fahren mit dem Bus und der eine oder
      andere von ihnen wird gegenwaertig auch keine Arbeit
      haben.

      Im Biergarten unten am See sitzen die Leute draussen.
      Ich finde es zwar sehr kalt, doch die Leute sitzen
      draussen. Sie haben Decken um sich geschlungen und
      sitzen stoisch draussen. Weil man hier besser sehen
      und auch besser gesehen werden kann? Oder ist das
      schlichtweg ein Erlebnis, das man sich nicht entgehen
      lassen will? Denn Erlebnisse sind wichtig, heutzutage
      fast schon das Wichtigste. Wer heute keine Erlebnisse
      zu erzaehlen hat, der existiert gar nicht richtig.

      Zu Weihnachten habe ich unter anderem Thomas Manns
      Tagebuecher von 1918 bis 1921 geschenkt bekommen. In
      keinem Geschichtsbuch habe ich bisher eine bessere
      Darstellung der November-Wirren des Jahres 1918 gefunden.
      Wechsel des Schauplatzes: Von Berlin nach Muenchen,
      ebenfalls Villenvorort. Das Wetter ist in etwa identisch.
      Nur die Uhr steht noch fuenfundachtzig Jahre zurueck.
      (Wer also heute, am Silvestertag, den neunzigsten Ge-
      burtstag feiert, war damals fuenf Jahre alt.)

      Kriegskosten, Kriegsschulden, die Weisungen der
      Alliierten, Friedensdiktat, ploetzlich keine Zeitungen
      mehr, in Berlin eine Raeterepublik wie in Russland?,
      hinter dem Stadtpark wird geschossen, marodierende
      Soldaten, gluecklicherweise funktioniert das Telefon
      noch, die groesste Katastrophe der Weltgeschichte, das
      letzte Geld noch in einem alten Gemaelde anlegen?,
      niemand wird die Schulden jemals abbezahlen koennen ...

      Damals war sicherlich eine Zeit, sein Vermoegen in
      Sicherheit zu bringen. Es abzuziehen von den Banken,
      es in Gold zu tauschen, es im Garten zu verbuddeln.
      Ist das Gold damals ebenso kraeftig gestiegen wie
      heute? Ich weiss es nicht, ich weiss nur, dass die-
      jenigen, die ihr Geld in Dollars angelegt haben,
      bestens durchgekommen sind.

      Damals war die richtige Zeit zu einer 100-Prozent-
      Sicherheits-Anlage. Weil man das Pulver bereits
      riechen konnte. Und trotzdem: Nur wenig spaeter begann
      das, was selbst bei uns noch als die Goldenen Zwanziger
      Jahre in aller Munde ist. Und heute? Wenn ich doch
      nur noch die schoene Geschichte wuesste von dem dummen
      Kaninchen, dem man Salz auf den Schwanz streute und
      dass dann tatsaechlich stehen blieb. Doch noch schlimmer
      als das Salz auf dem Schwanz ist immer der Sand in
      den Augen.

      In diesem Sinne wuensche ich ein erfolgreiches neues Jahr!

      ***************

      Bernd Niquet ist Boersenkolumnist und Buchautor.
      Avatar
      schrieb am 09.01.04 11:00:32
      Beitrag Nr. 144 ()
      ftd.de, Fr, 9.1.2004, 7:00
      Auswanderung tut gut
      Von Benjamin Dierks, Hamburg

      Wenn der gut ausgebildte IT-Spezialist auswandert, gilt das bisher als Problem für die Wirtschaft in seiner Heimat. In einigen Entwicklungsländern bringt es sie aber erst richtig in Schwung.

      Was widersprüchlich klingt, ist neueren Forschungen zufolge ganz logisch: Nicht das Herkunftsland, sondern erst das Aufnahmeland sorgt dafür, dass sich die Fähigkeiten der hochqualifizierten Arbeitskräfte voll entwickeln. In Indien sei der IT-Sektor erst dadurch gewachsen, dass Spezialisten das Land verlassen haben, meint der Gründer und ehemalige Vorsitzende des indischen Softwareindustrieverbandes Nasscom, Saurabh Srivastava.

      Auswanderung sei kein "Brain Drain" mehr, kein Entzug von Fähigkeiten, sondern ein "Brain Gain", ein Zugewinn, sagte Hans-Werner Mundt von der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) der FTD. Nicht nur die Migranten und die reichen Industrienationen profitieren, auch die Herkunftsländer gewinnen durch die Arbeit ihrer Bürger im Ausland. "Migration von qualifizierter Arbeit aus den Entwicklungs- in die entwickelten Länder bringt beiden größte Vorteile und hat einen rundum positiven Effekt auf die weltweite Wirtschaft", so Srivastava.

      Migranten bauen auf

      Er bestätigt die Hoffnungen von Forschungsinstituten. "In Indien zeigen die Ergebnisse, dass das Land von der Auswanderung und der Rückwanderung profitiert hat", sagte Uwe Hunger vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (Imis) in Osnabrück. Bereits vor drei Jahren hatte das Institut geschrieben, die Auswanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte aus Indien könne "zu einem sich selbst tragenden Aufschwung führen, der ohne die von den Migranten ausgehenden Impulse kaum möglich wäre".

      "Die indische Softwareindustrie war noch vor zwei Jahrzehnten praktisch nicht vorhanden", sagt Srivastava. "Die in Indien ansässigen multinationalen Firmen entdeckten aber, dass es besonders viele Software-Talente gab und setzten ihre indischen Mitarbeiter ein, um ihren Kunden von Indien aus billiger Service zu bieten."

      Heute spielt die indische Computerindustrie weltweit ganz vorne mit. 10 Mrd. $ nehmen indische Firmen jährlich im Ausland ein, 3 Mrd. $ auf dem heimischen Markt. Nach neuesten Schätzungen von McKinsey könnte das Land bereits in vier Jahren nahe am US-Wert von 70 Mrd. $ sein.

      Vorarbeit im Ausland

      "Firmen wie IBM, Unisys und HP sprangen in den frühen 80er Jahren auf den Zug auf", sagte Srivastava. Inder wurden schließlich auch im Ausland eingesetzt und suchten sich Jobs, die sie in Indien nicht hätten finden können. Der indische Software-Spezialist wurde zur "Marke" und stieg in den Firmen zum Projektmanager und Unternehmenschef auf. "Sie kamen in Positionen, in denen sie Menschen einstellen und sogar Outsourcing-Verträge vergeben konnten", so Srivastava. "Der nächste logische Schritt war, Geschäftsabläufe nach Indien zu verlegen."

      Vor allem in den USA gründeten indische IT-Spezialisten heute führende Unternehmen wie Hotmail, Juniper Networks, Sycamore und Cirrus Logic. 1991 wurden ein Viertel der neuen Firmen in Silicon Valley von Indern gegründet. Bald dehnten sich die Unternehmen auch nach Indien aus.

      Bedingungen müssen stimmen

      Srivastava ist dafür ein Musterbeispiel. Über 30 Jahre arbeitete der Einwanderer aus Indien in den Führungsetagen internationaler IT-Firmen wie IBM und Unisys in den USA. Seine 1989 gegründete Firma Infotech wurde zum erfolgreichsten Unternehmen Indiens und fusionierte mit dem amerikanischen IT-Dienstleister Xansa. Sein Softwareverband Nasscom machte der widerstrebenden indischen Regierung die Rückkehr von Migranten und die Ansiedlung von indischen Neugründungen schmackhaft. Er konnte etwa Steuererleichterungen für Rückkehrer durchsetzen.

      "Am Anfang war die indische Regierung gar nicht so erpicht, dass die Migranten zurückkehren", sagte GTZ-Forscher Mundt. "Es müssen aber Bedingungen geschaffen werden, die bei den Auswanderern das Interesse wecken, in ihrem Heimatland Geschäfte zu machen." In Indien habe es ein funktionierendes Bildungssystem gegeben. IT-Spezialisten seien weit über Bedarf ausgebildet worden, so dass trotz Auswanderung genug Arbeitskräfte übrig blieben, um den heimischen Bedarf zu decken.

      Das Beispiel macht Schule

      Noch ist es laut Experten zu früh, um das Beispiel zur Regel zu machen. "Ein Entwicklungsmodell würde ich daraus nicht entwickeln", so Migrationsforscher Hunger. Es sei eher eine Möglichkeit, aus der Überzahl an Fachkräften einen Nutzen zu ziehen. "Es ist aber deutlich geworden, was Regierungen tun können: Über Bedarf ausbilden und Migration in Betracht ziehen", sagte Mundt.

      Hunger rät Entwicklungs- und Schwellenländern, jetzt ihre hoch qualifizierten Arbeitskräfte aus dem Ausland zurückzuholen. In Mexiko etwa habe sich die Regierung bereits auf die Fahnen geschrieben, gut ausgebildete Akademiker für sich zu gewinnen, die vor Jahren in die USA ausgewandert sind. Die Situation in Taiwan sei bereits ähnlich wie in Indien. In Irland hat die Rückkehr von Migranten laut GTZ maßgeblich zum heutigen Wirtschaftsboom beigetragen.

      Afrika verliert Arbeitskräfte

      Welchen Nutzen Auswanderung haben kann, ist besonders für die Bereiche interessant, in denen sie den Herkunftsländern schwer zu schaffen macht. In Südafrika etwa droht das Gesundheitssystem zusammenzubrechen, weil dort ausgebildete Krankenpfleger und Mediziner oft Jobs im Ausland annehmen.

      "Das Gesundheitspersonal läuft uns weg", sagte Uta Lehmann, Dozentin an der südafrikanischen University of Western Cape. Die Hälfte der neuen Krankenschwestern in Großbritannien seien heute Ausländer, 90 Prozent davon aus Entwicklungsländern.

      Jeder Markt bietet Chancen

      Forscher sehen auch hier eine Möglichkeit, aus der Migration einen Nutzen zu ziehen. "Es kommt auf die Beschaffenheit des Marktes an und nicht auf die der Produkte", so Hunger. "Auch im Medizinsektor steckt ein Potenzial, wenn Arbeitskräfte zurückgeworben werden."

      Ein spezialisiertes und günstiges Versorgungsangebot könne Südafrika für zahlungskräftige Patienten aus dem Ausland, aber auch für das einheimische Gesundheitspersonal interessanter machen, sagte Mundt. Außerdem müsse im Gesundheitssektor die Ausbildungsquote erhöht werden, dann könne Südafrika auf einen Teil seiner Arbeitskräfte verzichten.


      http://www.ftd.de/pw/in/1073230763322.html?nv=hpm
      Avatar
      schrieb am 09.01.04 11:56:53
      Beitrag Nr. 145 ()
      Aus der FTD vom 9.1.2004
      Lukrativer Flächenverkauf

      Hans Eichel bekommt unverhofft Geld in die Kasse. Verkäufe der ehemals volkseigenen Äcker, Wiesen und Wälder in Ostdeutschland bringen dem Bund in diesem Jahr so viel ein wie noch nie seit der deutschen Einheit.


      Die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH des Bundes (BVVG) meldet für 2003 einen Rekord bei den Privatisierungserlösen von mehr als 260 Mio. Euro, die dem Bundeshaushalt zufließen. 2002 hatte die BVVG mit 250,5 Mio. Euro ihr bisher bestes Jahresergebnis erzielt. Seit Mitte 1992 spielte sie dem Bund bisher insgesamt mehr als 2,3 Mrd. Euro ein.


      http://www.ftd.de/pw/de/1073492381701.html?nv=hpm
      _______________________________________________
      Ich frage mich nur für wem der Flächenverkauf lukrativ ist für den Bund oder für die Käufer. 2,3Mrd. Euro sind für den Bund erstmal nur Peanuts. Lukrativ für den Bund kann ein solcher Deal also nur dann sein, wenn die Assets über Wert verkauft werden. Aber wenn ich mir die Preise auf http://www.bvvg.de so anschaue dann komme ich zum Schluß, das der Bund sein Eigentum zu absoluten Schleuderpreisen verkauft. Die vom Bund angebotenen Objekte sind meiner Meinung nach, selbst dann eine attraktive Geldanlage, wenn man nicht in der Lage ist, diese aktiv zu bewirtschafteten!
      Meinungen?


      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 11.01.04 06:49:36
      Beitrag Nr. 146 ()
      Diese Preise für Ackerflächen liegen bei etwa 1/10 von günstigsten westdeutschen Flächen. Im Osten werden aber auch viele Flächen überhaupt nicht mehr landwirtschaftlich genutzt, weil das unprofitabel ist und langfristig noch viel unprofitabler werden wird. Wie bei der Aktie, die keine Dividende abwerfen wird ist solch ein Investment dann auch nichts wert. Beim Häuserbau werden bis heute Überkapazitäten aufgebaut obwohl es nie Nachfrage gab. Miegel schrieb mal, daß Mecklenburg in ein paar Jahrzehnten zum Naturschutzgebiet wird.
      Empfehlenswert:
      M.Miegel-Die deformierte Gesellschaft
      Außerdem:
      Jared Diamond-Guns, Germs and Steel (Arm und Reich)
      Avatar
      schrieb am 11.01.04 16:15:12
      Beitrag Nr. 147 ()
      Erst mal danke für die beiden Buchtipps.
      Ich weiß nicht genau wie profitabel die Landwirtschaft in Ostdeutschland ist, ich weiß aber dass die Landwirtschaft in Westdeutschland kaum profitabel ist(von mir geschätzte durchschnittliche Eigenkapitalrendite: 3% und weiterhin sinkend). In einer westdeutschen Landwirtschaft sind ca. 40%(Viehhaltung) bis 80%(Wald- und "Getreidebauern") (die Zahlen sind wiederum von mir geschätzt worden) des eingesetzten Kapitals in Agrarflächen gebunden. Wenn man nun davon ausgeht das ein ostdeutscher Landwirtschaftlicher Betrieb nur ein Zehntel des Kapitals eines westdeutschen Betriebes benötigt um in Agrarflächen zu investieren, dann erzielt der ostdeutsche Betrieb schon beträchtlich höhrere Renditen als ein westdeutscher(geschätzte 6-20%ROE!).
      Sowohl der ostdeutsche als auch der westdeutsche Landwirt bekommen die gleichen Preise für ihre Agrarprodukte, die Fixkosten dürften weitgehend gleich sein, die Lohnkosten in Ostdeutschland sind ohnehin niedriger. Die Preise der Ost- und Westdeutschen Agrarflächen werden sich, meiner Meinung nach, also langfristig annähern. Westdeutsche Agrarflächen werden langfristig sicherlich noch im Preis nachgeben, ich gehe aber nicht davon aus das es auf dem Markt für westdeutsches Agrarland einen Supercrash, in dem die Preise um 90% nachgeben, geben wird, also muss ich im Gegenzug auch davon ausgehen, das die ostdeutschen Flächen noch im Preis steigen werden/müssen.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 12.01.04 02:51:21
      Beitrag Nr. 148 ()
      Ich nehme an, daß der ostdeutsche Bauer fast genausoviel Kapital braucht weil moderne Gebäude und Maschinen doch den Großteil bilden. Außerdem wird die deutsche Landwirtschaft im zweistelligen Mrd-Bereich subventioniert. Politiker werden doch alle paar Jahre neu gewählt, also würde ich mal ohne Subventionen rechnen. Wegen dieser Unberechenbarkeit würde ich darin aber auch nicht in Südamerika oder Afrika investieren. Eigentlich müsste man sagen, die Landwirtschaft ist hier viel zu teuer und wird abgeschafft, aber dann stehen ein paar Tausend Traktoren vorm Brandenburger Tor.
      Avatar
      schrieb am 17.01.04 20:35:54
      Beitrag Nr. 149 ()
      Wenn die Schurken schüchtern werden

      Gegen Saddam Hussein führte Amerika einen Krieg auf Verdacht. Libyen, Iran und Nordkorea rüsten lieber freiwillig ab - aber nicht wegen der militärischen Drohung allein.

      Von Matthias Nass

      Es tut sich was auf der " Achse des Bösen" . Seitdem amerikanische Soldaten Saddam Hussein aus seinem Erdloch zogen, scheint auch der letzte " Schurke" unter den Staatenlenkern begriffen zu haben: Wer sich Washington zum Feind macht, mit dem kann es ein böses Ende nehmen. Ist es ein Zufall, dass Libyens Revolutionschef Ghaddafi, Irans Präsident Chatami und Nordkoreas Geliebter Führer Kim Jong Il plötzlich vor Friedfertigkeit geradezu schnurren? Ist nicht vielmehr die Botschaft des Irak-Krieges bei jenen angekommen, denen sie neben Saddam selbst galt - nach dem Wort aus Washington: " Ziehen Sie schon einmal eine Nummer!"

      Dass die Neokonservativen in der Bush-Administration heute triumphieren, wer wollte es ihnen verdenken? Zur Hälfte haben sie ja sogar Recht. Der Präsident jedenfalls hatte nach dem 11. September 2001 der Öffentlichkeit eingehämmert, er werde nicht zusehen, wie " die gefährlichsten Regimes der Welt in den Besitz der gefährlichsten Waffen der Welt" gelangten.

      Fünf Tage vor Weihnachten erklärt Muammar al-Ghaddafi plötzlich, er wolle sein Atomwaffenprogramm aufgeben und den Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) seine Nuklearanlagen öffnen. Acht Wochen vorher schon hatten die Machthaber in Teheran zugesagt, sich künftig auch unangemeldeten Kontrollen der IAEA zu unterwerfen. Und nun verkündet auch noch Nordkorea, es wolle auf Produktion und Erprobung von Atomwaffen verzichten.

      Eine wahrhaft paradoxe Bilanz von Amerikas " Präemptiv-Krieg" im Irak. Dort wurden auch nach neun Monaten intensiver Suche keine Massenvernichtungswaffen gefunden; Iran, Libyen und Nordkorea aber, die allem Anschein nach tatsächlich an der Bombe basteln, hissen beim Anblick der Bomben auf Bagdad die weiße Flagge der Kapitulation. Nach dem Motto: Bush ist zu allem fähig.

      Offenbar aber auch zur Diplomatie. Als im Süden Irans am Zweiten Weihnachtstag die Erde bebt, ruft der stellvertretende US-Außenminister Armitage den in Teheran weilenden iranischen UN-Botschafter an und bietet Unterstützung an. Das Okay kommt nur eine Stunde später: Amerikas Hilfe sei willkommen.

      Als hätten die Regierungen in Teheran und Washington nur auf eine Gelegenheit gewartet, miteinander ins Gespräch zu kommen! Colin Powell spricht von " ermutigenden Zeichen" in der Politik der islamischen Republik; ein " Dialog" könne zu einem " angemessenen Zeitpunkt in der Zukunft" in Gang kommen.

      Ein Dialog! Über nichts haben sich die Hardliner in Washington so gern lustig gemacht wie über den Dialog der naiven Europäer mit den Mullahs in Teheran. Der schiitische Gottesstaat, glaubten sie, stünde längst am Rande der Revolution: " Und wir sollten diese Revolution unterstützen." Abrüstung durch Regimewechsel, ganz wie im Irak, galt ihnen auch für Teheran als das richtige Rezept.

      Doch dann reiste im Oktober das europäische Außenminister-Trio Fischer, Straw, de Villepin nach Teheran und brachte die Zusage mit, Iran werde das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag unterschreiben und sich damit den uneingeschränkten Inspektionen der IAEA unterwerfen. Möglich wurde dieser diplomatische Erfolg, weil sich die Europäer unnachgiebig zeigten. Der Westen, wie schön, war sich endlich wieder einig.

      Nun will George W. Bush es mit den diplomatischen Freundlichkeiten nicht gleich übertreiben. Die iranische Regierung müsse " auf die Stimme derer hören, die nach Freiheit streben" , mahnt er. Die Iraner ihrerseits finden, es sei noch zu früh, eine offizielle amerikanische Delegation zu empfangen. Aber die Erdbebendiplomatie offenbart auch ihr Interesse an besseren Beziehungen: Seit der Vertreibung der Taliban und dem Sturz Saddam Husseins sieht sich das Regime von Verbündeten Amerikas eingekreist; Grund genug, sich mit der Supermacht gut zu stellen. Washington wiederum setzt bei der Stabilisierung des Iraks auf die Schiiten, deren wichtigste Führer unter der Saddam-Diktatur im Teheraner Exil lebten; geordnete Verhältnisse im Irak sind im Interesse Amerikas wie Irans.

      Nicht Regimewechsel, sondern Politikwechsel heißt inzwischen das Ziel der amerikanischen Politik gegenüber Teheran. Und dies soll auf friedlichem Wege erreicht werden. Amerika hat ja gezeigt, dass es zum Krieg bereit ist. Auch zum Krieg auf Verdacht! Wer Stärke demonstriert, lautet das Kalkül der Regierung Bush, verschafft der Diplomatie die nötige Durchschlagskraft. Zumindest in einem entscheidenden Punkt ist dieses Kalkül bisher aufgegangen: Der befürchtete Aufrüstungsschub (nach dem Motto: " Wir müssen uns unangreifbar machen, bevor die Amerikaner auch gegen uns losschlagen!" ) ist ausgeblieben.

      Politikwechsel statt Regimewechsel: Das ist nicht nur im Mittleren, sondern auch im Fernen Osten die Devise. Noch im Oktober hatte die US-Regierung die Reise einer Kongress-Delegation nach Pjöngjang untersagt. Jetzt aber hat das Weiße Haus den Besuch von US-Experten in Nordkorea gestattet; fünf Tage lang sollen sie die Atomanlagen in Yongbyon inspizieren.

      Kim Jong Il, der Geliebte Führer, hatte sich während des Irak-Kriegs wochenlang in Bunkern verkrochen, aus Angst, der nächste Angriff könnte ihm gelten. Schon möglich, dass ihn die Demonstration amerikanischen Vernichtungspotenzials geneigter gemacht hat, der chinesischen Einladung zu Sechs-Parteien-Gesprächen über Nordkoreas Atomprogramm zu folgen.

      Nordkoreas Stalinisten zieren sich nicht weniger als Irans Islamisten: Aber wie diese strecken sie vorsichtig ihre Fühler aus - und lehren die Amerikaner nebenbei die Segnungen einer multilateralen Außenpolitik. Denn ohne die geschmeidige Diplomatie der Chinesen hätte es die Gespräche in Peking so wenig gegeben wie die Abrüstungsversprechen Irans ohne die beherzte Initiative der Europäer.

      Dies einzugestehen müsste dem amerikanischen Hegemon möglich sein, ohne dass ihm ein Zacken aus der Krone fällt. Wie umgekehrt die europäischen Kriegsskeptiker einräumen sollten, dass die Furcht vor libyschen, iranischen oder nordkoreanischen Atombomben heute tatsächlich geringer ist, weil George W. Bush sich nicht davon abbringen ließ, Saddam Hussein die Massenvernichtungswaffen aus der - in Wahrheit leeren - Hand zu schlagen.

      Die Doppelstrategie - Abschreckung plus Vertrauensbildung - muss nicht neu erfunden werden; sie hat schon " Schurken" ganz anderen Kalibers zum Abrüsten veranlasst. Man könnte sogar sagen: Der Westen hat mit ihr vor fünfzehn Jahren den Kalten Krieg gewonnen.

      (c) DIE ZEIT 08.01.2004 Nr.3
      http://www.zeit.de/2004/03/Teheran
      Avatar
      schrieb am 19.01.04 15:07:27
      Beitrag Nr. 150 ()
      Neues aus dem Land der Volltrottel

      Von Dr. Bernd Niquet

      Wenn ich derzeit so die ganzen Marktkommentare zu den
      Geschehnissen an den Devisenmaerkten lese, kann ich mir
      stets ein gewisses Schmunzeln nicht verkneifen. Da
      wertet der Euro binnen kurzer Zeit gegenueber dem Dollar
      um sage und schreibe 50 Prozent auf, weil die USA ein
      Leistungsbilanzdefizit und wir Europaeer einen Leistungs-
      bilanzueberschuss haben. Nun will ich das keinesfalls
      kleinreden. Normalerweise – und am historischen Kontext
      gemessen – sollte ein Leitwaehrungsland dem Rest der
      Welt seine Waehrung durch Kapitalanlagen und nicht
      durch Warenkaeufe zur Verfuegung stellen. Hier betreten
      wir also alle Neuland – und so richtig wohl ist mir
      dabei auch nicht.

      Doch einmal Hand aufs Herz: In wen wuerden Sie lieber
      ihr Geld investieren? In einen jungen, dynamischen
      Menschen, der seine Plaene, die manchmal genial,
      manchmal das aber auch nicht sind, stets realisiert
      und dabei allerdings teilweise etwas ueber seine Ver-
      haeltnisse lebt? Oder lieber in einen alten Mann, der
      eine gute Rente bezieht, tausend Ideen hat, aber
      keine davon auch nur annaehernd umsetzen kann? Meine
      Entscheidung ist klar. Und was fuer einzelne Menschen
      gilt, sollte auch fuer Nationen und Waehrungsraeume gelten,
      denke ich.

      Man hat es hierzulande ja schon immer gewusst, doch
      mit jedem Tag, der vergeht, tritt es deutlicher zu Tage.
      So kann es mit Sicherheit nicht gehen! Nehmen wir nur
      einmal das Beispiel der Apotheken: Die neue Kalkulations-
      grundlage der Apotheken fuer verschreibungspflichtige
      Medikamente in unserem Land lautet: Einkaufspreis plus
      drei Prozent vom Einkaufspreis plus Festaufschlag
      von 8,10 Euro.

      Das bedeutet: Waehrend ueberall im Land, auf den Finanz-,
      auf den Waren-, auf den Dienstleistungs- und sogar auf
      den Arbeitsmaerkten auf Flexibilitaet und Marktloesungen
      gesetzt wird, erlauben wir uns in einem so zentralen
      Bereich wie der Versorgung mit Medikamenten weiterhin
      ein Monopol mit Monopolpreisen, in denen auf jedes
      Produkt 8,10 Euro aufgeschlagen werden – immerhin
      fast 16 DM. Warum machen wir das nicht auch bei der
      Fleischversorgung so? Jeder, der ein Pfund Wurst kauft,
      zahlt einen Einheitspreis plus drei Prozent
      plus 8,10 Euro. Der Lebensmitteleinzelhandel wuerde
      sich freuen.

      Es gibt keinerlei Grund, hier – wie in so vielen anderen
      Bereichen auch – nicht auch auf den Markt zu setzen.
      Ausser den Lobbyismus natuerlich. Alleine schon die
      Gerechtigkeit spraeche dafuer: Entweder wir muessen uns
      alle (und nicht nur die Schwachen und Wehrlosen) dem
      Markt stellen – oder wir fuehren den Verteilungs-Sozialismus
      fuer alle ein. Dass die einen sich im Markt beweisen muessen,
      die anderen hingegen nicht, ist jedoch eine kaum mehr
      tragbare Ungerechtigkeit.

      Und wenn wir dabei noch betrachten, dass wir Europaeer
      zunehmend vergreisen und immer mehr Medizin in Anspruch
      nehmen, fuer all das jedoch kollektiv niemals auch nur
      einen Pfifferling zurueckgelegt haben – wohingegen die
      USA trotz heftiger Probleme einiger Pensionsfonds ein
      gutes Polster und vor allem eine stimmige demografische
      Entwicklung vorlegen koennen – dann erkennt man das
      Geschehen an den Devisenmaerkten immer mehr als Kasperle-
      theater.

      Hier schlaegt der Kasper mit der Keule auf das Krokodil
      ein und alle Zuschauer nicken gefaellig mit dem Kopf.
      Mit der wirklichen Welt hat das allerdings wohl eher
      nichts zu tun.




      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 21.01.04 22:39:58
      Beitrag Nr. 151 ()
      Ja, ja, der Niquet hat schon recht, wir vergreisen.
      Hoffentlich hat er wenigstens selbst ausreichend dafür gesorgt, dass es nicht ganz so schlimm wird.

      Er ist doch im besten Mannesalter, wie viel Kinder hat der gute Niquet eigentlich?

      Ich hoffe ja doch, dass er der demographischen Entwicklung in unserem Land durch Eigenleistung entgegenzuwirken versucht hat.

      Interessant sind seine Kolumnen allemal, vor allem weil sie sich ja sogar nicht widersprechen, kurzfristig.

      Verfolgt man das etwas über einen längeren Zeitraum, dann
      muss man die Flexibilität bewundern.

      Einmal "keine Angst vor dem Crash", das nächste Mal Deflationsszenario und Vergleich mit den Dreißigern, dann aber doch wieder alles halb so schlimm.

      Oder doch wieder schlimm, oder doch wieder nicht.
      Da soll sich einer noch eine eigene Meinung bilden, wenn
      ein promovierter Volkswirt seine Meinung ständig ändert.

      Am besten, man kauft seine Bücher, etwas Werbung muss doch sein, schließlich will der Mann doch auch leben.

      Zum Festpreis, es sei denn, es handelt sich um Restposten, die sonst nicht mehr an den Mann zu bringen sind.
      Manche seiner Bücher gibt es zum Schnäppchenpreis, schließlich ist der Mann äußerst produktiv, da kann es schon mal vorkommen, dass ein Exemplar im Regal liegenbleibt.

      Vielleicht ist es eines, wo gerade genau die gegenteilige Meinung von heute vertreten wird, schließlich kann man doch seine Meinung auch mal ändern.

      Bin schon jetzt gespannt, welche er in einem halben Jahr vertritt.
      Wetten, dass das dann wieder eine andere ist.
      Avatar
      schrieb am 22.01.04 11:26:10
      Beitrag Nr. 152 ()
      Ich habe "Crash der Theorien" von Niquet gelesen, von den Börsenbüchern die ich bisher gelesen habe, mit Sicherheit eines der schlechtesten.

      Ansonsten stimme ich Schürger weitgehend zu. Einige Niquet-Artikel wie z.B. #150 sind gar nicht mal so schlecht, aber wenn sich ein Niquet-Artikel ausschließlich auf die Börse bezieht, dann ist das Lesen des Artikel eigentlich immer Zeitverschwendung.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 25.01.04 16:49:49
      Beitrag Nr. 153 ()
      Älterer Artikel, aber interessant wohl
      für jeden hier im Board:)



      Freibetrag auf der Steuerkarte:
      Geringer Aufwand – Grosse Wirkung

      Von Biallo & Team

      "Monat fuer Monat geht ein grosser Teil des Gehalts in
      Form von Steuern an den Staat. In vielen
      Faellen kann man diesen Betrag senken, was sich
      positiv auf eventuelle andere Bezuege auswirkt.

      Es lohnt sich fuer die meisten Arbeitnehmer, noch
      im laufenden Jahr einen Freibetrag auf die
      Lohnsteuerkarte setzen zu lassen. In vielen Faellen
      koennen sie so ohne grossen Aufwand ihr
      monatliches Netto um ein paar hundert Euro
      aufstocken und muessen nicht warten, bis sie die zu viel
      bezahlten Steuern nach der Steuererklaerung
      erstattet bekommen.

      Wer noch im August den Antrag auf Steuerermaessigung
      beim Finanzamt stellt, bemerkt schon im
      September die Wirkung auf dem Lohnzettel.
      Und das funktioniert so: Ein Angestellter verdient
      4.000 Euro brutto und unterliegt der
      Steuerklasse I. Fuer den Weg zur Arbeit fallen
      3.028 Euro Kilometerpauschale an, seine
      Kontofuehrungsgebuehren veranschlagt er pauschal
      mit 16 Euro. Zieht er davon den Arbeitnehmer-
      pauschbetrag (einheitlich 1.044 Euro) ab,
      bleiben 2.000 Euro als Werbungskosten uebrig.

      In diesem Fall wird das Finanzamt diese 2.000 Euro
      auf die restlichen Monate des Jahres verteilen,
      so dass der Angestellte monatlich 500 Euro
      weniger Gehalt versteuern muss. Damit fallen exakt
      206,59 Euro weniger Lohnsteuern an. Ein Gehaltsplus,
      das andernfalls zunaechst als zinsloses
      Darlehen im Finanzsaeckel gelandet waere.

      Mutterschaftsgeld

      Frauen, die demnaechst in Mutterschutz gehen, verlieren
      unwiederbringlich bares Geld, wenn sie auf
      die Eintragung in der Lohnsteuerkarte verzichten.
      Das Mutterschaftsgeld waehrend der 14- bis
      18-woechigen Schutzfrist errechnet sich naemlich aus
      dem Lohn der vorhergehenden drei Monate.
      Um die Hoehe des taeglichen Mutterschaftsgeldes zu
      bestimmen, teilt man das durchschnittliche
      Monatsnetto durch 30.

      Ein Beispiel zeigt, wie erheblich der Unterschied
      sein kann. Die werdende Mutter erhielt drei
      Monate lang ein Bruttogehalt von 3.500 Euro, auf
      ihrer Lohnsteuerkarte waren Steuerklasse IV
      aber kein Freibetrag eingetragen. Bei 13,8 Prozent
      Beitrag zur gesetzlichen Krankenkasse und 8
      Prozent Kirchensteuer betrug ihr Nettolohn 1857,53 Euro.
      Daraus ergab sich ein Mutterschaftsgeld
      von taeglich 61,92 Euro. Haette sie einen Freibetrag
      von monatlich 500 Euro beantragt, waere der
      Nettolohn auf 2071,76 Euro gestiegen – und dem-
      zufolge das Mutterschaftsgeld um taeglich 7,14
      Euro. Multipliziert mit den 30 Rechnungstagen ist
      das ein Plus von 214,20 Euro monatlich. Ohne
      Freibetrag auf der Steuerkarte ist das Geld
      schlicht verloren.

      Krankengeld

      Auch im Falle von Krankengeld kann sich der legale
      Steuertrick lohnend auswirken. Das
      Krankengeld betraegt 70 Prozent vom Bruttoentgelt
      aus der Zeit vor der Arbeitsunfaehigkeit – jedoch
      werden nicht mehr als 3.450 Euro angerechnet. Auch
      die Krankenkasse rechnet mit 30 Tagen im
      Monat, also wird das taegliche Krankengeld hoechstens
      80,50 Euro betragen. Hier kommt jedoch
      noch eine weitere Grenze ins Spiel: Das Krankengeld
      darf nicht mehr als 90 Prozent vom Nettolohn
      ausmachen.

      Deshalb kann man durchaus von dem Freibetrag auf der
      Steuerkarte profitieren – wie im folgenden
      Beispiel bewiesen: Ein Arbeitnehmer bezog 4.000 Euro
      im Monat bei Steuerklasse I. Daraus ergab
      sich ein Netto von 2.058,05 Euro und ein Kranken-
      geldanspruch in Hoehe von 61,74 Euro. Mit 500
      Euro Freibetrag auf der Karte haette sein Netto bei
      2.292,53 Euro gelegen und der
      Krankengeldanspruch bei 68,78 Euro. Damit kaeme der
      Arbeitnehmer auf 211,20 Euro mehr
      Krankengeld im Monat.

      Altersteilzeit

      Fuer Beschaeftigte, die der Altersteilzeit entgegen
      gehen, kann sich der Freibetrag allerdings nachteilig
      auswirken, weil sie damit unter Umstaenden Geld
      verschenken, das ihnen vom Arbeitgeber zusteht.

      Beispiel: Ein Beschaeftigter wird demnaechst seine
      Arbeitszeit aus Altersgruenden um 50 Prozent
      reduzieren. Zuvor verdiente er 4.000 Euro brutto.
      Der Verdienst verringert sich in Teilzeit zwar um
      die Haelfte, doch weil der Chef das Teilzeitnetto
      (1.253,12 Euro) um 20 Prozent vom Teilzeitbrutto
      aufstocken muss, liegen 1.653,12 Euro in der Lohntuete.
      Per Gesetz muss der Beschaeftigte
      mindestens 70 Prozent des Nettogehalts erhalten,
      das er vor der Teilzeit verdiente. Der Arbeitgeber
      hat sich verpflichtet, sogar 83 Prozent zu zahlen –
      und das waeren in diesem Fall 1705,32 Euro. Also
      muss das Teilzeitnetto um 452,20 Euro aufgestockt
      werden – die 20 Prozent des Teilzeitbruttos
      (400 Euro) genuegen nicht.

      Haette der Beschaeftigte einen Freibetrag von 500 Euro
      auf der Steuerkarte, wuerde sein Teilzeitnetto
      nicht 1.253,12 Euro sondern 1.410,60 Euro betragen
      – und damit wuerde der Pflichtbetrag von 400
      Euro zur Aufstockung ausreichen. Ohne den Freibetrag
      zahlt der Arbeitgeber also 52,20 Euro mehr
      aus – und die zuviel gezahlten Steuern gibt’s nach
      der Steuererklaerung ohnehin zurueck.

      Tipp: Auf der homepage des Arbeitsamtes
      www.arbeitsamt.de ist unter dem Button
      „Geldleistungen“ ein Rechner installiert, mit dem
      man seine individuelle Situation selbst bestimmen
      kann. "



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 25.01.04 16:51:24
      Beitrag Nr. 154 ()
      Harte Zeiten für alle beteiligten......



      Reformen auf dem Arbeitsmarkt: Strengere Regeln fuer mehr Jobs

      Von Biallo & Team

      "Das neue Jahr bringt zahlreiche Aenderungen auf dem Arbeitsmarkt.
      Arbeitnehmer und vor allem Arbeitslose muessen erhebliche Ein-
      schnitte hinnehmen.

      Schwerwiegendste Neuerungen sind die Lockerung des Kuendigungs-
      schutzes und Einschnitte beim Arbeitslosengeld.

      Kuenftig greift der Kuendigungsschutz erst ab Betrieben mit elf
      Mitarbeitern. Bisher waren nur sechs Mitarbeiter erforderlich.
      Positiv: Fuer bereits im Betrieb befindliche Mitarbeiter gelten
      die alten strengeren Regeln weiter. Das betrifft auch Arbeit-
      nehmer, die zwar bereits im alten Jahr eingestellt wurden, ins-
      gesamt aber die geforderten sechs Monate Betriebszugehoerigkeit
      bis Ende 2003 noch nicht erreicht haben. Allerdings wird die
      bei einer Kuendigung notwendige Sozialauswahl auf vier Kriterien
      beschraenkt: die Betriebszugehoerigkeit, das Lebensalter,
      bestehende Unterhaltspflichten sowie die Frage der Behinderung.
      Das neue Kuendigungsverfahren ist jedoch nicht so leicht zu
      durchschauen wie es auf den ersten Blick scheint.

      Zur Orientierung drei Fallbeispiele:

      BEISPIEL 1: Betrieb mit zehn Angestellten. Fuenf Beschaeftigte
      waren bereits im alten Jahr (2003) angestellt, fuenf Mitarbeiter
      kamen im neuen Jahr (2004) hinzu. Rechtslage: Kein Arbeitnehmer
      geniesst Kuendigungsschutz, da der Betrieb zum fraglichen Zeit-
      punkt nur ueber fuenf Mitarbeiter verfuegte.

      BEISPIEL 2: Betrieb mit zehn Mitarbeitern. Sechs Beschaeftigte
      waren bereits 2003 Vollzeit angestellt, vier Neueingestellte
      ab dem Jahr 2004. Rechtslage: Die Alt-Arbeitnehmer geniessen
      Kuendigungsschutz, weil der Betrieb bereits im alten Jahr mehr
      als fuenf Mitarbeiter verhatte. Die Neueingestellten besitzen
      keinen Kuendigungsschutz, da der Betrieb aktuell weniger als
      elf Mitarbeiter beschaeftigt.

      BEISPIEL 3: Betrieb mit elf Mitarbeitern. Sechs Beschaeftigte
      waren bereits 2003 Vollzeit angestellt, fuenf Mitarbeiter kamen
      2004 neu hinzu. Rechtslage: Es besteht Kuendigungsschutz fuer
      alle Arbeitnehmer, da der Betrieb mehr als zehn Mitarbeiter hat.
      Allerdings greifen unterschiedliche Folgen bei Entlassungen:
      Wird ein neu eingestellter Mitarbeiter gekuendigt, verlieren
      alle Neueingestellten ihren Kuendigungsschutz, weil der Schwellen-
      wert elf unterschritten wird. Wird ein Alt-Arbeitnehmer ent-
      lassen, verlieren alle Angestellten ihren Kuendigungsschutz,
      weil die Anzahl der Alt-Arbeitnehmer die kritische Grenze fuenf
      und die Neueingestellten die Grenze elf unterschreiten.

      Umfassende Neuerungen beschloss der Gesetzgeber auch fuer
      Arbeitslose. Diese muessen sich jetzt sofort nach Erhalt der
      Kuendigung im Job-Center der Agentur fuer Arbeit melden. Der
      Arbeitnehmer wird fuer die Stellensuche von der Arbeit frei-
      gestellt. Ab 2005 erhalten Arbeitslose nur noch zwoelf Monate
      lang Arbeitslosengeld, ueber 55-Jaehrige laengstens 18 Monate,
      diese Regelung greift aber erst ab Februar 2006.

      Wird waehrend der Zeit der Arbeitslosigkeit kein neuer Job ge-
      funden, rutscht der Arbeitslose in die Arbeitslosenhilfe. Hier
      bekommt er das so genannte Arbeitslosengeld II. Der neue Regel-
      satz betraegt monatlich 345 EUR im Westen und 331 EUR im Osten.
      Arbeitslose bekommen die ersten zwei Jahre einen Aufschlag, im
      ersten Jahr 160 EUR pro Monat, im zweiten Jahr 80 EUR. Fuer
      Kinder gibt es Sonderzuschlaege. Langzeitarbeitslose muessen
      ab 2004 jede angebotene Arbeit annehmen, auch Minijobs und
      Teilzeitarbeiten. Verweigert der Beschaeftigungslose einen Job,
      bekommt er 30 Prozent weniger Regelbeitrag (rund 110 EUR),
      zudem entfaellt der Uebergangsaufschlag fuer die ersten zwei Jahre.

      Nebenerwerb: Arbeitslose, die nebenher Jobben, duerfen wie
      bisher 165 Euro im Monat dazu verdienen, ohne dass Leistungen
      gekuerzt werden. Bei hoeherem Verdienst bleiben 20 Prozent
      anrechnungsfrei. Ab Januar 2005 darf der Arbeitslose nur
      noch bis 165 Euro dazu verdienen, die 20-Prozent-Regel ent-
      faellt."



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 25.01.04 16:58:46
      Beitrag Nr. 155 ()
      Eure Kritik an Niquet kann ich mehr und mehr verstehen.
      In dem nunfolgendem folgenden Artikel, schießt er den
      Vogel ab, mit folgender skandalösen Formulierung:

      "Wir wurden damals genauso von Abschaum regiert
      wie wir es heute werden. In der Wirtschaft auf jeden Fall. Hier
      wuerde sicherlich jeder wieder mitmachen, wenn er nur gefragt
      werden und natuerlich die persoenliche Bereicherung stimmen
      wuerde."

      Ich dachte, ich lese nicht recht.....Abschaum???
      unglaublich.. was hat er sich denn dabei gedacht, da ist
      wohl der Gaul mit ihm durchgegangen...Eure Meinung???




      Hier der ganze Artikel:


      Mannesmann und die Kriegsgeneration

      Von Dr. Bernd Niquet

      "Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie das war, als die
      Uebernahmeschlacht um Mannesmann lief. Ich hatte damals erst
      sehr spaet Mannesmann gekauft, war jedoch sehr schnell sehr
      hoch im Plus. Ein wunderbares Geschaeft. Selten habe ich mich
      so schnell wieder von meinen Aktien mit einem so guten Gewinn
      getrennt. Denn an ein Durchhalten der Spekulationsfrist war
      damals wirklich nicht zu denken.

      Was damals natuerlich niemand (und ich schon gar nicht) wusste,
      war, dass die Vodafone-Uebernahme keineswegs zwingend war –
      und damit der Untergang des Mannesmann-Unternehmens keinesfalls
      zwingend war. Weil die Fusion mit Vivendi erst von Mannesmann-
      Chef Esser gekippt und mit AOL sogar ein "weisser Ritter"
      bereit stand. Heute hingegen wissen wir, worum es wirklich
      ging: Nicht um das Unternehmen Mannesmann, sondern um die
      Maximierung der Bezuege von Vorstand und Aufsichtsrat. Was
      selbst der zweite Mann im Staate, Bundestagspraesident Thierse,
      heute noch als "obszoen" bezeichnet.

      Ich erinnere mich auch noch genauso lebhaft, wie ich damals
      sehr kontrovers mit meinem Vater diskutiert habe. Dieser hielt
      eine gute Position Mannesmann-Aktien bereits seit langer
      Zeit, war nun jedoch keineswegs bereit, seine Aktien ab-
      zugeben, da es fuer ihn dabei um eine "Charakterfrage", um
      eine nationale Geschichte und eine Frage der Ehre ging. Mein
      Vater ist Jahrgang 1922, wurde mit 18 in den Krieg eingezogen,
      war aufgrund seines Vaters sehr gegen Hitler eingestellt und
      ist heute mit einer Urkunde ausgezeichnet, einen Juden durch
      diese fuerchterlichen Jahre mit hindurch gebracht zu haben.

      Der Unterschied zwischen der Kriegs- und der Nachkriegs-
      generation koennte nirgendwo deutlicher zu Tage treten als
      hier. Und auch die sozialhilfeberechtigten alten Leute, die
      aus Stolz und Sparsamkeit auf die ihnen gesetzlich zustehenden
      Bezuege verzichten, gehoeren genau in diesen Kontext. Anderer-
      seits tritt an dieser Stelle ebenso die Deckungsgleichheit
      der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration ganz deutlich
      hervor – und zwar mindestens genauso praegnant wie ihre Ver-
      schiedenheit. Wir wurden damals genauso von Abschaum regiert
      wie wir es heute werden. In der Wirtschaft auf jeden Fall. Hier
      wuerde sicherlich jeder wieder mitmachen, wenn er nur gefragt
      werden und natuerlich die persoenliche Bereicherung stimmen
      wuerde.

      In der Politik sieht es natuerlich anders aus. Hier haben wir
      gelernt und stehen trotz riesiger Probleme und riesiger Fehler
      viel, viel besser da. Und das ist die grosse Hoffnung. Dass
      im Zuge der Globalisierung jedoch zukuenftig immer staerker die
      Wirtschaft die Politik und nicht mehr die Politik die Wirt-
      schaft binden wird, ist daher ein durchaus zweischneidiges
      Schwert. Ich hoffe, dass wenigstens beim Mannesmann-Prozess
      ein paar Koepfe rollen werden. Wenn auch nur virtuell.

      Ist es nicht graesslich und unertraeglich wie dieser Josef
      Ackermann von der Deutschen Bank derzeit in der Oeffentlichkeit
      auftritt: Mit einem offenen Lachen, mit dem Victory-Zeichen
      und ohne jedes Gefuehl fuer die Situation. Mich erinnert das
      durchaus an die RAF-Zeit und an noch weit Schlimmeres.
      Extremismus hier und Extremismus dort. Was mich natuerlich
      sofort auf Rolf Hochhuths neues Theaterstueck bringt
      "McKinsey kommt". So etwas brauchen wir jetzt dringender
      als das taegliche Brot – als Antipode zu den Unverschaemtheiten
      der Wirtschaftslobby. Um wenigstens irgendwie noch die Balance zu halten."

      ***************




      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 25.01.04 17:58:16
      Beitrag Nr. 156 ()
      Ich könnte jetzt zu fast jeden einzelne Satz aus Niquets Artikel in #155 meine Kritik anbringen, ich habe aber keine Lust dazu. Niquet ist und bleibt ein linker Spinner.

      @Tippgeber1: Wenn du ein Artikel selbst nicht für lesenswert hälst, dann stelle ihn auch bitte nicht in diesen Thread.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 25.01.04 20:07:19
      Beitrag Nr. 157 ()
      Was Manager-Kultur, Finanzmarkt und Insiderhandel, Mauscheleien und Seilschaften betrifft, kann ich Niquet schon durchaus zustimmen.
      Vor allem die Entwicklung an den Finanzmärkten mit Hinwendung zu einem reinen Spielcasino, ohne Rücksicht auf die Folgen für die Realwirtschaft, sieht er meines Erachtens schon richtig.

      Dass er seinen Senf zum Tagesgeschehen dazugibt, ist ja in Ordnung, machen wir ja alle, ist halt seine Meinung, akkzeptiert.

      Aber in erster Linie ist er ja nun zunächst mal Börsenschreiberling.

      Und da wechselt er die Pferde nach meinem Geschmack schon etwas zu oft, eine Orientierungshilfe kann er so nicht sein.

      Insofern kann er auch schwerlich seine Kollegen von der Zunft, die natürlich auch oft fürchterlich daneben liegen, kritisieren.

      Auch er tut sich schwer bei der Beurteilung.

      Und damit stellt halt auch er die Existenzberechtigung solcher Medien und sich selbst in Frage.
      Avatar
      schrieb am 26.01.04 00:54:58
      Beitrag Nr. 158 ()
      @Thomtrader:)

      nein, ansonsten gehe ich mit dir nicht konform.wäre ja
      auch schrecklich, wenn man immer einer meinung wäre. Der
      Artikel ist im großen und ganzen ok. er schildert die
      unterschiedlichen auffassungem, der kriegs- und nachkriegs-
      generationen glaubwürdig, emotional und nachvollziehbar.
      zudem wird aufgezeigt, worum es bei der vodafone-übernahme
      eigentlich ging:

      "um die maximierung der bezuege von vorstand und
      aufsichtsrat. was selbst der zweite mann im staate,
      bundestagspraesident thierse, heute noch als " obszoen"
      bezeichnet."

      insgesamt lesenwert, ansonsten wäre der artikel bei mir
      durch den rost gefallen. teile in vielen punkten die
      auffassung von schürgen: "was manager-kultur, finanzmarkt
      und insider-handel, mauscheleien und seilschaften
      betrifft, kann ich niquet schon durchaus zustimmen. Vor
      allem die entwicklung an den finanzmärkten mit hinwendung
      zu einem reinen spielcasino, ohne rücksicht auf die folgen
      für die realwirtschaft, sieht er meines erachtens schon
      richtig."

      das, was ich in dem artikel bemängelte, hatte ich kurz und
      knapp zum ausdruck gebracht. das sollte reichen. meine
      kritik, gab ich allerdings, an die zuständige redaktion
      weiter.

      sicher tut sich niquet schwer, bei der beurteilung
      bestimmter probleme, aber erwarten wir nicht zuviel
      von ihm einen börsenschreiberling? Oft fand ich es
      faszinierend, wie er komplexeste, komplizierteste
      zusammenhänge, transparent, plausibel und nachvoll-
      ziehbar darstellte.



      mit sensibelsten grüßen
      tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 26.01.04 17:41:52
      Beitrag Nr. 159 ()
      " Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie das war, als die
      Uebernahmeschlacht um Mannesmann lief. Ich hatte damals erst
      sehr spaet Mannesmann gekauft, war jedoch sehr schnell sehr
      hoch im Plus. Ein wunderbares Geschaeft. Selten habe ich mich
      so schnell wieder von meinen Aktien mit einem so guten Gewinn
      getrennt. Denn an ein Durchhalten der Spekulationsfrist war
      damals wirklich nicht zu denken

      1997 ist das bereits von mir erwähnte Niquet-Buch "Der Crash der Theorien" veröffentlicht worden. Wenn Niquet wirklich von dem überzeugt ist was er in dem Buch geschrieben hat, dann müsste er ein passiver Indexanleger sein, und dürfte somit niemals Mannesmannaktien bessesen haben. Das heißt Niquet hat gelogen, und so jemand will seinen Lesern etwas von Moral und Ethik erzählen:confused:

      Was damals natuerlich niemand (und ich schon gar nicht) wusste,
      war, dass die Vodafone-Uebernahme keineswegs zwingend war –
      und damit der Untergang des Mannesmann-Unternehmens keinesfalls
      zwingend war. Weil die Fusion mit Vivendi erst von Mannesmann-
      Chef Esser gekippt und mit AOL sogar ein " weisser Ritter"
      bereit stand.

      Hä?:confused: Quelle? Ich habe zwar die Mannesmannübernahmeschlacht auch in den Medien verfolgt, habe aber von AOL als weißen Ritter nichts mitbekommen.
      Und selbst wenn nun Vivendi oder AOL Mannesmann übernommen hätte, dann hätten die Mannesmannaktionäre definitv weniger bekommen als bei einer Übernahme durch Vodafone, und außschließlich die Vodafone- und Ex-Mannesmann-Aktionäre haben schließlich die Esser&Co-Abfindungen bezahlt.

      Heute hingegen wissen wir, worum es wirklich
      ging: Nicht um das Unternehmen Mannesmann, sondern um die
      Maximierung der Bezuege von Vorstand und Aufsichtsrat. Was
      selbst der zweite Mann im Staate, Bundestagspraesident Thierse,
      heute noch als " obszoen" bezeichnet.

      Mir ist immer noch nicht klar, wieso es in Wirklichkeit um die Maximierung der Bezüge von Esser&Co ging. Wieso soll das so gewesen sein? Weil es Niquet einfach behauptet? Oder warum dann?
      Ich bin weiterhin der Meinung es ging zum größtenteil um die Maximierung der Gewinne der Mannesmannaktionäre. Was für Esser&Co abgefallen ist, waren meiner Meinung nach nur wohlverdiente "Peanuts"
      Der Bundestagspräsident soll der zweite Mann im Staat sein :confused: :laugh:
      Und seid wann ist etwas "obszoen", nur weil es ein Politiker sagt? Außerdem, wieso erlaubt sich dieser populistische "Wertvernichter" Thierse ein Urteil über Esser&Co, die Wert(für die Aktiönäre) geschaffen haben? Das finde ich schon eher "obszoen"!:(

      Ich erinnere mich auch noch genauso lebhaft, wie ich damals
      sehr kontrovers mit meinem Vater diskutiert habe. Dieser hielt
      eine gute Position Mannesmann-Aktien bereits seit langer
      Zeit, war nun jedoch keineswegs bereit, seine Aktien ab-
      zugeben, da es fuer ihn dabei um eine " Charakterfrage" , um
      eine nationale Geschichte und eine Frage der Ehre ging

      Ich bezweifle ohnehin das Niquets Vater je Mannesaktien bessesen hat, aber "Charakterfrage","Nationale Geschichte", "Frage der Ehre" :confused: Hat Niquet jetzt endgültig ein Rad ab? (Ich gehe wirklich davon aus das Niquet die Geschichte von seinem Vater erfunden hat)

      Mein Vater ist Jahrgang 1922, wurde mit 18 in den Krieg eingezogen, war aufgrund seines Vaters sehr gegen Hitler eingestellt und ist heute mit einer Urkunde ausgezeichnet, einen Juden durch diese fuerchterlichen Jahre mit hindurch gebracht zu haben.
      1.Sehr löblich von Niquets Vater, wenn es denn überhaupt stimmt
      2.Ist das wirklich von Interesse für Niquets Leser?

      Den Rest zu kommentieren spare ich mir, ich habe keine Lust mehr dazu, es folgt nur noch wirres Geschreibsel, und vermutlich durch Neid hervorrgerufene Hasstriaden auf Leute die in der freien Wirtschaft Erfolg haben, und die deutlich intelligenter, oder zumindest zigmal ehrlicher sind als die meisten Politiker(und "Schreiberlinge" :D).

      Oft fand ich es faszinierend, wie er komplexeste, komplizierteste zusammenhänge, transparent, plausibel und nachvollziehbar darstellte.
      "transparent, plausibel und nachvollziehbar" werden auf unzählige Verschwörungstheorien dargestellt, deshalb sind sich aber noch lange nicht richtig, genau wie das was Niquet schreibt. :D

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 26.01.04 18:14:14
      Beitrag Nr. 160 ()
      Hatte ich je behauptet , dass er richtig schreibt?:D

      grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 28.01.04 00:16:02
      Beitrag Nr. 161 ()
      Trader Joe´s



      Die Richtigmacher

      Die Supermarktkette Trader Joe’s bricht mit den Regeln des amerikanischen Einzelhandels:
      keine Kundenkarte, keine Rabatt-Coupons, kein „buy two, get one free“.
      Die Kunden sind verrückt danach.



      Text und Foto: Julia Groß



      ----- Wenn Amerikaner ihrem Stadtrat mitteilen, dass sie den Lärm nächtlicher Warenlieferungen gern in Kauf nehmen, wenn sich dafür in der Nachbarschaft ein bestimmter Supermarkt niederlässt, ist das, sagen wir mal, ungewöhnlich. Wenn Amerikaner für einen Einkauf bei eben jener Supermarktkette eine halbstündige Anfahrt nicht scheuen oder die Wohnungssuche von der Nähe zu einer Filiale abhängig machen, ist das noch ungewöhnlicher. Und wenn diese Supermarktkette weder mit Sonderangeboten lockt noch mit Weekend-Sales oder Rabatt-Coupons, dafür aber legendär kleine Parkplätze hat, dann ist das fast unglaublich.
      Aber wahr. Die Supermarktkette heißt Trader Joe’s, hat rund 200 Filialen an der Ost- und Westküste sowie im Nordosten der USA und soll dem Vernehmen nach rund doppelt so viel Umsatz pro Fläche machen wie ein durchschnittlicher US-Supermarkt. Vor zwei Jahren schätzte der Informationsdienst Hoover’s die Einnahmen auf insgesamt rund zwei Milliarden Dollar. Genauer weiß das niemand, denn CEO Dan Bane und die restlichen Manager des nicht börsennotierten Unternehmens hüllen sich mit der Begründung, „wir konzentrieren uns lieber aufs Geschäft“, traditionell in Schweigen.

      Der gute Wein kostet gerade mal zwei Dollar. Kein Wunder, dass Two Buck Chuck ein Hit ist

      Obendrein ist Trader Joe’s auch noch ein Musterbeispiel für eine gelungene transatlantische Expansion. Während sich der US-Supermarktriese Wal-Mart schon jahrelang auf dem deutschen Markt sehr schwer tut, gehört Trader Joe’s seit 1979: Aldi.
      Es ist wohl diese Kombination aus enormem Erfolg, schrulliger Verschwiegenheit und unglaublich treuen Kunden, die Branchenkenner gern zum Wort „Phänomen“ greifen lässt. „Ich kenne im amerikanischen Einzelhandelsgeschäft keinen, der so viel richtig macht wie die Leute von Trader Joe’s“, sagt Bill Bishop, Gründer und Chef der seit 27 Jahren auf die Lebensmittelindustrie spezialisierten Unternehmensberatung Willard Bishop Consulting.
      Wer zum ersten Mal einen Trader-Joe’s-Laden betritt, dem werden all die Superlative wohl zunächst ein Rätsel bleiben. Die Filialen sind mit weniger als 1500 Quadratmetern nicht einmal halb so groß wie ein durchschnittlicher amerikanischer Supermarkt. Am Eingang duften Schnittblumen, im Hintergrund dudelt leise Aloha-Musik. Alle Mitarbeiter tragen Hawaii-Hemden mit Bezeichnungen wie „Kapitän“ oder „Steuermann“. Die Atmosphäre ist familiär, das Sortiment winzig: Wo Konkurrenten wie Albertsons, Vons oder Krogers bis zu 35000 verschiedene Produkte verkaufen, kommt Trader Joe’s mit weniger als 3000 Artikeln aus (zum Vergleich: Aldi-USA hat 700 Produkte im Regal, in Deutschland sind es bei Aldi-Nord ebenso viele, bei Aldi-Süd 500). Die Mixtur ist ein bisschen Öko, ein bisschen Gourmet, ein bisschen Discount. Aber alles in Maßen – Trader Joe’s ist weder ein dogmatischer Bioladen noch ein reines Delikatessengeschäft.
      Jeden Tag bereiten Mitarbeiter verschiedene Produkte zum Probieren zu. Der augenfälligste Unterschied zu anderen Supermärkten: Mehr als 80 Prozent der Waren tragen das firmeneigene Trader-Joe’s-Label, manchmal fantasievoll abgewandelt zu Trader Giotto’s (bei Nudeln), Trader José’s (Nachos) oder Trader Darwin’s (Vitaminpillen).
      So weit klingt das nett, aber nicht außergewöhnlich. Aus dem Rahmen fallen vor allem die Preise: Trader Joe’s ist deutlich günstiger als andere Supermärkte, einzelne Artikel sind um die Hälfte billiger als bei der Konkurrenz. Trotzdem sind Qualität und Geschmack eins a. „Das sind ganz klar die Eckpfeiler von Trader Joe’s Erfolg: Großartiges Essen zu großartigen Preisen“, sagt der Chicagoer Unternehmensberater Bishop. „Dazu kommt, dass man viele Produkte überhaupt nur bei Trader Joe’s kaufen kann.“
      Wie etwa „Charles Shaw“, der Wein, der ganz ohne Marketing zum Bestseller avancierte. Das Fachblatt »Wine Spectator« schätzt, dass allein im vergangenen Dezember rund eine Million Kisten verkauft wurden – mehr, als manche Winzer in einem Jahr absetzen, und genug, um auf Massenproduktion spezialisierten Weingütern wie Robert Mondavi wehzutun. Warum? „Two Buck Chuck“, wie die Kunden ihn getauft haben, schmeckt – und kostet nur 1,99 Dollar pro Flasche. Ein grandioser Preis, denn anderswo ist Wein erst ab fünf Dollar aufwärts zu haben.
      Eigenmarken bei gehobenen Lebensmitteln waren nahezu unbekannt. Erst jetzt, zwei Jahre nach Einführung, gibt es die ersten Nachahmer. Den Kultstatus von „Two Buck Chuck“ werden sie wohl nie erreichen. Die Frage, wieso und warum der Wein so preiswert ist, hat sich mittlerweile zum beliebten Party-Gesprächsthema entwickelt: Trader Joe’s habe einer Fluggesellschaft ihren Weinvorrat abgekauft, als nach dem 11. September Korkenzieher von Bord verbannt wurden, lautet eine verbreitete Small-talk-Variante. In Wirklichkeit war es nicht ganz so interessant: Trader Joe’s suchte einfach ein Weingut, das zu einem günstigen Preis gute Qualität liefern konnte. Das Unternehmen Bronco Wine Company produziert Charles Shaw aus Trauben, die nach den vergangenen Rekordernten in Kalifornien günstig eingekauft werden konnten.

      Frische Waren, exotische Zutaten, Tiefkühlkost mit persönlicher Note – Trader Joe’s liegt im Trend

      „Billiger, aber guter Wein“ ist für Deutsche fast ein Synonym für Aldi. Tatsächlich baute Trader Joe’s aber bereits vor der Übernahme auf ähnliche Grundsätze wie die Albrecht-Brüder: zum Beispiel gute Qualität billigst einzukaufen und den Preisvorteil weiterzugeben. Oder der starke Fokus auf Eigenmarken. Diese Gemeinsamkeiten auf der einen Seite und die Unterschiede in Sortiment und Aufmachung auf der anderen Seite sind wohl dafür verantwortlich, dass Trader Joe’s für Aldi ein derartiger Erfolg wurde. Zudem lassen die Deutschen den Amerikanern offenbar meistens freie Hand, das ursprüngliche Konzept von Trader Joe’s wurde im Laufe der Jahre nur verfeinert, niemals verändert.
      Warum auch, steckten doch von Anfang an ziemlich gute Ideen dahinter. Trader-Joe’s-Gründer Joe Coulombe war in den sechziger Jahren Chef einiger Supermärkte mit dem Namen Pronto Markets im Großraum Los Angeles. Als er hörte, dass der Großkonzern Seven-Eleven in dieser Gegend expandieren wollte, waren ihm die möglichen Alternativen schnell klar: Entweder zumachen oder sich etwas Neues einfallen lassen. Er ließ sich von zwei Trends inspirieren, die ihm aufgefallen waren: Zum einen nahm der Bildungsstand der Bevölkerung zu, immer mehr Amerikaner besuchten die Universität. Zum anderen war Fliegen billiger geworden, Reisen nach Übersee kamen in Mode. Also schuf Coulombe ein Geschäft, in dem er gesunde und exotische Nahrungsmittel anbot sowie eine große Auswahl an Wein, Bier und Snacks – alles zu fairen Preisen. Der Name Trader Joe’s und das Südsee-Thema sollte in den Läden an Abenteuer und Exotik in fernen Ländern erinnern.
      „Trader Joe’s spielt perfekt mit verschiedenen gesellschaftlichen Trends“, bestätigt Brad Smith von der Innovationsberatung Doblin Inc. „Frisches, gesundes Essen mit wenigen chemischen Zusätzen, Zutaten aus anderen Ländern – das ist genau das, was die Kunden wollen, und sie finden es in diesem Maß nirgendwo anders. Oder ein anderes Beispiel: Obwohl die Leute wenig Zeit haben, wollen sie zu Hause kochen, aber es darf nicht so lange dauern. Trader Joe’s hat ein große Auswahl an Tiefkühlprodukten, die dem Käufer noch die Möglichkeit lassen, dem Essen eine persönliche Note zu geben.“ Sogar das kleine Sortiment, behauptet Smith, komme den Bedürfnissen der Kunden entgegen: „In den vergangenen Jahren hat sich immer mehr gezeigt, dass die Leute sich durch eine zu große Auswahl gestresst fühlen. Sie wollen gar nicht so viele Alternativen, sie wollen am Ende nur das Richtige gekauft haben.“

      Das hauseigene Magazin ist eine Mischung aus Verbraucher-Report und Monty Python

      Um sich hinterher sicher zu sein, in der Tat das Richtige gekauft zu haben, muss der Kunde natürlich informiert sein. Auch in dieser Hinsicht überlässt Trader Joe’s nichts dem Zufall. Sofort nach „Die besten Nahrungsmittel und Getränke anbieten“ steht „Informieren“ als Unternehmensziel im ersten Satz des Mission Statements. So können Kunden auf kleinen, witzig formulierten Zettelchen an den Regalen nachlesen, woher ein Produkt kommt und was das Besondere daran ist. Auch das Personal weiß gut Bescheid. Zusätzlich gibt Trader Joe’s mehrmals im Jahr eine kleine Broschüre namens „Fearless Flyer“ heraus, die Informationen, Tipps und Rezepte zu neuen und alten Produkten enthält, aufgepeppt mit kleinen, stark an Monty Python erinnernde Cartoons. Eine Erfindung des Unternehmensgründers Coulombe, der das Blättchen als „Kombination aus Verbraucher-Report und Mad-Magazin“ beschrieb. Werbung im herkömmlichen Sinn findet bei Trader Joe’s bis auf seltene Radiospots nicht statt. „Der Fearless Flyer ist ein ziemlich einzigartiges Marketinginstrument“, sagt Bill Bishop. „Da geht es nicht primär um den Preis, sondern um Information und Spaß.“
      Der Fearless Flyer ist aber viel mehr als eine nette Idee. Er ist das offensichtliche Indiz dafür, dass Trader Joe’s den gesamten Marketingprozess in die eigenen Hände genommen hat. Und genau das ist der Grund, warum sich die Konkurrenz nicht annähernd so auf Trends, Innovationen oder günstige Preise konzentrieren kann wie Trader Joe’s. „Die anderen Supermärkte stehen unter Kontrolle der großen Nahrungsmittelhersteller“, sagt Doblin-Consultant Brad Smith. Die Nahrungsmittelhersteller bezahlen so genannte Slotting Fees, damit der Supermarkt ihre Produkte bewirbt und besonders attraktiv platziert. Trader Joe’s dagegen entscheidet selbst, welche Artikel in den Fearless Flyer kommen und verlangt dafür auch kein Geld. So muss das Unternehmen aber auch keine neuen Produkte eines Herstellers ins Sortiment nehmen, mit denen es unter Umständen Verlust macht.

      Die Kunden vertrauen der Ladenkette und ihren Marken, weil sie unabhängig und ehrlich wirken

      Trader Joe’s wählt sich Neuheiten aus, erfindet sie teilweise sogar selbst und sucht dann den Hersteller, der das Beste am günstigsten liefert – unter dem Trader-Joe’s-Label. Verkauft sich der Artikel schlecht, verschwindet er blitzschnell wieder aus den Regalen. „Trader Joe’s gehört die Marke, ihnen gehört die Innovation, sie informieren die Kunden“, fasst Bill Bishop zusammen. „Deswegen bringen die Kunden ihr Vertrauen Trader Joe’s entgegen, nicht Kraft oder Coca-Cola.“
      Die Eigenmarken sind auch der Schlüssel zu der Frage, warum noch niemand Trader Joe’s einfach kopiert hat. „Das Konzept ist sehr schwer nachzuahmen, weil es in vieler Hinsicht genau das Gegenteil von dem ist, was Leute hier sonst im Einzelhandel tun“, meint Bishop. „Außerdem hat in den USA kaum jemand so viel Erfahrung mit Eigenmarken wie Trader Joe’s. Die meisten machen nur nach, sie erfinden nicht neu.“
      Liebling der Kunden und keine direkte Konkurrenz in Sicht – ein traumhafter Zustand. Aber gleichzeitig wohl auch die größte Gefahr für Trader Joe’s. Das Unternehmen war lange Zeit sehr klein, 1990 gab es erst 31 Filialen, fast nur in Kalifornien. Da ist es nicht so schwer, stets das Versprechen von Qualität und günstigen Preisen zu halten. In den vergangenen sieben Jahren aber hat der Vorstand das Wachstumstempo forciert. 1999 zählte Trader Joe’s 121 Filialen, jetzt schon fast 200. „Das einzige Limit ihres Erfolges ist die Geschwindigkeit des Wachstums“, sagt Bill Bishop. „Sie dürfen niemals nachlässig werden.“ Aber vermutlich wird Trader Joe’s auch das richtig machen. -----|


      Zusatzinformationen:

      Trader Joe’s
      Gegründet: 1967 von Joe Coulombe
      Filialen: rund 200 in 17 US-Staaten
      Umsatz: 1,9 Milliarden Dollar (2001, geschätzt)
      Umsatzwachstum (1990–2001): 877 Prozent
      Gewinnwachstum (1990–2001): 1012 Prozent
      Mitarbeiter: 7500 (2001)
      Zentrale: Monrovia, Los Angeles

      Internet:
      www.traderjoes.com

      Trader Joe’s wurde 1979 von Theo und Karl Albrecht gekauft.
      Seit 1976 ist Aldi auch selbst in den USA vertreten, mit inzwischen mehr als 670 Filialen an der Ostküste. Aldi hält außerdem eine Beteiligung an der Supermarktkette Albertsons.


      http://www.brandeins.de/magazin/archiv/2003/ausgabe_09/schwe…
      Avatar
      schrieb am 28.01.04 00:17:23
      Beitrag Nr. 162 ()
      Subway


      Es geht auch ohne

      Die Geschichte eines Existenzgründers, der in Stuttgart ein Sandwich-Franchise eröffnete. Finanziert mit Kreditkarten.


      Text: Stefan Scheytt Foto: Michael Hudler


      ----- Zugegeben, es geht hier lediglich um Sandwiches. Nicht um hochkomplexe Produkte, die die Fantasie von Kapitalgebern nähren könnten wie etwa neue Medikamente für den Weltmarkt der Biotechfirma X oder revolutionäre Software der Firma Y. Aber von irgendetwas muss der Mensch bekanntlich ja leben. Auch Bankangestellte.
      Oder gehen die in der Mittagspause heim zu Muttern?
      Dies ist die Geschichte des 34-jährigen Amerikaners Kewan Siahatgar, der nirgendwo Startkapital für seine Pläne bekam, als Franchise-Nehmer eines US-Multis einen Sandwich-Laden in Stuttgart zu eröffnen und der deshalb bei einer abenteuerlichen und sehr amerikanischen Art der Start-up-Finanzierung endete.
      Kewan Siahatgar ist ein schlanker junger Mann mit blond gefärbten Haaren und dichten Augenbrauen. Der Vater Perser, die Mutter Deutsche. Geboren in Washington D.C. Dort geht er auf die deutsche Schule. Danach studiert Siahatgar in den USA Elektrotechnik, macht ein Auslandspraktikum in der Entwicklungsabteilung für Regelungssoftware bei Siemens in Mannheim, geht nach Detroit zum Automobilzulieferer ITT, damals ein ursprünglich deutsches Unternehmen in amerikanischer Hand mit Stammsitz in Frankfurt/Main.
      Dann – noch innerhalb der USA – wechselt er als Entwicklungsingenieur zum Konkurrenten Bosch, für den er bald zwischen Stuttgart und Detroit pendelt. Die Deutschen wissen Siahatgars Vorteile zu schätzen, zwei Muttersprachen zu haben, sich in beiden Welten sicher bewegen zu können. 2001 schließlich geht er zu einer Bosch-Tochter, um als Projektleiter den Kunden Lamborghini zu betreuen. „Ich wurde sehr gut dafür bezahlt, in teuren Autos Testfahrten in Schweden, Spanien oder Italien zu machen“, schwärmt Siahatgar noch heute. Nur: Er ist Teil eines Apparats, er „hat den sichersten Job bei der weltgrößten Behörde“. Er will selbstständig sein. Kann man sich einen überzeugteren Existenzgründer vorstellen?
      Von Ulrich Cartellieri, ehemals im Vorstand der Deutschen Bank und heute noch im Aufsichtsrat, ist der Satz überliefert, die Banken seien „die Stahlindustrie der neunziger Jahre“. Soll heißen, sie schleppten zu viel Masse mit sich herum und erzielten deshalb zu wenig Rentabilität. Mit 2,75 Prozent hatte man Omas Sparbuch abgespeist und das Geld für acht Prozent an den Bäcker und Häuslebauer verliehen. Von der Differenz ließ es sich passabel leben. Aber die Kosten stiegen, die Margen wurden kleiner, die Angst größer. Das Selbstbewusstsein schwand – und plötzlich sah man überall zuerst das Risiko im Geschäft mit dem Geld. Basel II machte aus Bankern endgültig Hasenfüße.

      Ein prima Konzept, aber Geld gibt’s trotzdem nicht

      Und dann kommt so ein Ami und will Geld für einen Sandwich-Laden. „Ich bin weiß Gott kein Genie“, sagt Kewan Siahatgar, „aber ich habe den Vorteil, dass ich die USA kenne. Ich weiß, wie sie’s machen.“ Und weil fast alles früher oder später aus den USA nach Deutschland kommt, setzt er auf Subway, die amerikanische Franchise-Firma. Deren Sandwiches, die vor den Augen des Kunden auf dessen Wunsch belegt werden, hat er schon als Jugendlicher in Washington D.C. gern gegessen. Mehr als 19000 Subways in 74 Ländern gibt es bereits. Das kann auch in Stuttgart funktionieren: „Im Betriebshandbuch ist alles bis ins Kleinste definiert. Wenn man Einsatz bringt, kann man nicht viel falsch machen.“
      So denkt Kewan Siahatgar, noch gut bezahlter Entwicklungsingenieur, und geht zu einer Existenzgründermesse in Stuttgart. Er trifft Vertreter der Deutschen Ausgleichsbank und der Bürgschaftsbank. „Klingt gut“, sagen die und machen ihm Mut.
      Also geht Siahatgar zu den Bankern in Stuttgart, auf deren Visitenkarten Existenzgründerberater steht und Firmenkundenbetreuer und Wirtschaftsförderer. Er legt ihnen einen 100 Seiten dicken, gebundenen Businessplan vor, den er mit einem Diplom-Betriebswirt geschrieben hat. Marketingstrategie. Preispolitik. Personalplanung. Standort- und Wettbewerbsanalyse, inklusive Insolvenzquote, die laut Deutschem Franchise-Verband bei nur 7,2 Prozent liegt. Umsatzzahlen der Vergleichsstandorte in Köln, Düsseldorf und Esslingen – damals gibt es 29 Subways in Deutschland. Ertrags- und Liquiditätsvorschau. Break-even-Betrachtung. Deutsche Zeitungsartikel: „Subway greift McDonald’s an. Die weltweit zweitgrößte Fastfood-Kette Subway plant einen kräftigen Ausbau ihres Deutschland-Geschäfts. Ende 2003 wollen wir 100 Restaurants haben, sagt Subway-Chef Fred DeLuca.“ Gehaltsnachweise von Bosch. Üppige Bonuszusagen von Bosch, die während seiner ersehnten Selbstständigkeit wirksam werden. Nachweise seiner Sicherheiten: ein Lexus; ein Ford F-150 Harley Davidson Pick-up, 5,4 Liter, V 8, Wert etwa 40000 Euro; ein Nissan 300 ZX Bi-Turbo mit 400 PS.

      Banken machen ihren Job nicht mehr

      Siahatgar braucht 145000 Euro, 35000 Euro will er aus seinem Barvermögen einbringen. Er bekommt von den Banken keinen Cent. Dafür Briefe: „Nach intensiver Prüfung … leider ablehnen … Risikobranche Gastronomie … auch Branchenriese McDonalds hat rückläufige Zahlen angekündigt … nicht entmutigen lassen … vorbildliche Vorbereitung … alles Gute … sollten Sie noch Fragen haben …“ Oder: „… sind unverändert der Meinung … sicherlich würde sich durch die Aufnahme eines Verwandtendarlehens die Kreditsumme in unserem Haus verringern, aber auch diese Darlehen müssen getilgt werden … hoffen trotzdem auf einen erfolgreichen Start … für Rückfragen gern …“
      Banken tun nicht mehr, wozu sie eigentlich gegründet wurden: mit Geld arbeiten. Mal ist es Unwissenheit. Mal Trägheit. Und immer Angst vorm Risiko. Wer so denkt, bleibt auf der Strecke. Einige sind zynisch, vielleicht dumm, vielleicht wollen sie nur helfen: So legt ein Banker, der absagt, Siahatgar noch eine Einladung zu einer Existenzgründer-Veranstaltung bei.
      Im Juni hat Kewan Siahatgar seinen Imbiss trotzdem eröffnet. Mitten in Stuttgart, unweit der Existenzgründungsberater in ihren Büros, zwischen Fußgängerzone und Marktplatz, inmitten von Kaufhof und Kinos und Döners und Diskos. Die bauchnabelfreie Kundschaft kommt bis spät nachts um drei. Das Geld kommt aus den USA: von seinem Bruder und der Mutter, die eine Hypothek auf ihr Haus aufnahm, obwohl sie findet, ihr Sohn hätte „den sichersten Job bei der weltgrößten Behörde“ nicht aufgeben dürfen, und von mehreren amerikanischen Kreditkartenfirmen.
      Als Amerikaner weiß Siahatgar, wie man jongliert mit deren Lockangeboten, das Geld monatelang mit Niedrigstzinsen oder gar zinslos zu vergeben, solange man nur die Rechnungen pünktlich begleicht. Beim geringsten Verzug allerdings schnellt der Zins plötzlich auf astronomische Höhen. „Ein Kartenhaus“, sagt Kewan Siahatgar.
      Auf seinen Visitenkarten steht: „Geschmack braucht kein Fett.“ Aber Geld.
      Vielleicht wird Kewan Siahatgar scheitern. Dann werden die Banker, die das Risiko scheuten und das Geld behielten, Recht behalten haben. Aber ihre Chancen stehen schlecht: Mittlerweile gibt es 50 Subways in Deutschland. -----|

      http://www.brandeins.de/magazin/archiv/2003/ausgabe_07/schwe…
      Avatar
      schrieb am 28.01.04 17:32:48
      Beitrag Nr. 163 ()
      #161:

      Schade des es von Trader Joe´s keine Aktien gibt:(
      DimStar, verfolgst du eigenlich zur Zeit amerikanische(oder internationale) Einzelhandelsaktien? Und verfolgst du derzeit auch noch Restaurantaktien, und, oder Modeaktien? Deine beiden Threads (Thread: Damenmode Thread: Restaurants)sind ja leider tot :(
      Ich denke mir nämlich, aus diesen Bereichen müsste es doch eine oder mehrere leicht verständliche und schnellwachsende Firmen geben die hohe Eigenkapitalrenditen erzielen, und fast keine Schulden haben, und evtl. auch noch eine attraktive Bewertung(mit attraktiver meine ich attraktiver als unsere Bijou derzeit) aufweisen.

      #162:
      Ich kann die Entscheidung der Bänker, keine Kredit zu gewähren, gut nachvollziehen. Wenn der Typ seinen Luxusfuhrpark(der jedes Jahr stark an Wert verliert) behalten will, und gleichzeitig einen Kredit für sein Unternehmen aufnehmen will, dann spricht das für einen nicht sehr wirtschaftlich denkenden Menschen, und bei solch einen Menschen stehen die Chancen nun mal schlecht, das er es schafft ein Unternehmen zu gründen, profitabel zu führen, und den Kredit aus dem Cashflow/den Gewinnen zurückzuzahlen. Herr Siahatgar macht auf mich außerdem den Eindruck, eines Menschen mit dem es das Leben bisher überdurchschnittlich gutgemeint hat, und der aus einer plötzlichen Laune heraus selbständig sein will(Wenn bei einem Franchisenehmer überhaupt von Selbstständigkeit die Rede sein kann).

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 30.01.04 04:19:49
      Beitrag Nr. 164 ()
      Meine alten Threads will ich mir lieber gar nicht ansehen. Ich hab in den letzten Jahren doch soviel gelernt, daß von den alten Ansichten wohl nicht mehr viel übrig geblieben ist. Ein paar amerikanische Händler hab ich auf der Liste, die ich zu viel niedrigeren Kursen, meist mit mehr als 50 % Abschlag, einmal kaufen würde: ARDNA, FDO, WMT, HD, LOW, LTD. Die wachsen zwar alle nicht mehr schnell aber das ist ja nur ein Parameter in der Bewertung. Meine BCF habe ich letzte Woche verkauft nachdem mir die Ergebnisse schon seit längerem nicht mehr gefallen haben. Ich verändere eigentlich nicht viel im Depot, letztes Jahr waren es 3 Transaktionen.

      So sind die Amis halt... schnell fahren darf man nicht, aber mindestens ein Porsche muß schon in der Garage stehen. Man kann sich keinen Porsche oder eine Harley aus wirtschaftlichen Gründen kaufen. Wenn er sie verkaufen würde müßte er nicht zur Bank gehen und würde nicht den Eindruck hinterlassen, daß er als Geschäftsführer ungeeignet wäre, wenn das tatsächlich der Grund für die Absagen war. Die meisten Menschen wirtschaften nicht um Geld anzuhäufen sondern um Ziele oder Hobbies zu verwirklichen. Er hatte einen Traumjob. Ich glaube im Allgemeinen nicht an Glück, erst Recht nicht bei Karrieren, er hat halt studiert und muß bei Bosch einen extrem guten Eindruck hinterlassen haben, so daß er Leiter solch eines Projekts geworden ist. Ich glaube, daß Subway streng bei der Vergabe ist. McDonalds hat jährlich 3000 Franchisebewerber, es werden aber nur wenige Dutzend angenommen, die genau verstanden haben, wie sie das Konzept umzusetzen haben und welche Eigeninitiative nötig ist. Ich weiß nicht wieviele Bewerber es bei Subway sind, ich nehme an fast genauso viele und akzeptieren werden sie womöglich noch weniger, weil sie in einem recht neuen Land noch vorsichtig sind. Angeblich war er ja auch gut vorbereitet, hat verstanden, welcher Einsatz gefordert ist, hat Führungserfahrung und vorbehaltlich der Finanzierung schon die Lizenz in der Tasche. Wenn er dann eine Toplage in einer großen Stadt hat, in der es noch kein Subway gibt, dann glaube ich ist es unmöglich, daß das nicht läuft. In Frankfurt geht das sogar an einem Standort in einem Wohngebiet gut, in dem es keine Parkplätze oder viele Angestellte gibt, die mittags vorbeikommen. Das sieht für mich eher nach dem Musterkunden aus, aber wer weiß was der Bericht uns verschweigt.
      Avatar
      schrieb am 31.01.04 19:57:31
      Beitrag Nr. 165 ()
      Wirtschaftsbücher I: Total global

      Die Globalisierung lässt sich nicht aufhalten - wohl aber formen, meint Lester Thurow
      Text: von Peter Hahne

      Es gibt Themen, die werden von einer ganzen Armada echter und selbst ernannter Experten beackert. Dazu gehört zweifelsohne auch all das, was in der Öffentlichkeit unter dem Schlagwort "Globalisierung" hitzig diskutiert wird. Denn die geht nicht nur jeden etwas an - fast jeder kann auch irgendetwas dazu sagen. Manche sind dafür, andere dagegen.
      Die Entscheidung, auf welcher Seite man bei einem der schärfsten ideologischen Konflikte der Gegenwart steht, wird dabei aber oft eher aus dem Bauch heraus getroffen. Die ökonomischen Zusammenhänge, um die es ja eigentlich geht, bleiben dagegen oft unbeachtet. Aufklärung tut also Not - und genau darum bemüht sich Lester Thurow in seinem neuen Buch "Die Zukunft der Weltwirtschaft", das nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Thurow hat eines der besseren Bücher über "die Globalisierung" geschrieben, das zur sachlichen Auseinandersetzung beitragen kann. Das jüngste Werk des renommierten MIT-Ökonomen hat zwar auch Schwächen, etwa wenn es um die Detailbetrachtung einzelner Entwicklungsländer geht. Aus globaler Sicht aber liefert Thurow eine brillante Analyse, die aufzeigt, welchen Gefahren sich die Politik zu stellen hat und welche Lösungsansätze möglich sind. Durch seine einfache Sprache, die recht gut auch auf die deutsche Übersetzung übertragen wurde, erschließt sich auch dem interessierten Laien der Kern des Globalisierungsphänomens. Thurows Stärke liegt darin, dass er konsequent die ökonomischen Wirkungszusammenhänge in den Mittelpunkt rückt.
      Am Beginn seines Buches steht die ebenso triviale wie wichtige Klarstellung, dass Globalisierung nicht von Regierungen, sondern von Konzernen betrieben wird. Unternehmen wollen ihre Kosten minimieren und ihre Gewinne maximieren - folglich bestimmen sie über ihre Standorte. Sie entscheiden, wo Arbeitsplätze entstehen und wo sie zum Wirtschaftswachstum beitragen. Darum kann es in einer Welt, in der die Kommunikationstechnologien Konzernen eine immer größere Bewegungsfreiheit verschaffen, nicht darum gehen, die Globalisierung aufzuhalten. Das wäre schlicht naiv, wie Thurow mit einfachen Gedankenexperimenten zeigt. Regierungen, die ihre Wirtschaft vom Weltmarkt abkoppeln, schaden sich nur selbst. Große, reiche Volkwirtschaften leiden. Kleine, reiche Volkswirtschaften würden aufgrund ihrer stärkeren Verflechtung mit der Außenwelt noch mehr geschädigt. Für Entwicklungsländer aber führt eine Politik der Abschottung, wie sie viele Globalisierungsgegner fordern, geradewegs in den wirtschaftlichen Ruin. "Das Problem besteht nicht darin, dass man zermalmt, sondern darin, dass man übergangen werden könnte", resümiert Thurow. Indes redet der Wissenschaftler auch nicht einer Laissez-Faire-Globalisierung das Wort. Nach seiner Auffassung geht es heute mehr denn je darum, Globalisierung zu formen, in die richtigen Bahnen zu lenken, also einen robusten weltweiten institutionellen Rahmen für die zunehmenden Kapital- und Warenströme zu schaffen. Dem Kapitalismus sind Krisen inhärent - kennt man aber ihre Ursachen, lassen sie sich wirkungsvoll bereits im Vorhinein bekämpfen.
      Das internationale Handels- und Finanzsystem ist gegenwärtig massiven Gefahren ausgesetzt, wie Thurow darlegt. Eine drastische Abwertung des Dollars aufgrund des rasant ansteigenden US-Leistungsbilanzdefizits macht ihm dabei die größten Sorgen: Würde der übrigen Welt bei einer Dollar-Abwertung eine Nachfrage von 450 Milliarden Dollar aus den USA abhanden kommen, so die Warnung des Ökonomen, wären die Folgen für die USA verheerend, noch mehr aber für die übrige Welt. Der Ökonom rechnet im schlimmsten Fall mit einem Verlust von 20 bis 25 Millionen Arbeitsplätzen außerhalb Amerikas. Dass die Dollar-Abwertung kommen wird, bezweifelt der Wissenschaftler nicht. Offen sei nur noch, ob die Landung hart oder weich ausfallen werde und ob der Weltwirtschaft ein schrittweiser Anpassungsprozess an die neuen Export- und Importgegebenheiten gelinge. Freilich kann auch Thurow kein Patentrezept bieten. Sein Vorschlag für eine politisch geförderte Erhöhung der US-Sparquote aber ist zumindest ein Ansatzpunkt, um den riesigen Bedarf nach Kapital aus dem Ausland in den USA schrittweise zurückzufahren. Zu den weiteren zentralen Gefahren zählt er die mangelnde Definition und Durchsetzbarkeit geistiger Eigentumsrechte. Solange in China oder Israel Rechte an medizinischen und technischen Innovationen, Software, Musik und Filmen rücksichtslos missachtet würden, fehle einer der wichtigsten Grundlagen für eine wissensbasierte Ökonomie. Das ist ohne Zweifel richtig, schließlich hat nur die exakte Definition und Durchsetzung von Eigentumsrechten an Boden und beweglichen Wirtschaftsgütern den Kapitalismus überhaupt erst möglich gemacht. Bleibt dies den Gütern der Zukunft verwehrt, gehen die Anreize für Forschung und Investitionen schlicht verloren
      Thurow verschafft seinen Lesern insgesamt einen außerordentlich fundierten, gut verständlichen Überblick über Zusammenhänge und Probleme der globalen Ökonomie - und bietet zum Teil sehr bedenkenswerte Lösungsansätze. Vor allem aber hält er sich strikt an die ökonomischen Realitäten. Und zeigt damit sehr deutlich, dass viele Argumente von Globalisierungsgegnern schlicht auf Sand gebaut sind.
      Lester Thurow: Die Zukunft der Weltwirtschaft, Campus, Frankfurt 2004, 350 Seiten, 24,90 Euro
      Avatar
      schrieb am 31.01.04 19:58:30
      Beitrag Nr. 166 ()
      Wirtschaftsbücher II: Neue Hebel für Anleger-Portefeuilles

      Im März werden voraussichtlich die ersten Hedge-Fonds in den Vertrieb gehen - Ein Ratgeber für Laien

      Text:von Hildegard Stausberg

      Seit Anfang des Jahres sind Hedge-Fonds auch in Deutschland zulässig, und Privatanleger dürfen in diese investieren. Im März ist damit zu rechnen, dass die ersten Produkte in den Vertrieb gehen. Da kommt ein Ratgeber zu Hedge-Fonds gerade richtig.
      Die Autoren von "Praxisratgeber Hedge-Funds" haben mit ihrer sehr übersichtlich gegliederten und gut erklärten Einführung nicht nur professionelle Zocker im Visier: "Hedge-Fonds-Manager sind Meister der Optimierung", schreiben Thomas Schumm und Roland Lang und machen damit Lust auf eine Beimischung im Depot. "Durch den Einsatz unterschiedlicher Finanzprodukte und Finanzierungsmethoden wie Derivate, das Ausnutzen des Leverage-Effekts (Hebelwirkung) und auch der Möglichkeit des Shortens (auf fallende Kurse setzen) haben sie deutlich mehr Möglichkeiten zur Optimierung des Portfolios als klassische Investmentfondsmanager. Darin liegt der große Unterschied und Vorteil zum Publikumsfonds." Allerdings sollten Anleger die Erwartungen auch nicht zu hoch schrauben. Hedge-Fonds haben zwar anders als indexorientierte Fonds zum obersten Ziel, absolut positive Renditen zu erzielen. Doch sind exorbitante Gewinne nicht garantiert, genauso wie es zum Totalverlust des Kapitals kommen kann.
      Auf knappem Raum erklärt das Buch, auf welchen Betätigungsfeldern sich Hedge-Fonds-Manager tummeln. So etwa im Bereich der Arbitrage-Geschäfte, bei denen unterschiedliche Kurse an verschiedenen Märkten ausgenutzt werden, um Gewinne mit Aktien, Anleihen, Devisen oder Rohstoffen zu erzielen. Oder Geschäfte auf der Basis von Hebel-Effekten bei Terminkontrakten. Wichtig ist außerdem, dass es bei Hedge-Fonds kaum eine Einteilung nach Länder oder Branchen gibt, da sie meist völlig global agieren. Wesentliche Unterschiede gibt es bei den Strategien, die die einzelnen Fonds-Manager verfolgen: Bei "Long-Short-Equity" werden unterbewertete Aktien gekauft und gleichzeitig überbewertete Aktien leer verkauft. "Relative Value" wiederum konzentriert sich auf das Ausnutzen von Preisineffizienzen in der Bewertung ähnlicher Finanzinstrumente, während "Event Driven" sich dem Ausnutzen spezieller Unternehmenssituationen zuwendet. Dabei ist keineswegs selbstverständlich, dass ein Hedge-Fonds nur eine Strategie in Reinform verfolgt.
      Manche Fonds-Manager haben es übrigens gern, dass sich um ihre Tätigkeit regelrechte Mythen ranken und dass ihr Wirken und ihre Strategien geheimnisumwittert bleiben: "Es gehörte zu der Branche bislang dazu, nicht viel zu reden. Die Manager haben sich offenbar ein Schweigegebot auferlegt. Natürlich ist dies auch Marketing nach dem Motto: Bei mir gibt es etwas besonders Gewinnträchtiges, aber viel kann ich darüber nicht verraten, also Anleger, vertrau mir nur". Diese "gepflegte Intransparenz" habe in der Vergangenheit "Abzocker" unwiderstehlich angezogen. Potenziellen Anlegern raten die Autoren deshalb, von den Fonds-Managern eine möglichst detaillierte Veröffentlichung ihrer Ergebnisse einzufordern - also die exakte und nicht bloß die durchschnittliche Wertentwicklung der vergangenen Jahre, die Länge der Verlustphasen und wie heftig diese ausgefallen sind oder die Schwankungen der Performance. Eine hohe Volatilität spricht nach Meinung der Autoren, beides erfahrene Börsenjournalisten, nicht unbedingt für die Qualität des Fondsmanagers, denn die Wertentwicklung sollte kontinuierlich verlaufen.
      Allerdings verlangt die neue Gesetzgebung in Deutschland für Hedge-Fonds ohnehin ein recht hohes Maß an Transparenz. Diese bringt aber für den Anleger nicht nur Vorteile, denn die geforderte Veröffentlichung vieler Details ist kostenintensiv. Hohe Managementgebühren, Erfolgsbeteiligungen und beachtliche Ausgabeaufschläge sind - neben einer Fülle rechtlicher Probleme - auch der Grund dafür, dass Hedge-Fonds in Deutschland bisher eher ein Schattendasein fristen.
      Und so dürfte auch nach der Lektüre dieses Buches nicht jeder Leser Hedge-Fonds als geeignete Anlageform betrachten. Auf jeden Fall aber hat er einen soliden Überblick bekommen über die unterschiedlichsten Strategien der Fonds - schon deshalb ist dieses Buches auch für jeden Finanz-Laien ein echter Gewinn.
      Thomas Schumm, Roland Lang: Praxisratgeber Hedge Funds, Finanzbuch Verlag, München 2004, 256 Seiten, 29,90 Euro
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      schrieb am 31.01.04 22:58:19
      Beitrag Nr. 167 ()
      Neue Pisa-Daten zeigen die Ungerechtigkeit unseres Schulsystems

      Von Reinhard Kahl

      Schule kann Schicksal sein. In manchen Schulen in Deutschland gilt das besonders, wie die jüngste Auswertung des Pisa-Tests belegt, die diese Woche veröffentlicht wurde: Demnach erzielen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz fast ein Drittel der Realschüler bessere Mathematikleistungen als viele Gymnasiasten des Landes. In Bayern würden sogar 40 Prozent der getesteten Realschüler mit ihren Mathematikkenntnissen auch im Gymnasium zurechtkommen. Die meisten wechseln jedoch auch nach der zehnten Klasse nicht auf das Gymnasium, sondern verlassen die Schule – ohne Aussicht auf Abitur, Studium und hohen Verdienst.

      Nach den groben Leistungsvergleichen im vergangenen Jahr folgt nun die Detailanalyse der Pisa-Daten. Kein Land der Welt will es dabei so genau wissen wie die Bundesrepublik. Noch einmal legt das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung mehr als 500 Seiten Interpretation vor, um das zerklüftete deutsche Schulsystem durchschaubarer zu machen. Sie zeichnen ein noch düstereres Bild der Schüler aus Migrantenfamilien, als bisher angenommen, und analysieren die beträchtlichen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen. Gleichzeitig widerlegen die Berliner Forscher das Argument, Deutschland würde bei Pisa nur deshalb so schlecht abschneiden, weil die Test-Aufgaben unseren Lehrplänen fremd seien: Auch wenn man nur jene Aufgaben in Rechnung stellt, die hiesige Lehrplanexperten als Deutschland-kompatibel bezeichnen, kommt man im internationalen Vergleich zum bekannten blamablen Ergebnis.

      Die interessantesten Erkenntnisse liefert die neue Studie jedoch, wenn sie die Schulformen miteinander vergleicht. Dabei straft sie all jene Lügen, die meinen, die deutsche Schule sortiere ihre Schüler allein nach Leistung und Begabung. So lesen immerhin 10 Prozent der Hauptschüler auf gymnasialem Niveau. Dieses Können erhöht jedoch kaum ihre Bildungschancen. Der lang gehegte Verdacht, dass Schüler im Gymnasium gefördert werden, während sie – trotz gleicher Voraussetzungen – in der Hauptschule eher resignieren, wird in der neusten Pisa-Analyse bestätigt.

      Angesichts dieser Daten ist das Bestreben vieler Eltern, die Haupt- und Realschule zu meiden und ihre Kinder auch gegen den Rat des Lehrers aufs Gymnasium zu schicken, nur verständlich. In manchen Bundesländern hat sich die einstige Oberschule fast zur Gesamtschule entwickelt, so groß sind hier die Leistungsunterschiede zwischen den Schülern. Eine pädagogisch starke Schule allerdings ist das deutsche Gymnasium im Allgemeinen nicht. In den meisten Bundesländern erreichen schwache Gymnasiasten nicht einmal das mittlere Leistungsniveau der Realschule.

      Dass die Schulverdrossenheit sich im Gymnasium besonders leistungshemmend auszuwirken scheint, hatte bereits die so genannte Lern- Ausgangslagen-Untersuchung (LAU) in Hamburg gezeigt. Die Studie testete die Leistungen von Schülern über mehrere Jahre und kam zu dem erstaunlichen Schluss, dass die Gymnasiasten der Hansestadt zwischen der siebten und neunten Klasse so gut wie keine Lernfortschritte machen. Vielleicht findet sich hier eine Erklärung dafür, dass die deutschen Schüler im internationalen Vergleich an der Leistungsspitze so schwach vertreten sind.

      Ebenso überraschend wie die großen Überschneidungen von Gymnasium, Real- und Hauptschule sind die enormen Unterschiede, welche die neueste Pisa-Analyse zwischen einzelnen Schulen desselben Typs ausmacht. Sie ermittelt bei Schülern unterschiedlicher Gymnasien teilweise größere Leistungsdifferenzen als zwischen Gymnasien und Realschulen. In den Zensuren spiegelt sich das unterschiedliche Können jedoch nur wahllos wider, wie ein Vergleich der Zensurenvergabe in sechs Bundesländern belegt. Ein Gymnasiast kann für die gleiche Leistung – je nach Bundesland und Schule – eine Zwei plus oder eine Vier minus erhalten. Noch größer ist die Beliebigkeit der Notengebung in den Gesamtschulen. In Bayern und Baden- Württemberg kommt die Notenvergabe den tatsächlichen Schülerleistungen noch am nächsten.

      Derzeit laufen die letzten Vorbereitungen für die Erhebungen von Pisa 2003. Der Test beginnt Ende April. Schwerpunkt ist diesmal Mathematik. In diesem Fach wird den deutschen Schülern schon seit der sogenannten Timss-Studie attestiert, dass sie beim Lösen von Routineaufgaben passabel abschneiden, aber einbrechen, sobald sie selbstständig Probleme lösen müssen. An Selbstständigkeit mangelt es dem ganzen System, den Schulen, den Schülern und auch den Lehrern.

      Über die Pädagogen gibt es neue Erkenntnisse, die zwar in der neuen Studie noch nicht veröffentlicht wurden, die aber der Wissenschaftliche Leiter der deutschen Pisa-Studie, Jürgen Baumert, kürzlich schon einmal nannte. Die Befunde müssten den Berufsstand der Lehrer und seine Verbände in große Nachdenklichkeit stürzen. Denn die Lehrer kennen ihre Schüler äußerst schlecht – und das gilt ausgerechnet für die Elite der Pädagogen, solche, die an Lehrplänen mitwirken oder Schulbücher schreiben. Sie wurden gefragt, welche Pisa-Aufgaben ihre Schüler wohl lösen könnten. Der Schnitt der Gymnasiallehrer meinte, mehr als 80 Prozent ihrer Schüler würden die Kompetenzstufe fünf erreichen, die höchste von allen. Die Hauptschullehrer vermuteten immerhin noch 60 Prozent ihrer Schüler auf diesem Niveau. Tatsächlich bewältigten die anspruchsvollsten Aufgaben gerade einmal 0,3 Prozent der Hauptschüler. Und nur 29 Prozent der 15-Jährigen im Gymnasium gehören – ganz im Gegensatz zur Erwartung ihrer Lehrer – zur Spitze.

      Die Lehrer stehen fürs Ganze. Es fehlt im deutschen System an diagnostischer Kompetenz. Die Folgen sind fatal. Wenn Gymnasiallehrer glauben, vier Fünftel gehörten zur Spitzengruppe, tatsächlich aber drei Viertel keine entsprechenden Leistungen bringen, wird die Mehrheit der Schüler behandelt, als seien sie Versager. „Wir hängen in Deutschland die Latte so hoch“, sagt Jürgen Baumert, „dass es näher liegt, drunter durch zu kriechen als darüber zu springen.“

      (c) DIE ZEIT 06.03.2003 Nr.11
      Avatar
      schrieb am 01.02.04 11:38:36
      Beitrag Nr. 168 ()
      Thomtrader,

      an deutschen Schulen wird auswendig gelernt, die Fülle des Stoffes lässt die Notwendigkeit nicht zu, auf das Wesentlichste einzugehen: Nach der Sinnhaftigkeit des Lehrstoffes.

      Es wird gepaukt bis zur nächsten Prüfung, ohne auf die Stetigkeit der Weiterentwicklung des Wissensstoffes näher eingehen zu können.

      Weniger wäre wahrscheinlich mehr, da der Wissenstoff sowieso schnell wieder vergessen wird.

      Aus meiner Sicht des pädagogischen Laiens ist hier auch
      Konkurrenzdenken unter den einzelnen Fachschaften der Grund, weshalb man sich nur widerwillig den veränderten
      Ansprüchen anpassen will.

      Und das, obwohl man heute eine Fülle von Lern- und Lehrhilfen zur Verfügung hat, die noch vor dreißig Jahren
      undenkbar waren.

      Ein kleines Beispiel: Ich habe mir vor einigen Jahren durch Zufall das Angebot der deutschen Energiewirtschaft
      zur Wissensvermittlung in Form von zwei CDs mit dem Titel "Energiewelten" gekauft.

      Ich habe es einem Hauptschullehrer zur Verfügung gestellt,
      mit Begeisterung hat er es in seinem Unterricht verwendet, die Schüler waren wesentlich konzentrierter bei der Sache.

      Gerade die Pisa-Studie birngt es an den Tag, in deutschen Schulen wird viel zu wenig Wert darauf gelegt, abstrakte
      Zusammenhänge auch mal in leicht verständlicher Form
      anzubieten.

      Deshalb nachwievor die Technikfeindlichkeit vieler Schüler.
      Avatar
      schrieb am 01.02.04 12:02:25
      Beitrag Nr. 169 ()
      Grundschulstudie

      Falsch sortiert

      Unser gegliedertes Schulsystem soll die Kinder "begabungsgerecht" fördern. Doch die Auslese geschieht völlig willkürlich

      Von Thomas Kerstan

      Ein Grundpfeiler des deutschen Schulsystems erweist sich als morsch: die so genannte Übergangsempfehlung am Ende des vierten Schuljahres. Mit ihr stellen die Grundschullehrer die Weichen dafür, ob ihre Schützlinge in die fünfte Klasse des Gymnasiums, der Real- oder der Hauptschule wechseln.

      Eigentlich soll dabei die Leistung der Schüler den Ausschlag geben. Doch die Grundschulstudie Iglu (siehe unten) belegt nun erstmals mit bundesweit repräsentativen Daten, dass dies nur in Ansätzen gelingt. Nämlich nur bei den sehr starken und den sehr schwachen Schülern. Das große Mittelfeld, es umfasst 44 Prozent, also fast jeden zweiten Schüler, wird recht willkürlich auf die verschiedenen Schularten verteilt (siehe Grafik). Als Leistungsmaßstab haben die Forscher die Lesefähigkeit und die Mathematikleistungen der Viertklässler gewählt.

      Zudem belegt die Studie, dass der Nachwuchs von Arbeitern und Einwanderern systematisch benachteiligt wird. Das Kind eines Managers hat – bei gleicher Leistung! – eine 2,63-mal so große Chance auf eine Gymnasialempfehlung wie das Kind eines Arbeiters; das Kind deutscher Eltern entsprechend eine 1,66-mal so große Chance wie ein Einwandererkind.

      „Eher ständestaatlich als wissenschaftlich begründet“

      Die Willkür bei der Übergangsempfehlung, das zeigt die Grundschulstudie auf, fällt zusammen mit der Willkür bei der Zensurengebung. Ein Kind, das gut, aber – im Urteil der Autoren von Iglu – nicht sehr gut lesen kann, wird an der einen Schule mit einer Eins im Fach Deutsch belohnt, an der anderen mit einer Vier bestraft. Auch die Mathematikzensuren sind nicht treffsicherer. Dabei sind die Lehrer sehr wohl in der Lage, die starken Schüler ihrer Klasse von den schwächeren zu unterscheiden. Ihnen fehlt aber ein schulübergreifender Maßstab.

      Das bringt die Verteidiger des in der Theorie „begabungsgerecht“ gegliederten Schulsystems erneut in Erklärungsnot. Denn statt sauber nach Leistung sortierter Eleven sitzt in den fünften Klassen aller Schularten ein Mix unterschiedlich leistungsstarker Schüler. Schon die Theorie selbst ist wissenschaftlich kaum haltbar. Ihr zufolge werden Kinder je nach „Begabungstyp“ getrennt unterrichtet: die schwachen in der praktisch orientierten Hauptschule, die leistungsstarken im theoretisch orientierten Gymnasium und die Mittelstarken in der Realschule. „Gefährliche Folklore“ nennt das der deutsche Entwicklungspsychologe Kai S. Cortina, der an der University of Michigan, USA, lehrt. Der Glaube an diese Art von Begabungsunterschieden sei „durch keine Studie auf der ganzen Welt“ belegt. Die Autoren der Iglu-Studie kritisieren das Begabungskonzept höflicher: Es sei „eher ständestaatlich als wissenschaftlich“ begründet.

      Auch gemessen an seinen Früchten, kann das mit großem Aufwand verbundene gegliederte System nicht überzeugen. Bei der internationalen Schulvergleichsstudie Pisa fiel Deutschland durch einen großen Anteil leistungsschwacher 15-Jähriger auf, konnte aber auch nicht mit einer bedeutenden Leistungsspitze glänzen. Weder stützt also die Hauptschule die Schwachen, noch bringt das Gymnasium eine meritokratische Elite hervor.

      Könnte eine bessere Sortierung nach der Grundschule das Problem lösen? „Nein“, sagt Jürgen Baumert, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Jede Übergangsempfehlung gehe notwendig mit Fehlentscheidungen einher. Der Forscher, der als Leiter der deutschen Pisa-Studie bekannt wurde, nimmt die Grundschullehrer in Schutz: „Sie kennen ihre Schüler. Ihre Empfehlungen sind das Beste, was wir haben können.“ Besser etwa als Aufnahmeprüfungen oder IQ-Tests.

      Die Leidtragenden falscher Übergangsempfehlungen sind beispielsweise jene Schüler, die auf der Realschule statt auf dem Gymnasium landen. Bei gleicher Ausgangsleistung ist ihre Chance, das Abitur zu machen, wesentlich geringer als die jener Mitschüler, die in der anregenderen Lernumgebung des Gymnasiums gelandet sind. Fatal kann es werden, wenn in einer Großstadt ein Schüler auf der problembeladenen Hauptschule landet statt auf der Realschule. Entgangene Entwicklungschancen sind der Preis. „Der einzige Vorteil, den ein unterforderter Schüler kurzzeitig hat“, sagt Kai S. Cortina, „ist die Entlastung seines Selbstbildes.“ Auf Deutsch: Das Kind sieht sich durch bessere Schüler nicht so unter Druck gesetzt, fühlt sich besser – was der Leistung förderlich ist. „Doch dieser billige Effekt verpufft nach einem halben Jahr“, sagt Cortina.

      Um die Folgen der frühen Auslese abzumildern, empfehlen die Autoren der Iglu-Studie, das Bildungssystem nach oben durchlässiger zu machen. Ein Vorbild dabei könnte Baden-Württemberg sein. Dort wird schon jedes dritte Abitur an einem beruflichen Gymnasium abgelegt, das auf Klasse 10 der Realschule aufbaut. Erst kürzlich hat eine Untersuchung gezeigt, dass der auf diesem Weg erworbene Hochschulabschluss den Vergleich mit dem auf einem traditionellen Gymnasium erworbenen nicht scheuen muss. Derart kann der Schulabschluss von der Schulform entkoppelt werden; Fehler in der Übergangsentscheidung können korrigiert werden.

      Um der Wirklichkeit in der Schule Rechnung zu tragen, so empfehlen die Bildungsforscher weiter, müssen die Sekundarstufenlehrer in der Aus- und Weiterbildung lernen, was für Grundschullehrer selbstverständlich ist: Schüler unterschiedlicher Leistungsstärke zu unterrichten. Ein weiterer besorgniserregender Befund der Studie spricht dafür: Deutschlandweit fast jeder Dritte Fünftklässler kann nicht gut genug lesen, um selbstständig aus Texten zu lernen. Damit gehört die Leseförderung, die man eigentlich als Aufgabe der Grundschule sah, auf die Tagesordnung der weiterführenden Schulen.

      Besserer Unterricht ist wichtiger als die Gesamtschule

      Von einem raten die Autoren der Studie jedoch ab: das gegliederte Schulsystem einfach durch Gesamtschulen zu ersetzen, wie sie in Nordeuropa üblich sind. Viel wichtiger als eine Systemveränderung sei eine Wende in der Pädagogik. Nicht mehr die Belehrung durch den Lehrer müsse im Mittelpunkt des Unterrichts stehen, sondern die Entfaltung der individuellen Leistungsfähigkeit der Schüler.

      Mit Ratschlägen zu Schulformen halten sich die Bildungsforscher auch deshalb zurück, weil sie der Macht der Gewohnheit und der Gewohnheit der Mächtigen Tribut zollen müssen. Das Ausländern schwer zu erklärende Unikum eines gegliederten Schulsystems verfügt über eine erstaunliche Überlebenskraft. Geboren in Preußen, hat es die Weimarer Republik ebenso überlebt wie die Nazizeit. Es hat die DDR-Einheitsschule geschluckt und den Reformstürmen der siebziger Jahre getrotzt. Zudem privilegiert es jene, die hierzulande das Sagen haben. In der Sprache der Wissenschaftler liest sich das so: „Eine mehr als 120-jährige Bildungstradition, bei der insbesondere die Eliten und Entscheidungsträger in ihrer bildungsbiografischen Reproduktion begünstigt sind, hat eine hohe Beharrungskraft.“

      (c) DIE ZEIT 29.01.2004 Nr.6
      http://www.zeit.de/2004/06/C-Iglu-gro_a7

      __________________________________________________________
      Ich weiß zwar auch nicht wie das optimale Schulsystem aussehen soll. Auf jeden Fall gehören die Schulen dem Staat und den Ländern entrissen. Wenn die Lerninhalte von Politikern festgelegt werden, und von Beamten vermittelt werden sollen, ist das definitiv eine eher schlechte Lösung.
      Avatar
      schrieb am 03.02.04 02:23:20
      Beitrag Nr. 170 ()
      Hundebabys zu verkaufen!


      Ein Geschäftsinhaber hatte ein Schild über seine Tür genagelt, darauf war zu
      lesen "Hundebabys zu verkaufen."
      Dieser Satz lockte Kinder an. Bald erschien ein kleiner Junge und fragte, "Für
      wie viel verkaufen sie die Babys?" Der Besitzer meinte "zwischen 30 u. 50
      Euro. Der kleine Junge griff in seine Hosentasche und zog etwas Wechselgeld
      heraus. "Ich habe 2,37 Euro, kann ich mir sie anschauen?" Der Besitzer
      grinste und pfiff. Aus der Hundehütte kam seine Hündin namens Lady, sie rannte
      den Gang seines Geschäfts hinunter, gefolgt von fünf kleinen Hundebabys.
      Eins davon war einzeln und sichtlich weit hinter den Anderen. Sofort sah der
      Junge den humpelnden Kleinen. Er fragte, "was fehlt diesem kleinen Hund?" Der
      Mann erklärte, dass als der Kleine geboren wurde, der Tierarzt meinte, er habe
      ein kaputtes Gelenk und wird für den Rest seines Lebens humpeln. Der kleine
      Junge, richtig aufgeregt, meinte, "den kleinen Hund möchte ich kaufen!" Der
      Mann antwortete, "nein, den kleinen Hund möchtest du nicht kaufen. Wenn Du ihn
      wirklich möchtest, dann schenke ich ihn Dir." Der kleine Junge war ganz
      durcheinander. Er sah direkt in die Augen des Mannes und sagte: " Ich möchte
      ihn nicht geschenkt haben. Er ist ganz genauso viel wert wie die anderen Hunde
      und ich will für ihn den vollen Preis zahlen. Ich gebe ihnen jetzt die 2,37
      Euro und 50 Cents jeden Monat, bis ich ihn bezahlt habe.
      Der Mann entgegnete, "du musst diesen Hund wirklich nicht bezahlen, mein Sohn.
      Er wird niemals rennen, hüpfen und spielen können wie die anderen kleinen
      Hunde.
      Der kleine Junge griff nach unten und krempelte sein Hosenbein hoch, und zum
      Vorschein kam sein schlimm verkrümmtes, verkrüppeltes linkes Bein, geschient
      mit einer dicken Metallstange. Er sah zu dem Mann hinauf und sagte, "Na ja,
      ich kann auch nicht so gut rennen und der kleine Hund braucht jemanden, der
      Verständnis für ihn hat.
      Der Mann biss sich auf seine Unterlippe. Tränen
      stiegen in seine Augen, er lächelte und sagte, "Mein Sohn, ich hoffe und bete,
      dass jedes einzelne dieser kleinen Hundebabys einen Besitzer wie dich haben
      wird."

      IM LEBEN KOMMT ES NICHT DARAUF AN WER DU BIST,
      SONDERN DASS JEMAND DICH DAFÜR SCHÄTZT,
      WAS DU BIST, DICH AKZEPTIERT UND LIEBT !!!!


      ---
      Tippgeber

      Es gibt keine grössere Illusion als die Meinung, Sprache sei ein Mittel der
      Kommunikation zwischen Menschen!
      Avatar
      schrieb am 03.02.04 22:11:39
      Beitrag Nr. 171 ()
      eine wertvolle geschichte.
      und wenn ich kein atheist wäre, würde ich dafür beten daß mehr homo sapiens sapiens diese geschichte lesen, verstehen und verinnerlichen würden.

      dummerweise bin ich aber auch noch realist ... :(
      Avatar
      schrieb am 05.02.04 19:55:52
      Beitrag Nr. 172 ()
      Im Bann der Wahlen- Hält die FED die Zinsen künstlich niedrig?



      Dieser Artikel wurde nicht geschrieben, um eigene Meinungen zu profilieren bzw. will er versuchen, dem Leser eine Meinung vorzugeben. Er ist nur als möglicher Denkanstoß gedacht, vielleicht bietet er einen antizyklischen Blick auf die Zinsmärkte:


      Die Nachrichten über boomende amerikanische Wirtschaft, Kreditbubble und Haushaltsdefizite im Hinterkopf, ist einem der Chart des 10- Jährigen T-Bonds nicht ganz geheuer. Warum sollten die Zinsen bei ca. 4% verharren, ja sogar in den letzten Monaten sinken? Warum sind Bonds, selbst nach dem Run der letzten Monate an den Aktienmärkten, im Vergleich zum z.B. S&P 500 noch teuer? Wieso notieren Renditen auf einem der tiefsten Stände nach dem 2. Weltkrieg?
      Selten war das Haushaltsdefizit so riesig, die Finanzierung nur den Europäern und Japanern überlassen, allerdings scheint es kaum jemanden in der Finanzwelt besonders zu interessieren.
      Man darf davon ausgehen, dass sich die Erholung der US- Wirtschaft fortsetzen wird, schließlich sind einige Faktoren nicht zu übersehen:
      Neben dem Boom der amerikanischen Rüstungsindustrie, angekurbelt durch den Irakkrieg, ist Verlass auf den kleinen Konsumenten auf der anderen Seite des Atlantiks. Finanziert durch
      a) Hypotheken, welche auf Grund steigender Häuserpreise gewährt werden und
      b) Kreditkarten (der normale Amerikaner nennt 50 Karten sein Eigen!!)

      ... kann der Verbraucher sein Geld leicht „verkonsumieren“. Es scheint, als sei das US- Kreditsystem darauf ausgelegt, ausschließlich Konsum zu finanzieren.

      Zurecht würde sich niemand beklagen, wenn die Mrd. aus dem Ausland in den USA investiert würden. Doch dem ist nicht so! Das Geld fließt nicht in Fabriken, Labors und Maschinen; es fließt an den Konsumenten, welcher es gern zu günstigen Konditionen verprasst- oder an eine Regierung, zur Kriegsfinanzierung.

      Die Antwort auf die Frage nach dem WARUM?, findet man ziemlich sicher in Verbindung mit dem anstehenden Wahlkampf. Die FED hält im Wahljahr ruhig, schließlich gilt es, keinen Wähler durch teure Kredite, vielleicht an der Wirtschaftspolitik George Bushs zu zweifeln zu lassen.

      Eine weitere, ernstzunehmende These ist, dass die Intention der FED eine grundsätzliche Manipulation der Märkte ist. Sollten die stark mit T-Bonds korrelierenden Hypothekenzinsen plötzlich steigen, besteht das ernste Risiko, dass der Konsument einknickt.
      Zusätzlich dürften die ohnehin kaum zu finanzierenden Schulden der Regierung, ein dann relativ konkretes Problem werden.

      Ich versuche nichts zu prognostizieren, doch sprechen meines Erachtens vielen Dinge für steigende Zinsen am langen Ende.
      Avatar
      schrieb am 05.02.04 20:26:26
      Beitrag Nr. 173 ()
      Der Wüstenfuchs

      Ronald Baummeyer lebt vom Nord-Süd-Konflikt. Und von Unternehmen, die glauben, sie könnten ihn ignorieren.

      Text: Johannes Dieterich

      • Manchmal vergisst selbst Ronald Baummeyer für einen kurzen Augenblick den Kampf. Etwa wenn er sich in seinen Landrover setzt, den Thermostat auf 16 Grad und das Gebläse auf volle Touren stellt. Dann verschwinden die Schweißperlen mitsamt den Furchen auf seiner Stirn, und in den Gesichtszügen des 48-Jährigen macht sich so etwas Ähnliches wie Zufriedenheit breit.
      Sekunden später ist der Anflug von Entspannung allerdings schon wieder weg. Ein verbeultes Taxi will dem Landrover die Vorfahrt nehmen, ein Gemüsehändler rollt mit seinem Handkarren auf die Straße, ein Fußgänger versucht durch das Wirrwarr der Blechkarossen zu huschen. „Chaoten!“, flucht Baummeyer dann aufgebracht: „Lernen die denn nie, sich zu benehmen?“
      Wir befinden uns im Zentrum der kamerunischen Hafenstadt Douala. Draußen tobt pralles zentralafrikanisches Großstadtleben. Gerade ist ein schwerer Regenschauer über der Millionenmetropole niedergegangen: Der hat zwar die ungeteerten Seitenwege in Schlammbäche verwandelt, der schwülen Hitze konnte er allerdings nichts anhaben. „Als Reiseziel kommt dieser Teil der Welt für Europäer schon wegen seines Klimas kaum in Frage“, heißt es in einem Länderlexikon. Aber Ronald Baummeyer ist ja nicht zum Vergnügen hier. Sein Weg führt ihn wie jeden Morgen in ein Industriegebiet, an dessen Ende eine schmuck bemalte Fabrikhalle und ein hässliches Verwaltungsgebäude auftaucht. Siac Brasserie Isenbeck SA steht auf einem Schild. Als sich der schwarze Landrover dem Schlagbaum nähert, springt eine Schar Wärter auf und grüßt militärisch: Ronald Baummeyer rollt wie weiland Wüstenfuchs Rommel in sein Hauptquartier ein.
      Der Vergleich ist gar nicht mal weit hergeholt. Denn Baummeyer hat hier tatsächlich noch bis vor kurzem eine regelrechte Schlacht geschlagen. Sein Gegner hieß natürlich nicht Feldmarschall Montgomery, sondern Monsieur Alphonse Joseph Bibehe – ein 47-jähriger kamerunischer Geschäftsmann, der sich anschickte, die 25 Millionen Euro, die das deutsche Brauhaus Warsteiner in die florierende Brasserie Isenbeck gesteckt hatte, in Havanna-Zigarren, schweres Parfüm und ein Vita dolcissima für sich und seine Großfamilie zu verwandeln.
      Ein Paradebeispiel für Baummeyers Wirtschafts-Credo, wonach Afrika ein „abweisendes Umfeld“ für Investoren aus dem Norden ist. „Wer das nicht versteht“, so der seit fast zwei Jahrzehnten auf dem Notstandskontinent stationierte Ostdeutsche, „ist ein Ignorant und muss hier scheitern.“ Dabei kann Baummeyer dem Scheitern durchaus positive Seiten abgewinnen: Denn der in der ehemaligen DDR ausgebildete Finanzfachmann lebt vom Schiffbruch anderer. Wann immer ein Unternehmen irgendwo in Afrika in die Bredouille gerät, ist Baummeyer als Herauspauker zur Stelle: in Madagaskar, Ghana, Sambia, dem Wirtschaftsalbtraumland Nigeria oder eben jetzt in Kamerun.
      Hier hat es der Wüstenfuchs mit einem besonders eklatanten Fall zu tun. Erst nach zwei Jahren Schwerstarbeit – Hausdurchsuchung, Polizeiverhör und Morddrohungen inbegriffen – errang Baummeyer jüngst mit der handstreichartigen Rückeroberung der Isenbeck-Brauerei durch die Kameruner Gendarmerie einen triumphalen Sieg. „Ich weiß nicht, ob die Leute die Bedeutung dieses Erfolges ermessen können“, sagt der afrikanische Konfliktexperte: „Aber das war wirklich etwas Außergewöhnliches.“

      Was spricht gegen lokale Partner? Sie haben selten die gleichen Interessen wie der Investor

      Es fing an, wie es meistens anfängt und was Baummeyers Wirtschafts-Katechismus zu Folge schon die erste große Sünde ist: Ein Investor aus der Ersten Welt sucht für ein Projekt in der Dritten Welt einen lokalen Partner, der ihm die Türen öffnen soll. In diesem Fall handelte es sich um den Hamburger Brauereiausstatter Joachim Haase, der noch eine alte Rechnung mit dem französischen Getränkeriesen Castel zu begleichen hatte und in Monsieur Bibehe einen scheinbar idealen Partner fand. Auch Bibehe war auf die Franzosen nicht gut zu sprechen: Castel hatte den kamerunischen Geschäftsmann einst vor die Tür gesetzt.
      Haase errichtete in dem 16-Millionen-Einwohner-Staat Kamerun eine moderne Brauerei mit einer Kapazität von 240000 Hektolitern sowie 250 Beschäftigten – und beging dann gleich die zweite schwere Sünde: Er ernannte Monsieur B., wie ihn Baummeyer nur noch nennt, zum Manager. „So genannte lokale Partner sehen Investoren aus der Ersten Welt nicht wirklich als Partner“, ist Baummeyer überzeugt. „Für sie stellt sich früher oder später nur die Frage, wie viel Geld sie rausziehen können.“
      Bevor sich Monsieur B. die Frage stellen konnte, war Haase anderenorts in finanzielle Not geraten, und Warsteiner, damals größtes Brauereiunternehmen in der Bundesrepublik, sah eine Chance gekommen, seine verschlafene Internationalisierung nachzuholen. Die Sauerländer stiegen mit 25 Millionen Euro in die Brasserie Isenbeck ein. Im Übernahmepaket inbegriffen war auch Manager Bibehe, der sich von nun an vor allem um sein eigenes Wohl kümmerte: Er platzierte zahlreiche Familienmitglieder an strategischen Stellen im Unternehmen und begann mit einer gnadenlosen Raubwirtschaft. Bei jedem Materialeinkauf, so Baummeyer, hätten Monsieur B. und Familie Provisionen von bis zu 40 Prozent kassiert, während für die Wartung der einst glänzenden Anlage kein Pfennig ausgegeben worden sei. Dafür habe sich der Kameruner Lebemann Champagner aus Frankreich sowie Luxuskarossen aus England einfliegen lassen. Sämtliche Aufpasser, die Warsteiner nach Kamerun schickte, seien von Monsieur B. umgehend isoliert und der Reihe nach von finsteren Muskelmännern zum Flughafen geleitet und zur Ausreise gezwungen worden.

      Ist der Krieg ausgebrochen, hilft nur eines: Unterstützung durch die lokale Regierung

      Warsteiner bemerkte schließlich, dass es sich nicht bloß um kulturelle Differenzen im Managementstil, sondern um Abzocke handelte. Und musste auch feststellen, dass Monsieur B. nicht nur über eine gehörige Portion Kaltschnäuzigkeit, sondern auch über beste Kontakte in seiner Heimat verfügte. Als der von Deutschen dominierte Aufsichtsrat der Brasserie dem Manager im Jahr 2000 den Laufpass gab, erwirkte Monsieur B. in Douala einen beschluss, der die Kündigung für null und nichtig erklärte.
      Nun gab es keinen Zweifel mehr daran, dass, so Baummeyer, „der Krieg ausgebrochen war“. Warsteiner sicherte sich die Dienste des Troubleshooters vor Ort. Dieser wiederum rekrutierte eine eigene kleine Truppe und erwarb die Unterstützung von Mitarbeitern in Monsieur B.s engstem Umfeld, sodass ihm künftig keine Bewegung des Gegners verborgen blieb. Der Konfliktexperte war sich allerdings von Anfang an darüber im Klaren, dass nicht taktische Manöver vor Ort, sondern allein strategische Erfolge in der politischen Arena die Entscheidung bringen würden. „Wäre es uns nicht gelungen, auf höchster Ebene zu intervenieren – die Brauerei wäre für immer verloren gewesen.“
      Was genau die Wende brachte, wird wohl immer umstritten bleiben. Baummeyer besteht darauf, dass sowohl sein unermüdlicher Einsatz als auch die Mobilisierung des früheren nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten und heutigen Superministers Wolfgang Clement durch das Warsteiner Mutterhaus den notwendigen Druck erzeugte. Dagegen verweist der deutsche Botschafter in Kamerun auf seinen Part: Klaus-Peter Brandes wurde nicht nur in der Präsidialkanzlei vorstellig, sondern lud Warsteiner als Sponsor der deutschen Feierlichkeiten zum 3. Oktober in Kameruns Hauptstadt Jaunde ein. Natürlich kamen die Warsteiner mit ein paar Fässern Bier, was die anwesenden Minister in ausgezeichnete Stimmung versetzte. Dieser Schachzug sei allerdings eher durch Sparzwang der deutschen Vertretung motiviert gewesen, gibt Baummeyer zu bedenken.
      Wie dem auch sei: Der Umschwung wäre auch nach Baummeyers Einschätzung nie möglich gewesen, wenn das politische Klima im Land wegen der Wahlen in diesem Jahr nicht ungewöhnlich günstig wäre. „Jetzt kann die Regierung ihrem Volk demonstrieren, dass sie der Misswirtschaft und Korruption zu Leibe rückt, um dringend nötige Investitionen für Kamerun zu sichern.“ (Der zentralafrikanische Staat gehört laut Transparency-International-Hitliste zu den korruptesten Ländern). Dass Baummeyer und seine Mitstreiter wohl tatsächlich einiges richtig gemacht haben müssen, zeigt ein anderer Fall: Bereits seit zehn Jahren ist der Tabakkonzern Reemtsma in einen ähnlich gelagerten Konflikt mit seinem lokalen „Partner“ James Onobiono (ein Freund von Monsieur B.) verwickelt, ohne einer Lösung näher gekommen zu sein. Reemtsma hatte weder die Dienste eines Experten geordert, noch die Botschaft um Unterstützung gebeten.
      Laut Baummeyer sehen sich Investoren aus der Ersten Welt in Afrika gewöhnlich gleich einer dreifachen Front von Widersachern gegenüber. „Während es die lokalen Partner vor allem auf dein Geld abgesehen haben, bist du für die lokale Bevölkerung der reiche Neokolonialist, der auf dem Buckel der malochenden Bevölkerung Profite aus dem Land ziehen will. Und die Regierung betrachtet dich als Repräsentant einer ungerechten Weltordnung, nach deren Pfeife sie zu tanzen hat.“ Eine derartige Anhäufung von Animositäten aufzubrechen sei äußerst schwierig, meint er, „da muss man schon ein ungewöhnlich gutes wirtschaftliches und politisches Timing haben“.

      Die Schlacht gewonnen, den Krieg vermutlich auch. Und doch bleibt Wachsamkeit oberstes Gebot

      Und Standvermögen: Monsieur B., keineswegs auf den Kopf gefallen, gab nach der politischen Niederlage keineswegs auf. Er versuchte die Öffentlichkeit auf seine Seite zu bringen. Der Geschäftsmann fütterte Kameruns schlecht verdienende Journalisten mit kaufkräftigen Argumenten (während einer Pressekonferenz wurden angeblich prall gefüllte Umschläge verteilt) und mit zündenden Slogans. „Heil Hitler! Der Blitzkrieg war erfolgreich“, titelte eine Zeitung: „Führer Baummeyer“ sei angetreten, den zentralafrikanischen Staat wieder in eine deutsche Kolonie zu verwandeln (die Kamerun bis 1916 war).
      Monsieur B.s Gegenoffensive kam allerdings zu spät. Afrika wäre nicht Afrika, wenn eine von der politischen Führung getroffene Entscheidung durch eine Pressekampagne revidiert werden könnte. Jetzt ging es nur noch darum, die höchstinstanzliche Entscheidung, Monsieur B.s Kündigung, schleunigst umzusetzen, bevor er die Brauerei vollends zu Grunde richten konnte. Mittlerweile wurde dort nämlich kein Tropfen Bier mehr gebraut, die Belegschaft hatte seit fünf Monaten keine Gehaltsschecks bekommen, und Manager B. verkaufte bereits die leeren Flaschen an die Konkurrenz.
      Am Freitag, dem 17. Oktober 2003, frühmorgens um sechs Uhr, war es schließlich so weit. Ein Mannschaftswagen der Gendarmerie holperte im Gefolge von Drahtzieher Baummeyer den Schlaglochweg hinunter und nahm – ohne dass es zu Scharmützeln gekommen wäre – das Brauereigelände ein. Erst eine gute Stunde später war die Kunde zu Monsieur B. und dieser zum Schlagbaum seines einstigen Reviers vorgedrungen: Doch der Schlagbaum hob sich für ihn nicht mehr. Auf dem Gelände wurde Baummeyer unterdessen von der Belegschaft lautstark als „Liberateur“ gefeiert: Zumindest einen Vormittag lang war auch diese Nord-Süd-Front aufgeweicht.
      Die Schlacht war gewonnen und der Krieg vermutlich auch, doch noch immer übte Monsieur B. eine geheimnisvolle Macht auf die eroberte Brasserie Isenbeck aus. Die gesamte Belegschaft habe sich geweigert, dem Büro des gefeuerten Managers auch nur nahe zu kommen, berichtet Baummeyer. Irgendwas ging nicht mit rechten Dingen zu. Monsieur B.s ehemalige Sekretärin half weiter: Der Chef habe wiederholt magische Rituale in seinem Zimmer abgehalten, berichtete sie – eine in Kamerun nicht unübliche, „Juju“ genannte Voodoo-Praxis. Solange das Mobiliar nicht ausgewechselt und das immergrüne Plastikbäumchen nicht entfernt worden sei, könne die Firma nicht zur Ruhe kommen, befand die Sekretärin. Baummeyer verstand und vermachte das gesamte Interieur seinem Rechtsanwalt.
      Jetzt hat Baummeyer sechs Monate Zeit, die Brauerei auf ein solides Fundament zu stellen. Denn nach den bevorstehenden Wahlen könnte das Interesse an der Investitionssicherheit schnell wieder erlahmen, befürchtet der Wahlafrikaner. Von seinem Erzfeind habe er wohl nichts mehr zu befürchten, gibt sich Baummeyer zuversichtlich, bevor er sich am späten Abend in sein mit sieben Klimageräten ausgestattetes Haus zurückzieht. Monsieur B. werde vermutlich bald in Doualas „New Bell“ enden. Das schon vor mehr als hundert Jahren von der deutschen Kolonialverwaltung errichtete Zentralgefängnis hat allerdings eine beunruhigende Eigenschaft: Sein Mauerwerk ist nicht sehr stabil, sodass Häftlingen immer wieder eine leichte Flucht gelingt. Bei diesem Gedanken wird es Baummeyer dann doch noch etwas mulmig. Die Angehörigen des Stammes, zu dem auch Monsieur B. gehört, seien in ganz Kamerun als Giftmischer verrufen. –

      http://www.brandeins.de/magazin/schwerpunkt/artikel3.html
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      schrieb am 06.02.04 18:30:08
      Beitrag Nr. 174 ()
      Jedem sein Schloss
      Alle wollen den Wohlstand für alle - die Frage ist nur, mit welchen Mitteln das Ziel zu erreichen ist. Wer hat das Patentrezept für die Umverteilung?
      Von Beat Kappeler

      Eisern sparen macht reich. Wenn einer nicht raucht, nicht trinkt und «auch in seinen Ausgaben für Kino, Lotterie, Benzin, Sensationsliteratur systematisch spart, so wird er ohne Hexerei bis zu seinem 50. Lebensjahre zu einem Vermögen von 100 000 Fr. kommen können». So schrieb der Treuhänder und Immobilienexperte Ernst Pflüger 1953.

      In der Tat brachte es der Sohn eines mausarmen sozialistischen Nationalrats zu einem Schloss, einer Villa am Zürichberg und der Insel Salagnon bei Montreux. Nach heutigen Geldwerten dürfte, wer Pflügers Rat folgt, zu einem Vermögen von rund 500 000 Franken kommen. Für ein Schloss, eine Villa und eine ganze Insel reicht dies nicht - wie es denn auch Ernst Pflüger nicht gereicht hat: Wie alle Sparapostel hat er nämlich vergessen, dass Sparen bei den Ausgaben erst aufträgt, wenn das Einkommen etwas einträgt.

      Wenn alle gleich reich werden sollten - wo liegt das mögliche Mass? Die Rechnung ist rasch gemacht. Jeder Haushalt hat im Schnitt ungefähr anderthalb Arbeitsplätze in der Volkswirtschaft inne. Veranschlagt man den Wert eines Arbeitsplatzes auf 200 000 Franken, macht das 300 000 Franken pro Haushalt. Die Drei- bis Vierzimmerwohnung setzen wir mit 300 000 Franken ein. Das produktive Vermögen dieses Landes macht pro Haushalt also 600 000 Franken aus. Die Autos, die Nippes im Büchergestell und die privaten Briefmarkensammlungen rechnen wir nicht. Die Statistik bringt es an den Tag - nur sechs Prozent aller steuerpflichtigen Haushalte haben ein Vermögen von 600 000 Franken oder mehr. Nach zweihundert Jahren industrieller Revolution, Massenkonsum, Automation und Sozialstaat besitzen in einem der reichsten Länder der Welt 94 Prozent der Haushalte weder ihre eigenen vier Wände noch ihre Arbeitsinstrumente - zumindest nicht vollumfänglich.

      Das soziologische Zeitalter, das die Erhebungen über solche Ungleichheiten geschaffen hat, suggeriert der Politik damit auch, man könnte und sollte etwas dagegen tun. Gesellschaftliche Techniken der Stimulierung oder Umverteilung des Reichtums sind seit hundert Jahren in Diskussion. Sie setzen an drei verschiedenen Hebeln an.

      Wenn der Besitz und seine Verteilung eine Machtfrage sind, dann muss die Macht politisch gebrochen werden. Gefürchteter Urvater dieser Sicht ist Karl Marx, der lehrte, dass sich das Kapital zwangsläufig in den Händen einiger weniger konzentriert und dass die vielen ebenso zwangsläufig verarmen. Gleichzeitig schärfte er den Blick für den wirklichen Schlüssel zum Reichtum. Nicht Schlösser, Villen und Inseln machen ihn aus, sondern die Produktionsmittel, also Fabriken, Maschinen, Miethäuser.

      Die Idee, dass der Staat als Sachwalter aller die Fabriken und den Boden erhält, hat sich mit dem Scheitern des realen Sozialismus erledigt. Heute erscheint vielen eine griffige Erbschaftssteuer als geeignetes Mittel, ungleiche Besitzverhältnisse zu korrigieren. Sie belangt die Reichen in einem Moment, da das steuerliche Prinzip der «Leistungsfähigkeit» gegeben ist - alle Erben können zahlen und leiden trotzdem keinen akuten Mangel. Widerstand erwächst der Erbschaftssteuer dennoch, weil in der Schweiz jedes Vermögen zuvor schon mehrmals versteuert wurde - beim Einkommen, als Vermögen, als Liegenschaft, als Firma.

      Der grosse Haken aber liegt darin, dass die Reichen zwar zahlen, die Armen dadurch jedoch nicht zu Vermögen kommen. Denn da der Staat nur Bargeld nimmt, müssen die reichen Erben Aktien und Liegenschaften verkaufen. Andere vermögende Personen erwerben diese Produktionsmittel, und der Staat steckt den Steuerertrag entweder in seine eigenen Investitionen oder verteilt ihn um, worauf die Armen ihn umgehend konsumieren.

      Zu privatem Vermögen wird abgeschöpftes Erbe nie und nimmer. Im Gegenteil - erreicht die Erbschaftssteuer eine gewisse Schwelle, wird es unmöglich, dass einer der Erben den Betrieb weiterführt und die andern mit der Zeit auszahlt. Er und die andern Erben brauchen sofort Bargeld, um die Steuern bezahlen zu können. Solche Notverkäufe privater Unternehmen oder ruhender Aktienpakete in grössern Firmen führen zu Brüchen in einer Firmenbiographie, die meist auch der Belegschaft schaden.

      Also sollte staatliche Macht nicht die Erfolgreichen belangen, sondern am Beginn der Akkumulation ansetzen. Vor 120 Jahren entdeckten Sozialisten und Demokraten den Weg kollektiver Selbsthilfe und gründeten Genossenschaften. Allenfalls am Anfang sollte der Staat ihnen unter die Arme greifen, mit günstigem Boden, mit Darlehen an Wohnkolonien oder mit Aufträgen an Bau- und Druckgenossenschaften. Allerdings bleibt der Besitz kollektiv und ist zweckgebunden. Nach den meisten Statuten kann der einzelne Genossenschafter zwar austreten, aber nur seine ursprüngliche Einlage mitnehmen. Die aufgebauten Reserven bleiben im Topf. Wie mit der Reichtumssteuer wird so zwar grosser privater Reichtum verhindert, aber kein neues privates Vermögen geschaffen.

      Der zweite Hebel zur Vermögensbildung gründet in der Idee, das in einer wachsenden Volkswirtschaft jährlich neu entstehende Vermögen durch eine bewusste Politik breiter zu streuen.

      Tatsächlich sind die grössten Vermögen meist die neuesten. Bill Gates ist reicher als alle Fords und Rockefellers zusammen, der junge Besitzer der Pharmafirma Ares-Serono, Ernesto Bertarelli, besitzt mehr als die ganze Berner Aristokratie 812 Jahre nach Gründung der Stadt, und Kudelski junior dürfte reicher sein als alle Lausanner Notabeln zusammen. Wer Geld in Firmen, Maschinen, Ideen, Programme oder Businesspläne steckt, wird in der nächsten Runde belohnt; macht er es richtig, zahlt sich die Investition zurück, ermöglicht «Abschreibungen» und lässt einen Nettogewinn übrig. So entsteht Vermögen.

      Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, ob man eigenes oder entliehenes Geld investiert, vorausgesetzt, die Erträge sind höher als die Zinsen. Mit Krediten kann man die Hand sogar auf noch viel mehr Produktivvermögen legen und damit noch schneller reich werden - der Grund, weshalb sich Investoren Fabriken, Boden, Bauten, Maschinen und Software unter den Nagel reissen. Erst wenn der Erfolgreiche sein Geld für eine Ferrari-Sammlung ausgibt, stagniert sein Vermögen. Er konsumiert, anstatt zu investieren.

      Daraus ergibt sich, dass sich das Vermögen der Reichen zum Vermögen der Armen verhält wie der um den Konsum verminderte Gewinn der Reichen zur Ersparnis der Armen. Was zum Schluss führt, dass die Armen sich produktives Vermögen ersparen müssen, wenn sie sich in den vermögensbildenden Prozess einer wachsenden Volkswirtschaft einschalten wollen. Grosse Lohnerhöhungen nützen nichts, werden diese doch von den Firmen gleich wieder auf die Preise geschlagen, um die Gewinne der Inhaber zu sichern.

      Die Arbeitnehmer müssen also am Gewinn, besser noch am Kapital ihrer Firma beteiligt werden. Wird ein Teil des Lohns gleich dafür reserviert, sparen die Armen, statt zu konsumieren, und wenn er in Aktien angelegt wird, sprudelt die Vermögensquelle hinfort auch für sie. Auf dieser Überlegung bauten seit den siebziger Jahren die Beteiligungspläne für Mitarbeiter auf. In Frankreich wurden Firmen ab 50 Mitarbeitern gesetzlich zur «participation» verpflichtet - einige Prozent des Gewinns mussten in Mitarbeiterfonds abgeführt werden. In Schweden wurden die Firmen gar zur Abgabe von 20 Prozent ihrer Gewinne verknurrt. Diese grossen Summen landeten in vier landesweiten Aktienfonds der Arbeitnehmer, die später geschlossen und ins Pensionskassensystem übertragen wurden.

      Individuelle Vermögen sind damit allerdings nicht entstanden. In der Schweiz, in den USA und andern Ländern hingegen konnten mit freiwilligen betrieblichen Beteiligungsplänen private Guthaben aufgebaut werden. Da aber alle Eier im gleichen Korb sind, Arbeitsplatz, Erspartes - und in den USA auch Pensionsanteile -, sollten diese Mitarbeiterguthaben als separate Fonds geführt werden, die auch in andere, firmenfremde Aktien investieren können. Denn wenn ein Teil des Jahresgewinns in Form neuer, verbilligter Aktien oder Gratisaktien an die Belegschaft abgetreten wird, ist dies bloss für die Buchhaltung von Bedeutung. Das verdiente Geld bleibt in der Firma, nur der Besitzestitel, die Aktie, geht in andere Hände. Den Altaktionären entgeht direkt nichts; es sind lediglich mehr Aktien im Umlauf, und der künftige Gewinn macht pro Aktie weniger aus, da die Mitarbeiter jetzt in seine Verteilung zugeschaltet sind. Ihr Vermögen nährt sich ebenfalls aus dem Wachstumsprozess. Sie haben investiert.

      Auch solche individuellen, einzelbetrieblichen Pläne können politisch gefördert werden. Der Staat kann die Beteiligung entweder durch steuerliche Befreiung unterstützen oder aber durch Zuschüsse aus seiner Kasse. In Deutschland stockt die «Sparförderung» jedem Arbeitnehmer seine jährliche Ersparnis um maximal 402,40 Euro auf, wenn sie für Wohn- oder Aktieneigentum eingesetzt wird. So bildet sich Sachvermögen. Der schweizerische Staat bietet an sich mehr, nämlich den Abzug von 5933 Franken in der dritten Säule und aller erhaltenen Sparzinsen vom steuerbaren Einkommen. Aber niemand muss damit Sachvermögen kaufen.

      Kollektive Ersparnis kann der Staat ebenfalls anbefehlen und damit Vermögen aus dem Kreislauf schaffen - in der Schweiz mit der zweiten Säule, in Norwegen mit dem Government Petroleum Fund, der schon 24 Milliarden Franken aus dem Ölsegen des Landes in Aktien steckte. Die schweizerische zweite Säule hält für jeden der drei Millionen Versicherten knapp 40 000 Franken in Aktien nebst weiteren 80 000 Franken im Topf. Solches Vermögen aber ist wiederum nur kollektiv vorhanden. Allerdings können diese Pensionsvermögen in der Schweiz durchaus individuell bezogen werden, zur Wohnungsfinanzierung, beim Eintritt in die Selbständigkeit oder beim Verlassen des Landes.

      Rein individuell wirkt schliesslich der dritte Hebel: Man lässt Macht, Kreislaufdenken und kollektive Töpfe beiseite und baut ganz einfach auf die Tüchtigen; diese Sicht der Gesellschaft verzichtet auf die üblichen, aber folgenlosen Lippenbekenntnisse zur Gleichheit. In einem privaten, vom Wettbewerb geprägten System kann sich jeder eine Position erstreiten - wer sich dank Fleiss, Genie oder eben auch Sparsamkeit hinaufboxt, tut sich und den andern Gutes. Denn aus liberaler Sicht, und abgesegnet durch den Philosophen John Rawls, hebt der Tüchtige alle Boote - es gibt einen Druck nach oben für jedermann, wenn einer Firmen gründet, Arbeitsplätze schafft, viel Geld für Investitionen oder Konsum ausgibt. Der Reichtum ist kein Nullsummenspiel: Was der eine neu hinzugewinnt und erschafft, geht niemandem ab, im Gegenteil.

      Auch dieser individuelle Weg zum Vermögen setzt die ordnende Hand der Politik voraus. Die Steuern sollten demgemäss Firmen überhaupt nicht belasten, sondern erst zugreifen, wenn jemand Geld herausnimmt, als Dividende, Zins, Lohn. Wer sein Haus oder seine Wohnung erwirbt, sollte nicht ein Leben lang Schuldzinsen zur Steuerminderung einsetzen dürfen. Wohl aber sollte jeder Neuerwerber fünf Jahre lang hohe Steuernachlässe erhalten. Und wer ein Haus selber baut oder ausbaut, sollte nicht den geschaffenen Wert noch als Einkommen versteuern müssen.

      Doch viel stärker als Steuern bremsen Regeln das Eigentum. Firmengründer sollten sich nicht mit kleinlichen Vorschriften und Bewilligungen plagen müssen. Vertragsrecht, Aktien- und Bankenrecht, Mehrwertsteuer und Sozialabgaben müssen einfach formuliert, ohne teure Anwälte und Treuhänder anzuwenden sein. Denn dies sind die wirklichen Kosten staatlicher Regeln - nicht die öffentliche Bürokratie, sondern die Firmenbürokratien, die aufgebaut werden müssen, um die immer komplexeren Vorschriften zu verstehen und zu parieren. Hier liegen Zehntausende von Juristen, Buchexperten, Beratern auf den Firmenkassen, alles intelligente und teure Leute. Würden sie auch Firmen gründen, wären alle reicher.

      Der individuelle Weg, Reichtum zu erwerben, ist in der Schweiz unattraktiv gerade wegen der intakten Alterssicherung mit AHV und zweiter Säule. Der unmittelbare, lebenslange Konsum lockt. So bleibt die Schicht der Vermögenden dünn, und Sozialpolitiker dürfen weiter über die ungleiche Verteilung schwadronieren, ohne die von ihnen veranlasste kollektive Vermögenssäule zu erwähnen.

      Was wenige wissen, aber viele ahnen: Die Glücksgüter dieser Erde, die Status bringen, sind gezählt. Zwar verfügt heute eine Angestelltenfamilie über den Komfort einer Arztfamilie aus den vierziger Jahren, übers Häuschen im Grünen, Skiferien, Flugreisen. Aber erstens wird dieses Glück, weil alle es haben, mit Warteschlangen erkauft, und zweitens bringt es keinen Status mehr. Die Reichen von heute fliegen privat, nicht Linie, fahren Ski in Kanada und haben Landsitze am See. Der amerikanische Ökonom Fred Hirsch nannte dies die «sozialen Grenzen des Wachstums».

      Wenn alle reicher werden, haben sie zwar mehr, aber ihr gegenseitiger Status bleibt so wie im Kinosaal, wenn alle auf die Stühle steigen. Keiner ist besser placiert. Und die wirklich Reichen, nämlich die Weisen, sagt Hans Magnus Enzensberger, sind auch schon eine Strecke weiter als die Manager und die Wohlstandskonsumenten. Sie arbeiten ohne Bürozeiten, reisen langsam, sie besitzen die knappste Ressource, Zeit. Diese braucht nicht umverteilt zu werden, alle haben gleich viel.


      Beat Kappeler, Ökonom, ist Mitarbeiter der «NZZ am Sonntag».

      Illustration: Gefe, Zürich.
      http://www-x.nzz.ch/folio/archiv/2002/05/articles/kappeler.h…
      Avatar
      schrieb am 09.02.04 00:42:53
      Beitrag Nr. 175 ()
      «Ökonomie des Neides» im Wohlfahrtsstaat
      Zermürbende Wirkung auf die unternehmerische Elite
      Wohl niemand ist ganz frei von Neid - selbst diejenigen nicht, die eigentlich niemandem etwas neiden müssten. Der Autor untersucht die ökonomischen Wirkungen des Neides und vertritt dabei die Ansicht, dass die deutsche Fiskal- und Sozialpolitik von einemdestruktiven Neid geprägt wird, der sich hinter moralisierenden Theorien von Gerechtigkeit verbirgt. Die provokativ formulierten Thesen sind vor dem Hintergrund übertriebener steuerlicher Umverteilung im deutschen Wohlfahrtsstaat zu sehen. (Red.)

      Von Gerd Habermann*

      Neid ist in jedem Fall kein edles Motiv. Er ist vielmehr ein Laster. Aber er kann produktive wie zerstörerische Auswirkungen haben. Im ersten Fall wird der Neid zu einem produktiven Faktor, der sich in schöpferische Leistungen umsetzt. Im anderen Fall geht er auf das Schädigen und die Entmutigung des erfolgreichen, gesunden, glücklichen Anderen aus. Das Ziel ist erreicht, wennder Glückliche sein Glück als «unverdient» empfindet und darüber unglücklich wird, wenn er sich für seinen Erfolg zu entschuldigen sucht, sich schliesslich vielleicht selber als einen Missbrauch ansieht wie der unglückliche Reformkönig Ludwig XVI. Im Extremfall flüstert der zerstörerische Neid dem Erfolgreichen zu: «Fühle dich schuldig, schäme dich, denn andere, die unter dir geblieben sind, beneiden dich. Du bist an diesem Neid schuldig, du stürzt sie durch dein blosses Dasein in die Sünde. Wir brauchen die Gesellschaft der Gleichen, in der niemand jemandem etwas neidet» (Helmut Schoeck). Also nicht der Neidische soll sich zähmen, sondern sein Opfer soll sich ändern - nach unten hin, dem Massstab des Neides zuliebe. Diese Suggestion hat im Jahrhundert des Sozialismus ihre mürbe machende Wirkung auch auf die unternehmerische Elite nicht verfehlt. Es gibt Unternehmer, die ihre z. T. schikanöse Fesselung durch ein fein gesponnenes Sozial-, Arbeits- und Fiskalrecht für notwendig erklären. Nur so mache man die unternehmerische Existenz «sozialverträglich», meinen sie.

      Destruktiver Neid meist verhüllt
      In der Marktwirtschaft wird der Neid neutralisiert, kann er zum wichtigen Antriebsmotor im Wettbewerb werden. Er wird sozusagen sozial dienstbar gemacht für das Allgemeinwohl. Neid, Missgunst oder Rachsucht: Man kann sich auf Märkten nur durch Leistungen für andere - die Kunden - voranbringen, indem man Wettbewerber durch bessere Angebote überflügelt. Der Markt setzt zu seinem Funktionieren also weder Helden noch Heilige voraus. Der «Gewinn» ist eine Anerkennung der mit ihren Ausgaben über den Wert der angebotenen Leistungen abstimmenden Konsumenten - über den Wert für Konsumenten, wohlgemerkt; denn für die Konsumenten ist die Marktwirtschaft da.

      Der destruktive Neid tritt selten unverhüllt zutage. Vielmehr ist er bestrebt, sich in Form von moralisierenden Theorien zu rechtfertigen. Dazu gehören die Lehren von der «sozialen Gerechtigkeit». Noch niemandem ist es gelungen, objektiv zu definieren, was «soziale» Gerechtigkeit sein soll. Friedrich August von Hayek schreibt: «Die völlige Inhaltslosigkeit des Begriffs ‹soziale Gerechtigkeit› zeigt sich an der Tatsache, dass es keine Übereinstimmung darüber gibt, was soziale Gerechtigkeit im Einzelfall erfordert; dass ferner keine Kriterien bekannt sind, nach denen entschieden werden könnte, wer Recht hat, wenn die Leute verschiedener Ansicht sind . . .» Und an anderer Stelle: «Mehr als zehn Jahre lang habe ich mich intensiv damit befasst, den Sinn des Begriffs ‹soziale Gerechtigkeit› herauszufinden. Der Versuch ist gescheitert, oder, besser gesagt, ich bin zu dem Schluss gelangt, dass für eine Gesellschaft freier Menschen dieses Wort überhaupt keinen Sinn hat.»

      Die Praxis der sozialen Gerechtigkeit läuft auf möglichst viel Gleichheit hinaus, bewirkt durch umverteilenden Zwang. Herbert Stolle hat einmal soziale Gerechtigkeit scherzhaft in dieser Weise definiert: «Du hast zwei Mark, ich habe eine. Gib mir eine, dann haben wir beide zwei.» In einer Karikatur aus einer Zeitschrift des 19. Jahrhunderts, den «Fliegenden Blättern», sieht man einenKommunisten mit einem Bürgersmann im Gespräch. Der Bürgersmann sagt: «Ja, du redest immer von Gleichheit und Güterteilen, allein ich setze den Fall, wir haben geteilt und ich, ich spare meinen Teil, doch du verschwendest den deinigen, was dann?» Der Kommunist antwortet: «Ganz einfach! Dann teilen wir wieder.»

      Klassischer Neiderstaat Schweden
      Der deutsche Wohlfahrtsstaat geht darauf aus, den Neid durch umfassende Umverteilung zu beschwichtigen. Wohlfahrtsökonomie ist Neidbeschwichtigungs-Ökonomie. Die Neidökonomie des Wohlfahrtsstaates drückt sich vor allem in der Forderung nach Chancen-, womöglich Ergebnisgleichheit aus. Ihr Hauptansatz sind eine progressive Steuerpolitik, eine möglichst progressive Staffelung der Sozialbeiträge, eine saftige Erbschaftssteuer und das Angebot möglichst vieler öffentlicher Güter zum Null- oder Sozialtarif. Es gab imklassischen Neiderstaat Schweden Progressionssätze von 90 Prozent und darüber - und dies schon von relativ niedrigen Einkommensstufen ab, so dass das Durchschnittseinkommen schliesslich zu mehr als zwei Dritteln aus Sozialtransfers bestand. Progression heisst: Der Erfolg wird durch Besteuerung bestraft, der Misserfolg durch soziale Transfers belohnt. Die Begründung dieser Progression ist dubios: Man soll für öffentliche Güter nach Leistungsfähigkeit bezahlen. Das wäre auf dem Markt so, wie wenn in einem Geschäft die Preise nach dem Einkommen des Kunden gestaffelt wären.

      Schlecht akzeptierte Unterschiede
      Die Neidökonomie findet sich wieder in der Giesskannen-Sozialpolitik, wie sie z. B. in der Bildungswirtschaft praktiziert wird, die durch das kostenlose Angebot von Ausbildungsleistungen für alle ohne die Voraussetzung von Bedürftigkeit nichts als eine Filiale der Sozialpolitik darstellt. Ebenso auch in staatlicher Kulturpolitik, durch «soziale» Tarife z. B. beim Theaterbesuch. Was steckt dahinter? Um eine Stigmatisierung des Einzelnen, der öffentliche Mittel beansprucht, zu vermeiden, werden Nulltarife für alle, auch für die Wohlhabenden, verordnet. Auch Wohlhabende bekommen z. B. ein Studium geschenkt. Besonders auffällig ist diese Umverteilung auch in dergesetzlichen Krankenversicherung, wo das Naturalleistungsprinzip ebenso für den armen Hilfsarbeiter wie für den Generaldirektor mitsamt seiner Familie gilt.

      Neidökonomie drückt sich in Deutschland ferner im Anspruch der Bundes- und Landespolitikaus, durch Finanzausgleich zwischen den öffentlichen Körperschaften Bund, Länder, Kommunenmöglichst einheitliche Lebensverhältnisse herzustellen. Es geht auch dabei nur um eine vordergründige Ökonomie, die nichtmonetäre Vorteile (z. B. hohe Umweltstandards, landschaftliche Schönheit) nicht in Betracht zieht und jedenfalls erfolgreiches Handeln im öffentlichen Teil der Wirtschaft durch Umverteilung bestraft. Bekannteste Beispiele für das Leben auf Kosten anderer sind die Bundesländer Bremen und das Saarland, wobei Letzteres freilich gerade einen heroischen Anlauf unternimmt, diesen unwürdigen Status zu beenden. Es wird heutzutage eher akzeptiert, dass alle gleich arm sind, als dass alle wohlhabend, aber darunter einige wohlhabender als andere sind. Der Begriff «Armut» wird vom Neid so definiert, dass als «arm» gilt, wer über weniger als das Durchschnittseinkommen verfügt.

      Gleichheit als zerstörerische Utopie
      Die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der gegenwärtig regierenden Linkskoalition ist naturgemäss besonders stark von den nicht eingestandenen Neidmotiven beherrscht. Es ist dies freilich nur ein relativer Unterschied zur früheren schwarz-gelben Regierung. In der Sozialpolitik hat eine Rückwärtswendung stattgefunden, die selbst die zahmen Liberalisierungen der Regierung Kohl korrigiert hat (Lohnfortzahlung, Scheinselbständigkeit, Kündigungsschutz, 630- DM-Gesetz usw.). Auch bei der stark umkämpften Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzesging es um mehr Gleichheit. Es sollen überall Betriebsräte gebildet, eine betriebliche Einheitsverfassung für Deutschland durchgesetzt werden. Deutschland steht freilich international nicht an der Spitze der durch Neidpolitik behinderten Nationen: Schweden liegt immer noch mit Abstand vor ihm und überhaupt alle Nationen, die sich hohe Staats- und Abgabenquoten erlauben - diesen sicheren Indikatoren des Neides in Friedenszeiten.

      Auch die Politik einer wirtschaftlichen und sozialen Wiedervereinigung ist durch Neidmotive charakterisiert. So soll es keine Niedriglohngebiete geben, soll keine wirtschaftliche Konkurrenzaus dem Osten entstehen. Dieses Ziel wurde erreicht, indem durch die Währungsunion zu absurden Umstellungsrelationen und durch die Politik des Arbeitsmarktkartells der Osten industriell lahmgelegt wurde oder zumindest der verbliebenen komparativen Vorteile beraubt wurde. Gleichzeitig wurden die wohlfahrtsstaatlichen Standards des Westens im vollen Umfang auf den Osten übertragen. Dies war die Politik, die die wirtschaftliche Wiedervereinigung zu einem Dauerproblem gemacht hat - mit noch unabsehbaren Konsequenzen für die Stabilität der öffentlichen Finanzen und die politische Mentalität der Ostdeutschen.

      «Chancengleichheit», wenn sie mehr bedeuten soll als die Gleichheit vor dem Gesetz, ist eine zerstörerische Utopie. Geographische, kulturelle, gesundheitliche und charakterlich bedingte Unterschiede sind prinzipiell nicht zu beseitigen odernur um den Preis einer totalitären Zwangsordnung. «Chancengleichheit» kann es bei näherer Betrachtung nur als Gleichheit vor dem Gesetz geben. Der Spanier Gonzalo Fernandez de la Morá schreibt in seinem lesenswerten Buch über den Neid: «Die Chancengleichheit gibt es nicht, und das ganze politische Problem beschränkt sich auf die Regulierung der Ungleichheiten, ohne den Trieb zur Selbstverwirklichung zu beengen, der das Edelste im Menschen ist, die mächtigste Triebkraft der Geschichte und das Heilmittel gegen den Neid.»

      Die Politik der Neidbeschwichtigung ist schon allein deswegen aussichtslos, weil nicht die grossen, sondern eher die kleinen Unterschiede denNeid fördern, wie schon Tocqueville beim Vergleich der Monarchie mit der modernen Demokratie betont hat. Am lautesten ruft der Menschnach Neuverteilung, wenn es fast nichts zu verteilen gibt. Man hat festgestellt, dass der erste Platz vom Zweitplacierten mehr geneidet wird als vom Drittplacierten. Ein anderes Beispiel ist die Geschichte der Steuerprogression. Sie begann mitProgressionssätzen zwischen eins und drei Prozent (Miquel`sche Steuerreform), am Ende lagen diese Sätze bei - in einigen Ländern - über 90 Prozent. Es gibt eben keinerlei objektives Mass für das, was sozial gerecht sein soll.

      Hochmütiger Ekel vor dem Markt
      Woher die Feindschaft vieler Intellektueller gegen die Marktwirtschaft, die von ihr hervorgerufene Ungleichheit? Sie erklärt sich daraus,dass Intellektuelle bei ihrem traditionellen Anspruch geistiger Überlegenheit als Sinndeuter derNation nicht automatisch die bestbezahlten Stellen der Gesellschaft und dominierende Leitungsfunktionen zugewiesen bekommen, sondern dies nur über die harte Auslese des Wettbewerbs durch nützliche Dienstleistungen für den in ihren Augen «ungebildeten» Durchschnittskonsumenten zu erreichen ist. Das ist nichts anderes als ein hochmütiger Ekel der «Sinndeuter» vor dem Markt, der jeden Konsumenten als Souverän ansieht, der mit Geld über das abstimmt, was er für nützlich hält. Ohne Bevormundung! Diese Art Egalité mögen die Intellektuellen eben nicht.

      Aus alldem folgt, dass es unmöglich ist, eine neidfreie Gesellschaft herbeizuführen, durch Gesellschaftspolitik die Menschen zu «entneiden».Vielmehr ist die Gleichmachungspolitik ein Anschlag auf das edelste Motiv des Menschen: das Streben nach Selbstverwirklichung. Denn jeder bringt sein eigenes Programm mit und hat ein natürliches Recht darauf, seine besonderen Begabungen und Talente zu entwickeln - mit natürlicherweise ungleichen Ergebnissen. Gerade diese Tatsache bringt den Reichtum, die Vielfalt und das Glück einer Marktwirtschaft hervor. Wie soll man im Übrigen Vor- und Nachteile miteinander verrechnen, z. B. den Nachteil einer schwächlichen Konstitution mit dem Vorteil eines geerbten Vermögens? Wie soll man die erschlaffende Wirkung eines über Generationen genossenen Wohlstandes verrechnen mit den Antrieben, die armselige Startverhältnisse einem ehrgeizigen Selfmademan bieten mögen? Gleichwohl gibt es Möglichkeiten, den Neid einerseits zu bekämpfen, andererseits sogar ja für die Allgemeinheit nutzbar zu machen. Ein Weg ist, den Korridor der Marktwirtschaft möglichst weit auszudehnen, die Staatswirtschaft dagegen möglichst zu reduzieren. Auch dann gäbe es noch den Neid. Aber er fände nicht die Mittel, den Konkurrenten - wie im Sozialismus - auf den Archipel Gulag zu senden.

      Hinzu kommen muss eine Richtigstellung der moralischen Begriffe. War es nicht sogar der Sozialismus, der ein Recht auf den Ertrag der eigenen Arbeit verkündet hat? Darf mir jemand mein Eigentum streitig machen, wenn es ohne Gebrauch von Gewalt, Betrug, Diebstahl usw. zustande gekommen ist? Die «Gerechtigkeit» ergibt sich in einer Marktwirtschaft aus der Beachtung der moralischen Regeln beim freiwilligen Tausch, auf der ethischen Elementarbasis des gegenseitigen Vorteils. Dies im Unterschied zum erzwungenen «Raub» - auch dem legalen durch den Staat,der diese Spielregeln missachtet. Das Wunderbare an der Marktgerechtigkeit ist, dass hier nicht die Willkür einzelner Menschen, sondern ein anonymer Auslese- und Abstimmungsprozess über die Stellung in der Gesellschaft entscheidet.

      Amerika kam die religiöse Auffassung der Calvinisten zugute: Wenn du am Markt Erfolg hast, ist dies ein Zeichen, dass du zu den «Gerechten» vor Gott gehörst. Über dieses Kapital können wir in Mitteleuropa nicht verfügen. Auch wird man dem kapriziösen Glück seine Rolle zugestehen müssen. Nicht jeder grosse wirtschaftliche Erfolg ist auch in dem Sinne «verdient», dass er proportional zu den Anstrengungen steht, die er gekostet hat. Andererseits kann auch grösste subjektive Anstrengung zum Misserfolg führen, wenn man den Interessen der Verbraucher nach deren Meinung nicht genug genützt hat («Der Köder muss dem Fisch und nicht dem Angler schmecken»). Aber wenn man die anonymen Abstimmungsmechanismen der Märkte abschafft, bleibt nur dieWillkür einzelner, bevorrechtigter Menschen übrig. - Ein Sprichwort sagt: «Mitleid bekommt man geschenkt, Neid muss man sich verdienen.» Ein guter Satz! Schön wäre es, wenn dieser «verdiente Neid» zum Ansporn für andere würde, ohne Appell an Staatszwang und Umverteilung die erfolgreicheren Mitmenschen zu übertreffen.

      * Der Autor leitet das ASU-Unternehmerinstitut in Berlin und ist daneben als Dozent für Politikwissenschaften tätig.





      Neidökonomie der Familie
      G. H. Neuerdings hat die Neidökonomie auch die Familie erreicht. Nach den zweifelhaften Idealen gegenwärtiger deutscher Familienpolitik soll die Familiengründung, die Elternschaft, möglichst wenig kosten. Herangezogen wird ein Vergleich mit einem Single, der sich einen höheren Lebensstandard erlauben kann als jemand mit Familie. In diesem krass materialistischen Vergleich werden die Vorteile des Kinderhabens nicht angemessen berücksichtigt. Das Kind wird als «Leistung» für die Allgemeinheit angesehen, für welche es einen Kompensationsanspruch gegenüber dem Staat bzw. dem Steuerzahler gibt. Sogar die bürgerlichen Parteien befürworten stattliche Familiengelder als sozialpolitischen Schlager. Die Kosten der Familie werden in dieser Weise sozialisiert. Die Familie wird ihres Sinnes als einer unabhängigen Selbsthilfegemeinschaft durch den Staat beraubt. Mutter und Vater werden - bewusst provokativ formuliert - bezahlte Staatsfunktionäre zu Reproduktionszwecken. Mein Kind - deine Ausgabe!

      Neue Zürcher Zeitung, 2. März 2002
      http://www.nzz.ch/dossiers/2001/psycho_oekonomie/2002.03.02-… :) :)
      Avatar
      schrieb am 09.02.04 15:45:58
      Beitrag Nr. 176 ()
      Aus der FTD vom 9.2.2004 www.ftd.de/bildung
      FTD-Spezial: Bildung treibt das Wachstum an
      Von Tina Stadlmayer und Margaret Heckel, Berlin

      Das Land der Dichter, Denker und Erfinder hat abgewirtschaftet. Weil unser Bildungssystem verrottet, verschleudern wir unsere wichtigste Ressource: Die Klugheit unserer Kinder. Dabei ist Wissenschaftlern längst klar, dass sich keine Investition so sehr lohnt wie die in Bildung.


      Natürlich sind die Menschen in Deutschland nicht dümmer als anderswo. Doch weil anderswo deutlich mehr in bessere Bildung investiert wird, fällt Deutschland immer weiter zurück. Was Unternehmer und Bildungsexperten längst ahnten, bestätigte die Studie " Bildung auf einen Blick" der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) vor wenigen Monaten eindrucksvoll. Die im internationalen Vergleich geringe Zahl von Akademikern in Deutschland ist mitverantwortlich für die aktuelle Wachstumsschwäche. In anderen Ländern trugen dagegen mehr und bessere Bildung zur Steigerung der Arbeitsproduktivität bei. Nur 38 Prozent der deutschen Schulabgänger haben Abitur oder einen vergleichbaren Abschluss. Das sind weniger als in den meisten anderen Ländern. In Finnland, das beim internationalen Schülervergleich Pisa am besten abschnitt, erreichen 87 Prozent die Hochschulreife, in Schweden 74 Prozent, in Australien 67 Prozent. Diese Länder stehen auf den Länderindizes zur Innovation ganz oben.

      Auch der Anteil der Akademiker an der Gesamtbevölkerung ist in Deutschland deutlich geringer als in anderen Ländern. Nur 19 Prozent schließen die Hochschule ab - obwohl das Studium bei uns im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern kostenlos ist. In Finnland studieren 71 Prozent jedes Jahrganges, in Schweden und Australien fast 70 Prozent.


      " Wir verschleudern unser geistiges Potenzial" , warnt der Chef der Unternehmensberatungsfirma McKinsey, Jürgen Kluge. Ein Land ohne natürliche Rohstoffe könne es sich nicht leisten, seine Kinder nicht ihren Fähigkeiten entsprechend auszubilden. Kluge fordert: " Früh investieren statt spät reparieren." Dieter Lenzen, Präsident der Berliner Freien Universität, mahnt: " In Deutschland ist man noch dabei, die Schlafsessel auf der Titanic gerade zu rücken" . Das Land brauche angesichts des drohenden Bevölkerungsrückganges eine radikale Bildungsreform.

      Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften

      Bereits heute leidet die Wirtschaft unter einem Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften. Wenn wir so weitermachen, wird sich die Lage in den kommenden Jahren dramatisch verschärfen. Trotzdem leisten wir uns ein Bildungssystem, das Kinder aus einfachen Verhältnissen nicht fördert, das Schwache aussortiert und die Fähigkeiten der Hochintelligenten brach liegen lässt. Auch falsche Weichenstellungen gefährden die Leistungsfähigkeit Deutschlands. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute. Nur sieben von 1000 jungen Leuten schließen ein natur- oder ingenieurwissenschaftliches Studium ab. In anderen Ländern sind es 10 bis 15. Im globalen Wettbewerb hat Deutschland aber nur dann eine Chance, wenn es exzellente Wissenschaftler ausbildet, die konkurrenzfähige Innovationen entwickeln.

      Bereits der Pisa-Schock vor zwei Jahren hat Deutschland aufgeschreckt: Das Land der Dichter und Denker landete beim internationalen Bildungsvergleich von 32 Ländern auf Platz 21, weit hinter den skandinavischen und angelsächsischen Ländern. Ein weiteres Pisa-Ergebnis: Nirgendwo hängt der Bildungserfolg der Schüler so deutlich von Ausbildung und Geldbeutel der Eltern ab wie in Deutschland. Kinder nichtdeutscher Eltern schnitten in allen Bereichen schlechter ab als deutsche Schüler. Fazit der Pisa-Studie: " Es gelingt nicht, soziale Defizite auszugleichen und leistungsschwache Schüler zu fördern. Es gelingt aber auch nicht, eine Elite zu bilden."

      Unternehmer, Handwerksmeister, Eltern, Lehrer und Professoren wussten es schon vor der Pisa-Studie: Deutschland steckt tief in der Bildungskrise. Bereits 1997 stellten die Chefs von 800 deutschen Ausbildungsbetrieben bei mehr als zwei Dritteln aller Hauptschulabgänger deutliche Schwächen beim Rechnen, in der Rechtschreibung und der Allgemeinbildung fest. Selbst bei Abiturienten monierten sie solche Defizite. Seitdem hat sich die Lage nicht verbessert. Doch trotz des Pisa-Schocks tut sich nur wenig. Wegen der leeren Kassen bei Bund und Ländern bleiben die notwendigen Investitionen auf der Strecke.

      Hohe Rendite mit Bildung

      Dabei zahlt sich Bildung aus wie kaum ein anderes Investment: Der jüngste OECD-Bildungsbericht weist nach, dass sich Bildung nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für jede Volkswirtschaft rechnet. Die Wissenschaftler untersuchten die Bildungsrendite in 21 Ländern und kamen zu dem Schluss, dass ein Jahr mehr Ausbildung bei der gesamten arbeitenden Bevölkerung langfristig rund sechs Prozent mehr Output pro Kopf bringt. " Die Ausstattung mit Humankapital spielt eine zentrale wachstumspolitische Rolle" , argumentiert Hans-Peter Kloes vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.


      Doch noch sei es in Deutschland völlig unüblich, Bildung als Investition zu sehen. Wer sich aber mit Bildungsökonomie beschäftigt, findet schnell sehr gute Argumente für deutlich höhere Bildungsausgaben - sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft. Dabei werden die Ausgaben, die ein Einzelner in seine Ausbildung oder die Gesellschaft in ihre Bildungsinstitutionen steckt, mit dem Nutzen daraus verglichen. Noch gibt es nur wenige und grobe Kosten-Nutzen- Analysen. Doch bereits sie zeigen, wie überraschend eine derartige ökonomische Betrachtung des Bildungssektors sein kann.

      So liegt die Bildungsrendite eines Hochschulstudiums in den USA mit 15 Prozent beispielsweise deutlich über der Deutschlands mit geschätzten neun Prozent. Das ist zwar immer noch mehr, als eine Anlage in Aktien-, Rentenpapiere oder Immobilien langfristig bringt - und zeigt, dass kaum etwas lohnender ist als Investitionen in die eigene Fortbildung. Der Hauptgrund für den Unterschied aber liegt in der Studiendauer und dem späteren Eintritt ins Erwerbsleben. Das deutsche Gratis-Studium vermindert den Anreiz, schnell fertig zu werden, und damit die Rendite. " Staaten mit Studiengebühren weisen oft eine geringe durchschnittliche Studiendauer auf und liegen bei der Rendite des Studiums auf den Spitzenplätzen" , sagt Kloes.

      Kaum Studien zur Bildungsrendite für Schulen und Kindergärten

      Unterhalb der Universitäten - also für Schulen und Kindergärten - gibt es bislang noch kaum Studien zur Bildungsrendite. Doch es mehren sich die Hinweise, dass der deutsche Weg, mehr in Sozial- als in Bildungspolitik zu stecken, ein Irrweg ist. Denn Bildungsarmut ist erblich: Kinder ungebildeter Eltern haben in Deutschland schlechtere Bildungschancen. Das beginnt damit, dass Arbeitslose und Migranten ohne Bildungsabschluss ihren Nachwuchs häufig nicht in den Kindergarten schicken. Während der Schulzeit können sie ihren Kindern nicht bei den Hausaufgaben helfen. Die Kinder von Akademikern schaffen dagegen meist ebenfalls einen Hochschulabschluss. Schon früh bereiten Eltern oder Nachhilfelehrer sie bei Bedarf auf ihre Prüfungen vor.

      Allerdings: Vier von zehn Akademikerinnen verzichten heute aufs Kinderkriegen. Ganztagsschulen könnten diese Situation entschärfen. Sie würden den Müttern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern und den Kindern die Förderung zukommen lassen, die ihnen das Elternhaus nicht bieten kann. Das macht auch ökonomisch Sinn. Dass Kinder in Deutschland ein Armutsrisiko sind, hat vor allem mit dem Verdienstausfall der Mütter zu tun, die zu Hause bleiben.

      Der Unternehmensberater Jürgen Kluge analysiert: " Bildung ist keine Kosten verursachende Versorgungsleistung, sondern individuell wie gesellschaftlich eine Investition, noch dazu eine lukrative." Besonders gut zahlen sich die Investitionen in die frühkindliche Bildung aus.

      Vernachlässigung frühkindlicher Erziehung belastet die Volkswirtschaft

      Fest steht, dass die Vernachlässigung der Elementar- und Primärbildung den Staat teuer zu stehen kommt. Rund vier Millionen Menschen in Deutschland sind Analphabeten - während in Ländern wie Japan jeder lesen und schreiben kann. Knapp zehn Prozent eines Jahrganges verlassen die Schule jedes Jahr ohne Abschluss. Diese Jugendlichen sind nicht ausbildungsfähig. Unter Migrantenkindern ist der Anteil derer, die keinen Abschluss schaffen, doppelt so hoch wie unter deutschen Schülern. Sie tragen ein hohes Risiko, keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden. 56 Prozent der türkischen Migranten haben keinen Berufsabschluss.


      Wissenschaftler haben festgestellt, dass Investitionen in die unteren Bildungsstufen die Zahl der Sozialhilfeempfänger senken und es zu weniger Verbrechen kommt. Der Kriminologe Christian Pfeiffer sagt, die Jugendkriminalität habe in den vergangenen Jahren zugenommen, " weil die Welt der jungen Menschen immer mehr eine Winner-Loser-Kultur wird. Jahr für Jahr steigt der Anteil der Jugendlichen, die von Sozialhilfe leben" . Im Vergleich zu 1991 wurden im Jahr 2000 doppelt so viele Minderjährige straffällig, nämlich mehr als 145.000. Für die Kosten der Jugendkriminalität ließen sich viele Lehrer einstellen.

      Besonders deutlich ist die Misere beispielsweise in Berlin zu sehen: Weil es keine effektive Sprachförderung in den Kindergärten gibt, kommen viele Migrantenkinder und Kinder aus bildungsfernen deutschen Familien ohne ausreichende Sprachkenntnisse in die Grundschule. Dort haben sie es von Anfang an schwerer als ihre sprachgewandten Mitschüler. Selbst wenn sie eines Tages den Hauptschulabschluss oder die Mittlere Reife schaffen, beherrschen sie grundlegende Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen nur mangelhaft.

      Vergeudung von Ressourcen

      Es gibt keine aktuellen Zahlen darüber, was diese Vergeudung von Ressourcen den Staat kostet. Fest steht aber, dass die meisten dieser Jugendlichen in den Arbeitsprozess integriert werden könnten, wenn sie frühzeitig gefördert würden. Darauf deuten auch die Erfahrungen der gemeinnützigen Hertie-Stiftung hin: " Wir fördern in mehreren Projekten die Deutschkenntnisse von Migrantenkindern in der Grundschule" , erzählt Claudia Finke. Die Rendite sei klar positiv: " Die Programme führen nach einer Anfangsinvestition zur Einsparung hoher Folgekosten im Sozialbereich."

      Dies gilt auch für Kindergärten und -krippen. Eine Schweizer Studie stellt fest: Jeder Franken der in die Frühförderung und Ganztagsbetreuung von Kinder investiert wird, bringt drei bis vier Franken an die Gesellschaft zurück - in Form höherer Erwerbsbeteiligung, vermiedener Sozialleistungen und zusätzlicher Beschäftigung im Bildungssektor. Unternehmensberater Kluge schätzt, dass die Rendite von Investitionen in die Früherziehung bei uns genau so hoch ist. Er kritisiert: " Das Studium ist in Deutschland fast kostenlos, die Kindererziehung dagegen ist sehr teuer und wird oft von nicht optimal ausgebildetem Personal durchgeführt."

      Bildungsforscher Birger Priddat von der Universität Witten/Herdecke sagt: " Hohe und erstklassige Investitionen in frühkindliche Erziehung sind nicht nur entwicklungspsychologisch gerechtfertigt, sondern darüber hinaus werden in dieser ersten Bildungsphase Investitionen in Humankapital getätigt, die am längsten anhalten." Er fordert höhere Investitionen in die Vorschulerziehung und den Ausbau von Ganztagsschulen, denn: " Mangelnde Erstinvestitionen verlangen später erhöhte Zusatzinvestitionen."

      In Schweden werden alle Lehrer, vom Erzieher an der Vorschule bis zum Fachlehrer, an Universitäten gemeinsam ausgebildet - und die besten sollen in die Vorschule. Bei uns gibt in den meisten Bundesländern keinen Vorschulunterricht. Warum Investitionen gerade hier hohe Renditen versprechen, lesen Sie im zweiten Teil.
      http://www.ftd.de/pw/de/1076145420758.html
      Avatar
      schrieb am 10.02.04 19:13:28
      Beitrag Nr. 177 ()
      Ich habe mir vor einiger Zeit überlegt der FDP/den Julis beizutreten, und habe mir Infomaterial schicken lassen. Der Grund warum ich der FDP dann doch nicht beigetreten bin, ist der, das mir die FDP viel zu weit links steht! Ich bin weitaus liberaler als die FDP eingestellt! Nichtsdestotrotz bin ich bei weitem nicht so radikal liberal wie die Chicago-Schule um die Familie Milton Friedmans(siehe Beitrag #95 in diesem Thread) und wie Gerd Habermann(#175) der unter anderm für die radikal-liberale Zeitschrift "Eigentümlich frei"http://www.eifrei.de/schreibt, und für die u.a. auch bereits Hans-Olaf Henkel u. Jürgen W. Möllemann geschrieben haben.

      "Eigentümlich frei" wird von Andre F. Lichtschlag verlegt, und die Zeitschrift ist mir bei weitem zu radikal. Die Zeitschrift hat meiner Meinung nach, vermutlich bereits in mehreren Artikeln die Demokratie in Frage gestellt, und sollte daher eigentlich von Verfassungsschutz beobachtet werden! Ich überlege mir aber trotzdem ob ich mir nicht die ein, oder andere Ausgabe von "Eigentümlich frei" kaufe.

      Hier noch eine lesenswerte Kritik an Habermanns Artikel aus #175:
      ___________________________________________________________
      Leute, die dem freien Markt das Wort reden und den staatlichen Einfluß in der Wirtschaft gerne zurückgedrängt (nicht eliminiert) haben wollen, reden prinzipiell keiner Lobbyfraktion das Wort.

      Wenn mit dem Wort " prinzipiell" " grundsätzlich" meinst, dann möchte ich dir doch gerne widersprechen. Viele dieser Personen wollen dann doch meist gerne, das ihr Eigentum vor der Mafia und randalierenden Gewerkschaftern beschützt werden, dass die Steuerkontrolle nicht superhaarscharf ihre Umsätze beobachtet, das Betrügereien bei der Sozialhilfe gnadenlos aufgedckt wird und das die staatliche Zentralbanken doch auch bitte schön die Inflation im Zaum hält, um ihr Geldeigentum zu beschützen.
      Die FDP übrigens war für mich immer diejenige Partei, die von den im Bundestag vertretenen Parteien am stärksten Lobbyinteressen, speziell der Rechtsanwälte vertrat. Die Kohleförderung wurde beibehalten, solange die Abschreibungsmöglichkeiten zB für den Dienstwagen auch beibehalten wurde.
      Selbst die SPD tut den Gewerkschaften ab und zu mal weh.

      Der Artikel vom Habermann liest sich erst ganz gut.
      Ich bin auch durchaus damit einverstanden, zB die Krankenversicherungsbeiträge vom Lohn abzukoppeln, und sogar dafür, eine Zweiklassenmedizin einzuführen, die in anderer Form jetzt schon existiert (abhängig vom Wohnort und der Frechheit und Gewitzheit der Patienten).

      Nur hat der Habermann kein Interesse, Deutschland als Ganzes voranzubringen sondern er möchte dem Text nach eine Umverteilung zugunsten von Single-Besserverdiener. Das ist übrigens kein Egoismus, denn der wahre Egoist möchte seinen Wohlstand und Lebensqualität vermehren und es sollte ihm dabei scheißegal sein, ob es andere gar noch besser geht.

      Ich zitiere mal: Das Kind wird als «Leistung» für die Allgemeinheit angesehen, für welche es einen Kompensationsanspruch gegenüber dem Staat bzw. dem Steuerzahler gibt. Sogar die bürgerlichen Parteien befürworten stattliche Familiengelder als sozialpolitischen Schlager. Die Kosten der Familie werden in dieser Weise sozialisiert.
      Speziell diese Anführungszeichen nehme ich ihm besonders übel.
      Fakt ist:
      Kinder sind in D bereits jetzt eine enorme Karrierebremse, im Ausland meist weniger, da dort die Kinderbetreuung vom pösen Staat übernommen wird.
      Die Korrelation zwischen Bevölkerungspyramide und Wachstum der Wirtschaften in der Welt ist augenfällig. Japan Deutschland und Italien krepeln nicht umsonst hinten herum, und der Effekt wird sich weiter verschärfen.
      Wenn man sich ein paar Gedanken macht, dann wird klar, dass eine kinderlose Gesellschaft zusammenbrechen wird, schon lang bevor der letzte Bürger gestorben ist.

      Eine andere kritikwürdige Punkt ist, das er die Steuerprogression abschaffen möchte. Deutschlands Hauptproblem ist eben, dass gerade die niedrig bezahlten Jobs zu hart besteuert werden, nicht das die Managerpöstchen nach China oder in die Slowakei abwandern. Schön wär es ja.

      Das erinnert mich bzgl. Kurzsichtigkeit doch stark an betroffenen Gewerkschaftsgesichter, die sich um die Wirtschaft sorgen machen, wenn die Arbeiter nicht mehr Lohn für den Konsum bekommen. Dieser Gewerkschafter denkt natürlich keinen Moment über die Lage der Unternehmer nach, so wie sich Herr Habermann sicher ist, dass allein sein jetzt verdientes Geld ihn pflegen wird, wenn er mal chronischen kleinzelligen Nierenkrebs, der in 20 Jahren vielleicht sich 20 Jahre hinzieht, bekommt, und das dies Geld auch seine Rente erwirtschaften wird. Pah!

      Ich habe übrigens keine Kinder, falls du mir Eigennutz vorwerfen möchtest.
      __________________________________________________________
      Die Kritik stammt aus 817886#94vom User "Puhvogel"

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 11.02.04 19:15:54
      Beitrag Nr. 178 ()
      Stern 07/04, 05.02.04

      George Soros

      Herr Soros, Sie sind ein vielfacher Milliardär, Sie sind alt, Sie ...
      Wie? Ich bin 73 und ... ...

      Sie könnten sich doch nun entspannen, Ihr riesiges Vermögen genießen. Stattdessen stürzen Sie sich in einen hitzigen Kreuzzug gegen den Präsidenten George Bush. Das ist kein Kreuzzug.

      Okay, es ist ein Krieg. Es ist auch kein Krieg, ich mag diese Worte nicht. Mich treibt Pflicht. Wir leben in ungewöhnlichen Zeiten. Die kommende Wahl ist einzigartig, das ist nicht Business as usual, nein, das müssen Sie begreifen: Es geht um Amerika, aber es geht auch um den Rest der Welt. Diese Wahlen sind eine Frage von Leben und Tod.

      Sie übertreiben. Ja? Ich fürchte, höchstens ein bisschen. Die Bush-Regierung möchte ihren Willen der ganzen Welt aufzwingen. Diese Regierung ist in die Hände von politischen Extremisten gefallen, die einer primitiven Form des Sozialdarwinismus anhängen: Das Leben ist für sie ein ständiger Kampf ums Dasein, und das Überleben wird durch Gewalt, letztendlich Krieg, gesichert. Amerika ist eine Gefahr für die Welt.

      Kritiker wie Noam Chomsky sagen schon, Amerika sei keine Demokratie mehr, sondern ein faschistischer Staat.
      Nein, nein! Das ist eine Übertreibung, die den Terror der Nazis banalisiert und die politische Diskussion lähmt. Ich habe als Kind und als Jude den Faschismus in Ungarn erlebt, ich habe die sowjetische Besatzung erfahren. Ich vergleiche Bush nicht mit den Nazis. Aber in diesem Land passiert nun, was ich nie für möglich gehalten hätte: Die offene Gesellschaft ist zutiefst gefährdet.


      So sieht es Bush auch - er meint durch den Anschlag vom 11. September 2001. Es heißt immer, diese schrecklichen Terrorakte haben die Welt verändert. Nein, die Welt wird dadurch verändert, wie die Bush-Regierung auf diesen Terror reagiert, wie sie ihn ausbeutet und für sich nutzt - bürgerliche Freiheiten beschneidet, die unumschränkte Herrschaft auf dem Globus anstrebt. Vielleicht wird man im historischen Rückblick einmal sagen: Das war der Beginn eines fürchterlichen Erdbebens - dieses Ausrufen des " Krieges gegen den Terror" .

      Und Sie sind nun derjenige, der Amerika, der die Welt vor dem Unheil rettet? Ach was. Ich bin einfach in einer Position, in der ich meine Meinung laut sagen kann.

      Andere sehen das weniger pathetisch. Zum Beispiel die Republikanerin Christine Iverson. Sie sagt: " George Soros hat sich die Demokratische Partei gekauft." Ich bitte Sie, das muss diese Dame so sagen. Sie ist eine Sprecherin der Republikanischen Partei. Aber klar, ich werde jetzt von vielen Konservativen glühend gehasst, sogar als Verräter meiner Klasse betrachtet. Ich habe bisher 12,5 Millionen Dollar für Organisationen ausgegeben, die den Demokraten nahestehen. Die Konservativen schäumen auch so heftig, weil ich mit meinem Geld für ein wenig mehr Waffengleichheit im Wahlkampf sorge. Aber es ist ja nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

      Sie hören sich an, als ob Sie für die Niederlage George Bushs sogar Ihren letzten Dollar einsetzen würden?
      Tja, wenn man mir das richtige Ergebnis garantieren könnte!


      Ist es eigentlich ein schlechtes Gewissen, das Sie treibt? Nein, wieso denn? Wie meinen Sie das?

      Vielleicht ist es ja die Hoffnung, nicht in die Geschichte einzugehen als der Mann, der mit seinen Spekulationen die Bank von England knackte - eine Aktion, die jeden Briten, Kind oder Greis, zwölf Pfund kostete. Und Sie um eine Milliarde Dollar reicher machte. Sie wollen mir ein schlechtes Gewissen einreden, lassen Sie das. Ich habe nicht gegen Gesetzte verstoßen, ich habe nur Spielräume ausgenutzt. Als ich gegen das englische Pfund wettete, habe ich einfach eine Bemerkung des damaligen deutschen Finanzministers Waigel richtig interpretiert. Aber das ist Vergangenheit.

      Für die `Washington Post` sind Sie und Ihre Wahlkampfspenden sogar eine " Gefahr" für die Demokratie: " Niemand will, dass eine Person mit einer großen Tasche den Präsidenten auswählt." Was? Ich halte mich an die Regeln. Ich erfinde keine Organisationen, sondern ich unterstüzte legale Gruppen. Gleichzeitig kritisiere ich, dass das große Geld eine so wichtige Rolle im Wahlkampf spielt.

      Das ist doch Heuchelei. Nein, überhaupt nicht. Es ist kein Widerspruch, sich an die Regeln zu halten und dennoch zu sagen, diese Regeln muss man verbessern. So habe ich es auch bei meinen Finanzaktionen gehalten.

      Aber es ist doch einfach so: Wer Geld gibt, will was dafür. Ich möchte nichts für mich. Ich bin anders, glauben Sie mir.

      Sie sind also der gute Mensch aus New York, so selbstslos, so? Halt! Ich war mal ein überzeugter Egoist, ich habe das hinter mir. Ich habe mehr als genug Geld. Deswegen gebe ich es auch aus. Da ist in mir der Wunsch, etwas für die Menschheit zu tun.

      Nochmals: Sie wollen beweisen, dass ein richtig reicher Mensch auch ein richtig guter Mensch sein kann?Vergessen Sie das. Ich möchte einfach, dass Amerika seine Rolle in der Welt neu überdenkt, internationale Verträge respektiert und mit den internationalen Organisationen ehrlich zusammenarbeitet, sie nicht einfach herumkommandiert. Ich will nicht, dass die Welt brav in Reih und Glied hinter Amerika hermarschiert.

      Schlechte Nachrichten für Sie, Herr Soros. Egal, wie Sie sich im Wahlkampf mühen, Sie haben keine Chance.
      Wieso denn? Die Zeiten sind dunkel, das stimmt. Und manchmal habe auch ich den fatalen Eindruck: Die Demokraten haben die Wahl schon abgeschrieben. Ich aber nicht.


      " Erdrutschartig" wird Bush gewinnen - das verkündet der Evangelist Pat Robertson, denn Bush hat " Gott auf seiner Seite. Gott hat ihn gesegnet, Gott hat ihn auserwählt, egal ob er Fehler macht oder nicht. Gott hat ihn gesegnet" . Ja, die christlichen Fundamentalisten reden viel von Gott, aber sie unterstützen Bush ganz weltlich mit Millionen Dollar. Es wird ein schwieriger Kampf, das stimmt, die Demokraten zerfleischen sich. Ich kämpfe trotzdem. Und was Sie hier zitieren, zeigt auch die Gefahr durch Bush. Ich weiß, dass ich Unrecht haben kann, dass ich nicht im Besitz der absoluten Wahrheit bin. Bush aber, auch die Leute um ihn herum, glauben, im Vollbesitz der Wahrheit zu sein. Sie sehen sich ja im direkten Kontakt zum Allmächtigen.

      " Eigentlich sollte ich" , hat Bush mal gesagt, " in einer Bar in Texas sein und nicht im Weißen Haus. Ich war ja Alkoholiker. Der einzige Grund, weshalb ich im Oval Office und nicht in der Bar bin: Ich habe den Glauben gefunden. Ich hab Gott gefunden. Ich bin hier wegen der Kraft des Gebetes." Er ist ein wiedergeborener Christ. Er hat persönlich Bekanntschaft mit dem Teufel gemacht, denn der Teufel war jahrelang in ihm. Er kämpft mit dem Teufel aus Überzeugung. Ich habe nichts gegen fromme Menschen. Aber ein Mensch, der mit dem Teufel in seinem Leib kämpft, den halte ich als Präsident für gefährlich.

      Wenn ich Paul O`Neill glaube, der als Finanzminister aufgab, weil er Bushs Politik der Steuerkürzungen nicht mittragen konnte, war schon vor dem 11. September geplant, den Irak anzugreifen, also hat Bush die Bevölkerung bewusst getäuscht. Ja, und überdies schürt seine Regierung seit diesem grauenhaften Tag systematisch die Angst. Terroristen sind ein idealer Feind. Sie sind unsichtbar, sie veschwinden, man muss sie ständig suchen, man kann sie ständig bekämpfen - überall. Sie sind perfekter Ersatz für den verlorengegangenen kommunistischen Feind.

      Der Feind in jenem neuen " Weltkrieg" , in dem sich der ehemalige CIA-Direktor James Woolsey zu befinden glaubt? Vermutlich glaubt er das tatsächlich. Terrorismus und Gegenterrorismus schaukeln sich gegenseitig hoch. Vielleicht hat Osama bin Laden sogar genau darauf spekuliert? Bush jedenfalls schürt bewusst die allgemeine Verunsicherung, nährt die Angst, denn verängstigte Menschen lassen viel mit sich machen. Es ist nun wie bei Orwell: Ständige Angst für ständigen Frieden. Sie benötigten dies alles, um ihren Traum der unumschränkten Herrschaft durchzusetzen.

      Wen, mit Verlaub, meinen Sie denn mit " sie" ? Es sind die Neo-Konservativen in der Regierung. Leute wie Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz. Sie wollen die totale Überlegenheit Amerikas, sie haben die geopolitischen Realisten verdrängt. In der Republikanischen Partei sind die Moderaten an den Rand getrieben worden, das gesamte politische Spektrum ist nach rechts gerutscht. Die Republikanische Partei, die Regierung sind nun in der Händen von Eiferern: Überlegenheitsfanatiker, religiöse Fundamentalisten, Marktfundamentalisten - ein gefährliches Amalgam. Sie haben in Deutschland auch Extremisten, Republikaner, Nazis, aber nicht in der Regierung. Das ist der Unterschied.

      Über 60 Prozent der Amerikaner finden es gut, wie Bush regiert. Ich bin auch erstaunt, wie erfolgreich Bush im Moment dasteht. Aber das ist diese Angst, die wie Mehltau über allen hängt und die es den Ideologen ermöglicht hat, die aggressive Bush-Doktrin durchzusetzen, die auf zwei Säulen ruht. Erstens: Amerika wird seine unangefochtene militärische Überlegenheit für immer bewahren, und zweitens: Amerika nimmt sich das Recht heraus, Präventivkriege zu führen. Und wenn man diese beiden Säulen vereinigt, schafft dies eine besondere Art der Souveranität, eine konkurrenzlose Pax Americana: Amerika steht über den anderen Staaten, Amerika steht über internationalem Recht, Amerika steht über allem. Und damit sind wir genau bei George Orwells " Farm der Tiere" : " Alle Tiere sind gleich, aber einige Tiere sind gleicher."

      Sie hören sich an, als ob Amerika das " Reich des Bösen" wäre. Nein, das wäre ein zu einseitiger Blick. Amerika ist immer noch eine pluralistische Gesellschaft. Wir haben die Rede-, Pressefreiheit, der Staat kontrolliert nicht die Medien. Gleichwohl haben wir hier etwas, das ich die " konservative Wahrheitsmaschine" nenne, und diese Wahrheitsmaschine entstellt die Wirklichkeit.

      Das verstehe ich nicht. Okay, ich habe vielleicht ein besonders feines Gespür für diesen Orwellsches Doppelsprech, ich habe ja die Nazis und die Kommunisten erlebt. Doppelsprech heißt, man gibt den Worten einen ihnen entgegengesetzten Sinn. In der Bush-Doktrin ist viel von " Demokratie" die Rede, aber gleichzeitig schränkt Justizminister Ashcroft bürgerliche Rechte rigide ein. Wenn Bush sagt, dass die " Freiheit" siegt, meint er tatsächlich, dass Amerika seine Vormachtstellung über den Globus ausbauen wird. Wenn Bush sagt: " Wer nicht für uns ist, der ist für die Terroristen" , dann schrillen bei mir die Alarmglocken. Das ist die Sprache von Machthabern totalitärer Systeme.

      Sie klingen düster. Nein, mir geht es um Aufklärung. Ich möchte, dass die Bush-Doktrin eine kurze Verirrung war - und dieses Land wieder normal wird, dass es zu den Prinzipien der offenen Gesellschaft zurückfindet, also wieder akzeptiert, dass nicht alles schwarz oder weiß ist, dass Macht nicht immer Recht hat.

      Sie machen sich große Sorgen. Doch die amerikanische Öffentlichkeit schert sich eine Dreck um die Wahlen: Höchstens 50 Prozent der Amerikaner wollen zu den Urnen gehen. Das finde ich beunruhigend, und ich glaube, dass sie den herrschenden Doppelsprech nicht entziffern können. Es ist etwas Neues für sie: Wie bei den Indianern, die mit Alkohol nicht umgehen, die sich gegen die Pocken nicht wehren konnten. Sie erkennen nicht, was auf dem Spiel steht.

      Vielleicht ist es ja ganz anders. Vielleicht sagen sie sich: Es ist egal, wenn wir wählen; es ist eine Wahl, wie viele Amerikaner sagen, zwischen Tweedledee und Tweedledum - also Zwillingen. Nein, diesmal ist es wirklich etwas anderes. Wir müssen die Bush-Doktrin ablehnen. Es ist ein Riesenunterschied, ob Mr Bush im Weißen Haus sitzt oder ein Demokrat - sei es Dean, Clark, Kerry oder Edwards, egal wer, jeder ist besser als Mr Bush. Und dafür setze ich mich ein.

      Warum sollen die Leuten Ihnen glauben? Ich habe keine Interessen, ich erwarte von niemandem etwas, ich will von niemandem etwas, mir geht es ganz altmodisch ums Gemeinwohl. Ich bin ein Philanthrop. Mit meinen Stiftungen, in die 450 Millionen Dollar jährlich fließen und ...

      ... mit denen Sie in rund 50 Ländern aktiv sind. Sie haben die " Charta 77" in der Tschechoslowakei und " Solidarno" in Polen gefördert, und Schewardnadse klagt, Sie hätten die Streikenden in Georgien finanziert, die ihn stürzten... ... habe ich die demokratischen Prozesse im auseinanderfallenden Ostblock unterstützt, vor allem auch in Ex-Jugoslawien, wo Europa so kläglich versagt hat. Ich schulde es Leuten wie dem sowjetischen Dissidenten Sacharow, dass ich mich auch in Amerika engagiere. Ich setze mein Geld jetzt da ein, wo mein Mund ist.

      In Ihrem Geschäftsleben, so hat die `Los Angeles Times` mal über Sie geschrieben, haben Sie keinen Hauch von Idealismus gezeigt. Für Ihre " Rücksichtslosigkeit" waren Sie bekannt: " Gier ist gut" , dieses Mantra des Helden Gordon Gekko aus dem Fim `Wall Street` würde perfekt auf Sie passen. Da ist was Wahres dran. Wenn Sie an der Börse handeln, denken Sie nicht an die Menschen, die durch Ihr Tun beeinflusst werden. Der Markt hat keine Moral. Der Markt denkt nur an sich, das Soziale ist ihm egal. Dafür muss die Politik sorgen - auch gegen den Widerstand des Kapitals.

      In Ihrem neuen Buch `Die Vorherrschaft der USA - eine Seifenblase` findet sich eine für einen Milliardär ungewöhnliche Anmerkung: Marx` `Kommunistisches Manifest` sei " eine interessante Lektüre" . Ja, es ist absolut faszinierend, wie genau er die Globalisierung vorausahnend beschrieben hat - mit einer großartigen, mitreißenden Sprache, und so akkurat: " Das Bedürfnis nach einem ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen."

      Vor Jahren haben Sie selbst beschrieben, wie hektisch dieses Leben mit Ihrem Investmentfonds war: " Er lebte von mir, er lebte mit mir, er schlief mit mir. Er war meine Geliebte, und ich hatte immer Angst, sie zu verlieren. Es war ein furchtbares Leben." Dieser Fonds, den ich 1969 auflegte, war meine Kreation. 1978/79 kam ich in die Midlife-Krise, meine Ehe ging kaputt. Ich stand vor der Frage: Wer ist wichtiger? Mein Fonds oder ich? Wir waren wie siamesische Zwillinge. Er verzehrte mich, er ernährte mich, er fraß mich auf. In mir tobte ein Kampf - so wie mein Vater und meine Mutter in mir gekämpft hatten. Aber ich gewann, mein Fonds verlor.

      Gott sei Dank? Ja, sicher. Sollte ich der Sklave des Systems sein, das mich ernährt? Das Leben eines Fonds-Managers ist ein fürchterlicher Stress. Sie bekommen alle mögliche psychosomatischen Krankheiten, Ihr Rücken killt Sie, Sie schlafen nicht, Sie haben nur noch den Blick aufs Geld, auf Kurse, Telefone, Zeitungen, es verschlingt sie.

      Wie? Muss ich nun den Erzkapitalisten bedauern? Nein. Es genügt, wenn ich das tue. Wenn ich nicht so unstrukturiert wäre, wäre ich gern Philosoph geworden. Wir spielen verschiedene Rollen in verschiedenen Situationen. Und als Geschäftsmann schaue ich auf die Wirklichkeit anders als der Philanthrop von heute. Aber ich habe diese zwei Seiten in mir perfekt integriert. Da war lange eine Spannung, ich habe mich analysiert - ich habe das Problem gelöst.

      Sind Sie jetzt glücklich? Sehr. Ich habe in meinem Leben mein Bestes gegeben. Ich bin an meine Grenzen gegangen. Ich habe erreicht, was ich nie für möglich gehalten hätte, denn ich hätte mit 13 Jahren in den Öfen von Auschwitz verschwinden können. Ich bin aus Ungarn nach England geflohen, habe mich durchgeschlagen, hatte das große Glück, den Philosphen Karl Popper kennen zu lernen, dessen Gedanken mich nie mehr losließen. Mit 5000 Dollar kam ich in Amerika an. Ich habe mir einen Fünfjahresplan gemacht, wollte 100.000 Dollar verdienen. Es waren dann viel mehr, und es hörte nicht auf. Da gab mir die Freiheiten, die ich nun genieße.

      Freiheit, sang mal die Rocksängerin Janis Joplin, heißt, nichts zum Verlieren zu haben. Ja, das ist auch wahr. Genau so hat mein Vater gelebt. Er hat seinen Reichtum, was für einen Bourgeois ungewöhnlich ist, ganz bewusst verlebt. Er sagte immer: Ich trage mein Kapital in meinem Kopf. Ein schöner Gedanke - vielleicht fällt es mir deswegen auch so leicht, mein Geld auszugeben, um etwas für die Menschheit zu tun.

      Es ist doch eine nette Ironie: Sie sind ein erklärter Antimarxist, aber versuchen mit Ihrem Geld, Büchern und Reden verzweifelt zu erreichen, was Karl Marx von den Philosophen verlangt hat, nämlich: die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Tja, schön wäre es, wenn ich das schaffte. Aber ich bin ja nicht Gott. Ich weiß nicht einmal, ob ich Spuren hinterlasse.


      Arno Luik
      http://www.stern.de/wirtschaft/unternehmen/magazin/index.htm…
      ___________________________________________________________
      Ein großen Denker und Philosoph!
      Avatar
      schrieb am 12.02.04 20:09:42
      Beitrag Nr. 179 ()
      in der tat. ein beeindruckender mensch. ich denke er wird spuren hinterlassen.
      danke fürs posten des artikels.
      Avatar
      schrieb am 14.02.04 15:11:38
      Beitrag Nr. 180 ()
      Revolution am Telefon
      In Zukunft telefoniert alle Welt umsonst - via Internet: Telefonate kosten dann so wenig, dass sich die Abrechnung nicht mehr lohnt. Die Großen der Branche stellen jetzt auf Internet-Telefonie um. Doch sie bekommen Konkurrenz: junge, kleine Firmen, die mit der neuen Technik überproportional wachsen

      von Constantin Gillies

      Wenn Wolfgang Peterhänsel aus Berlin-Haselhorst mit seinem Kumpel im Stadtteil Wedding telefoniert, lässt er sich Zeit. Stundenlang fachsimpeln die passionierten Computerspieler dann über ihre Strategien. Auf die Gebührenuhr schaut der 40-Jährige dabei nicht mehr. Schließlich kostet ihn das Gespräch keinen Cent. Denn Peterhänsel telefoniert über das Internet. Anfang des Jahres hat der Fernsehverkäufer einen neuen Dienst seines Internetproviders Broadnet Mediascape abonniert. Für zehn Euro zusätzlich im Monat kann er über seinen DSL-Netzanschluss auch telefonieren - und zwar mit seinem alten Fernsprechapparat. Den nötigen Adapter hat der Provider gestellt. Peterhänsel ist von dem Dienst begeistert: " Anrufe ins normale Festnetz sind ein Drittel billiger als bei der Telekom." Und Gespräche mit anderen Nutzern des Dienstes sogar kostenlos. " Ich bin schon dabei, wie wild Bekannte zu werben" , lacht er.

      Telefonieren über das Internet - über Jahre war das ein Godot-Thema: Warten auf die neue Technik. Jetzt sieht es nach einem Durchbruch aus: 2004 werden im Geschäftskunden-Bereich voraussichtlich erstmals mehr Internet-Telefone als klassische Apparate verkauft. Gleichzeitig stieg die Menge der Sprachpakete, die durch das World Wide Web reisen, im vergangenen Jahr um 80 Prozent. Experten sehen darin den Anfang einer Revolution. Ihre Prognose: Internettechnik wird das Telefonieren in den kommenden Jahren radikal verändern. Die neue Technik könnte die Kommunikationskosten der Unternehmen um mehr als ein Drittel senken, Telekommunikations-Konzerne um ihre Existenz bringen - und auf lange Sicht Telefonieren sogar kostenlos machen.

      Fortschritte in der Technik machen es möglich. Wer heute über das Internet telefonieren will, braucht nicht mehr PC und Kopfhörermikrofon dazu. Spezielle Telefone, die genauso aussehen und funktionieren wie herkömmliche Fernsprecher, sind schon für 100 Euro zu haben. Gleichzeitig ist die Zahl der dafür nötigen breitbandigen Netzanschlüsse hier zu Lande auf mehr als vier Millionen gestiegen - und wird sich bis 2006 nochmals vervierfachen. Ein Manko indes bleibt: Im öffentlichen Internet schwankt die Tonqualität immer noch, da Sprachdaten auf der Datenautobahn derzeit keine Vorfahrt haben.

      Deshalb werden zunächst vor allem Unternehmen die neue Technik namens Voice-over-Internet-Protocol, kurz: VOIP, einsetzen. In den Firmen existieren geschlossene Netze mit garantierter Übertragungsqualität - und hier sind am schnellsten Kostenvorteile zu erzielen. " Sie brauchen keine parallele Verkabelung für Sprache und Daten und nur eine Administration" , wirbt Ernst Engelmann, Business Development Manager beim Netzausrüster Cisco Systems.

      Vor allen in schnell wachsenden Unternehmen kann Internet-Telefonie seine Vorteile ausspielen. Wird etwa ein neuer Büroraum bezogen, braucht der Mitarbeiter nur sein Telefon in die - meist schon vorhandene - Datenbuchse zu stöpseln und ist unter seiner angestammten Nummer sofort erreichbar, ganz gleich ob er in Hamburg oder Hongkong sitzt. Cisco nutzt das System schon weltweit: " Ich wundere mich oft, warum die Leute so müde klingen - bis die mir sagen, dass sie gerade in unserer kalifornischen Zentrale sitzen" , lacht Cisco-Manager Engelmann. Solche firmeninterne Telefonate sind kostenlos. Vor allem Unternehmen mit hohem Gesprächsaufkommen haben das erkannt und setzen auf Voice-over-IP, etwa um Call-Center oder Übersee-Dependancen anzubinden.

      Wie viel Geld der Einsatz von Netz-Telefonie tatsächlich einspart, ist schwer zu beziffern. Hardware-Hersteller Cisco spricht von 4300 Dollar pro Mitarbeiter, die Hamburger Unternehmensberatung Mummert und Partner pauschal von 30 Prozent der gesamten Telefonkosten. Sichere Zahlen gibt es nicht. Dennoch nutzen bereits 9 Prozent aller deutschen Firmen nutzen bereits Internet-Telefonie. " Vor allem mittlere Unternehmen sind derzeit die treibende Kraft bei der Umstellung" , beobachtet Hans-Jürgen Jobst, Produktmanager beim Kommunikationsdienstleister Tenovis.

      Für den privaten Telekom-Kunden wird Telefonieren über das Netz erst langsam interessant. In den USA ist man indes schon weiter: Hier ist bereits der Kampf um diesen Markt entbrannt. Die neue Technik hat sämtliche Eintrittsbarrieren weggefegt. Um Telefonie anzubieten, sind heute keine Milliarden Dollar teuren Netze mehr nötig. Sprache ist nur eine weitere Internet-Anwendung. Jedes Unternehmen mit ein paar Servern kann Telefonie anbieten. So wie zum Beispiel das Start-up Vonage aus New Jersey. Gerade mal drei Jahre ist die Firma alt und gilt jetzt schon als das am schnellsten wachsende US-Telefonunternehmen. Für 39 Dollar im Monat können die Vonage-Kunden innerhalb der USA unbegrenzt telefonieren. Und auch der Medienkonzern Time Warner will demnächst Telefonate anzubieten - über sein TV-Kabelnetz. Dieser Trend kommt bald auch nach Deutschland: " Wir sind mit mehreren Kabelnetzbetreibern im Gespräch" , sagt Dirk Leismann, Business Development Manager beim Netzwerkausrüster Lucent Technologies.

      Verlierer der Telefon-Revolution sind die großen Telekoms. Sie müssen mit ansehen, wie dank Internet eine ihrer wichtigsten Einnahmequellen versiegt: die Vermittlungsgebühr bei internationalen Gesprächen (" Interconnection Charges" ). Für Telefonate, die unerkannt im spottbilligen Datennetz reisen, fallen diese Gebühren nämlich nicht an. Sie werden erst im Zielland wieder ins normale Festnetz eingespeist.

      " Die Telefonate werden als Ortsgespräch ins Land geschmuggelt" , erklärt Stephan Beckert, Forschungsdirektor beim amerikanischen Marktforschungsunternehmen Telegeography. Und so kostet ein Gespräch via Internet von den USA nach Hongkong einen Cent pro Minute - statt 30 beim klassischen Festnetz. Telegeography hat ermittelt, dass im letzten Jahr bereits 14 Prozent des internationalen Fernsprechverkehrs aus diesen " grauen" Web-Telefonaten bestand. Tendenz: weiter steigend. " Dadurch werden die Umsätze der Carrier stark fallen" , prognostiziert Beckert.

      Noch stellen sich die Platzhirsche taub. Die Deutsche Telekom etwa zieht sich auf die Aussage zurück, dass " VOIP in Deutschland aktuell keine große Rolle" spiele. Außerdem seien die Internet-Telefonate qualitativ minderwertig - was aber in den wenigsten Fällen stimmt. Dennoch kündigte die Festnetzsparte T-Com letzte Woche ohne großen Presserummel an, langfristig alle Netze auf Internettechnik umrüsten zu wollen. Cisco erwartet, dass schon in zwei Jahren über die Hälfte aller Unternehmen im Haus eine Voice-over-IP-Anlage haben wird. Im Endkundenbereich soll das vier Jahre dauern. Doch trotz aller Jubelprognosen bleiben Probleme. So können sich auf Grund unterschiedlicher Standards manche Internet-Telefonierer derzeit nicht gegenseitig anrufen. Außerdem ist die Technik komplex. In einem Internet-Telefon steckt in etwa die Rechenleistung eines PC aus den frühen 90ern. Und jeder Computerbesitzer weiß, was das heißt: Erst Mitte Januar fanden Sicherheits-Experten heraus, dass Internet-Telefone wegen eines Softwarefehlers abstürzen können. Alles in allem dürfte der Sieg des Netzes gegen das Festnetz langsamer vonstatten gehen, als viele Hardwarehersteller prognostizieren. Das Marktforschungsunternehmen Forrester geht davon aus, dass erst im Jahr 2020 das letzte Analogsignal durch eine Kupferader geflossen ist. Dann allerdings sei diese Szenario wahrscheinlich: Telekommunikationsfirmen verdienen nur noch Geld mit Video- und Datendiensten. Telefonate dagegen sind dann so billig, dass sich die Abrechnung nicht mehr lohnt.

      Artikel erschienen am 11. Feb 2004



      Die Technik

      Bei der Internet-Telefonie werden Sprachsignale digitalisiert und - wie der restliche Netzverkehr - in kleinen Datenpaketen über das World Wide Web verschickt. Zwischen dem Anrufer und dem Angerufenen gibt es keine einzelne Leitung mehr, anders als bei der traditionellen Telefonie. Um über das Netz zu telefonieren, ist kein PC mehr notwendig. Der Teilnehmer kann über spezielle Adapter seinen alten Apparat direkt an den Internet-Anschluss anschließen. Oder er kauft ein spezielles IP-Telefon. Auch die Rufnummer des Teilnehmers ändert sich nicht. Voraussetzung ist in jedem Fall ein schneller Netzanschluss.

      Wer mit anderen Internet-Telefonierern spricht, telefoniert kostenlos. Das ist nicht zuletzt für Unternehmen interessant: Da viele die Arbeitsplätze ihrer Mitarbeiter ohnehin mit einer Internet-Standleitung ausgestattet haben, fallen keinerlei zusätzliche Gebühren an, wenn die Leitung auch noch zum Telefonieren genutzt wird. Außerdem nutzt die so genannte Voice-over-IP-Technik vorhandene Netze besser, da nur Datenpakete geschickt werden, wenn auch gesprochen wird. In Gesprächspausen fallen keine Daten an. Dann herrscht im Hörer eine derart bedrückende Stille, dass einige IP-Telefone ein künstliches " Wohlfühlrauschen" einblenden.

      Nachteil: Bei Stromausfall funktioniert das Telefon nicht, es können keine Faxe verschickt werden. Zudem gibt es im öffentlichen World Wide Web keine garantierte Sprachqualität, da Sprachdaten hier noch keine Vorfahrt haben. cg

      Artikel erschienen am 11. Feb 2004

      Quelle:
      Avatar
      schrieb am 14.02.04 16:58:30
      Beitrag Nr. 181 ()
      22. Januar 2003

      Trau keinem 68er !

      Von Bettina Röhl



      In den Medien werden zur Zeit schwarz – grüne Phantasien als Weg zum Glück beschrien. Locken die Grünen die Konservativen in ihr eigenes Waterloo ?

      von Bettina Röhl



      Die jüngste Legende, die 68 derzeit der Gesellschaft dekretiert, heißt: 68 ist tot. Die 68er seien bereits aus demographischen Gründen eine aussterbende Spezies.

      Die 68er achten strikt darauf, dass es ausschließlich ihresgleichen sind, die sich „kritisch“ mit 68 auseinandersetzen ( dürfen). Wer nicht 68er ist und das Maul aufmacht, ist dümmlich, redet über Dinge, von denen er nichts versteht, ist ewig gestrig oder gar rechts ( radikal).

      Dieser Meinungsterror ist gesellschaftlicher Konsens, Konsens der öffentlichen oder zumindest der veröffentlichten Meinung. Ein bisschen angereichert mit ein paar so genannten konservativen Stimmen.

      Tatsächlich ist 68 die Messlatte der politischen Korrektheit. Das ideenlose bürgerliche Lager wehrt sich allenfalls durch Passivität, durch ein paar Luftblasen und apportiert permanent die eigene Existenzberechtigung und überhaupt, man sei gar nicht soo schlimm und hätte ja auch sehr viel gelernt.

      Der durchschnittliche 68er ist zwischen 50 und 70 Jahre alt, also in einem Alter, in dem typischerweise die Machtpositionen besetzt werden. Die Generation zwischen 40 und 50 teilt sich in 2/3 stramme Nachwuchs – 68er und ein knappes Drittel inzwischen eingeknickter Yuppies. Wie da die Legende des demographischen Endes der 68er überhaupt Platz greifen konnte, bleibt unverständlich. 68 hat sich längst verselbständigt und ist Generationen- unabhängig die herrschende Denk – und Indoktrinationswelt geworden.

      Ein paar Girlies und ein paar halbstarke Superstars und ein paar smarte ober - und altkluge Medienmenschen ändern an dem Gesagten wohl kaum etwas. Auch ein paar Jungkonservative stehen auf verlorenem Posten, woran auch nicht erreichte 18 % der Wählerstimmen oder selbst auch mal eine gewonnene Wahl nichts ändern. Die Apparatmacht in Staat, Mediengesellschaft und Gesellschaft, Kunst und Wirtschaft, Wissenschaft und Lehre bleibt in der Hand der 68er. Die lange Resistenz der Wirtschaft und der Gewerkschaften, die aus unterschiedlichen Traditionen 68 ablehnten, ist längst Vergangenheit.

      Die verkrampften und spaßunfähigen 68er haben in ihrem wissenschaftlich – atheistischen Sozialismus ihre eigenen Götter Marx und Freud ( Jung und Reich, Lenin, Mao und Che Guevara ) personenkultig götzenhaft angebetet. Es war ein Leichtes für sie mit ihrem eigenen Sektenkult in Gestalt ihrer geistig überlegenen Süffisanz und mit ihrem selbst empfundenen Anspruch der Weltbelehrung und geistigen Welterneuerung, der größenwahnsinnige Züge trägt, alle Anfeindungen und Herausforderungen seit 35 Jahren bis heute mühelos zu kontern und zu überdauern.

      Die Ende der Achtziger zum Massenphänomen gewordene Esoterik haben die 68er quasi anschließend an ihre alte Drogen - und ein wenig Baghwan - Erfahrung schnell geentert und ihrem System längst einverleibt.

      Die Esoterik ist eines der Einfallstore der 68er in das Managerwesen der Wirtschaft geworden, wo Placebo und Autohypnose, selbstverständlich an knallharten Erfolgszahlen gemessen, Standartgedanken geworden sind. Viele so genannte Leiter von Managerkursen für Top – Leute werden von ergrauten esoterischen 68ern und Nachwuchs – 68er geleitet, die die Power hemmungsloser Durchsetzung und die Konditionierung des Ichs des Individuums angeblich in betriebswirtschaftlichen Nutzen umwandeln helfen.

      Die Psychologie ist eins der großen Felder, auf denen die 68er die Macht übernommen haben, weshalb alles wissenschaftlich von Kapazitäten testiert abläuft. Da wird die große Kohle verdient. Von links, von sozial keine Spur. Seitdem 68 in Staat und Medien die Herrschaft übernommen hat, was unter Helmut Kohl sukzessive passierte, spielen die immer zahlreicher werdenden Verlierer keine Rolle mehr. Die schießt man aus dem Sozialsystem raus mit dem eleganten Begriff der Ich –AG. Wie gut, dass 68 immer gleich auch die Kritik mitliefert, die zur eigenen Machtanreicherung gehört, und das Wort „Ich – AG“ schnell zum Unwort des Jahres kürt.

      Als ich ein kleines Kind war, lehrte mich meine Mutter Ulrike Meinhof, dass Strauss, Barzel und co. das schlechthin Böse seien. Naiv dachte ich, dann muss ja Willi Brandt das schlechthin Gute sein und war enttäuscht und auch ein bisschen böse, dass ich nach der Wahl von Brandt zum Bundeskanzler 69 zu hören kriegte, dass der Brandt auch nur das kleinere Übel sei, da Brandt – so erklärte sie es mir kindgerecht - die Welt nicht umstürzen, sondern nur revisionistisch reformieren und ansonsten erhalten wolle. Das Ziel sei jedoch die Zerstörung des Staates, damit ich später, wenn der Kommunismus ausgebrochen sei, den sie und ihre 68er – Genossen durchsetzen wollten nur auf den Markt gehen brauchte, um mir meine Kleider ( sie sagte „Hosen“ ) und alles was ich wollte, kostenlos, soviel ich brauchte, zu holen. Fragen, Zweifel oder gar Kritik meinerseits ließ Ulrike Meinhof gnadenlos nicht zu.

      Als ich wenige Jahre später auf dem altehrwürdigen humanistischen Christianeum meiner Erinnerung nach in der fünften Klasse mit einem der wenigen waschechten 68er – Junglehrer ins Diskutieren kam, weil uns dieser Lehrer aufgefordert hatte, zu diskutieren und gegenüber Autoritäten kritisch zu sein, wurde ich eifrig und kritisierte eben diesen Lehrer, weil er die eingeführte so genannte brainstormingartige „Quatsch - Stunde- eigentlich eine der fünf regulären Deutschstunden, die der Lehrer umfunktioniert hatte, zu einer reinen Quatschstunde entgleiten ließ. Der strikte und harsche Bescheid des Lehrers, der doch nun selber die Macht der Autorität gegen alles Böse von oben in Händen hielt, war, dass es so nun nicht ginge, ich müsse schon das Richtige kritisieren. Gemeint war wahrscheinlich der Klassenfeind von oben, der den Lehrer satt und zufrieden stellend alimentierte.

      Diese kindlichen Erfahrungen haben an Gültigkeit kaum etwas verloren. Selbst, wenn die 68er, wie jetzt, flächendeckend an der Macht sind, ist es nicht im eigentlichen Sinn die Opposition die opponiert, sondern das moralisch – überlegene Monopol des Gegen –den - Imperialismus - und - die - Reaktion - Seiens, des Gegenseins schlechthin, des Kritischseins, des überhaupt Nachdenkens und Experimentierens haben die moralisch - überlegenen Linken zu ihrem höchst eigenen Ding erhoben.

      Das öffentlich verordnete Denkkartell 68 fällt nicht mehr auf, weil es inzwischen über zwei Generationen das Maß der Dinge geworden ist. Normal Null im Koordinatenkreuz der auf diese Weise gerade nicht mehr möglichen geistig – politischen Auseinandersetzung ist 68 geworden.

      Der gesamte geistige In – und Output läuft durch den Filter 68 und so ist es verständlich, dass die ersten tüddelig gewordenen 68er auf ihre eigene Geschichte hereinfallen und verkünden: 68 gibt es nicht mehr, weil das, was schlicht real existiert, natürlich in der Tat nur schwer wahrgenommen werden kann.

      Die konservativen Politiker beklagten jüngst, dass sie keine adäquate Repräsentanz in der Kunstszene haben und unterstellen dabei, dass es eine freie Kunstszene gibt, die sich frei mehrheitlich für links entschieden hätte.

      Seitdem links unsozial heißt, aber dafür an der Macht ist und die sozial Schwächeren mit der alten Soziallegende alle vier Jahre einmal turnusmäßig an die linke Wahlurne gescheucht werden. machst Du als Künstler Kohle, wenn Du links bist. Insofern fällt die Entscheidung links zu sein, weder ganz freiwillig, noch ist sie völlig unverständlich.

      Links hat zwar eine erdrückende Kastration der Meinungsfreiheit mit sich gebracht, die linken Künstler schreien aber nach wie vor: Mehr Demokratie wagen, mehr soziale Gerechtigkeit und schlicht und ergreifend mehr verruchte, gemäßigte Revolution. Auch nach wie vor hat links okkupiert: mehr Emanzipation, mehr Freude, mehr Spass und einfach mehr Sex. Apropo Sex; die 68er, die größten Sex- Stümper mit ihren Erektions -Turn- und Psychoübungen und ihren Orgasmusproblematisierungen haben das Kunststück vollbracht, dass sie das Image der sexuellen Revolution voll und ganz für sich beanspruchen. Welcher kleine bürgerliche Spießer erblasst da nicht vor Neid und ordnet sich da nicht auch gleich noch politisch unter.

      Du sollst Dich revolutionieren ! Was das genau heißt, weiß niemand. Aber schon mal Mitglied in der Sekte 68 zu werden und das ABC auswendig zu lernen, kann nicht schaden. Sei subversiv, kämpfe an Deinem kleinen Platz, demonstriere, geh in die Gesellschaft und belehre und bekehre Dein Umfeld....

      Die Demonstrationskultur hat zwar seit 98 an Schwung verloren, aber es ist doch erstaunlich, wie intensiv heute von oben organisiert noch gegen einen fiktiven revisionistischen Gegner, der überhaupt nicht mehr benannt werden kann, in einem Staate, in dem 68 die Macht selber an sich gerissen hat, demonstriert wird. Mutig bringen Künstler dem Kanzler Schröder im eigenen Hause Protestnoten, um die bösen Teile der Gesellschaft zu überwinden und um ihn Weltpolitik zu lehren, die er selber längst verstanden hat.

      Der Kunst immanent ist das Argument des Experiments, die Suche nach Neuem, der Attacke auf das Bestehende, auf das nun in Wahrheit links gewordene Establishment und insofern ist es eine fatale Verwechslung, wenn in der aktuellen Situation die Kunst diese positiven Kräfte in Erfüllung alter, linker obrigkeitskontrollierender Ideen auf sich selber hereinfällt und die meisten und wertvollsten positiven revolutionären Kräfte einäugig und total reduziert und damit langweilig in den vorgegebenen linken Kanal verpuffern lassen. Diese Art von so genannter politischer Protest und Unkunst von regierungsamtlichen Kunstbeamten erinnert doch stark an die Kunst im Kommunismus.

      Eben noch kämpfte Bohlen mit der Schwerkraft des kleinen Dieter und nun wird er im bereits wieder verpufften Konzert einer bürgerlichen „Revolution“ in den Feuilletons zu einer konservativen Künstlermedienblase gierig verwertet, der einzigen, der man habhaft werden konnte.

      Ein wenig attraktiver Steuersong, der nicht einmal besonders kanzlerkritisch ist, und auch die Interpretation offen lässt, dass der selbe Song auch gegen einen Kanzler Stoiber gesungen worden wäre, der sich immerhin mit derselben wirtschaftlichen und finanziellen Situation hätte auseinandersetzen müssen, ist morgen wieder vergessen, weil er weder formal Kunst war noch inhaltlich etwas bot. Es ist aber erschütternd wie eine wahrscheinlich überwältigende bürgerliche Mehrheit im Lande der Dichter und Denker einem solchen Steuersong mit der Hoffnung hinterherläuft, dass nun endlich einmal links abgewatscht wird und dass man nun endlich einmal von den gestrengen 68ern anerkannt wird, dass man auch furchtbar witzig sein kann. Der angekündigte „Es wird alles wieder gut – Song“ macht die Nullnummer, der die Konservativen gierig hinter her gelaufen sind, in besonders drastischer Weise deutlich.

      Wenn Konservativismus nichts anderes mehr bedeutet als ein bisschen auf Big Brother – Container zu machen, ein bisschen dem Superstar – Mediengau zu applaudieren, und ein bisschen Spass und Nonsense auf die Beine stellen und immer Obacht zu geben, dass es nicht politisch wird, dann beweist dies, wie durchgängig der Sieg von 68 ist.

      Die besondere deutsche Ausprägung von 68 - auch die 68er können nicht davon lassen, das deutsche Wesen besonders gründlich und besonders teutonisch für überlegen zu erklären, obwohl sie dieses Sprüchlein gern den Konservativen um die Ohren hauen – lag in der jüngeren deutschen Geschichte, die in der Tat eine unideologische, gesellschaftliche Erneuerung erforderlich gemacht hätte. Ironischerweise ist festzuhalten, dass 68 und der ambivalente Anti- Amerikanismus aus Amerika importiert wurden und nicht originär deutschen Ursprungs sind, weshalb die nachträgliche Legende, dass 68 aus einem mutigen Kampf deutscher Studenten und Intellektueller gegen Adolf Hitler dreißig Jahre nach Hitlers Tod entstanden sei, eine plumpe Geschichtsklitterung ist.

      68 war eine hysterische Hasskampagne gewürzt mit den Errungenschaften der sechziger Jahre, Pille, Pop und pralles Taschengeld. Hinzu kam unterschätzte Assistenz aus Ostberlin, eine unterschätzte Assistenz aus dem Bereich der verbotenen West – KPD, der Einfluss der Dritte – Welt – Krieg – Phantastereien von Mao Tse Tungs in Vietnam und in der chinesischen Kulturrevolution, die die 68er – Führer fanatisch predigten und eine unterschätzte Assistenz aus dem Bereich der enorm großen, links beherrschten Vermögen in Gestalt eigener Unternehmen, eigener Verlage, eigener Zeitungen oder auch der mehrheitlich links beherrschten öffentlich geförderten Projekte, Stiftungen und der Mehrzahl der öffentlich – rechtlichen Banken oder quasi öffentlich – rechtlichen Bankinstitute. Heute sagen die 68er - Veteranen, man kann sich das nicht mehr vorstellen, wie schlimm damals in den Siebzigern alles noch war. Damals sei jede Gewalt gegen diesen imperialistischen, revanchistischen Willi Brand – und Helmut Schmidt – SPD - Staat gerechtfertigt gewesen. Dass dies im besten Fall Quatsch, im verwerflichsten Fall bösartige Legendenverbreitung war, beweisen die nämlichen 68er, die heute unter dem Deckmantel von Terrorismus und kritischen Staatsfinanzen den Rechts – und Sozialstaat an allen Ecken und Enden kastrieren und meilenweit zurück schrauben.

      Kohle spielte im linken Lager nie eine Rolle. Über Geld sprach man nicht. Geld hatte man. Die Linken haben uns gelehrt, Geld sei Macht. Recht haben sie. Herrschaftswissen sei Macht. Rechts haben die Linken. Das Arbeitsrecht, dass die Linken in einer Weise einschränken, wie es sich eine konservative Regierung nicht mal hätte ausdenken können, galt vor allem als 68 noch nicht an der Macht war und dann vor allem für die private Wirtschaft. Für die linksdominierten Unternehmen galt das Arbeitsrecht kraft Gesetzes zwar gleichermaßen, da wusste man sich aber vielfältig praktisch zu helfen.

      68 hat keineswegs die Themen, die sich objektiv stellen, aber alle Themen, die öffentlich gestellt wurden, beherrscht. Keins der Probleme wurde von 68 gelöst. Lösungen waren auch nicht mal intendiert. Ostpolitik, Schwangerschaftsabbruch, sterbender Wald, Geschwindigkeitsbeschränkung, Dosenpfand, Sozialkundeunterricht statt Mathematik, ein Thema nach dem anderen wurde monopolisiert und für Wahlentscheidungen missbraucht und bevor es um Sachentscheidungen gehen konnte durch ein neues Thema für eine neue Wahl ersetzt. Wenn irgendwas schief ging, war sofort eine hoch dotierte 68er – Psychoassistenz zu Hilfe. Wenn etwas schief geht reklamiert 68 eben, dass man die Sache positiv sehen solle, weil man sie doch „ein Stück weit“ voran gebracht habe.

      Die Revolvermentalität der 68er, die ihr krankes Selbstlob und die Fakten verfälschende Darstellung ihrer Geschichte so oft in den Medien, in den Talk – Shows, in den Schulen, Universitäten und in tausenden von Büchern revolvierten bis nicht nur sie selber gläubig an ihren eigenen Lippen hängen, sondern auch der Rest der Gesellschaft vermeiden auf diese Weise sehr stringent der ihnen obliegenden Beweislast für ihre Behauptungen Genüge zu tun.

      Konkret bitte schön, meine Damen und Herren 68er. Wo ward Ihr die charakterlich Überlegenen und die die Gesellschaft voranbringenden Geister ?

      Das lustigste Beispiel : Die 68er reden soviel über ihre sexuelle Revolution, die die vor ihnen im Trend liegenden Hippies versuchten, dass die Nachgeborenen irgendwie zwischen Schuldgefühl, Selbstzweifel Bewunderung und ganz viel Neid mit großen staunenden Telleraugen auf ihre Eltern schauen, die es so doll getrieben haben, dass diese Nachgeborenen glauben, dass sie ohne die entfesselten Sexualinnovationen ihrer Eltern überhaupt nicht gezeugt worden wären, als ob nicht vor den 68ern vermutlich tausende von Milliarden Menschen gezeugt worden waren und die 68er dagegen kläglich zugeben müssen, dass sie ein Baby – Mangel produziert haben, den sie flugs den Pillenknick nannten. Als ob die arme Pille Schuld daran sei, dass weniger, aber dafür zigfach problematischer, Verzeihung, problematisierter, und mit einer größeren Zahl unterschiedlicher Partner rumgebumst wurde. Statt den Segen der Pille zu nutzen und Liebe zu machen, faselten die 68er damals Tage, Nächte und wochenlang darüber rum, wie Sex zu sein hätte und diskutierten ihre angeblichen Beziehungskisten aus, bis der letzte Tropfen Östrogen und Testosteron und jede Erotik und jeder Sex sie verlassen hatten.

      Dass die 68er Ende der siebziger nach Poona in Indien fliegen mussten, um ihren „Kopf los zu lassen“ und ihren Unterleib doch noch auf Touren zu bringen, zeigt in welcher Wohlstandsgesellschaft die 68er von ihren Nazieltern aufgezogen wurden.

      Schaut Euch die fahlen, grauen 68er von heute genau an, wie sie auf der Straße unverkennbar in ihrer Selbstimitation ihrer längst vergangenen Studententage herumschleichen, da lobt man sich doch die fidelen Rentner, die auf Mallorca einen los machen.

      68 überzog die Republik mit dem Thema Datenschutz und ist kaum an der Macht rigoros dabei unter Ausnutzung der an sich gerissenen geistigen Führerschaft den Überwachungsstaat zu etablieren. Gegen Terroristen kämpfen, ja klar, aber nicht mit Gewalt, aber dafür den Normalbürger der 99,999 % der Bevölkerung ausmacht, immer strikter überwachen – das ist schick, zumal man weiß, dass damit endgültig der Blick auf die Welt, die größer ist, als 68 unterdrückt wird: 68 für immer.

      Einst wussten die 68er, die sich zunächst um die Nazivergangenheit Deutschlands weit weniger bemühten als heutzutage, dass sie auch ohne das Unrecht der Vätergeneration allem Dagewesenen und insbesondere den eigenen Eltern und Großeltern rundum überlegen waren. Dass sie den Gleichaltrigen, meist leise tretenden Nicht – 68ern in jeder Hinsicht voraus waren, stand ohnehin fest. Mit den grauen Haaren der 68er wuchsen neue Generationen heran. Denen erzählte man einen vom Pferd über die - in satten Jahren aufgewachsen - eigene, gelebte Vergangenheit. Die 68er sind so die Oberlehrer der Eltern wie der Kinder und der Kindeskinder und dulden, da verstehen sie keinen Spaß, keinen Widerspruch. Im Gegenteil, sie verlangen strikte Anerkennung und Unterordnung. Wir haben schließlich nach 20 000 Jahren schief gelaufener Menschheitsgeschichte Demokratie und Modernität über Euch gebracht. Falls noch jemand eine andere Meinung hat, schlagen die 68er – Veteranen mit Marx und Freud zurück und scheuen dabei nicht davor zurück Menschen zu zerstören. Therapiewütig wie sie sind, haben sie auch gleich ein Umerziehungsprogramm parat.

      68 ist ein Moloch, der alles frisst. Die Idee Rückzug ins Private und die Politik möge sich aus dem Privaten fernhalten, ist also kontraproduktiv, weil 68 in einem solchen Falle unaufgefordert die Bedingungen des Privatisierens diktiert.

      Klar, dass diese 68er bei dem Thema ewiges Leben / Gentechnik – ein Thema zu dem sie schon früh gegen fiktive Konservative angekämpft haben – nun plötzlich, wo dieser ewigen Jugend 68 das Alter droht, eine spürbare Enthemmung in die Gesellschaft gebracht haben und ein beredtes Schweigen an den Tag legen. Schließlich weiß jeder echte 68er für sich selber- Gott und den Himmel gibt es nicht – dass er es eigentlich verdient hätte ewig zu leben und der Gesellschaft ewig zu dienen, um ihr auf keinen Fall als wertvolles Mitglied abhanden zu kommen. Klonideen und Wiedergeburtsgedanken der Esoterik mischen sich bei den 68ern unheilvoll und ganz nebenbei: die Andersdenkenden werden auf keinen Fall geklont, die sollen gefälligst aussterben

      Die neueste 68er – Idee, in die man dort regelrecht verliebt ist, geht so:

      Die gute Erfahrung der einst DDR – gebusterten Sonder - 68er – Partei der Grünen, die in der Koalition seit 98 die gute alte Tante SPD so ausgelutscht hat, dass sie nur noch ein geistig – politischer Schatten ihrer selbst ist, soll nun wiederholt werden. Dieselben Grünen haben einst einen blühenden und durchsetzungsstarken Holger Börner in Hessen zu Wut und Verzweiflung und vielleicht sogar in einen frühen Tod getrieben. Man hat also Erfahrung. Man möchte in einer grün- schwarzen Koalition jetzt CDU und CSU anpacken und vampirartig aussaugen und eine kleine belächelte FDP sich selber erledigen lassen. Jetzt will man endlich an die bei der CSU und CDU vermuteten letzten Wirtschaftstöpfe mal so richtig ran.

      Die schwarz – grüne Koalition wird von selbst verliebten Journalisten die dem so genannten Strukturalismus anheim gefallen sind, schwelgerisch und inflationär herbeigeredet und wieder gehen die 68er aufs Ganze. Die grüne Verpflichtung zur Natur, die es im Angesichte der politischen Kampfmaschinen, die die Grünen führen, wohl allenfalls an der so genannten grünen Basis gibt, und der Schöpfungsgedanke des verachteten Christentums, dass man nun plötzlich bei den Christunionisten, die man ewig als unchristlich gescholten hat, ansiedeln möchte, seien doch, so die Überfliegergedanken, die beiden Seite der selben Medaille, so dass einzig und allein eine grün – schwarze Koalition den wirklichen Sinn sui generis mache. Manch ein CDU – Mann ist von soviel grünem Interesse und plötzlicher „Anerkennung“ geschmeichelt und fühlt sich endlich auch einmal so richtig dazugehörig.

      Fischer wird parteiloser erster Kaiser von Mitteleuropa, ein Bürgerkaiser selbstverständlich, schließlich ist Fischer genauso kleinwüchsig wie Napoleon. Das passt schon einmal. Ansonsten Stoiber ist ein guter Onkel, Merkel eine gute Tante und Merz ein nützlicher Technokrat und die bringen die Mehrheitsmacht und die sogenannten Ex – Streetfighter, K- Grüppler und Mao -. Anhänger und Pol Pot – Fetischisten üben die Macht aus, bis die CDU und CSU ausgelutscht am Boden liegen. Dann schaun wir mal weiter.

      Die 68er tun alles für den Menschen an und für sich und schlecht hin. Das Individuum ist unwichtig. Die Struktur zählt, der richtige Geist zählt und das ist der heilige Geist 68. Gleichzeitig gelingt es den 68ern nachhaltig, um das inhaltsleere Zauberwort der Grünen hier einmal zu benutzen die Öffentlichkeit denken zu machen, dass das individuelle, private Glück nur mit ihnen zu haben sei und die soziale Gerechtigkeit sowieso.

      Wenn sich keine konservative Ideenkraft formiert, die in der Lage ist, den gigantischen Fake 68 zu dekuvrieren, wird 68 die Nachfolge der christlich abendländischen Kultur übernehmen. 68 ist auf dem besten Wege dazu und alles anders als weg. Die 68er lachen sich, wie die berühmten Gurus, die ihre Jünger finanziell und mental auspressen und ihnen Askese predigen, schlapp, wenn sie ihr auf billiges Öl gestütztes Luxusleben führen und die Amis dafür schelten, dass sie für sie die Drecksarbeit machen, und Ölquellensicherung betreiben. Es ist eben dreifach witzig zu herrschen, moralisch überlegen zu sein und die Beherrschten nach Strich und Faden zu verarschen.

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      Dieser Artikel erschien in gekürzter Form in der Februarausgabe der Zeitschrift „Eigentümlich frei"
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      http://www.bettinaroehl.de/Die_68er/Die_68er/die_68er.html

      Die Journalisten(und Tochter von Ulrike Meinhof) Bettina Röhl ist übrigens seit kurzem auch hier bei wallstreet-online Thread: Der grosse Basar -- Buch von Daniel Cohn-Bendit aktiv. Username: B.roehl

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 21.02.04 22:21:17
      Beitrag Nr. 182 ()
      @thomtrader

      Dein freundliches Einverständnis voraussetzend, habe ich das Posting #181 in den Thread: Die amerikanische Verschuldungsmaschine reingestellt.

      MfG :cool:berossi
      Avatar
      schrieb am 23.02.04 23:50:29
      Beitrag Nr. 183 ()
      Mrs. Rose Blumkin: A Study of Capitalist Success


      While attending the 2000 Berkshire Hathaway shareholder`s meeting Mr. Buffett and Mr. Munger advised that having good models is extremely important. I decided to study Mrs. Rose Blumkin and see how she was so successful at the Nebraska Furniture Market (NFM). In the first section of the article will be an overview of her life. The second section will discuss what can be learned from her example.

      Mrs. Blumkin (or Mrs. "B" as she was known) was born in Minks in 1893. Her father was a rabbi while her mother supported the family by operating a small grocery store during the day. Mrs. B once stated that it was seeing her mother work so hard that provided her the inspiration to better their condition.

      The next major event in her life was when she married a shoe salesman named Isadore Blumkin in 1913. In 1914, Isadore left Russia to avoid the military conscription occurring as a result of World War I. She followed him to the United States three years later. She supposedly made it across the Russian border by bribing a border guard. She told the guard she would bring him back a bottle of vodka if he would let her across the border. Mrs. B met her husband in Iowa (she later sent for her father, mother and seven other family members) after arriving into the United States by boat.

      She arrived in the United States with approximately $66 in her pocket and was unable to speak a word of English (her daughter later taught her the language). Her family did fairly well until the Depression hit, when to prevent them from starving to death, she went around to local stores to check their prices. She then printed 10,000 circulars offering to dress any man from head to toe for five dollars. The day after she circulated the fliers she made $800. This is a typical example of the immense spirit Mrs. B had.

      In 1937 Mrs. B decided to do something along bigger lines, she opened the Nebraska Furniture Market in the basement of a local pawn shop in Omaha, Nebraska. She had one basic rule that she always followed, "Sell cheap and tell the truth". She borrowed $500 from her brother to purchase $12,000 worth of furniture in Chicago. She bought the furniture at 5% above wholesale, and resold it with a 10% markup, thus applying her basic rule of always selling cheap. She named her store after the store in Chicago where she purchased the furniture, the American Furniture Mart. Her showroom measured 30 feet by 100 feet. In stark contrast to the approximately 75 acres the store covers now! The first month the business was in operation she was unable to sell all the furniture so in typical form she sold most of the furniture in her own home to pay the bills

      She persevered in her business endeavors, even when local storeowners took her to court for violating the Fair Trade Laws. She not only won the case, she attained invaluable publicity at the same time. At the conclusion of yet another court case where she proved she just sold furniture cheaper than the other businesses in town, she sold a carpet to the judge residing over the case!

      In May 1984, Mrs. B was granted an Honorary Doctorate in Commercial Science by New York University, the first woman to ever receive a prize the school reserves for world-class captains of industry. Omaha`s Creighton University had also honored her by presenting her an honorary doctor of law degree a few weeks earlier.

      She worked tirelessly, and at the age of 91 she made this comment to a newspaper, "I come home to eat and sleep, and that`s about it. I can`t wait until it gets daylight so I can get back to the business". When she developed problems with her legs she purchased a motorized cart (nicknamed the "The Rose B."), in which she sped around the store. She joked that she drove it "like a Russian Cossack."

      Warren Buffett purchased 90% of the Nebraska Furniture Mart for $55 million in 1983 with a handshake with Mrs. B. He must have been watching the business for a long time since he made a comment to Adam Smith in Supermoney (published in 1972) that he would buy that business someday. He would later say of this transaction. "I would rather have her word than that of all the Big 8 auditors - it`s like dealing with the Bank of England". When Mrs. B sold NFM to Berkshire Hathaway, she made marks on the contracts instead of signing it, because she could neither read nor write.

      Mr. Buffett had this to say about the business in his 1984 Letter to Shareholders:

      "I have been asked by a number of people just what secrets the Blumkins bring to their business. These are not very esoteric. All members of the family: (1) apply themselves with an enthusiasm and energy that would make Ben Franklin and Horatio Alger look like dropouts; (2) define with extraordinary realism their area of special competence and act decisively on all matters within it; (3) ignore even the most enticing propositions failing outside of that area of special competence; and, (4) unfailingly behave in a high-grade manner with everyone they deal with. (Mrs. B boils it down to "sell cheap and tell the truth".)"

      In May 1989 Mrs. B quit the furniture Mart after disagreeing with other members of the Blumkin family about the remodeling and operation of the carpet department. So at age 96 she started another company selling carpet and furniture. She made peace with her family and Mr. Buffett in 1992 when she sold the new business back to NFM. This time, at the age of 99, Berkshire Hathaway insisted she signed a non-compete agreement with them.

      Mrs. B was also a generous philanthropist; she donated $1 million to help the Jewish Federation of Omaha build a new 119-bed nursing home and later donated an additional $500,000 to the same cause. When she was asked why she was so generous to this cause she explained that she had received a meal from the Hebrew Immigrant Society upon her arrival into the United States. She then said to herself that she would do something nice sometime for the Jewish people who had once been so kind to her.

      She was also saved The Rose, a classic downtown theater, from demolition.

      Mrs. B passed away on August 09, 1998 at the age of 104. Over 1,000 people attended her funeral. Upon hearing of death, Mr. Buffett said, "We are partners. And in most ways, she`s the senior partner. She`s forgotten more than I`ll ever know."

      What an incredible life Mrs. B lived. What lessons can be learned from her life? It is striking how much how focused she was, she started the business with a definite merchandising plan in mind and followed it with exacting precision.

      She instinctively understood the advantage of building a moat around her business and she kept stocking the moat by keeping prices low through a combination of low margins and tight expense control.

      Her perseverance when challenged was astonishing. She came to the United States not speaking the language, being illiterate, having little capital to deploy, she even had the local merchants against her, and yet she worked at her labor of love successfully for the rest of her life (even after her legs had given out!).

      Loving your line of work seems to be a key part of business success, Mrs. B clearly loved her work and the results show it. A great example of this was when Mrs. B sold off her own families` furniture to pay bills during a soft period after the Korean War began. She also had to receive a loan during this period to stay in operation; after she paid that loan off she never took on debt again!

      Honesty is a virtue and customers know (and spread the word) when a merchant has been honest and has treated them fairly. I`m sure the publicity surrounding her trial for selling merchandise so cheaply must have helped enormously in the fight for customer recognition, can you imagine the newspaper headlines!

      The business motto, of "sell cheap and tell the truth" is a great example of how to differentiate yourself from other businesses; however, the love of your work must be present for it to be an enduring success.

      Mrs. B also presented a good example on the issue of philanthropy. She gave a portion of her hard-earned income to several good causes in the Omaha area. Her life and business experiences are great models to emulate.

      http://www.focusinvestor.com/blumkin.htm

      "Anyone would learn a lot more from watching this business for a few months than from going to business school."-Warren Buffett

      Rose Blumkin`s Success = vision + work ethic + unwavering commitment to low price and service + history and reputation + execution.

      "No plans to retire - ever"
      -Rose Blumkin


      ROSE BLUMKIN`S BUSINESS TENETS:

      · The customer is always first. Give them what they want and they`ll keep coming back.
      · Spend 100 percent of your time with the customer-on the sales floor.
      · Don`t spend on anything unless it`s going to help the customer.
      · Pass on your savings to the customer.
      · Don`t take on any debts.

      http://www.retailernews.com/2002/rb%20the%20natural.html
      Avatar
      schrieb am 24.02.04 01:12:24
      Beitrag Nr. 184 ()
      Porträt Ekkehard Wenger

      Der Besser-Wisser

      Aktionärsversammlungen haben in der Regel einen geringen Unterhaltungsfaktor.
      Außer Ekkehard Wenger (Foto) ist dabei.
      Der Professor für Betriebswirtschaft sorgt immer für Aufruhr.
      Weil er schimpft, auf gute Sitten verzichtet, laut wird.

      Aber vor allem:

      Weil er den Konflikt nicht scheut.


      Text: Christian Litz

      • Er ist nicht da. Er kommt später – in sein Institut für Betriebswirtschaft der Universität Würzburg. Vor seinem Büro, Raum 381, im zweiten Stock auf der Balustrade mit Blick in die tiefe, weite Aula lässt er uns warten. Das macht er immer. Einer seiner Mitarbeiter vom Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre Unternehmensfinanzierung, Bank- und Kreditwirtschaft: „Verspätungen sind seine Spezialität.“ Zwei Stunden, drei Stunden seien gar nichts. Eine Mitarbeiterin: „Er verspätet sich wirklich gerne.“ Das ist bekannt. Jeder weiß das. Alle lächeln. Die Botschaft in den Gesichtern: Aha, ein neues Opfer. Und: Wir haben Mitleid.
      An seiner Tür hängt ein großes gelbes Plakat. Darauf steht: „Vortrag Professor Wenger: Drohnenwirtschaft. Der deutsche Kapitalmarkt als Selbstbedienungsladen parasitärer Feudalherren, Donnerstag, 1. Juli 1993“. Darüber ein Aufkleber: „Stell dir vor, im Jahr 2000 gehört alles Daimler und uns gehört nix.“ Draußen, vor dem Büro, am schwarzen Brett, hängen ein paar Artikel über ihn. Ein schönes Zitat liefert die »NZZ am Sonntag«: „Wenger hat in der Schweiz Spuren hinterlassen. Seine früheren Auftritte auf Großbanken-Generalversammlungen sind legendär.“ Daneben hängen Veranstaltungshinweise. Er hält in diesem Semester die Vorlesungen „Grundzüge der Investitions- und Finanztheorie“ und „Kapitalmarkttheorie und Finanzierungsverträge“.
      Professor Ekkehard Wenger ist ein Medienstar. Weil er anders ist, weil er draufgeht wie ein Stier. Über den kann man immer etwas Fetziges und dennoch Fundiertes machen. Man kann ihn ganz leicht grob definieren: Er kommt gern zu spät, er teilt aus, er sorgt für Stimmung. Dabei wirkt er rüpelhaft, spätpubertär. Er kämpft gern gegen die Großen, am liebsten gegen den DaimlerChrysler-Vorstand und -Aufsichtsrat. Allerdings: Er ist schon lange dabei, die Schockeffekte haben sich vielleicht abgenutzt. Er steht bereits in der Querulantenecke, einige ignorieren, dass er nicht nur zetert und motzt, sondern wissenschaftlich fundiert loslegt.
      Tritt er auf Aktionärsversammlungen auf, wird das trotzdem fast immer ein Happening. Wenn er sich mal halbwegs ruhig verhält, meldet die »Financial Times«, eine Enttäuschung. 2003 ist er 15-mal angetreten. Er wurde aus Versammlungen auch schon herausgetragen. Er hat gestrampelt, sich aber der Gewalt gebeugt. Wenger ist ein Rebell, Kämpfer, Provokateur, aber, so war überall zu lesen, ein wichtiger Korrektor, der genau auf die kleinsten Details der Regeln und Gesetze beharrt, sich auf juristische Details stürzt, das System mit Mitteln des Systems schlägt. Ohne ihn, heißt es, ginge es den deutschen Kleinaktionären um einiges schlechter. Er prozessiert viel und gewinnt meistens, weil er weiß, was er tut.
      Noch kurz ein Schnelldurchlauf seiner Biografie: Ekkehard Wenger, Jahrgang 1952, stammt aus Stuttgart, ist also Schwabe. Später sagt er, er habe ein enges Verhältnis zu Geld. Sein Vater war selbstständiger Kaufmann. Die Mutter hat mitgeholfen. Die Eltern waren keine Aktionäre. Später haben sie mal ein paar Aktien gehabt, aber das war keine Lebensaufgabe für sie. Seine erste Aktie hat er sich gekauft, als er Assistent war. Es war eine von BMW. 1986 bekam er einen Lehrstuhl in Frankfurt am Main. 1987 wechselte er nach Würzburg und blieb.

      Wenger kommt mehr als zwei Stunden zu spät. Das ist normal. Er entschuldigt sich auch nicht. So ist er eben

      Die Sektretärin fragt: „Hat er Ihnen schon ein Treffen an der Autobahnraststätte vorgeschlagen?“ Nein. „Das macht er oft, oben.“ Sie deutet aus dem Fenster nach Norden, da hinten ist irgendwo die Autobahn. „Das macht er sehr gerne, um Unterlagen zu übergeben oder zu übernehmen.“ Kommt er immer zu spät, aus Imagegründen, so als schlampiges Genie? „Nein, glaube ich nicht. Er hat kein Zeitgefühl. Null.“
      Ein Mitarbeiter erreicht ihn auf dem Handy. „Es gibt zwei Möglichkeiten“, sagt Wenger, „entweder Sie warten eine Stunde, oder Sie fahren mir entgegen. Wir können uns in Iphofen treffen, Richtung Kitzingen.“ Hier wäre mir aber lieber. Jemand anders hatte vor Autobahnraststättentreffs mit ihm gewarnt, meistens fänden die nicht wirklich statt. „Gut“, er klingt leicht beleidigt, „ich bin in einer Stunde da. Bis dann.“ Eine weise Entscheidung, sagt einer. Entgegenfahren wäre Chaos geworden. Richtig clever. Der Termin war um zwölf Uhr, jetzt ist es 12.45 Uhr. Es scheint für Sie richtig gut zu laufen. Gibt es hier eine Cafeteria? Ja.
      13.45 Uhr. Die Mitarbeiterin: „Machen Sie sich keine Gedanken, das ist normal. Es hat wirklich nichts zu sagen.“ Ein bisschen Amateurpsychologie: Er legt sich mit allen an, verstößt dabei gegen Konventionen, kümmert sich um bestimmte Dinge einen Dreck. Das ist doch pubertär, auch wenn er 51 Jahre alt ist. Aber, wie gesagt: Er ist ein Profi, vielleicht sieht er alles als Spiel. Es könnte spannend werden mit Professor Wenger.
      Er ruft an, es ist 14 Uhr. Ob wir uns in zehn Minuten im Hotel Walfisch am Main treffen könnten? Aber klar. Weiter mit der Amateurpsychologie: Warum ist er so bockig? Gegen Konventionen, ungeschriebene Regeln? Wo er sich doch, wenn er die Vorstände und Aufsichtsräte quält, an den kleinsten juristischen Details aufhängt, an Miniminisachen. Da beharrt er auf Regeln, ihre Einhaltung geht ihm über alles. Er ist beim Stänkern wissenschaftlich akribisch. Das ist ein Widerspruch. Passen Anarchie und Pedanterie zusammen?
      Eine halbe Stunde später im Hotel Walfisch. Endlich, sein Auftritt. Er stürmt rein, wirkt aber nicht, als würde er das genießen. Der Mann hat nichts Divahaftes. Entschuldigt sich nicht für die Verspätung. Geschenkt, das gehört zu ihm. Sieht anders aus als auf Fotos. Auf denen hat er etwas Hollywoodeskes. Jetzt wirkt er normal, entspannt, vielleicht etwas fahrig. Entweder ist er humorlos, oder er hat einen ganz trockenen Humor. Er schimpft jedenfalls gern. Bruddelt, sagt man in Schwaben. Will für Stimmung sorgen. Er scheint das als seinen Auftrag zu sehen.
      Der Professor sagt: Klar habe er Aktien. „Ich komme von der wissenschaftlichen Seite. Da bleibt es nicht aus, dass Sie sich selbst engagieren, sonst macht es nur halb so viel Spaß. Es hat einen hohen Unterhaltungswert.“ Oft setzt er am Ende seiner Sätze einen kurzen Lacher, wobei das kein echtes Lachen ist, eher ein Luftholen, mit dem er Entsetzen zeigen will, symbolhaft. In der Folge beleidigt er Aufsichtsräte und Vorstände. Und er beleidigt sie richtig. Lässt es krachen. Genießt er das? Nein, so wirkt es nicht. Er sagt, was er denkt. Macht sich keinen Kopf über die Folgen, Konventionen bremsen ihn nicht. Auf eine Frage, in der der Name Robin Hood auftaucht, antwortet er: „Habe ich schon oft gehört, mag ich aber nicht. Ich verwende weder illegale Methoden, noch geht es mir um plumpe Umverteilung.“
      Fragen lässt er kaum zu. Seine Worte sind ein Fluss, nein, ein Strom. Man muss sich zu ihm durchkämpfen. Die Zahl der Prozesse, die er gerade führe, läge im dreistelligen Bereich. In der kommenden Woche geht er nach Hannover zu einer Verhandlung. „Wir teilen das auf.“ Bei den Prozessen, die er und andere anstrengen, redet er immer von wir. „Wir klagen immer gemeinsam, einer geht dann hin.“ Sein Verein zur Förderung der Aktionärsdemokratie ist knapp zehn Jahre alt, ein Zusammenschluss Gleichgesinnter. Es gehe darum, die Rechte der Kleinaktionäre zu schützen, teilweise erst mal zu erkämpfen, sich gegen die Übermacht der Konzernlenker und Großaktionäre zu wehren. Mehrmals im Laufe des Gespräches beschreibt er seinen Antrieb in Worten wie: „Als Aktionär hat man Probleme mit der Kontrolle der Manager. Irgendwann macht man das nicht nur am Schreibtisch, sondern macht Aktion.“ Es gebe viele „Deppen, die nur die Fähigkeit haben, Geld für sich rauszuholen“, den Unternehmen aber schaden.

      Wenger ist bei seinem Lieblingsthema: Jürgen Schrempp. Den Daimler-Aktienkurs nimmt er ihm persönlich übel

      Wenger scheint müde zu sein, er gähnt oft. Manchmal hält er die Hand vor den Mund. Er redet nicht hektisch, aber stetig. Wenig Gestik, was daran liegen kann, dass er mit Vergnügen isst. Auch wenig Mimik. Er redet. Dabei wirkt er routiniert böse. Sein Geschimpfe wirkt nicht wie ein Ausbruch, es kommt geübt daher. Was den Auftritt nicht schlechter macht. Aber professionell. Fragen muss man wirklich zwischenschieben. Deutlich zu spüren ist sein Unterhaltungswille, er will etwas Ordentliches bieten. Eine Auswahl: „Edzard Reuter hat Daimler kaputtgemacht. Den haben wir bekämpft. Er ist als Ehrenbürger in Berlin sehr gut aufgehoben.“ Ab und zu tauche Reuter jetzt wieder auf. Ohne jedes Unrechtsbewusstsein, ganz peinlich.
      „Schrempp ist groß darin, das Maul aufzureißen. Aber die Performance ist grottenschlecht. Wie bitte?“ Die Frage war, gleich nach Maul aufreißen, ob er konfliktfreudig sei. „Bin ich konfliktfreudig? Ich bin nicht prinzipiell dagegen, nur gegen Blödheit. Es geht mir darum, die unsägliche Unfähigkeit des Daimler-Vorstands und des Aufsichtsrats zu thematisieren. Die Welt AG, ha!, die wird sich nie rentieren. Aber alle warten noch darauf. Jeden anderen hätte man, schwupp, nach acht Jahren Misswirtschaft …“ Er holt Luft. „Es wird immer nur gefaselt, ob sich das nicht noch mal rentiert. In den Medien auch. Die bieten ein schwaches Bild.“ Luft. „Chrysler-Sanierung? Was stellt man sich vor? Vier Milliarden hätten es jährlich an Überschuss sein müssen. Es war absehbar, dass das nie was wird. Die Gläubigkeit der Deutschen gegenüber Obrigkeit und Autoritäten lässt alle ausharren. Es könnte ja noch werden. Lächerlich. Jeder Politiker wäre weggeschrieben worden bei solchen Leistungen.“
      An diesem Tag steht Jürgen Schrempp in Amerika gerade vor Gericht. Die Kerkorian-Sache: Der Großaktionär fühlt sich über den wahren Charakter der Fusion zwischen Daimler und Chrysler getäuscht. In Wahrheit habe es sich um eine Übernahme gehandelt, und das habe Schrempp in einem Interview mit der »Financial Times« auch zugegeben. Wenger sagt über das Interview: „Da muss Schrempp besoffen gewesen sein.“ Es macht kling im Kopf. Gab es da vor langer Zeit nicht mal die Geschichte mit Jürgen Schrempp, als er in Rom auf der Spanischen Treppe eindeutig betrunken Ärger mit der Polizei bekommen hatte? Eine kurze Zeit lang ein großes Thema, seitdem nie mehr aufgetaucht. Seltsam. Wengers Theorie: Schrempp ist zu mächtig, alle haben Angst vor ihm, auch die Medien. Den Kerkorian-Prozess verfolge er genau. Obwohl er sachlich falsch laufe. „Der hat doch genug Geld bekommen für den Sanierungsfall Chrysler. Ein paar Jahre später wäre das nichts mehr wert gewesen.“
      Zurück zu Schrempp: „Der hat bei Fokker drei Milliarden in den Sand gesetzt und wurde befördert. Er hat gute Presseleute gehabt. Die haben die Journalisten eingeseift.“ Wie? „Ein Flugzeug voll Journalisten wurde zur Fußball-WM nach Amerika geflogen, auf Firmenkosten. Das nenne ich einseifen.“ Noch ein Kling. Als Daimler in New York an die Börse ging, flogen einige Freunde – alle Fotografen großer deutscher Magazine – auf Daimler-Kosten dorthin. Jeder für ein sinnloses Foto, weil auch die New Yorker Fotografen dieses Foto knipsen konnten. Aber ein Flug nach Big Apple kam für die deutschen Fotografen dabei raus.
      Wenger ist schon woanders. „DaimlerChryslers Problem: katastrophale Fehlleistungen des Managements, und nichts passiert. Politiker wie Gerhard Glogowski wurden weggeschrieben. Zu Recht. Das ging auch leicht. Der Mann schaltete keine Anzeigen. Oder Lothar Späth – weggeschrieben. Aber so einer wie Schrempp sitzt fest im Sattel. Wenn alle großen Zeitungen unisono negative Befunde schreiben würden, wäre der Mann nicht zu halten. Sie machen es nicht, obwohl es so offensichtlich ist.“

      Wenger vor Gericht. Eine Fortsetzungskomödie mit häufig wechselnden Nebendarstellern und einem Star: Wenger

      Nun gibt es einige Zeit Medienschelte. Dann wieder Schrempp und die Deutsche Bank. „Wenn ich die nötige Anzahl Aktien hätte, man braucht 200000 Aktien, das sind sieben Millionen Euro.“ Er redet von einem Antrag, mit dem man Schrempp absägen könnte. „Mal angenommen, so ein Antrag käme, und die Deutsche Bank würde treuwidrig gegen den Antrag stimmen, wider besseres Wissen.“ Ob er mit Daimler-Aktien Geld verloren habe? Nein, sagt er. Aktien besitze er aber schon. Und insgesamt viel verloren? Oder Geld verdient? „Davon können Sie ausgehen.“ Am Tisch nebenan ein älteres Ehepaar, hat schon lange fertig gegessen, der Mann bestellt noch was nach. Irgendwas. Er will die Wenger-Show bis zum Ende erleben. Der sagt noch mal: „Davon können Sie ausgehen.“ Mit Aktien verdiene er Geld. „Das können nicht viele sagen.“
      Aber Daimler, „pffft, seit der Fusion habe ich mir zehn Aktien gekauft für 800 Euro, die sind jetzt 360 wert, das war mein Eintrittsgeld für eine Zirkusveranstaltung.“ Wurden Sie schon mal wegen Beleidigung angeklagt? „Einmal, von einem Landgerichtspräsidenten. Ich hatte versucht, BASF auf Auskunft zu verklagen.“ Das ist seine Standardklage. „Da war ein Berufsrichter und zwei Laienrichter. Einer davon war ein Unternehmer, der für BASF Chemiemüll entsorgte.“ Wenger verlor. Obwohl er das nicht so sieht, er macht einen großen Sieg daraus. „Auf einer Versammlung wollte die BASF das als großen Sieg verkaufen, aber ich habe das dann dem Richter erzählt. Worauf mich der Landgerichtspräsident verklagt hat wegen Gerichtsbeleidigung. Ich hätte das Landgericht Frankenthal beleidigt.“ Das ist für BASF zuständig. Wenger ging durch viele Instanzen, lehnte Richter wegen Befangenheit ab und Richter, die über seine Befangenheitsanträge entscheiden sollten. „Wurde zu Lasten der Staatskasse eingestellt nach vier Jahren, da haben sich nacheinander vier Richter mit beschäftigt.“ Sein Schluss: Etwa jeder vierte verstehe etwas von seinem Geschäft. „Wie in allen Berufen.“

      Rechnen mit dem Betriebswirtschaftsprofessor: Bei BMW wurden aus 1000 Mark in 14 Jahren 4800, bei Daimler 900

      Wenger schimpft nicht nur auf Daimler und die Deutsche Bank. Gib ihm einen Namen, und er ist dran. Relativ gut weg kommt die ehemalige Hoechst. Und Siemens: „Arroganz und Größenwahn entstehen zwangsläufig. Man sieht da oben alles nur noch durch einen Filter, die kriegen die Realität nicht mehr mit. Daimler ist extrem monotheistisch. Wer nicht mit dem Chef übereinstimmt, verschwindet. Bei Siemens ist man viel stärker in eine Struktur eingebunden. Gut, der Kaske war selbstherrrlich, aber der kam dann auch nicht in den Aufsichtsrat. Den hat man demontiert. Es ist doch alles eine Frage der Karriere. Schrempp hat Reuter erst nach der Übernahme angemacht und gesagt: Katastrophe. Da hat er Recht, aber das hat er vorher nie gesagt.“
      Wie kann man das Problem lösen? „Man müsste das Abstimmungsverhalten der institutionellen Anleger auf den Hauptversammlungen genauer kontrollieren.“ Nun schimpft er auf Banken, Fonds und Versicherungen. „So würde ein Privat-Aktionär nie abstimmen. Aber Depotvertreter von Banken oder Fondsmanager interessiert das Wohl der Aktionäre nicht. Für einen Fondsmanager ist entscheidend, dass er nicht schlechter abschneidet als seine Kollegen. Er muss im Fahrwasser mitschwimmen. Wenn alle gleichmäßig leiden, leidet niemand, denn die Karriere ist gesichert.“
      Liegt der Fehler im System und nicht nur in dessen Auswüchsen? „Nein!“ Ganz laut noch mal: „Nein! Einzelne Leute können sehr viel Schaden anrichten. Aber dass Leute an der Spitze durchdrehen, haben Sie überall. Fast überall ist das so. Das ist auch kein deutsches Problem. Der Enron-Aufsichtsrat war nicht besser.
      Es geht eigentlich nur darum, was für Rechte die Streubesitzer haben, es geht um Haftungsrecht und Schadenersatz für Sorgfaltspflichtverletzung. Da ist nichts! Nichts! Das Rechtssystem wird ad absurdum geführt. Schrempps »Financial Times«-Interview ist ein klassischer Haftungsfall. Aber das wird in Deutschland nicht wirklich thematisiert. Daimler musste schon mal zahlen, die Vergleichssumme aus einer Sammelklage der Kleinaktionäre: 300 Millionen Dollar, davon etwa 100 Millionen nicht versichert. Auf den Prozessausgang müssen wir eigentlich nicht warten. Allein die Prozesskosten und diese 100 Millionen Dollar. Da hat der Aufsichtsrat seinen Job nicht gemacht.“
      Wenger lästert über die Staatsanwälte. Die hätten keine Ahnung. Seien feige. Dann wieder eine Daimler-Attacke, die deutlich zeigt, dass Wenger kein Querulant ist, sondern Betriebswirtschaftler: „Ich hab’ mal was auf einer Daimler-Hauptversammlung gesagt, das wollten die sofort widerlegen, konnten es aber nicht. Die haben sicher tagelang rumgerechnet, aber das Maul gehalten.“ Wenger hatte gesagt: Er habe, als Hilmar Kopper in den Aufsichtsrat von Daimler kam, 1000 Mark investiert. 14 Jahre später, nach Reinvestition aller Dividenden und aller Bezugsrechte seien 900 Mark übrig geblieben. Bei BMW waren am Ende des gleichen Zeitraums aus 1000 Mark 4800 Mark geworden. „Das sagt doch alles. Warum ist Kopper immer noch im Aufsichtsrat?“
      Es gab mal einen Brief an seine Dienstherrin, Monika Hohlmeier, Staatsministerin Bayerns für Unterricht und Kultus. Er werde den gleich morgen faxen. Tage später kommt er. Geschrieben von Jürgen Lohse, dem Aufsichtsratsvorsitzenden der Dykerhoff AG. Wenger hatte einen italienischen Dyckerhoff-Großaktionär Mafiosi genannt. Lohse schreibt, er verfolge mit Sorge, dass Wenger Studenten instrumentalisiere. Er benutze die Hauptversammlung als Plattform für Polemik, Unterstellungen und persönliche Beleidigungen von Vorständen, Aufsichtsräten und Aktionären. Die Studenten seien abhängig von Professor Wenger und nur deshalb dabei. Dazu Wenger: „Da kann man nur sagen, der Mann kommt aus der Zementbranche.“

      Zwischendurch kurze Blicke auf den anderen Wenger: den genussvollen Esser, den guten Professor, den Fatalisten

      Einmal, er hat gerade ausgekaut, betont er, dass er nicht prinzipiell mit jedem Krach habe. „Mit dem Jürgen Dormann von Hoechst kam ich klar, nur als Beispiel.“ Es habe Zeiten gegeben, in denen die Leute Angst hatten, „sich in meiner Nähe zu bewegen. Kollegen sagten, ich zerstöre die Karrierechancen meiner Studenten. Aber internationale Banken, die nicht im deutschen Klüngel drinhängen, werben gern Studenten von mir ab“. Gerade habe er mal wieder einen guten Mitarbeiter verloren. „Meine Studenten werden oft zu Vorstellungsgesprächen eingeladen, um über ihren Professor ausgefragt zu werden.“
      „Die Welt ist verdorben und korrupt. Damit muss man leben. Das amüsiert mich.“ Kurze Pause, dann sein kurzes empörtes Lachen: „Wir haben es versucht.“ Jetzt könnte es in die Tiefe gehen. Das klingt sehr fatalistisch. Aber darauf reagiert er nicht, sondern erklärt sein Erfolgsrezept als Aktionär: „Ich suche mir Nischen bei Kapitalanlagen. Dem Aktienmarkt ist der Beschiss am Kleinanleger eingepflanzt. Man muss Nischen suchen, wo der Beschiss kurz eingedämmt ist.“
      Wenger isst mit Genuss: erst Pot au feu, dann Gans, trinkt Johannisbeersaft und schimpft. Der Reihe nach: die Schweiz. „Die Schweizer sind noch obrigkeitshöriger als die Deutschen. Bei den Generalversammlungen herrscht Friedhofsruhe. Ich habe mal gesagt, das Schweizer Aktienrecht sei schweinisch. Da wollte mich einer verklagen wegen Beleidigung. Er hat es tatsächlich versucht. Das war lustig. Das Schweizer Aktienrecht ist noch schlechter als das deutsche.“ Dann die Politik in Deutschland, der Staat, die Steuern. Lassen wir das. Es ist alles gut anzuhören, wohl formuliert, voller Schockwörter. Und immer wieder Schrempp. „Für Schrempp ging es darum, an das amerikanische Gehaltsniveau zu gelangen. Das hat geklappt.“ Laut »Manager Magazin« verdiente Schrempp 2002 rund 6,5 Millionen Euro ohne Aktienoptionen und Ähnlichem. Mit Aktienoptionen waren es laut Ernst and Young 10,8 Millionen Euro. Zahlen von DaimlerChrysler gibt es nicht. Laut der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz haben sich die Vorstände des DaimerChrysler-Konzerns 2002, in einem Krisenjahr, eine Gehaltserhöhung von 131 Prozent gegönnt. Unstrittig ist, dass Daimler bis zur Fusion mit Chrysler zwar deutscher Spitzenreiter war, im internationalen Vergleich jedoch eher bescheidene Vorstandsgehälter hatte. Heute nicht mehr.

      Das Fazit? Es gibt keines. Edutainment ist Work in Progress. So wie Wirtschaft. Und Wenger arbeitet an ihrer Schnittstelle

      Wenger ist hart. Gegen alle. Die Fondsmanager. Die Banker. Die Vorstände. Die Aufsichtsräte. Sogar gegen die Kleinaktionäre. „Ich haben, wenn sie selbst entschieden haben.“ Es gehe um etwas ganz anderes: Kaum ein Kleinaktionär stimme selbst ab. Es folgt ein weiterer kontrollierter Vulkanausbruch gegen die Deutsche Bank, die Fonds, die Versicherungen, alle, die Depots verwalten und Stimmrechte ausüben. „Ein Vakuum wird da ausgefüllt von Leuten, die zweckfremde Entscheidungen treffen.“
      Die Bedienung macht darauf aufmerksam, dass das Restaurant seit eineinhalb Stunden geschlossen sei. Das Ehepaar am Nebentisch geht. Wenger sagt: „Wir sind früher auf Hauptversammlungen gegangen, die öffentlichkeitswirksam waren. Angefangen haben wir damit 1990. Die erste, auf der wir aktiv waren, das war die von Bremer Vulkan, mit dem legendären Herr Hennemann. Das war uferlos.“ Inzwischen läuft es anders. Er habe eigene Aktien, „das heißt, die sind immer vorgewarnt. Die rufen mich oft an und fragen, ob ich komme. Ich sage dann immer, das sei unwahrscheinlich, weil ich mich prinzipiell anmelde“. Die Panikattacken der Vorstände freuen ihn sichtlich. 80 Prozent der Versammlungen sind „völlig trübsinnige Veranstaltungen“. Also: „Es macht viel mehr Spaß, wenn ich als Vertreter für andere Aktionäre komme. Dann sind die nicht vorbereitet.“
      Irgendwann setzt uns die Bedienung höflich vor die Tür. Man merkt ihr an, dass sie Wenger-Routine hat. Draußen sagt Wenger, quasi als Abschied: „Würzburg ist unterbelichtet, piefig. Ich habe zum Glück den Bischof noch nie gesehen.“ Der geniale, immer noch pubertierende 51-Jährige geht auf die andere Straßenseite, winkt noch mal, eilt in einer abzweigenden Straße davon. Es war sehr unterhaltend mit Professor Ekkehard Wenger, der seinen Ruf bestätigt hat, ohne zu langweilen. – _


      http://www.brandeins.de/magazin/schwerpunkt/artikel4.html
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      Das waren jetzt zwei Porträts von absolut faszinierenden Menschen mit Vorbildcharakter. Die eine war eine äußerst erfolgreiche Unternehmerin, Managerin, und Analphabetin(mit Ehrendoktor), der andere ist ein außergewöhnlich engagierter und couragierter Wirtschaftsprofessor. Was mich nervt, ist das Prof. Wenger von Journalisten wie Christian Litz, als pubertierend, und als Besser-Wisser bezeichnet wird. (Ok, ein Besser-Wisser ist er, denn er weiß es wirklich besser als andere ;) )
      Weil u.a. die Medien, Leute wie Prof. Wenger, meiner Meinung nach, immer zu negativ darstellen, und weil ein gewisser Schlag von Kleinaktionären und Belegschaftsaktionären, Leute wie Wenger auf den HVs sogar auspfeift! :(, gibt es leider viel zu wenig Leute vom Schlag eines Ekkehard Wenger.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 25.02.04 23:14:55
      Beitrag Nr. 185 ()
      Neuseeland

      „Viele haben uns gehasst.“

      David Lange ist ein vergessener Pionier des Neoliberalismus.
      Vor 20 Jahren verordnete er Neuseeland, dessen Premierminister er war, eine Rosskur.
      Ein Gespräch über Konsequenz und den Mut zum politischen Genickbruch.

      Text und Foto: Ingo Petz

      Herr Lange, Sie stehen bis heute für die radikalsten neoliberalen Reformen, die ein westliches Land je unternommen hat. Die Generation der 30-Jährigen, die heute mit den Folgen leben muss, kennt Ihren Namen kaum noch. Ein gutes oder schlechtes Zeichen? Lange: Ich denke, ein gutes. Die Reformen sind akzeptiert.

      Wann wussten Sie, dass Ihre Regierungszeit anders verlaufen würde, als Sie sich das vorgestellt hatten?
      In der Nacht zum 14. Juli 1984, als wir die Regierung übernahmen, bekam ich die Nachricht, dass eine wirtschaftliche Katastrophe für Neuseeland bevorstehe. Am nächsten Tag traf sich das Kabinett, und mir wurde klar, dass wir etwas sehr Drastisches unternehmen mussten.

      Kam die Erkenntnis wirklich so überraschend?
      Natürlich wussten wir grundsätzlich um die Notwendigkeit von Reformen. Neuseeland war noch nicht in der modernen Welt angekommen. Ich bin in sehr sicheren Verhältnissen aufgewachsen. Es gab eine Garantie auf Arbeit, und der Staat war der größte Arbeitgeber mit einem sehr dichten sozialen Netz. Aber auf diesem Ruhekissen konnten wir uns nicht ewig ausruhen. 1984 hatte Neuseeland eine Preis-, Lohn-, Einfuhr- und Währungskontrolle. Das war doch keine Freiheit.

      Ihre Wähler waren von den drastischen Maßnahmen nicht begeistert.
      Politisch ist es natürlich schwer, zu sagen: Hey Leute, leider ist unsere Währung um 25 Prozent überbewertet, und nun müssen wir euren Wohlfahrtsstaat zerschlagen. Glücklicherweise haben wir eine unabhängige Situationsbeschreibung von der Weltbank bekommen. Zudem half uns der alte Premier Robert Muldoon, der dem Volk in Fernsehansprachen klar machte, dass etwas unternommen werden müsse. Das war wichtig. Das Problem bei Reformen ist immer der politische Aspekt. Ökonomisch war uns klar: Wir müssen das und das tun, um wieder an Fahrt zu gewinnen.

      Was waren die ersten Schritte?
      Innerhalb von drei Jahren haben wir Neuseeland dem freien Markt ausgesetzt, Lohn- und Preiskontrollen abgeschafft und uns so eine Basis geschaffen, von der aus wir über die Zukunft des Landes nachdenken konnten. Das größte Problem lag dann aber 1987 noch vor uns: Die alte Regierung hatte die Landwirtschaft in einem wahnsinnigen Ausmaß subventioniert – die Bruttolöhne wurden zu 38 Prozent bezuschusst. Kein Wunder, dass der Steuersatz bei mehr als 60 Prozent lag. Die Agrarwirtschaft ist der wichtigste Sektor Neuseelands – hier werden zwei Drittel aller Einkünfte erwirtschaftet. Einen solchen Sektor zu subventionieren ist volkswirtschaftlich gesehen ein Desaster. Die Bauern bekamen Geld, damit ihre Schafe geschlachtet wurden. Das ist doch bizarr. Am Ende des Jahres haben wir die Subventionen einfach abgeschafft, ohne eine Übergangslösung. Das war überaus radikal.

      Bei der Steuerreform gab es auch keine Kompromisse.
      Stimmt. Wir haben den Höchststeuersatz halbiert. Aber das war ein Beispiel für eine positive Reform, weil die Menschen davon profitiert haben. Da konnten wir auch die Mehrwertsteuer einführen, um die Ausfälle zu kompensieren. Die ist einfach zu erheben und ohne großen Kostenaufwand zu verwalten. Den Menschen gefiel die Mehrwertsteuer allerdings nicht. An diesem Punkt war schon die Grenze des politisch Akzeptierbaren erreicht. Dennoch: Australien brauchte 14 Jahre, um die Mehrwertsteuer einzuführen, und Kanadas Regierung brach zusammen, nachdem sie sie eingeführt hatte. Bei uns funktionierte sie sofort.

      Wurde Ihnen angesichts der Opfer der Veränderungen nicht mulmig?
      Der Preis war hoch, vor allem die Landwirtschaft wurde von einer großen Depression befallen. Menschen haben sich umgebracht oder verließen das Land. Das war furchtbar. Aber nach und nach bekamen wir mehr Unterstützung in der Provinz, denn auch die Bauern hatten irgendwann verstanden, dass die Zeit der Subventionen vorbei war, dass sie ihr Geld selbst verdienen mussten. Sie begriffen, dass das bisherige Ausmaß an sozialer Sicherheit sie und ihre Schafe früher oder später nicht mehr schützen, sondern umbringen würde.

      1987 wurden Sie wiedergewählt, Ihr Reformkurs bestätigt.
      Dann aber kam der Einbruch der Börse, der für uns besonders verhängnisvoll war. Mit der neuen Krise mussten wir große Teile der Staatsbetriebe verkaufen, die die größten Arbeitgeber waren. Und wir haben für sie in Neuseeland keine Abnehmer gefunden, weil hier kein Kapital vorhanden war. Also mussten wir sie an Ausländer verkaufen. Die darauf folgenden Massenentlassungen und Umstrukturierungen verursachten große Revolten gegen die Regierung. Wir gaben das Familiensilber an Fremde ab – das wollten die Menschen nicht mehr akzeptieren.

      Fehlte Neuseeland die Erfahrung einer freien Marktwirtschaft, die eine solche Krise hätte auffangen können?
      Wir verstanden erstmals, welchen Wert ein starkes Unternehmer-tum hat. 1987 hatten wir doch keine Ahnung von Unternehmen. Alles war reguliert, selbst die Einfuhr von Zeitschrifen oder Kaffee. Wir waren doch vollkommen naiv.

      1988 verordneten Sie dem Land eine Pause und stoppten die Reformen. Sie überwarfen sich mit Ihrem radikalen Finanzminister Roger Douglas, der noch weiter gehen wollte.
      Roger Douglas war nicht der radikale Ökonom, als der er immer porträtiert wird. Douglas war ein Politiker, mit sehr vielen guten und praktischen Ideen. Er wollte das Land noch radikaler und schneller verändern. Aber wenn wir das getan hätten, dann hätte sich die Labour-Partei gleich auflösen können, weil die Menschen nicht mehr mitgemacht hätten.

      Richard Prebble, einer Ihrer damaligen Minister, empfahl jedem, der Reformen durchführen muss, es schnell zu tun und nicht auf Lobbyisten zu hören, sondern auf Experten.
      Das meine ich auch. Aber: Das Wichtigste an einer Reform ist ihre politische Akzeptanz. Die lieben Wirtschaftstheoretiker mögen gute Ideen haben, aber eine demokratische Gesellschaft ist keine Knetmasse, die man so formen kann, wie es den Eliten gerade in den Kopf kommt. Eine Reform muss von der Mehrheit verstanden werden, sonst gibt es keine Reformen. Ende aus.

      Hat sich eigentlich mal jemand bei Ihnen bedankt?
      Was glauben Sie denn? Viele haben uns gehasst.

      Kein Dankeschön? Schließlich haben Sie Neuseeland wieder flottgemacht.
      Dankbarkeit kann in solch einer außergewöhnlichen Lage, die außergewöhnliche Maßnahmen erfordert, niemand verlangen. Wir waren Sklaven unserer Zeit. Da hatte es meine Nachfolgerin Helen Clark viel einfacher, als sie 1999 an die Macht kam. Neuseeland hatte gute Wirtschaftsdaten und erlebte einen Aufschwung. Mit einer solchen Basis konnte man politisch arbeiten. Wir dagegen hatten vor dem Abgrund gestanden.

      Der Job des Reformers ist also einer auf Zeit?
      Menschen brauchen eine Pause. Als Thatcher zu übermütig wurde, hat man sie bestraft. Und ich musste 1989 auch zurücktreten, weil sich in der breiten Bevölkerung niemand mit Reformen beliebt machen kann. Niemand!

      Auch nicht, wenn das Ergebnis positiv ist?
      Reformen sind zunächst negativ für die Öffentlichkeit, weil sie Bestehendes verändern. Das Positive kommt später.

      In Ihrer Labour-Partei und auch bei Helen Clark sind Sie bis heute als neoliberaler Neandertaler verschrien. Im vergangenen Jahr wurde Ihnen von Clark dennoch die Aufnahme in den Orden Neuseelands angetragen – weil Zeit die Wunden heilt?
      Ja, so kann man sagen. Natürlich ist es für Labour und Clark nicht einfach, da sie mit dem Erbe der Reformen arbeiten müssen.

      Clark hat einige Ihrer Reformen wieder rückgängig gemacht
      Moment: Keine der Reformen wurden wirklich rückgängig gemacht. Ja, das Arbeitslosengeld stieg, aber nur gemäß der Inflation.

      Und die Gewerkschaften dürfen wieder Tarifverträge aushandeln.
      Das war nicht unsere Reform. Die Beseitigung der Gewerkschaften war das Werk der Nationalen Partei 1991. Und dafür ist sie später bestraft worden.

      Es gibt also nicht mehr soziale Sicherheit als zu Ihrer Zeit?
      Die soziale Sicherheit hat drastisch abgenommen – aber die Fähigkeit, damit umzugehen, hat zugenommen. Gehen Sie mal auf die Straße und fragen Sie die Menschen. Die junge Generation kann mit der Situation umgehen.

      Waren Ihre Reformen erfolgreich?
      Ja, unbedingt. Und wissen Sie, warum? Weil uns sonst das Land um die Ohren geflogen wäre. In der Retrospektive waren wir sicherlich zu kompromisslos und zu schnell. Aber damals mussten wir schnell handeln, und wir haben gehandelt.

      Experten kritisieren, dass die Wirtschaft trotz der Reformen nicht besonders stark wächst, dafür aber die Kriminalität. Außerdem klafft die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinander.
      In allen freien Marktwirtschaften wächst die Kriminalität und auch der Unterschied zwischen Reich und Arm, was nicht schön ist. Das sind aber keine unmittelbaren Auswirkungen unserer Reformen. Die Wirtschaft hätte sich ohne unsere Reformen gar nicht mehr entwickelt. Es kann immer besser sein, aber immer auch viel, viel schlechter. Ein Beispiel: Ich bezahle für einen Arztbesuch nur noch fünf Dollar, weil ich in einer privaten Kasse bin. Das wäre vor 1984 nicht möglich gewesen. Das macht der freie Markt.

      Den sich nicht jeder leisten kann.
      Moment. Es gibt eine staatlich garantierte Grundversorgung. Und noch mal: Hätte, sollte, müsste. Es ist sehr einfach zu urteilen, im Nachhinein. Ich bezweifle, dass es irgendjemand besser gemacht hätte.

      Gefällt Ihnen das Land, in dem Sie heute leben?
      Natürlich. Wir sind erwachsen geworden. Frauen haben mehr zu sagen, wir können in der Außenpolitik mithalten, wir haben ein aufstrebendes Unternehmertum. Das alles gibt mir ein besseres Gefühl. Neuseeland ist ein selbstbewusstes und freies Land geworden.

      Auch die deutsche Regierung diskutiert heute über radikale Reformen. Hätten Sie ein paar Tipps?
      Mut ist der Schlüssel. Und Schnelligkeit. Man kann und sollte nicht immer auf alle hören. Konsens bringt nicht immer die richtige Lösung. Außerdem sollten sich Politiker für das Leben nach der Politik absichern. Wenn eine Krise da ist, dann braucht sie eine kritische Analyse, womöglich eine radikale Reform. Der Politiker muss sich entscheiden, ob er es für das Land tut oder für sich. Wenn er es für das Land tut, muss er bereit sein, sich politisch das Genick zu brechen. Wer an Macht denkt, dem ist sowieso nicht mehr zu helfen. –



      Zusatzinformationen:

      David Lange, Jahrgang 1942, arbeitete nach seinem Jurastudium unter anderem als Rechtsanwalt. 1977 wurde er für die Labour Party ins Parlament gewählt, 1983 an die Spitze der Partei und der damaligen Oppositionsfraktion. Nach dem Wahlsieg wurde er 1984 Regierungschef. Lange machte nicht nur mit seinem radikalen Reformprogramm, sondern auch außenpolitisch Schlagzeilen: Die von ihm geführte Regierung verbannte 1984 alle mit Atomwaffen ausgerüsteten Schiffe und Flugzeuge von neuseeländischem Territorium. 1987 wurde der Premier wiedergewählt, im August 1989 trat er zurück, 1996 verließ er auch das Parlament in Auckland. Im vergangenen Jahr wurde Lange wegen seines Anti-Atom-Engagements mit einem der Alternativen Nobelpreise ausgezeichnet. _

      http://www.brandeins.de/magazin/schwerpunkt/artikel7.html
      Avatar
      schrieb am 25.02.04 23:17:41
      Beitrag Nr. 186 ()
      _C&A

      Die Unmodernen

      C&A war seiner Zeit mal weit voraus, dann out und liegt heute wieder ganz gut im Trend. Dass es den Textilkonzern überhaupt noch gibt, liegt an einem unmodernen Wesenszug seiner Eigentümer: Sie lieben ihr Geschäft.

      Text: Jens Bergmann

      • Im Prinzip ist das Geschäft ganz einfach: Textilien möglichst günstig irgendwo auf der Welt herstellen lassen, auf Bügel hängen, schnell verkaufen und ein paar Wochen später die Lieferanten bezahlen. Auf diese Weise kann man viel Geld verdienen. Die Familie Brenninkmeyer, Eigentümerin von C&A, hat auf diese Weise sehr viel Geld verdient. Ihr Privatvermögen wird auf 3,6 Milliarden Euro geschätzt.
      Sie müssen also nicht mehr unbedingt arbeiten, könnten es sich gut gehen lassen, etwas tun, das Spaß macht. C&A zu mana-gen hat lange wenig Spaß gemacht, weil auf die Erfolgsgeschichte des Modehauses eine tiefe Krise folgte. Die Kunden liefen scharenweise davon, der Konzern schrieb tiefrote Zahlen, das Image rauschte immer tiefer in den Keller. Genug Gründe also, einen Schnitt zu machen und sich beispielsweise auf das zum Konzern gehörende Immobilienimperium zu verlegen. Haben die Brenninkmeyers aber nicht gemacht. „C&A ist für uns eine Herzensangelegenheit“, sagt Dominic Brenninkmeyer, der Chef von C&A Deutschland. „Wir haben uns gesagt: Wir kriegen den Laden wieder flott.“
      „Herr Dominic“, wie der Mittvierziger im Unternehmen genannt wird, um ihn von den zahlreichen anderen Brenninkmey-ers zu unterscheiden, ist in England geboren und aufgewachsen. Ein weltläufiger Mensch, der sein gesamtes Berufsleben bei C&A verbracht hat und selbstverständlich einen Anzug der Eigenmarke Westbury trägt. Das unterscheidet dieses von anderen Familienunternehmen: Die Brenninkmeyers haben keine Firma, sie sind die Firma. Immer noch. C&A ist für sie nicht nur ein Investment, sondern Heimat. Früher war der Betrieb für sie sogar eine Art Modellgesellschaft. Solche Wurzeln kappt man nicht so leicht.
      Der einzige Schmuck in Dominic Brenninkmeyers sehr bescheidenem Büro in der Düsseldorfer Deutschlandzentrale sind die Porträts der beiden streng blickenden Konzerngründer Clemens und August (daher C&A). Sie machten 1861 ein Textilgeschäft in der holländischen Kleinstadt Sneek auf, dem bald weitere folgten. Das Erfolgsgeheimnis der Familie: Fleiß, Sparsamkeit, ausgeprägter Geschäftssinn – und nicht zuletzt viel Nachwuchs. Allein die Gründer hinterließen acht Söhne und 43 Enkelkinder. Stets gab es genug Brenninkmeyers für das expandierende Unternehmen. Darunter auch immer wieder sehr begabte Leute wie den heutigen Chef der C&A-Europa-Holding Lucas Brenninkmeyer und seinen Cousin dritten Grades Dominic.
      Die Ursprünge der Dynastie lassen sich bis zu einem Bauernhof in Mettingen bei Osnabrück zurückverfolgen. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts expandierte die Familie wieder in ihre alte Heimat, in Mettingen haben die Brenninkmeyers noch heute ihren Stammsitz. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es bereits ein Dutzend deutsche C&A-Filialen, während der NS-Zeit arrangierte man sich geschmeidig mit den Machthabern. Richtig groß wurde die Firma dank des Wirtschaftswunders und einem Standardsortiment für Leute, die sich kein Auto leisten konnten, sondern mit der Straßenbahn fuhren. Gute Qualität zum bestmöglichen Preis – das war das Markenzeichen.
      Markenzeichen war auch eine sektenähnliche Unternehmenskultur: Die Angestellten hatten katholisch zu sein, Frauen nichts zu melden, Gewerkschaften waren nicht erwünscht und die Positionen in der Geschäftsführung für Brenninkmeyers reserviert. Das Unternehmen schottete sich nach außen vollständig ab, weil „Offenheit ein Zeichen der Schwäche ist“, wie Wolfgang Brenninkmeyer, in den siebziger Jahren Chef von C&A in den Niederlanden, dekretierte. Das Regiment war streng, aber fürsorglich: Gehälter und Sozialleistungen lagen lange deutlich über dem Branchenschnitt, und die Brenninkmeyers taten auch sonst, ohne darüber zu reden, viel Gutes, spendeten regelmäßig Millionen für karitative Zwecke und bürgten in den Achtzigern sogar mal für mögliche Verluste beim Papstbesuch in den Niederlanden. C&A war ihre Welt, in der für Mitarbeiter, „die keine silbernen Löffel klauen oder uneheliche Kinder zeugen, der Weg vorgezeichnet war“, wie sich ein Ex-Manager erinnert.

      C&A nach der Reformation: Mittlerweile können auch Gottlose und Frauen in der Firma Karriere machen

      Weil dieser Ruf dem Konzern immer noch anhaftet, betont Dominic Brenninkmeyer, dass die Zeiten sich geändert haben: „Heute hat jeder im Unternehmen eine Chance, ob Frau oder Mann, gläubig oder nicht.“ Neu ist auch die Offenheit, mit der er über die Fehler der Vergangenheit, die neue Strategie und die erfreulichen Ergebnisse seiner Sanierungsarbeit spricht. Nur über das Familienvermögen und die Beteiligungsverhältnisse im Unternehmen redet er nach wie vor nicht: „Das ist Privatsache.“
      Der Job des Ur-Ur-Großenkels von Gründer August ist der des Reformators. Lucas und Dominic Brenninkmeyer haben aus C&A in kurzer Zeit ein normales Unternehmen gemacht. Der treibende Faktor war weniger die Einsicht als die Not: Die Firma kann sich die früher selbstbewusst gepflegten Anachronismen schlicht und einfach nicht mehr leisten.
      Über Jahrzehnte konnte sie das: Eine konservative Familie machte ausgerechnet mit Mode Milliarden. Das funktionierte, weil die Branche selbst lange konservativ war; zudem erwiesen sich die Brenninkmeyers in ihrer guten Zeit als clevere Unternehmer. Produzierten früh in Billiglohnländern – ohne ihre Lieferanten bis aufs Blut auszupressen (langjährige Geschäftspartner, die in Schwierigkeiten gerieten, konnen sogar mit Unterstützung rechnen). Sie nutzten nicht nur ihre wachsende Nachfragemacht, sondern hatten – in ihrem Segment – auch flottere Mode als die Konkurrenz und machten deshalb viel höhere Gewinne. Die
      investierten sie clever: in Immobilien und Mitarbeiter.
      Die Ausbildung bei C&A war legendär, die besten Leute machten im beständig wachsenden Konzern Karriere, die schlechteren wurden mit Kusshand von der Konkurrenz genommen. Das paternalistische System erinnerte an das der alten Bundesrepublik – und geriet aus den gleichen Gründen in die Krise. Die Bürokratie nahm überhand, man wurde selbstgefällig und alterte mit der Kundschaft. In den achtziger Jahren war C&A langweilig und galt bei Jugendlichen als total out beziehungsweise cheap and awful.
      Für die Agonie gab es mehrere Ursachen. Zum einen, so ein langjähriger Beobachter des Unternehmens, übernahmen bei C&A die Controller die Macht. Die Einkäufer gingen aus Angst vor unverkäuflicher Ware und hohen Abschreibungen modisch kein Risiko mehr ein. Und es tauchten neue, wendige Konkurrenten wie H&M, Esprit und S. Oliver auf, die in kleinen, schi-cken Läden junge Mode bieten. Bei C&A nahm man die Angreifer lange nicht ernst, um irgendwann verblüfft festzustellen: „Billig können andere auch“, so der Ex-Manager.
      Der Platzhirsch verlor gegenüber der internationalen Konkurrenz an Boden – und wunderte sich, dass seine Trümpfe nicht mehr stachen. Statt auf Fachkenntnis setzten Konkurrenten wie H&M auf ein Managementsystem, das mit weniger hoch qualifizierten Mitarbeitern auskommt. Und auf flotte, zur Zielgruppe passende Verkäufer, gegen die die von C&A in ihren obligatorischen dunklen Anzügen ziemlich alt aussahen. Auch die nach wie vor gute C&A-Qualität interessierte immer weniger junge Leute, die ihre Sachen ohnehin nur eine Saison tragen.
      Der Markt und die Kunden änderten sich, C&A nicht. Die Textilindustrie, die bei der Herstellung und Verteilung ihrer Produkte flexibel ist wie kaum eine andere, sei Vorreiter des Trends hin zur „Konsumentendemokratie“ so David Bosshart, Geschäfts-führer des Schweizer Gottlieb Duttweiler Instituts. Soll heißen: Dank der Globalisierung kann (fast) jeder, unabhängig vom Geldbeutel, zu jeder Zeit alles bekommen. Billig, gut und chic ist kein Widerspruch mehr, sondern eine Voraussetzung, um überhaupt im Geschäft zu bleiben – nicht nur die Hose muss passen, sondern auch das mit ihr verbundene Lebensgefühl. Weil Gefühle flüchtig sind und sehr individuell, setzen die modischen Ketten auf immer schnelleren Warenumschlag. Und auf Glamour – je billiger die Klamotten, desto teurer die Models.
      In der Burg C&A verschlief man diesen Wandel, blieb bis in die neunziger Jahre bei der freudlosen Versorgermentalität und versuchte vergeblich, mit den Methoden von gestern beim sich verschärfenden Konkurrenzkampf mitzuhalten. Mit der Einführung eines zentralen europäischen Einkaufs trieben die Brennink-meyers das Prinzip der Mengendegression auf die Spitze – und nahmen sich die Möglichkeit, auf regionale Geschmäcker Rücksicht zu nehmen. Währenddessen löste sich die traditionelle Mitte der Gesellschaft, auf die das C&A-Geschäftsprinzip ausgerichtet ist, immer weiter auf.
      Die Krise war da, aber niemand merkte es.
      „Wir haben zu lange an den altbewährten Geschäftsprinzipien festgehalten“, sagt Dominic Brenninkmeyer heute. „Schon Ende der Achtziger zeichnete sich ab, dass es so nicht weitergehen konnte. Doch dann kam die Wiedervereinigung und mit ihr ein gewaltiger Schub, unser Umsatz stieg auf 8,4 Milliarden Mark. Dieser Boom hat die Probleme, wie langwierige Entscheidungsprozesse, Bürokratismus und unrentable Standorte überdeckt, die danach umso deutlicher zu Tage traten.“
      Wie das Land, so der Konzern.
      In den neunziger Jahren ging es rapide abwärts, C&A verlor fast 40 Prozent seines Umsatzes, geriet tief in die roten Zahlen und in eine Identitätskrise: Die Burg brannte an allen Ecken. Das Management verfiel in hektischen Aktionismus. Man vermietete Teile der großen Kaufhäuser unter anderem an McDonald’s, erweiterte das Sortiment um Wohnaccessoires, Sandwiches, Kochbücher, verkaufte Luxusmarken wie Lagerfeld und Yves Saint Laurent, kreierte mit Signé Incognito ein eigenes Premiumlabel.

      Die neue Brenninkmeyer-Generation trennt sich von alten Mythen, aber nicht von der Idee des Familienkonzerns

      C&A wollte mit Gewalt aus der eigenen Haut und fantasierte sich ein neues Image. Sichtbarstes Zeichen der Krise war die Werbung. Wunderschöne, mit Popklassikern wie Daydream unterlegte Spots gewannen Preise – und trieben den Widerspruch zwischen elegischen Träumen und voll gestopften C&A-Bunkern auf die Spitze. So konnte es nicht weitergehen, aber wie es weitergehen sollte, darüber konnten sich die vielen Brenninkmeyers, die bei C&A mitreden, nicht einigen.
      Bis dann nach einem Intermezzo mit zwei familienfremden Managern an der Spitze von C&A Deutschland Lucas und Domi-nic Brenninkmeyer die Macht im Konzern übernehmen und den Reformationsprozess einleiten. Die Entscheidungsstrukturen werden gestrafft und der Mythos, dass alle Brenninkmeyers gleich sind, beerdigt. Die neue Generation schlägt einen harten Sanierungskurs ein: Was sich nicht rechnet, wird aufgegeben, erstmals werden im größeren Stil Mitarbeiter entlassen. Aus Großbritannien, wo mit der Mittelschicht die klassische Kernzielgruppe von C&A weitgehend verschwunden ist, zieht sich das Unternehmen komplett zurück. Das halbherzig begonnene Internet-Geschäft wird genauso aufgegeben wie die Image-Werbung, die Zahl der Eigenmarken von mehr als 20 auf zwölf reduziert.
      Zurück in die Zukunft. C&A orientiert sich an der neuen alten Kundschaft, der „mittelmodischen Familie“, die aufs Geld achten muss, und setzt auf Basics – nur keine Höhenflüge mehr. Weil aber auch sparsame Kunden nicht mehr auf Billigheimer-Ambiente stehen, investieren die Brenninkmeyers – mitten in der Krise – kräftig: eine halbe Milliarde Euro allein in die Renovierung der Filialen, 80 Millionen Euro in die IT, 100 Millionen Euro jährlich in die Werbung, die wieder allein Produkte und Preise in den Mittelpunkt stellt. Das alles kann sich die von Banken und Börse unabhängige Familie (Motto der Dynastie: „Eintracht bedeutet Macht“;) leisten. Und sie will es sich leisten.
      Die Wende gelingt: Nach fünf verlustreichen Jahren schreibt C&A Deutschland im Geschäftsjahr 2001/2002 erstmals wieder schwarze Zahlen, die Bilanz 2002/2003 weist immerhin einen Gewinn von 107 Millionen Euro bei einem Umsatz von 2,8 Milliarden Euro aus. „Es läuft gut bei C&A“, sagt Dominic Brenninkmeyer. „Wir haben in den vergangenen zwei Geschäftsjahren in einem aggressiven Marktumfeld Kunden zurückgewonnen, den Marktanteil und Gewinn gesteigert.“ Auch für das bis Ende Februar laufende aktuelle Geschäftsjahr kündigt er schon mal ein positives Resultat an.

      Mittlerweile träumt man im Unternehmen wieder von neuer Größe und will mit Mini-C&As die Provinz erobern

      Allerdings liegt der einstige Marktführer heute nur auf Platz drei hinter dem KarstadtQuelle-Konzern und der Otto-Gruppe. Man ist bescheidener geworden, in jeder Beziehung. C&A zahlt nicht mehr überdurchschnittlich – dafür müssen die Verkäufer auch keinen Anzug mehr tragen – und konzentriert sich auf alte Stärken. Zum Beispiel Kleidung für Kinder, mit der nun die Provinz erobert werden soll. Neu entwickelt wurden „Kids Stores“ für Kleinstädte, die Müttern den Weg in die Großstadt zur nächsten C&A-Filiale ersparen sollen. 65 dieser Shops, eher Boutiquen als Kaufhäuser, gibt es schon, 200 sind geplant.
      Weil das System so gut funktioniert, wird ein entsprechendes Konzept für Frauenmode („C&A Women“;) gerade erprobt. Auf die Idee mit den kleineren Shop-Modulen ist man bei C&A mächtig stolz, weil sie dem Unternehmen erlauben, kleinere Flächen zu nutzen, wie der langjährige Unternehmenssprecher Thorsten Rolfes erklärt: „Das ist ein interessantes Potenzial, um in Deutschland weiter zu wachsen.“
      C&A ist wieder im Spiel und in der Moderne angekommen. Wer eine der renovierten Großstadtfilialen besucht, erkennt den Unterschied: mehr Licht, mehr Luft, mehr Platz. Es kommt allerdings nie ein Zweifel auf, dass man bei C&A ist. Das soll so sein, die Stammkundschaft, die mit Mode eher nichts am Hut hat und Klassiker wie die Schurwollstretch-Cordhose für 59 Euro sucht, soll nicht abgeschreckt werden.
      Die Jugend allerdings auch nicht. Und damit die Teens und Twens auch ja nicht den Eindruck haben, sich an dem Ort aufzuhalten, wo ihre Eltern einst die ungeliebten Jinglers-Jeans für sie kauften, erinnert die Young-Fashion-Abteilung im Tiefparterre sehr an H&M, auch die Musik ist die gleiche. Und auf den Tüten für Clockhouse, der jungen Marke von C&A, ist das Unternehmenslogo so klein gedruckt, dass man es kaum erkennt. Die Teenies gehen allerdings trotzdem lieber zum Original.
      Als großer Segen für C&A erweist sich der Wandel des Zeitgeistes: Nach den hedonistischen Neunzigern ist Bescheidenheit angesagt, Ernsthaftigkeit – und Smart Shopping. Nicht Geiz ist geil, sondern Verlässlichkeit, die alte Tugend der Brenninkmeyers, auf die sich C&A nun besinnt. Keine Rabatt-Orgien, keine Kundenkarten, sondern garantiert fair kalkulierte Preise.
      In vielerlei Hinsicht erinnert diese Philosophie an die von Aldi. Firmensprecher Rolfes zitiert denn auch ein Ranking der vertrauenswürdigsten Bekleidungshersteller der Zeitschrift »Reader’s Digest«, wo C&A hinter Hugo Boss auf Platz zwei landete.
      Aber kann ein Modehaus allein auf solche Sekundärtugenden setzen? Auf Vernunft? Ist das nicht auf Dauer zu wenig in einer Zeit, in der viele können, was früher nur C&A konnte?
      Das Geschäft ist heute vor allem eine Frage der richtigen Logistik. Moderne, global operierende Ketten wie Zara, Gap, H&M, die vom Design, über die Produktion und den Verkauf die gesamte Wertschöpfungskette kontrollieren, geben den Takt vor. Viele andere ziehen nach. Aldi ist mit mehr als einer Milliarde Euro Umsatz bereits der siebtgrößte Textilhändler Deutschlands, Lidl holt rasch auf, Tchibo ebenso, bei Plus gibt’s Ralph Lauren zum Schnäppchenpreis. Und die Avantgarde der Konsumenten-Demokratie fliegt zum Shoppen mit einer Billig-Airline für ein paar Euro nach Mailand oder London.

      Dem Zeitgeist sei Dank: „Es ist heute kein Problem mehr, mit unseren Tüten über die Straße zu gehen.“

      Auch in Sachen Ethik – C&A verpflichtet seine Lieferanten, für menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu sorgen, und lässt sie von der unabhängigen Organisation Socam kontrollieren – haben die Brenninkmeyers die Nase nicht mehr vorn: Das Versandhaus Otto ist mittlerweile mindestens genauso bekannt für seine sozialen und ökologischen Standards.
      Um zurück an die Spitze zu kommen, braucht C&A noch ein paar Ideen mehr. Hartnäckigkeit und Solidität allein werden nicht reichen. Möglicherweise kommen die Brenninkmeyers irgendwann auf die Idee, mit ihrem eigentlichen Pfund zu wuchern: den großen Immobilien in den besten City-Lagen, von denen die Konkurrenz nur träumen kann. Aus diesen Flächen ließe sich noch sehr viel mehr machen, Erlebniswelten für die hochindividualisierte Konsumgesellschaft des 21. Jahrhunderts zum Beispiel.
      Solche Visionen stehen in Düsseldorf aber zurzeit nicht auf der Tagesordnung: keine Experimente. Stattdessen freut man sich über das Erreichte. „Es ist heute kein Problem mehr, mit unseren Tüten über die Straße zu gehen“, sagt Dominic Brenninkmeyer. „Man schämt sich nicht mehr, bei C&A zu kaufen.“
      Das ist doch schon mal was.–


      Zusatzinformationen:

      Internet:
      www.c-and-a.com/de/


      http://www.brandeins.de/magazin/was_wirtschaft_treibt/artike…
      Avatar
      schrieb am 25.02.04 23:19:05
      Beitrag Nr. 187 ()
      Äquatorialguinea

      Schmierstoff

      Es ist das Land mit dem höchsten Wirtschaftswachstum weltweit. Seine Bewohner schwimmen in Öl. Und sie sind bitterarm.
      Eine Geschichte über Äquatorialafrika, über Korruption, Gewalt und Ölkonzerne, die das alles nichts angeht.

      Text: Johannes Dieterich

      • In Fang, der meistgesprochenen Sprache Äquatorialguineas, gibt es für Willkommen kein Wort. „Wenn du da bist, bis du halt da“, sagt eine hilfsbereite Seele, die uns am Flughafen in Malabo aus dem Griff der Grenzbeamten zu befreien sucht. Ein Besuch des Kleinstaats, in Afrikas feuchtwarmer Achselhöhle am Golf von Guinea gelegen, erweist sich als fast genauso schwierig, wie als uneinsichtiger Sünder ins Himmelreich zu kommen.
      Ein halbes Dutzend Faxe, an das äquatorialguineische Außenministerium gesandt, war zuvor echolos verschwunden. Der Kontakt mit einem Geschäftsmann in Paris, der über einen direkten Draht zu Präsident Teodoro Obiang Nguema verfügen soll, endete nach mehrwöchigem Hin (und sporadischem Her) unentschieden. Und auf die zahllosen Hilferufe an die in Malabo angesiedelten US-Erdölgesellschaften folgte die immer gleiche Phrase: „Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass unser Repräsentant in Äquatorialguinea für ein Gespräch nicht zur Verfügung steht.“ Hätte sich in letzter Minute nicht noch eine Delegation deutscher Geschäftsleute gefunden, die uns im Huckepack mit auf die Insel nahm: Äquatorialguinea wäre für uns ein mysteriöses schwarzes Loch geblieben – dem Rest der Welt höchstens dafür bekannt, dass unendliche Mengen Erdöl aus ihm blubbern.
      Vielleicht wollen sie nicht teilen. Seit texanische Suchtrupps Mitte der neunziger Jahre riesige Ölreserven vor der Küste des aus fünf Inseln und einem rechteckigen Festlandflecken bestehenden Staats ausmachten, ist das Land Wachstums-Weltmeister. Bereits 1997 wurden hier Schwindel erregende 71,2 Prozent Wachstum erzielt, vier Jahre später noch immer 45,5 Prozent, im globalen Krisenjahr 2002 noch um die 24 Prozent. Mit nachgewiesenen Reserven von 1,1 Milliarden Barrel könnte der eine halbe Million Einwohner zählende Staat innerhalb der nächsten zehn Jahre zum drittgrößten Ölproduzenten Afrikas werden. Im vergangenen Jahr nahm Äquatorialguinea 3,2 Milliarden Dollar aus dem Ölexport ein. Unter Fachleuten gilt Äquatorialguinea als „Afrikas Kuwait“. Die Ausnahme von der afrikanischen Regel.
      Natürlich verändert das einiges: Regimegegner werden nicht mehr auf der Straße vom Flughafen ins Zentrum Malabos ans Kreuz genagelt, wie es noch zu Zeiten der Herrschaft Macias Nguema, dem Onkel des heutigen Präsidenten, furchtbarer Brauch war. Dafür ist die vierspurige Straße gelegentlich gesperrt, wenn Präsidentensohn Teodorin Nguema einen seiner neuen Ferraris ausprobieren will. Tagaus, tagein wird die einzige Prachtstraße der Insel vom Schein einer zehn Meter hohen Fackel überstrahlt, die zur neuen Gasverflüssigungsanlage der US-Firma Marathon gehört. Will man vom Schlagbaum aus den wenige hundert Meter entfernten Chef der eine Milliarde Dollar teuren Investition anrufen, muss man eine Nummer in Houston/Texas wählen – auf einen lokalen Anschluss meint der US-Konzern verzichten zu können. Egal, der Boss der Firma redet so oder so nicht mit uns.
      Nicht weit von Marathons Fackel entfernt findet sich das neu errichtete US-Botschaftsgebäude. Vor acht Jahren hatte Washington seine Vertretung unter Protest geschlossen: Das Land werde von „rücksichtslosen Führern“ beherrscht, die „die Wirtschaft des Landes ruinierten“, befand die CIA damals. Heute ist das anders. Die US-Botschaft in Malabo wurde jüngst feierlich wieder eröffnet; der höchste der rücksichtslosen Führer, Staatspräsident Obiang, pflegt bei Besuchen in Washington mit Präsident George Bush zu frühstücken. Ehemalige US-Offiziere bilden inzwischen die Küstenwache des Tropenstaates aus, damit sie die Ölplattformen vor der Küste vor Terroranschlägen besser schützen kann. Einmal die Woche fliegen die lediglich mit Business Class ausgestatteten Maschinen des „Houston Express“ direkt von Texas nach Malabo. US-Bürger brauchen kein Visum für den ansonsten abgeschotteten Staat.
      Washington hat den Golf von Guinea zur „nationalen Interessenszone“ erklärt. In spätestens sechs Jahren soll mehr als ein Viertel aller US-Erdölimporte aus Zentral- und Westafrika kommen, wozu die texanischen Großkonzerne wie ExxonMobil, ChevronTexaco oder Armerada Hess mindestens 60 Milliarden Dollar in die Region pumpen werden: So viel ausländisches Geld hat der gesamte Kontinent in seiner ganzen Geschichte nicht gesehen. „Viel zu lange wurde das offizielle Washington von der Überzeugung geleitet, die USA habe keine vitalen Interessen in Schwarzafrika zu vertreten“, meint Walter Kansteiner, ehemaliger Afrikabeauftragter der Bush-Regierung: „Nichts könnte der Wahrheit ferner sein.“

      Dank der Öl-Milliarden könnten die Wege mit Gold gepflastert werden. Stattdessen waten die Einwohner im Schlamm

      Die Prachtstraße endet kurz vor Malabos mehr als hundert Jahre altem Kern: ein malerisches, charmant verwittertes Städtchen im spanischen Kolonialstil – das für ein Stück Brasilien mit Portugal getauschte Land war Spaniens einzige Kolonie in Afrika. Das Präsidentenbüro, eine katholische Kathedrale sowie das staatliche Hotel sind frisch renoviert, alle anderen zumeist aus Holz gefertigten Häuser leiden unter den zersetzenden Auswirkungen der feuchten Hitze.
      „Das war der Himmel, jetzt kommt die Hölle“, sagt Veracruz Mangue, während sie uns zu ihrem Haus im wenige hundert Meter hinter dem Stadtkern gelegenen Semu führt – dem Wohnviertel der Mehrheit der rund 50000 Malaber. Hier stehen die Bretterhütten dicht wie Kartons in einem Lagerschuppen, lediglich getrennt von Pfaden, die sich während der täglichen Regenschauer in reißende Schlammbäche verwandeln. Semus Einwohner haben in Schrittweite Hügelchen aus festem Dreck errichtet, auf die wir uns wie Heuschrecken hüpfend fortbewegen, um nicht knietief im Matsch zu versinken. „Mit den Milliarden aus den Ölexporten könnte die Regierung die Wege hier mit Goldbarren pflastern“, sagt Veracruz, „stattdessen steht uns die Scheiße bis zum Hals.“
      Ihr Zweizimmerhaus hat wie alle Unterkünfte Semus kein fließendes Wasser, „abgesehen von dem Wasser, das bei Regen unter der Tür hindurchschießt“. Der Strom, den die 24-jährige Studentin mit einem Stück Draht von der über die Siedlung hinwegführenden Leitung abgezapft hat, fällt alle paar Stunden aus: Wer in Malabo keinen Generator hat, ist aufgeschmissen. Für ihr Häuschen zahlt Veracruz umgerechnet 155 Euro Miete pro Monat, ihr Mann verdient als Leiter eines Kindergartens 92 Euro monatlich. Vergangenes Jahr kostete das Haus noch die Hälfte.
      Seit in Äquatorialguinea Öl gefunden wurde, sagt die Kinderärztin Isabel Wright (eine von zwei promovierten Frauen in Malabo), habe sich die Lage auf der Insel noch verschlechtert. „Immer mehr Menschen ziehen aus den Dörfern in die Stadt, wo sie das große Geld vermuten“, berichtet die in London ausgebildete Ärztin: Was sie dort finden, sind überfüllte Wohnquartiere, Cholera, steigende Preise und zunehmende Kriminalität.
      Nach einer Studie der Welternährungsorganisation FAO verfügt nur ein Viertel der Äquatorialguineer über die für ein gesundes Leben nötigen Nahrungsmittel – die Mehrheit der Bevölkerung des Wirtschaftswunderlandes lebt nach Erhebungen der Weltbank von weniger als zwei Dollar am Tag. Unterdessen droht die Landwirtschaft, mit der sich der Inselstaat einst über Wasser hielt, vollends zusammenzubrechen. Als einer der wenigen übrig gebliebenen Plantagenbesitzer harrt Luis Acevedos auf der wenige Kilometer außerhalb von Malabo gelegenen Kakao-Finca Sampaka aus, die sein Großvater vor hundert Jahren errichtet hatte. Sein Monopol zum Export von Kakaobohnen nach Europa nützt ihm mittlerweile kaum noch etwas: Es gibt immer weniger kleine Kakao-Farmer, die ihre Ernte zu ihm bringen. Auf der Insel, wo der unumstritten beste Kakao der Welt wächst, wurden zu Kolonialzeiten jährlich 30000 Tonnen produziert, zu Beginn des Öl-Booms waren es immerhin noch 5000, heute ist Acevedos froh, wenn 2000 Tonnen zusammenkommen.
      Experten nennen das Phänomen die „holländische Krankheit“, benannt nach den Erfahrungen, die Länder der Dritten Welt mit der einst global tätigen Kolonialmacht Niederlande machten. Werden in einem Entwicklungsland begehrte Rohstoffe wie Öl gefunden, wird dessen Wirtschaft auf den Kopf gestellt. Der Wert der Landeswährung steigt, Importe werden billiger, die Eigenproduktion erlahmt. Jeder wache Kopf sucht eine Beschäftigung im relativ gut bezahlten Ölsektor, harte Feldarbeit ist out.
      Äquatorialguineas Nachbarland Gabun, wo bereits in den sechziger Jahren Öl gefunden wurde, befindet sich im Endstadium der holländischen Krankheit: Die agrarische Produktion ist dort gleich null, selbst Mineralwasser und Fisch werden aus Frankreich importiert. Erdölfunde erwiesen sich für die Entwicklung eines Dritte-Welt-Landes grundsätzlich nicht als Segen, sondern als Fluch, sagt Terry Karl, Politikprofessorin an der kalifornischen Stanford-Universität und Autorin des Buches „The Paradox of Plenty“: „Wir kennen keinen einzigen Fall, in dem Öl in einem Entwicklungsland zu langfristigen positiven Resultaten führte.“ Selbst wenn man optimistischer ist als die Professorin, ist unverkennbar, dass von Entwicklung durch Reichtum in Äquatorialguinea keine Rede sein kann.
      Manuel Nsi Nsogo sitzt neben einer verrosteten mechanischen Schreibmaschine im ersten Stock eines verblichenen Holzhauses im Zentrum von Malabo. Der Ex-Diplomat und Verleger hält das neueste Exemplar seiner Zeitung »La Opinion« in den Händen, acht Seiten vergilbtes Papier, mit einer Heftklammer zusammengehalten. Einmal im Monat erscheint das Blatt. Es ist jedes Mal ein Kampf. Vier Jahre lang hat er allein für die Lizenz gestritten. Und die Straßenverkäufer, die »La Opinion« unters Volk bringen, riskieren immer wieder Kopf und Kragen.
      In Äquatorialguinea gibt es weder eine Nachrichtenagentur noch eine Tageszeitung, die zwei TV- und Radiostationen gehören entweder dem Staat oder dem Präsidentensohn Teodorin. Im staatlichen Radiosender wurde Präsident Obiang kürzlich als „Gott Äquatorialguineas“ gepriesen. „Er kann auch töten, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden“, befand der Moderator, „da er mit dem himmlischen Gott selbst in ständigem Kontakt steht.“ Als sich Zeitungsverleger Nsogo jüngst an ExxonMobil wandte, um den Ölgiganten aufzufordern, doch bitte auch mal in seinem Blatt zu inserieren, wurde ihm beschieden, dazu müsse man erst einmal die Regierung fragen. „Texanische Pressefreiheit“, sagt Nsogo bitter.
      Selbst in seiner eigenen Zeitung kann der Verleger nicht schreiben, was er aus US-Medien weiß: dass Präsident Obiang neben mehreren Villen in den USA unter anderem auch über ein Konto bei der Riggs Bank in Washington verfügt, auf das die Ölgesellschaften einen Teil der eigentlich dem Staat zustehenden Abgaben für das schwarze Gold zu überweisen pflegen. Inzwischen soll das Konto auf mehr als 300 Millionen Dollar angeschwollen sein. Wer derartig „Staatsfeindliches“ zu Papier bringe, lande wie tags zuvor ein Mitarbeiter der französischen Nachrichtenagentur Agence France Press im Gefängnis, so Nsogo: Der Reporter habe über einen vermeintlichen Putschversuch in Malabo berichtet.
      Maria Bikene weiß, wie ein äquatorialguineischer Knast von innen aussieht – jahrelang hat sie ihren Mann Placido Mico im berüchtigten Zuchthaus „Black Beach“ besucht. Insgesamt achtmal ist der Generalsekretär der oppositionellen sozialdemokratischen Partei in den vergangenen zehn Jahren festgenommen, eingesperrt und auch gefoltert worden: Erst im Juni wurde er mal wieder freigelassen, er hält sich gegenwärtig in Spanien auf.
      Vielleicht, sagt Maria in der gutbürgerlich mit Couch und überladenem Bücherregal ausgestatteten Studierstube ihres Mannes, habe sich die Menschenrechts-Lage im Land tatsächlich etwas entspannt: „Zumindest gibt es keine Massenhinrichtungen mehr.“ Andererseits seien die Aussichten heute noch hoffnungsloser als zuvor. Während die internationale Gemeinschaft nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen 1996 (die Obiang mit 97,9 Prozent der Stimmen gewann) noch Druck auf den Staatschef ausübte und die Weltbank wie der Währungsfonds sogar ihre Beziehungen zu dem völlig korrumpierten Staat abbrachen, sei die Welt heute nur noch an einem interessiert: dem Öl. „Und weil Obiang als Präsident die Unterschriften unter die Verträge setzt, wird er von allen hofiert.“
      Die senegalesische Satirezeitschrift »Le Marabu« habe wohl Recht, fügt Maria lächelnd hinzu: „Wenn Sie in einem friedlichen Winkel irgendwo in Afrika beim Graben in Ihrem Garten plötzlich auf Erdöl stoßen, stopfen Sie schnell das Loch zu, und nehmen Sie Ihr Geheimnis mit ins Grab.“
      Die Sicherheitsbeamten am Schlagbaum zum ExxonMobil-Camp lassen sich überrumpeln. Leigh Evans, Kommunikations-Fachfrau des in fast 200 Ländern der Welt vertretenen Erdölkonzerns, ist von unserem plötzlichen Auftauchen allerdings nicht begeistert: „Ich hatte Sie hier nicht erwartet“, begrüßt uns die Pressesprecherin. Dass sie uns leider nicht viel weiterhelfen könne, liege vor allem daran, dass Mobil Äquatorialguinea von Presseanfragen „regelrecht überschwemmt“ werde, erfahren wir. Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass in den vergangenen drei Monaten zwei TV-Teams hier waren. Leigh Evans hat trotzdem nur noch fünf Minuten Zeit, um uns zu erklären, warum ExxonMobil nichts von der Initiative des US-Finanzakrobaten George Soros und des britischen Premierministers Tony Blair hält, die die Mineralölkonzerne dazu bewegen wollen, ihre an Staatschefs oder Regierungen bezahlten Ölabgaben öffentlich zu machen: „Wir sind“, so Evans, „durch unsere Verträge zur Geheimhaltung verpflichtet.“ Und wer hat die Verträge aufgesetzt? Zu dumm: Die fünf Minuten sind vorbei.

      Family Business – die Nguema-Dynastie kontrolliert Politik und Geschäfte, der Präsident spricht mit Gott

      Glücklicherweise bietet sich noch die Gelegenheit, den Präsidenten selbst zu fragen. Der Staatschef will nämlich unbedingt die Delegation deutscher Geschäftsleute sehen – es heißt, Obiang suche seine Abhängigkeit von den Wirtschaftskapitänen aus den USA zu reduzieren. Seine amerikanischen Freunde haben es nicht immer nur gut mit ihm gemeint: Anfangs legten ExxonMobil & Co dem unerfahrenen Ölprinzen Verträge zur Unterschrift vor, die ihm lediglich zwölf Prozent der Verkaufseinnahmen als Tantiemen sicherten. Unter Diktatoren üblich sind 60 Prozent.
      Nicht, dass die Präsidentenfamilie Not leidet. Die Besitztümer der Nguema-Dynastie erstrecken sich von einer 5,8 Millionen Dollar teuren Villa in Los Angeles’ Nobelviertel Bel Air über mehrere Häuser im US-Staat Maryland und einen Sportwagenpark in Paris bis zu zahllosen Palästen in der Heimat. Der Erstgeborene von, wie manche wissen wollen, 103 vor allem unehelichen Präsidentenkindern steht heute schon als Nachfolger seines 62-jährigen Vaters fest – wie überhaupt alles in Äquatorialguinea in der Familie zu bleiben scheint. Obiangs zweiter Sohn Gabriel Nguema Lima ist Staatssekretär für Bodenschätze, sein Bruder Armengol Chef der Sicherheitskräfte, sieben der neun Generäle und die Hälfte der immerhin 50 Kabinettsminister sind Verwandte des allmächtigen Äquatorialguineers.
      Teodoro Obiang Nguema empfängt uns in seinem Palast in der Festlandstadt Bata: ein monumentales, in den siebziger Jahren errichtetes Gebäude aus Beton, Glas und Hartplastik mit dem Charme eines nordkoreanischen Flugzeughangars. Bewacht wird der Präsident von einer Hundertschaft muskelbepackter Marokkaner – seinen eigenen Leuten scheint er längst nicht mehr zu trauen. Dafür hat er gute Gründe: Während der Tyrannenherrschaft seines Onkels, der ein Drittel der äquatorialguineischen Bevölkerung entweder zum Opfer fiel oder gerade noch rechtzeitig ins Exil entfloh, war Obiang Chef der Streitkräfte. 1979 putschte er gegen seinen blutrünstigen Oheim und ließ ihn hinrichten. Viel besser wurde es danach aber auch nicht.
      Der Präsident lässt sich am Kopf eines zwölf Meter langen Tisches in der Ecke des ansonsten fast leeren Palastes nieder und überschüttet die meist mittelständischen deutschen Geschäftsleute mit Höflichkeiten. Seine Exzellenz zeigt an „Made in Germany“ höchstes Interesse: Die Deutschen sollten sich doch bitte schön mit so vielen Geschäftsideen wie möglich bei seinen jeweiligen Ministern melden. Von sich aus schlägt der Staatschef die Gründung eines von Deutschen gemanagten Projektprüfungsbüros vor, das alle ausländischen Eingaben auf Qualität und Kosten checken soll – ein „enormer Vertrauensbeweis“ in deutsches Know-how, freut sich ein mitgereister Diplomat. Dann darf jedes Delegationsmitglied noch seine Firmenbroschüre überreichen und sich mit dem Allmächtigen ablichten lassen. Schließlich beantwortet der Staatschef sogar noch ein paar Reporterfragen, preist sein Land als das menschenrechtsfreundlichste der Region, leugnet, dass es in den Verträgen mit den Erdölgesellschaften überhaupt Geheimhaltungsklauseln gibt und appelliert an die Staatengemeinschaft, ihm bei der Entwicklung des Tropenparadieses behilflich zu sein.
      Der Verlauf der Audienz löst unter den Delegationsteilnehmern wohltemperierte Euphorie aus. Man ist sich einig, dass die Deutschen die rasante Wachstumsfahrt des afrikanischen Wirtschaftswunderlandes zwar zunächst sträflich verschlafen hätten – das aber lasse sich mit der Nachhilfe von höchster Stelle korrigieren. Die letzten Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Präsidenten werden ausgeräumt, als Obiang die Chefs der Delegation noch einmal in seinen monumentalen Regierungssitz rufen lässt. Er wolle nicht nur deutsche Investoren gewinnen, erklärt der Tropengott, sondern auch die politischen Bande festigen und baldmöglichst eine Botschaft in Berlin eröffnen.
      Klaus-Peter Brandes, auch für Äquatorialguinea zuständiger deutscher Gesandter in Kamerun, will dem einstigen Pariapräsidenten eine Chance geben, vor allem aber seinen Absatzchancen suchenden Landsleuten nicht im Weg stehen. Auf einem früheren Posten in Brunei habe er gelernt, dass Ölscheichtümer nicht grundsätzlich schlecht sein müssen, sinniert der Diplomat: In dem fernöstlichen Inselstaat gebe es „keine Wahlen, keine freie Presse, keine Gewerkschaften und keine Steuern – nur viele glückliche Menschen“. Mit sorgfältiger Begleitung, ist Gesandter Brandes überzeugt, könne auch Äquatorialguinea in ein „afrikanisches Brunei“ verwandelt werden.
      René Lemarchand, Beauftragter der Europäischen Union für die Konflikte in Zentralafrika, kam nach seinem parallel verlaufenden Besuch in Äquatorialguinea zu einem anderen Schluss. „Dieser Staat ist absolut widerlich“, sagt der französische Professor, während unser Flugzeug dröhnend den Palast des Präsidenten, Semus Schlamm und Marathons Methangasflamme unter sich lässt: „Was hier passiert, muss früher oder später im Desaster enden.“ –

      http://www.brandeins.de/magazin/was_wirtschaft_treibt/artike…
      Avatar
      schrieb am 25.02.04 23:28:16
      Beitrag Nr. 188 ()
      Die Gründerväter

      Aus der Not heraus eröffneten zwei Väter eine Kindertagesstätte – der Anfang einer Karriere.

      Text: Midia Nuri

      • Selbst ist der Mann, sagten sich Alfons Scheitz und Oliver Strube. Weil sie mit dem bestehenden Angebot an Kinderbetreuung in ihrer Heimatstadt Kassel unzufrieden waren, mieteten sie mit Gleichgesinnten ein Haus im Stadtteil Vorderer Westen und bauten es um. Im Dezember 1992 wurde die „Oase“ eröffnet, eine Kita, wie Eltern sie sich wünschen. Das pädagogische Konzept stammt von einer Erzieherin aus dem Bekanntenkreis der Gründer, die Öffnungszeiten sind so flexibel wie ihre Arbeitszeiten.
      So weit, so normal. Aus der Not heraus werden viele Eltern ehrenamtlich für ihre Kinder aktiv. Die Selbsthilfe-Idee von Scheitz und Strube allerdings zog weitere Kreise. Bei der Preussag-Tochter EAM Energie AG, die ihren Mitarbeitern die Verbindung von Familie und Beruf erleichtern wollte, wurde man auf die Väter aufmerksam. Ob die beiden helfen könnten? Sie konnten, planten für das Unternehmen einen Werks-Kindergarten („Die Stromer“ ). Und gründeten – um die 1500 Euro Honorar ordentlich zu verbuchen – die Beratungsfirma Impuls Soziales Management.
      Das war die richtige Idee zur richtigen Zeit. Bald flatterten den Gründungsvätern so viele Aufträge ins Haus, dass sie sie nicht mehr nebenbei bewältigen konnten. Scheitz wechselte als Erster ganz in die Kita-Branche, Strube folgte. Heute sind die beiden gefragte Dienstleister. Ihr Service reicht von der Konzeption bis zum kompletten Management von Kinderbetreuungseinrichtungen. Zurzeit machen sieben Kitas und vier betreute Grundschulen von dem Angebot Gebrauch, das sich strikt an den Bedürfnissen der Eltern ausrichtet – also am Markt.
      Neben ihrer Consultingfirma gründeten Scheitz und Strube die gemeinnützige Gesellschaft zur Förderung von Kinderbetreuung (GFK). Die beschäftigt mittlerweile rund 90 Mitarbeiter und betreibt 17 Einrichtungen. Impuls analysiert und plant, die GFK ist für die Umsetzung zuständig. Zu den Kunden des Kita-Konzerns gehören neben der Caritas und dem Diakonischen Werk auch die Europäische Zentralbank, Lufthansa, Volkswagen und Wintershall sowie einige Kommunen und Ministerien. Vor allem das Geschäft mit Unternehmen brummt. Und schafft sich, wenn es gut läuft, die Nachfrage selbst. Etwa bei der Wintershall AG, wo sich mit der Einrichtung einer Firmen-Kita ein regelrechter Baby-Boom einstellte. „Ich weiß allein von fünf der Eltern, dass sie ihre Familienplanung abgeschlossen hatten und dann doch noch ein Kind bekommen haben“, sagt Scheitz.
      Starre Regeln und feste Öffnungszeiten gibt es in ihren Einrichtungen nicht. So hat der Kindergarten des Kasseler Klinikums von sechs bis 22 Uhr geöffnet; die Kita der Wintershall AG betreut den Nachwuchs der Mitarbeiter bei Bedarf auch nachts und am Wochenende. Damit sich so viel Flexibilität trotzdem rechnet, klügelten Scheitz und Strube ein ausgefeiltes Zeitmanagementsystem aus. „Denn das ist es, was wir verkaufen: Zeit“, sagt Scheitz. Die Eltern kaufen 20 bis 55 Wochenstunden, in fünfstündige Betreuungsblöcke portioniert. Bei Bedarf buchen sie kurzfristig zusätzliche Blöcke. Das kostet je nach Bedarf und Alter der Kinder zwischen 78 und 232 Euro pro Monat.
      Neben Zeit verkaufen die beiden Quereinsteiger das Wissen, wie sie gemanagt wird. Bei Impuls sind zu haben: die Software KitaPlan, das Beschwerdemanagementsystem KitaFeedback, die Finanzverwaltung KitaFinanz und das Zeiterfassungssystem Kita-Time. Die GFK bietet über die Tochter Kita-Express anderen Kindertagesstätten Catering an.
      Auch das pädagogische Angebot von Scheitz und Strube ist auf der Höhe der Zeit. Zum Konzept gehören interkulturelles Lernen und die spielerische Vermittlung von Computer- und Englischkenntnissen. Die Gruppen sind altersgemischt und die Erzieherinnen gehalten, auf die Lebenssituation jedes einzelnen Kindes einzugehen. Die Ansprüche sind hoch, besonders an das Personal. „Wir brauchen Leute, die brennen“, sagt Strube. Die Erzieher müssten bereit sein, Neues auszuprobieren, Fehler zu machen, umzudenken. Fortbildung ist deshalb bei Scheitz und Strube Pflicht, bezahlt wird nach Leistung. Im Jahresgespräch werden Gehalt und zusätzliche Anreize ausgehandelt – Weiterbildungskurse, eine Zusatzausbildung oder Auszeiten.
      Mit ihrem modernen Sozialkonzern sind die Gründerväter vielen behäbigen Kita-Trägern weit voraus. Doch ihr strategischer Vorsprung wird schmelzen, davon gehen beide aus. „Die anderen werden besser werden müssen“, meint Scheitz. Die Ansprüche der Eltern steigen, die Zahl der Kinder sinkt.
      Die wachsende Konkurrenz bereitet dem Duo nicht wirklich Sorge. Oliver Strube tippt über den Tisch hinweg auf das Unternehmens-Organigramm, das Alfons Scheitz auf ein Blatt gemalt hat. „Schau mal“, meint er. „Die GFK profitiert davon, dass andere schlecht sind. Und Impuls davon, dass wir besser sind. Im Grunde kann uns also nichts passieren.“ –

      http://www.brandeins.de/magazin/vermischtes/artikel4.html
      Avatar
      schrieb am 06.03.04 17:37:17
      Beitrag Nr. 189 ()
      Es ist paradox, meint Bill Gates. Der Internet-Hype sei lange vorbei und die Anzahl der Erstsemester in der Informatik stark zurückgegangen. " Aber trotzdem machen wir phänomenale Fortschritte." Tatsächlich würden die Auswirkungen der neusten Informationstechnologie auf die nächste Dekade bislang völlig unterschätzt - auch auf die Biologie, auf die Art, wie wir lernen und die Produktivität im Allgemeinen.

      Der Gründer und heutige Chief Software Architect von Microsoft reiste Ende Februar von einer US-Universität zur nächsten, um Nachwuchs für die nächsten Herausforderungen in den Computerwissenschaften zu rekrutieren. In Harvard sprach er mit einer kleinen Gruppe von Journalisten, zu der auch der Chefredakteur der amerikanischen Technology Review, Robert Buderi, gehörte. Bei dem Treffen sprach Gates darüber, wie Microsofts Forschungsabteilung künftige Herausforderungen angehen will und wie sich der globale Technologiewettbewerb entwickelt.

      " Mit 6,8 Milliarden im Jahr haben wie das größte Forschungsbudget aller Technologie-Firmen" , sagte Gates. Microsoft Research investiere langfristig, lasse Projekte normalerweise drei bis neun Jahre reifen, bis sie kommerziell verwertet würden.

      Als einen der jüngsten Erfolge nannte er den Bereich der maschinellen Übersetzung. Microsoft-Technik könnte bereits Produktdokumentationen vom Englischen ins Spanische übersetzen - in " exzellenter" Qualität. " Wir sagten: Wow, das Ding verwenden wir. Niemand wusste, dass es kommen würde. Es war einfach ein glücklicher Zufall."

      Gates nannte Suchtechnologien als ein weiteres Beispiel für Langzeitziele von Microsoft Research. " Suchmaschinen sind heute sehr simpel, es ist keine natürliche Sprache verwendbar. Sie kennen weder Orte noch persönliche Vorlieben. Man sollte die Frage " Ist der Himmel blau?" eintippen können und darauf eine Antwort erhalten - nicht ein paar Leute, die Ihnen blaue Farbe verkaufen wollen. Das ist eine der großen Aufgaben der Informatik."

      Ein anderes Marathon-Projekt: Die Suche nach besseren Benutzerschnittstellen. Es scheint intuitiv richtig zu sein, dass dreidimensionale Oberflächen Bildschirmmaterial klarer präsentieren könnten, so Gates. Microsoft habe an dem Problem seit zehn Jahren gearbeitet. " Und wie viele Prototypen wir da gebaut haben. Alle wurden sie durch Usability-Tests geschickt. Und keiner funktionierte."

      Während verbesserte Suchmaschinen und Benutzeroberflächen für normale Computerbenutzer attraktiv erscheinen, haben andere Microsoft-Research-Vorhaben esoterischere Ziele. Man nehme zum Beispiel die Quanten-Computer-Abteilung. Deren Arbeit, so Gates, " wird wohl im nächsten Jahrzehnt noch überhaupt keine Resultate zeigen. Falls doch, wäre es atemberaubend, weil sie ein ganz anderes Computer-Paradigma einläuten würden." Quanten-Computer können extrem schwierige Rechenprobleme lösen, so Gates. " Das macht dann die Verschlüsselungs-Jungs verrückt, weil wir gerade erst damit beginnen, Algorithmen zu entwickeln, die gegen ihre Quanten-Berechnungen immun sind."

      Microsoft nimmt auch andere ambitionierte Ziele im Bereich der Biologie, der Astronomie und andere Grundlagenforschung in Angriff: " Unser Sicht der Dinge ist, dass große Fortschritte in vielen Wissenschaften von Leuten kommen werden, die die Informatik verstehen und diese Technologie nutzen, um Modelle zu erstellen, die Probleme tiefgehend erfassen." Als Beispiel nannte Gates ein Microsoft-Team, das die Aussichten für einen AIDS-Impfstoff anhand von Forschungen feststellen will, die mit Maschinen-Lerntechnologien zu tun haben.

      Wenig überraschend hat der reichste Mann der Welt, der laut " Forbes" ein Vermögen von 46,6 Milliarden Dollar angehäuft hat, eine globale Sicht der Job-situation im Technologiebereich. Seine Worte werden Programmierer, deren Arbeit nach Asien ausgelagert wird, kaum beruhigen: " Es gibt keine Aktivität in der Wirtschaft, die nicht irgendwo anders auf der Welt erledigt werden könnte. Technologie macht das mehr und mehr möglich. Für die Qualität der Produkte, die die Leute kaufen, ist das großartig, auch das Einkommen der ganzen Welt wächst so. Genauso wie heute Fabrikarbeit extrem effizient durchgeführt wird, werden all diese anderen Jobs effizienter werden."

      Um weltweit Talente zu finden, hat Microsoft Research Niederlassungen rund um den Globus etabliert. Stolz ist Gates beispielsweise auf eine fünf Jahre alte Forschungseinrichtung in Peking. " Unser Labor in China ist phänomenal" , so Gates, " wenn man eine Milliarde Menschen und ein vernünftiges Bildungssystem hat und das Glück, der erste mit einem sehr ernsthaften Forschungslabor zu sein, wollen Genies bei Ihnen arbeiten. Und die ziehen dann wieder andere Genies an. Genies wollen immer mit Genies arbeiten" .

      Die komplexeste Arbeit will Microsoft aber weiter in Amerika erledigen lassen. " Ein Teil unseres Wachstums wird in China sein, ein Teil in Indien, aber unsere Kernentwicklungsarbeit wird weiterhin hauptsächlich hier passieren. Das liegt zum Teil an den hervorragenden Universitäten hier und auch daran, dass die USA Talente von außerhalb anziehen. Also denken wir, dass wir unsere Ziele hier am besten erreichen" , sagte Gates.

      Angesichts der Job-Angst vieler Informatik-Studenten versuchte Gates, die Situation optimistisch darzustellen. Mit einem Abschluss in Computerwissenschaften von einer führenden Universität werde man " riesige Chancen" haben. " Sie werden auf der ganzen Welt arbeiten können. Sie haben viele Möglichkeiten in den USA, aber sie werden auch, wenn Sie das wollen, auf irgendeiner Insel aus der Ferne arbeiten können. Informatiker sind sehr, sehr gefragt."

      Von Eric Bender; Übersetzung: Ben Schwan
      __________________________________
      gefunden inThread: Gates: IT wird völlig unterschätzt

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 23.03.04 08:55:13
      Beitrag Nr. 190 ()
      Hirnforschung wirft neues Licht auf rechtliche Verantwortlichkeit





      Gehirnforschung (Foto: dpa)

      Hamburg (dpa) - Die Hirnforschung hat in jüngster Zeit das traditionelle Bild vom Menschen in Frage gestellt. Besonders brisant sind Befunde, die den freien Willen als eine Illusion erscheinen lassen.

      Das ist nicht nur für die Philosophie und Religion bedeutend, sondern könnte auch einmal wichtig für die strafrechtliche Verantwortlichkeit werden. Wie eine Bilanz in dem Magazin "Gehirn & Geist" (Heidelberg, 1/2004) deutlich macht, können diese Auseinandersetzungen den Eindruck erwecken, dass es nur zwei extreme Thesen gibt: Entweder "Personen handeln als Automaten, denen ihr Gehirn vorgaukelt, sie würden selbst entscheiden", oder "Neurobiologische Erkenntnisse haben keinerlei Bedeutung für unser Selbstkonzept als frei und verantwortlich handelnde Menschen". Der Beitrag versucht aufzuzeigen: "Die Wahrheit liegt wohl, wie so oft, in der Mitte."

      Der Autor Professor Paul Hoff von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich meint, dass Gerichtsgutachter künftig häufiger die funktionelle Kernspintomographie (fMRT) nutzen werden. So könnten etwa Unstimmigkeiten in der Hirnaktivität von Straftätern erkannt werden, beispielsweise bei der Gefühlsverarbeitung oder der Impulskontrolle.

      Im Unterschied zum traditionellen, eher von sozialen Fehlanpassungen eines Täters ausgehenden Ansatz würde hier nach der im Gehirn verankerten Verhaltensdisposition gesucht werden. Hoff sieht allerdings dabei eine Gefahr: "Das alte Klischee vom geborenen Verbrecher könnte so gleichsam durch die Hintertür wieder zurückkehren."

      Die Grenze zwischen freien und unfreien Handlungen ist bislang immer fließend erschienen. Neuerdings jedoch stellen renommierte Hirnforscher wie etwa Gerhard Roth von der Universität Bremen den freien Willen grundsätzlich in Frage: Dem Bewusstsein verborgene Hirnprozesse führen seiner Meinung nach zu Entscheidungen, für die wir uns nachträgliche Begründungen zurechtlegen.

      Dieser These liegt auch ein Experiment des Neuropsychologen Benjamin Libet von der Universität von Kalifornien zu Grunde mit Probanden, die einen spontanen Entschluss zu einer bestimmten Bewegung fassen sollten. Gemessen wurden: erstens der Augenblick der Entscheidung, zweitens im Gehirn der Aufbau eines Bereitschaftspotenzials als Vorbereitung der Bewegung und drittens der Zeitpunkt der Bewegung. Es zeigte sich, dass der bewusste Entschluss zur Handlung 200 Millisekunden vor dem Bewegungsbeginn auftrat, jedoch mehr als 300 Millisekunden nach dem Beginn des Bereitschaftspotenzials. Für Libet ließ das Experiment den Schluss zu: Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.

      Hans-Ludwig Kröber, der Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Benjamin Franklin der Freien Universität Berlin lehrt, hat grundsätzliche Einwände dagegen erhoben, Libets Experiment für Beurteilungen bei Strafverfahren zu Grunde zu legen. In einem Beitrag der Zeitschrift "Neurotransmitter" (München) bemerkt er: "Das Experiment leidet darunter, dass es gar keine rationalen oder emotionalen Entscheidungsgründe für das Heben des einen oder anderen Arms gab. Menschen fungierten hier als Zufallsgenerator." Es gebe nicht die geringste Ähnlichkeit dieses Experiments und dieser Art von Entscheidung mit emotional und rational hochaufgeladenen Entscheidungen, wie sie vielfach Gegenstand der Gerichtspsychiatrie (forensische Psychiatrie) seien.

      Es sei nicht überraschend, dass bestimmte Untergruppen chronisch Straffälliger auch neurophysiologische und neuroanatomische Besonderheiten aufweisen. Auch das Wahrnehmen, Werten, Denken und Handeln rechtskonformer und psychisch ungestörter Menschen sei in erheblichem Umfang im biologischen Untergrund verankert.

      "Dass unsere Entscheidungen auf einer materiell fassbaren biologischen Grundlage erfolgen, besagt noch nichts darüber, ob es freie Entscheidungen sind, und entsprechend auch nichts über die strafrechtliche Verantwortlichkeit", betont Kröber. "Wir sind strafrechtlich verantwortlich, wenn wir imstande sind, unsere Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen, wenn wir also imstande sind, unsere Wünsche kritisch zu bewerten." Kröber räumt indessen ein: "Die weitere Erforschung der Funktionsweisen des Gehirns ist auch für die forensische Psychiatrie von hohem Interesse."
      Avatar
      schrieb am 19.04.04 13:46:21
      Beitrag Nr. 191 ()
      Rauchen für den guten Zweck
      Raucher werden eher krank und belasten ihre Umgebung. Das kostet. Sie sterben auch früher. Das spart viel. Ein interessierter Konzern ließ rechnen
      von RALF GEISSLER
      Rauchen Sie! Möglichst oft und immer intensiv. Sie sterben zwar wahrscheinlich schneller, tun aber etwas Gutes: Sie sanieren die Sozialsysteme. Das ist die Botschaft einer Studie des weltweit größten Zigarettenherstellers Philip Morris, die er von der US-amerikanischen Wirtschaftsberatung Arthur D. Little International erarbeiten ließ. Darin rechnen die Autoren vor, dass die Tschechische Republik 1999 bis zu 69 Millionen Mark allein deshalb gespart habe, weil ihre rauchende Bevölkerung eher gestorben ist als die nicht rauchende und folglich weniger Kosten verursacht habe für Renten, Altenpflege und medizinische Betreuung.

      "Es ist eine Wirtschaftsstudie - nicht mehr und nicht weniger", beschwichtigt Philipp-Morris-Sprecher Robert Kaplan im Wall Street Journal. "Wir wollen nicht den Eindruck erwecken, dass die Gesellschaft einen Nutzen aus den Leiden zieht, die auf das Rauchen zurückzuführen sind." Die Zahlenspiele erwecken diesen Eindruck aber durchaus. So addierten die Unternehmensberater auch die Einnahmen aus der Tabaksteuer und zogen den volkswirtschaftlichen Schaden ab, den Raucher verursachen, weil sie und Menschen aus ihrer Umgebung häufiger krank werden. Unterm Strich habe sich der tschechische Staat 1999 sogar über einen Nettogewinn von 337 Millionen Mark freuen können - fast nur dank Philip Morris.

      Denn die Zigaretten des Konzerns haben in Tschechien einen Marktanteil von achtzig Prozent. 1992 kaufte die Firma den bis dahin staatlichen Zigarettenhandel. Heute vertreibt sie neben den alten landestypischen Marken vor allem Bekanntes aus Westeuropa und Amerika wie Marlboro.

      Die Studie ließ der Konzern erstellen, nachdem tschechische Politiker behauptet hatten, die Tabakindustrie belaste die öffentlichen Finanzen. Dass Tabakkonsum einen Staat Geld kostet und ihn nicht entlastet, besagen unzählige Untersuchungen. So berechnete die Weltbank, dass die Behandlung von Raucherkrankheiten weltweit jährlich 200 Milliarden Dollar verschlinge. Innerhalb der nächsten 25 Jahre würden mehr Menschen von Raucherkrankheiten dahingerafft als von allen ansteckenden Krankheiten zusammen. Auf die Idee, den früheren Tod als volkswirtschaftlichen Nutzen zu betrachten, kam bislang aber noch keiner.

      Anders als in vielen Ländern Westeuropas und der USA geht die Zahl der Raucher in Osteuropa nicht zurück. Vermutlich deswegen, so Ernst Günther Krause von der Nichtraucher-Initiative Deutschland, sei die Studie für Tschechien erarbeitet worden. "Die Tabaklobby konzentriert sich auf Märkte, wo noch was zu holen ist." In den USA lässt sich mit Tabak immer weniger verdienen. Im Juli vorigen Jahres wurden die fünf größten Tabakkonzerne von einem Gericht in Florida zu einer Geldstrafe von insgesamt 145 Milliarden Dollar verurteilt - wegen Verbreitung eines "tödlichen Produkts" und "Betrug der Öffentlichkeit". Doch obwohl sich die Konzerne in den USA auf die Zahlungen einlassen mussten: Die Tabaklobby gilt immer noch als eine der einflussreichsten und trickreichsten der Welt. Voriges Jahr zeigte eine Untersuchung, wie die Tabakkonzerne versuchten, die Weltgesundheitsorganisation WHO zu beeinflussen. So hätten die Lobbyisten Wissenschaftler gebeten, Leserbriefe an Fachzeitschriften zu schicken, in denen die Studien der WHO angezweifelt wurden. Und Philip Morris soll den skandinavischen Mediziner Tage Voss bis zu 6.500 Mark monatlich gezahlt haben, damit er öffentlich Anti-Raucher-Gruppen kritisiert.

      taz Nr. 6499 vom 18.7.2001, Seite 5, 117 Zeilen (TAZ-Bericht), RALF GEISSLER
      http://www.taz.de/pt/2001/07/18/a0086.nf/text
      Avatar
      schrieb am 29.04.04 01:03:22
      Beitrag Nr. 192 ()
      Hallo liebe WO-Leser:)


      Erneute Berichte in stern tv haben mich veranlasst, auf
      diese Problematik aufmerksam zu machen. Unverschämt wie
      die EU Parlamentarier teilweise ungeniert sich bedienen,
      weil sie durch viel reisen auch noch reich werden.

      Man stelle sich das mal vor. EU-Abgeordneter/in reist mit
      Ryan Air und kassiert pro Flug ohne jeden Nachweis rund
      700€ der Flug kostete rund 70€. Die Differenz von 630€
      wird wird steuerfrei einkassiert und ist Gewinn.

      Und das ist nur ein Beispiel für viele..unglaublich. So
      kassieren EU- Abgeordnete rund 100.000 € jährlich andere
      bis zu 240.000€ jährlich (20.000€ monatlich) steuerfrei!!!

      Und die EU Bürger, also wir alle, bezahlen das alles ohne
      es zu ahnen. So könnten jährlich bis zu 50 Mio € gespart
      werden..... Also so etwas ärgert mich dann doch schon ein
      wenig....


      Bericht entnommen stern tv.de von Hans-Martin Tillack,
      jener Mann, der das alles aufdeckte.....


      "EU-Abzocke

      Volle Taschen

      "Alles nur Gerüchte und Panikmache": Patrick Cox,
      Präsident des EU-Parlaments, will "keine Debatte" zu
      Abzockereien seiner Kollegen Es sei "das Schlimmste", was
      passieren könnte, schwant dem österreichischen

      EU-Abgeordneten Hannes Swoboda. Gut zwölf Wochen vor der
      Europawahl am 13. Juni machen die Europaabgeordneten groß
      von sich reden - mit Lug und Trug.

      Es war der stern, der vergangene Woche den Frieden am
      Parlamentssitz in Straßburg störte - mit der Enthüllung,
      dass EU-Abgeordnete womöglich von Strohleuten ihre
      Unterschriften in Anwesenheitslisten fälschen ließen und
      damit Tagegelder von jeweils 262 Euro ergaunerten. Viele
      Zeitungen brachten die Story vom "Tagegeld-Trick" ("Bild")
      auf ihrer Titelseite. Unter den 626 EU-Abgeordneten macht
      sich seither Angst breit. Grafologen überprüfen jetzt die


      Echtheit der Unterschriften.

      "Alles nur Gerücht und Panikmache"
      Die EU-Politiker sind zu Recht nervös. Immerhin geht es um
      mögliche Straftaten
      -
      Urkundenfälschung plus Betrug. Doch während viele deutsche
      EU-Abgeordnete nun Aufklärung fordern, begegnet
      Parlamentspräsident Patrick Cox den stern-Recherchen mit
      einer alten Leier: vertuschen und verleugnen. "Rundheraus"
      bestritt der Ire, Vorwürfen nicht nachgegangen zu
      sein. "Ich will dazu keine Debatte", herrschte Cox-Vize
      David Martin in der Plenarsitzung Kollegen an - es
      sei "alles nur Gerücht und Panikmache".


      EU-Kommission:
      Spesen aus der schwarzen KasseMartin, Cox und Co. wissen
      es besser. Die Vorwürfe sind konkret. Der Parlamentsbeamte
      Roger Vanhaeren nahm den Verdacht so ernst, dass er die
      Installation einer Webkamera im Zentralregister anriet.

      Dort konnten sich die Volksvertreter bisher vollkommen
      unkontrolliert in die Anwesenheitslisten eintragen. Einige
      im Parlament legten jetzt sogar falsche
      Fährten: Die Betrüger im Zentralregister seien keine
      Abgeordneten, sondern womöglich so genannte Beobachter aus
      den osteuropäischen Beitrittsländern.

      Anonymer Brief erhebt neue Vorwürfe

      Faktisch ist das jedoch unmöglich - Beobachter dürfen sich
      im Zentralregister gar nicht eintragen. Wahr ist freilich:
      Dieser Tage ging beim Parlament ein maschinengeschriebener
      anonymer Brief ein. Dort wird namentlich
      genannten "Beobachtern aus den EU-Beitrittsstaaten"
      vorgeworfen, anderswo - nämlich in Anwesenheitslisten von
      Fraktions- oder Ausschusssitzungen - Unterschriften
      gefälscht und damit je 262 Euro Tagegeld erschlichen zu
      haben. Auch diesem neuen Vorwurf wollen die Quästoren des
      Parlaments - vergleichbar mit dem Ältestenrat des
      Bundestages - jetzt nachgehen.

      Inzwischen wurden dem stern weitere brisante Dokumente
      zugespielt - und die betreffen die üppige
      sekretariatszulage von monatlich 12 576 Euro. Tatsächlich
      fließen die Gelder bisweilen in ganz andere Taschen.
      Anders als im Bundestag dürfen EU-Abgeordnete sogar
      Familienmitglieder als Assistenten beschäftigen -
      und bezahlen sie oft fürstlich. Der britische Konservative
      Robert Atkins überwies laut Liste seiner Frau Dulcie Mary
      regelmäßig 8332 Euro - sie sei halt eine "qualifizierte
      Sekretärin". Die deutschen Steuerzahler tragen fast ein
      Viertel dieses Luxusgehalts - dessen Summe Atkins
      bestreitet -, aber das geht deutsche Zeitungsleser laut
      Atkins "nichts an". Genauso wenig wie die
      zeitweiligen EU-Zahlungen (3719 Euro pro Monat) an Atkins`
      Sohn James.

      Abgeordnete mit besonderem Familiensinn
      Der schottische Deputierte Neil MacCormick transferierte
      laut Liste Monat für Monat sogar 10 228 Euro an seine Frau
      Flora. Die Zahlen beruhten auf einem "Fehler", stottert er
      jetzt - in Wahrheit bekomme die Gattin viel weniger. Der
      nordirische Protestantenführer und EU-Abgeordnete Ian
      Paisley bewies besonderen Familiensinn: Er hatte Ende 2002
      drei weitere Paisleys auf der Lohnliste. Auf Nachfragen
      antwortete der Ire nicht.

      Der CDU-Europaabgeordnete Hartmut Nassauer reagierte auf
      die Abzockereien seiner Kollegen nach Brüsseler Art: Er
      wollte jetzt von der Parlamentsführung

      "wissen, wie Listen über die Sekretariatszulage" in
      die "Hände von Journalisten gelangen" konnten.
      Vizepräsident Martin versprach ihm eine
      "vollständige Untersuchung".

      Hans-Martin Tillack"


      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 02.05.04 23:20:05
      Beitrag Nr. 193 ()
      Hey thomtrader,
      super Titel/Berichte im SmartInvestor von vor 4 Wochen um die in #1 diskutierte Problematik.
      Danke für das Lob im Hymer-T.

      Gruß Niko
      Avatar
      schrieb am 19.05.04 11:50:49
      Beitrag Nr. 194 ()
      Willkür bei den gesetzlichen Krankenkassen


      "Sparen - koste es was es wolle", so oder so ähnlich lautet wohl schon seit geraumer Zeit eine der Hauptdevisen der gesetzlichen Krankenkassen. Viele Patienten mussten sich inzwischen leidvoll daran gewöhnen, dass sie trotz Versicherung immer tiefer in die eigen Taschen greifen müssen. Doch wer jetzt glaubt, dass er, wenn er schon einen Großteil der Behandlung selbst zahlt, auch wirklich mitbestimmen kann, ist häufig auf dem Holzweg.

      Klinikalltag heute
      Fast täglich werden in einer Privatklinik Bandscheibenvorfälle operiert. Die Operation gehört nach wie vor zu den sensibelsten in der Chirurgie. Gerade hierbei aber zeigt sich, welche medizinische Versorgung hinter dem Patienten steht, was er sich "leisten" darf.

      Für die Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen gilt: Nur das medizinisch Notwendige ist zulässig. Und das heißt bei der Wirbelsäule in aller Regel: Versteifung der Wirbel.

      Für Privatpatienten sieht das ganz anders aus: Bei ihnen werden auch moderne Operationsmethoden wie die Bandscheibenprothese erstattet.

      Sylvia Kleiné hat Glück im Unglück: "Die Kostenfrage ist insofern geklärt, da 50 Prozent von meiner Beihilfe bezahlt werden, da ich beim Staat bin, Beamtin. Und der Rest von der privaten Krankenkasse, wobei diese Kosten noch nicht ganz geklärt sind. Und das erst geklärt werden muss, und man da erst noch abwarten muss."

      Wer selbst schon mal Probleme mit der Wirbelsäule hatte, kann verstehen, dass es für Betroffene, wie zum Beispiel Klaus Thiemann, zunächst völlig unwichtig ist, wer die Operation bezahlt: "Wer das jetzt letztendlich bezahlt, kann ich noch nicht sagen. Es war mir auch fürchterlich egal. Und im Moment ist es mir immer noch egal, weil für mich war jetzt wichtig, dass ich die Schmerzen weg bekam und dass die entscheidenden Schritte gemacht wurden bei den Operationen."

      Patienten zweiter Klasse
      Peter Thiemann kann sich als Privatpatient voll auf die Wiederherstellung seiner Gesundheit konzentrieren. Doch Kassenpatienten stehen vor einem Dilemma: Wer eine Extra-Leistung will, kann nicht einfach auf die Kassenerstattung drauf-satteln. Er muss sich entscheiden: Alles oder nichts.

      Neurochirurg Dr. Franz Copf kennt das Problem der Kassen-Patienten: "Nimmt er die Kassenleistung in Anspruch mit allem Pro und Contra, oder entscheidet er sich für eine privatärztliche Behandlung. Und da haben die gesetzlichen Krankenversicherungen keine Pflicht, die Kosten zu bezahlen, also die Kosten zu erstatten, weil mit der Budgetfinanzierung die Kosten durch die Kasse eigentlich bereits gezahlt sind. Es sind mir Fälle bekannt, dass die Krankenkassen die Kosten trotzdem erstatten, dazu besteht aber keine Pflicht."

      Die Gerichte müssen entscheiden
      Und genau darin liegt das Problem. Immer mehr Patienten suchen deshalb Hilfe bei den Sozialgerichten. Doch im Gesetz steht, dass privat in Auftrag gegebene Behandlungen von den Kassen grundsätzlich nicht erstattet werden dürfen.

      Und so ging auch ein Verfahren am Sozialgericht Reutlingen Anfang Mai 2004 zu Gunsten der gesetzlichen Krankenkasse aus. Der Patient bleibt auf den vollen Operationskosten von 13.000 Euro sitzen. Nur vorerst macht Rechtsanwältin Martina Schwörer ihrem Mandanten Mut: "Heute hat das System gesiegt, nicht die Gerechtigkeit, deshalb werden wir versuchen, diese Entscheidung zu revidieren in der nächsten Instanz. Und hoffen auf eine andere Entscheidung."

      Eine Frage der Gerechtigkeit
      Ob diese Hoffnung in Erfüllung geht, ist zweifelhaft. Denn dafür müsste das bestehende System geändert werden, das selbst Vertreter der Krankenkassen, wie Herbert Raach von der IKK Reutlingen für nicht gerecht halten. "Das Urteil spielt sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens ab, und wir als Krankenkasse haben darüber hinaus keine Möglichkeit, Veränderungen vorzunehmen. Insofern ist es im Rahmen des vom Gesetzgeber Gewollten gerecht."
      Frage: "Aber, der Patient bleibt auf den Kosten hängen?"
      Antwort: "Der Patient bleibt in diesem Fall auf den Kosten sitzen, jawohl."
      Frage: "Ist das gerecht?"
      Antwort: "Ist schwer zu sagen, aus der Sicht des Versicherten sicherlich nicht."

      Was ist medizinisch notwendig?
      Die Crux bei dem System ist das so genannte "Leistungsprinzip." Pflichtversicherte haben dabei nur Anspruch auf eine medizinische Grund-Versorgung. Es gilt "Alles oder nichts".

      Doch vor der Kamera wird das von den gesetzlichen Kassen nicht bestätigt. Es sei möglich, auch bei Wahlleistungen einen Teil der Behandlung erstattet zu bekommen, lautet die Formulierung gegenüber [plusminus - auch von Stefan Wöhrmann, vom Verband der Angestellten-Krankenkassen: "Bei einer medizinischen Notwendigkeit einer stationären Behandlung hat die Krankenkasse unabhängig von einer Chefarztbehandlung den Grundanteil für die Regelleistung zu übernehmen. Nur die Mehrleistung, die durch die Chefarztbehandlung anfällt, ist vom Versicherten zu tragen."

      Die Realität sieht anders aus
      Die Erfahrungen der Verbraucherzentralen sind da ganz andere. Wer "Chefarzt" bucht, muss nicht nur für ihn draufzahlen, sondern die ganze Behandlung aus eigener Tasche zahlen.

      Das sei nach dem System auch gar nicht anders möglich, weiß auch Wolfgang Schuldzinski von der Verbraucherzentrale NRW: "Die Chefarztbehandlung ist nicht Gegenstand dieses Vertrages, den die Kasse mit dem Krankenhaus hat, sondern das sind Extraverträge, die in der Regel mit den gesetzlichen Krankenkassen so abgeschlossen worden sind. Und deshalb die Logik: Eine Sache, die gar nicht existiert aus Sicht der Krankenkasse, die kann auch nicht bezahlt werden. Und deshalb muss der Patient sie voll bezahlen."

      Fazit
      Seit Anfang diesen Jahres kann der Kassenpatient wählen: Abrechnung auf Chipkarte oder Kostenerstattung. Doch auch das ändert nichts am System. Wer "Chefarztbehandlung" oder "Privatklinik" wählt, bleibt auch weiterhin auf den Kosten sitzen. Und zwar komplett. Oder er bleibt was er ist: Patient 2. Klasse.

      http://www.sr-online.de/statisch/Programm/Fernsehen/ARD/Plus… :mad::mad:
      Avatar
      schrieb am 30.05.04 14:46:52
      Beitrag Nr. 195 ()
      Auszug aus Einspruch. Wider den organisierten Staatsbankrott. von Oswald Metzger. Copyright © 2003. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. Alle Rechte vorbehalten.
      1
      Politik und Kompetenz – ein Widerspruch

      Im Herbst 1994 landete ich unverhofft als Abgeordneter im Bonner Regierungsviertel. Für mich begann ein Lebensabschnitt, wie ihn sich kein Mensch vorher ausmalen kann. Das Leben als Abgeordneter ist geprägt durch eine schier unglaubliche Geschäftigkeit, einen privilegierten beruflichen Status und eine soziale und emotionale Entkoppelung von der realen Welt. Das Jahr ist ab sofort in parlamentarische Sitzungswochen unterteilt, gut 20 im Schnitt pro Jahr, in die viele Abgeordnete möglichst viel Arbeitszeit reinpacken. Sie wollen damit ihr schlechtes Gewissen beruhigen, weil sie kaum noch zu Hause sind. Partner, Familie und Freunde sind auf einmal weit weg. Zu Hause sind die Politiker fast nur noch in den Wahlkreiswochen, doch sie sind nicht wirklich »anwesend«, weil sie bei unglaublich vielen Terminen präsent sein müssen. Wenigstens schlafen sie dann in der Regel zu Hause, was für sie einen unglaublichen Zugewinn an Familienleben bedeutet.
      Das alles spielt sich in einem Umfeld geradezu panischer Profilneurosen ab: Keiner gönnt dem anderen einen Erfolg, und die Woche ist fast schon gelaufen, wenn montags in Spiegel oder Focus die falschen Kolleginnen und Kollegen – vor allem der eigenen Fraktion! – erwähnt werden, der eigene Name aber fehlt.
      Alle strampeln pausenlos um öffentliche Wahrnehmung. Wer bei Journalisten als Volksvertreter gefragt ist und befragt wird, sagt im Zweifel zu allem etwas. Denn nichts wäre schlimmer, als eine Profilierungschance auszulassen und womöglich nicht bald die nächste zu bekommen. Der öffentliche Auftritt, gute Präsenz in der Presse und vor allem der Kopf im Fernsehen – das ist Balsam fürs Politikerego, es nützt der eigenen Partei, und die Wähler daheim sehen, dass ihr Abgeordneter bedeutend ist. Die Medien, die Verbandsvertreter, der ganze bezahlte Parlamentsbetrieb, kurzum alle im Dienstleistungsunternehmen Deutsche Politik-AG spielen das Spiel mit.
      In einem Interview mit meiner oberschwäbischen Heimatzeitung in Biberach hatte ich nach den ersten Bonner Wochen verkündet: »Ich will kein Hinterbänkler sein!« Richtig naiv tönte ich damals, der von mir als Hauptaktionsfeld gewählte Haushaltsausschuss sei ein Querschnittsarbeitsfeld, in dem ich viele Politikfelder kennen lernen könne. Schließlich gelte auch in Bonn der altlinke Sponti-Spruch: »Ohne Moos nix los!« Die erste Legislaturperiode stellte ich als meine bundespolitische Lehrzeit dar, die ich nach vier Jahren als »Politiker-Geselle« abschließen wollte.
      Zwei Monate später und nach dem ersten Redeauftritt als »haushaltspolitischer Sprecher« der Grünen im Parlament war ich bereits »Haushaltsexperte«. Zeitungen und Fernsehsender hatten mich dazu ernannt. »Vollends durch« als »Fachpolitiker«, wie sich mein damaliger Fraktionsvorsitzender Joseph Fischer ausdrückte, war ich, nachdem die Frankfurter Allgemeine Zeitung den drei Grünen im Haushaltsausschuss, ihrem Sprecher Metzger voran, ein Porträt auf der legendären Spalte der ersten Buchrückseite widmete.
      Das war nur vier Monate später. Können Sie sich vorstellen, wie verblüfft ich von meiner eigenen Karriere war?
      Ich hatte noch keine Ahnung, wie der Parlamentsbetrieb im Detail funktionierte, ich hatte noch keinen einzigen Bundeshaushalt im Parlament verabschieden helfen, und doch war ich schon Haushaltsexperte. Wer als Berufspolitiker mehr als zweimal zum gleichen Thema etwas sagt, gilt als Experte. Entsprechend oberflächlich sind die Debatten im und ums Parlament. Unbeeinträchtigt von Sachkenntnis stochern viele im Politikbetrieb mit der Stange im Nebel. Die Funktionen, für die in den Parlamentsfraktionen Sprecher gewählt oder ernannt werden (oder sich gelegentlich selbst ernennen), sind ebenso vielfältig wie lächerlich. Ein Politiker muss eine Funktion haben, sonst hat er kein Gewicht, scheinen viele Abgeordnete zu denken.
      Geschäftigkeit, blinder Aktionismus, opportunistisches Schielen nach den Trends der Woche – durch fragwürdige Meinungsumfragen gestützt – ersetzen viel zu häufig solides Arbeiten, konzeptionelle Debatten und konkretes Handeln, obwohl die Bevölkerung das alles doch von den Managern des Gemeinwohls (von Regierung und Parlament) erwarten dürfte.

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      Die Personalauswahl garantiert Substanzlosigkeit

      Es gibt extrem viele »Experten« im Parlament. Dass sie kaum jemals Fachfrauen und Fachmänner im Wortsinne sind, erwähnte ich bereits. Natürlich haben die meisten Berufspolitiker auch Berufe und Ausbildungen, doch viele verloren den Bezug zu ihrer einstigen Tätigkeit. Außerdem werden die Fachausschüsse des Parlaments häufig nicht auf Grund der fachlichen Eignung der Abgeordneten besetzt, sondern eher nach den angesagten und zur Profilierung taugenden Themen in der laufenden Legislaturperiode. In Aufgabenfelder, die absehbar Konjunktur haben und größere mediale Aufmerksamkeit garantieren, drängen mit Ellbogen auch Politiker, denen es an Kompetenz zu diesen Themen mangelt. Doch es gibt auch noch andere Motive. Haushaltspolitiker reisen als Berichterstatter gerne, auch Außen- und Wirtschaftspolitiker sind viel unterwegs. Abgeordnete, die wenig Auftritte in der Öffentlichkeit ergattern oder im Parlament kaum Aufmerksamkeit erregen, genießen – zur Bedeutungslosigkeit verdammt – eben die angenehmen Seiten eines privilegierten Berufs mit glänzender Altersversorgung. Und dann gibt es im Parlament natürlich auch noch die Hardcore-Lobbyisten, Vertreter von Verbänden und Gewerkschaften, die ihre Aufgabe als Abgeordnete vor allem definieren durch den Aufbau neuer Besitzstände oder zumindest durch die Verteidigung alter Pfründe ihrer Klientel.
      Eine Entwicklung darf nicht übersehen werden: In Zeiten der medialen Demokratie übt das Parlament immer weniger Einfluss aus, und die Regierung dominiert das Parlament, ganz besonders aber die Regierungsfraktionen, immer stärker. Das gilt in ähnlicher Weise für die Opposition, denn auch dort konzentrieren sich Macht und Einfluss auf die Wenigen in der Fraktionsführung. Nur ein kleines Grüppchen von Parlamentariern im Bundestag hat wirklich Gewicht und kann tatsächlich etwas gestalten.
      Neigung und Fachwissen sind also nur selten die Triebfedern für die Übernahme von Themenfeldern, sondern meist ist es die Gier nach der guten, medialen Vermarktung der eigenen Person oder die beschauliche Idylle der Dienstreisen oder die harte Lobbyarbeit für bestimmte Interessengruppen. Dieses Grundraster bei der Verteilung von Aufgaben im Parlament verhindert geradezu inhaltliche Substanz. Kompetenz ist eben kein Kriterium! – Und das gilt auch in Bereichen, die unbedingt reformiert werden müssen: Arbeitsmarkt, Gesundheit und Rente.
      Im Bundestag ist ein besonders merkwürdiges Phänomen zu beobachten, das die Bevölkerung direkt am Geldbeutel trifft. Neun von zehn Abgeordneten sind Fachpolitiker, und sie wollen in aller Regel mehr soziale Gerechtigkeit durch mehr Leistungen des Staates schaffen oder durch staatliche Lenkung möglichst alle Lebensbereiche in erwünschte Bahnen lenken. Das kostet immer sehr viel Geld und schafft immer mehr Bürokratie.
      Für den Staatshaushalt zuständig sind im Parlament die Haushaltspolitiker, in dieser Legislaturperiode 45 von 603 Abgeordneten. Diese kleine Minderheit ist ständig mit der Spendierfreudigkeit der überwältigenden Mehrheit der Fachpolitiker konfrontiert, und das mit fatalen Konsequenzen. Das Ergebnis kennen Sie seit Jahrzehnten. Weil Geld nicht wie Manna vom Himmel fällt, kommt der Staat mit seinen Einnahmen nicht aus, erhöht beständig die Schuldenlast. Zins und Zinseszins müssen aber bezahlt werden. Immer größere Anteile der Steuereinnahmen fließen in die Bedienung des Schuldendienstes. 1965 betrug die Zinssteuerquote 3,3 Prozent, 2001 bereits 14,8 Prozent. Steuern und Abgaben steigen. Jeder kann es an seiner Gehaltsabrechnung Monat für Monat ablesen. Der Brutto-Netto-Vergleich spiegelt den immer gefräßiger werdenden Staat wider.
      Wider besseres Wissen wurden die sozialen Leistungen auch dort erhöht, wo die Finanzierungsbasis durch die Alterung der Gesellschaft ständig knapper wurde. »Die Rente ist sicher« war verlogenes Schlagwort eines christdemokratischen Arbeitsministers mit sozialdemokratischen Allüren. Das ist ein Mythos des Sozialstaats, der sich aus organisierter Verantwortungslosigkeit nährt.
      Das Verhalten vieler Politiker ist bestimmt von Inkompetenz, Borniertheit und Angst vor dem Liebesentzug durch die Bürger, die stets nach staatlichen Wohltaten lechzen. Auf die fatale Praxis, die daraus entstanden

      http://www.amazon.de/exec/obidos/tg/stores/detail/-/books/35…
      Avatar
      schrieb am 13.06.04 05:22:35
      Beitrag Nr. 196 ()
      Zurück zum Gold?


      Alan Greenspan und die rohstoffhungrigen Chinesen treiben die Welt in die Hyperinflation, meinen Roland Leuschel und Claus Vogt


      Gold und Asien! Das sind die Pfeiler der Anlagestrategie, die die beiden Banker Leuschel und Vogt in ihrem neuen Buch empfehlen. Gold, um der drohenden Hyperinflation zu entgehen. Asien, um vom Aufstieg der Wirtschaftsmacht China zu profitieren.

      Ihr "Greenspan Dossier" ist jedoch im Kern getrieben von dem Anliegen, Fed-Chef Alan Greenspan den Nimbus des größten Notenbankers aller Zeiten zu nehmen. Stattdessen entwerfen die Autoren das Bild eines gerissenen Zynikers, der die amerikanische und die internationale Wirtschaft in die Inflation treibt. Der zuweilen reißerische Stil ist zwar unterhaltsam und mit seiner Vielzahl an Anekdoten amüsant - insgesamt aber nimmt die persönliche Auseinandersetzung mit Greenspan zu viel Raum ein in diesem Buch, das über weite Strecken eine lesenswerte und informative Diskussion der Entwicklungen auf den Finanzmärkten in den vergangenen Jahren bietet. Die These, dass die Spekulationsblase an den Aktienmärkten und die Hausse der Immobilienpreise seit 2000 durch eine übermäßige Expansion der Geldmenge ermöglicht wurde, verdient ebenso Beachtung wie die Warnung, dass diese monetäre Expansion sich letztlich in einem Anstieg des Preisniveaus niederschlagen wird. Die Erinnerung daran, dass die Geldpolitik die Entwicklung von Geldmenge und Kreditvolumen nicht aus den Augen verlieren darf, ist gerade in Zeiten niedriger Inflationsraten wichtig und willkommen, weil die Zentralbanken gerade dann dazu neigen, ihre Politik allein am Zinsniveau auszurichten und damit ihr Ziel der Geldwertstabilität zu vernachlässigen.

      Hier wünscht sich der Leser aber an vielen Stellen, dass die Autoren ihr Bild mit feinerem Strich gezeichnet hätten. Der Kern ihrer Anklage lautet, Greenspan habe die Zinsen bewusst zu niedrig gehalten - und damit die Spekulationsblase und den Crash an den Börsen in Kauf genommen, um die Fehler seiner Geldpolitik zu verdecken. Diese These erscheint schon deshalb fragwürdig, weil die Autoren die geldpolitischen Entscheidungen der neunziger Jahre nicht hinreichend ausleuchten. Dass eine restriktivere Geldpolitik die Spekulationsblase hätte verhindern oder dämpfen können, ist ja nur die eine Seite.

      Die andere ist, dass eine zu restriktive Geldpolitik ebenfalls erhebliche volkswirtschaftliche Kosten verursacht und dass diese Kosten in Zeiten internationaler Instabilität der Finanzmärkte nur schwer abschätzbar sind. Die Autoren überzeichnen das Bild, weil sie diese Seite der Geldpolitik schlicht ignorieren. Ebenso fragwürdig ist die These, dass die Aktienmarktentwicklung vor 2000 schon frühzeitig als spekulative Blase hätte erkannt werden können.

      Die Autoren liefern eine lange Liste von Kriterien, an denen man Blasen erkennen soll. Sie übergehen aber die Frage, ob diese Kriterien für große Volkswirtschaften mit hoch entwickelten Finanzmärkten ebenso gelten wie für kleine, sehr offene Volkswirtschaften mit relativ schwachen Finanzmärkten. Aber selbst wenn jede spekulative Blase bestimmte Charakteristika aufweist - eine Diagnose ist nicht leicht, weil auch Episoden, die keine Blasen sind, dieselben Merkmale aufweisen können. Leuschel und Vogt bezeichnen sich selbst als Anhänger der österreichischen Schule der Wirtschaftsforschung. Von dieser Schule nehmen sie die Einsicht, dass "der Zins" als relativer Preis von heutigem und künftigem Konsum eine zentrale Steuerungsfunktion hat. In der Theorie handelt es sich dabei um den langfristigen, realen, also um Inflationserwartungen bereinigten Zins. Ob und wie weit dieser Realzins von Notenbanken beeinflusst werden kann, ist eine theoretisch wie praktisch offene Frage. Die Autoren setzen in ihrer Diskussion der Geldpolitik "den Zins" jedoch gleich mit dem von der Notenbank gesteuerten, kurzfristigen Nominalzins am Geldmarkt. Damit offenbaren sie sich letztlich selbst als Anhänger eines Weltbilds, dessen Vertreter sie angreifen: Auch sie hängen offensichtlich der irrigen Vorstellung übermächtiger Zentralbanken an, die Wachstum und Konjunktur nach Belieben steuern können.

      Zum Anlageziel Asien erfahren die Leser von Leuschel und Vogt nicht viel - abgesehen von der Beteuerung, dass China das Wirtschaftswunderland des 21. Jahrhunderts sein wird. Der wirtschaftliche Aufschwung Chinas wird nach Ansicht der Autoren zu enormen Preissteigerungen auf den Rohstoffmärkten führen. Im Mittelpunkt steht ferner die Voraussage, dass das Weltfinanzsystem in den nächsten zehn bis 15 Jahren auf eine Katastrophe zusteuern wird. Grund dafür sei der dramatische Wertverlust des Dollar. Gold biete darum dem Sparer Schutz gegen die große Inflation - die, ausgehend von den USA, auch die Volkswirtschaften Europas erfassen werde. Die Frage ist jedoch, ob Gold diesen Schutz wirklich bieten kann. Was wäre, wenn die Regierungen und ihre Notenbanken zur Sanierung ihrer maroden öffentlichen Haushalte anfangen, Gold in großem Stil zu verkaufen - eine Tendenz, die sich in der aktuellen Diskussion um die Goldreserven der Bundesbank ja bereits abzeichnet.

      Das Weltwährungssystem der Zukunft, so die Prophezeiung der Autoren, wird durch Gold und andere Rohstoffe gedeckt sein. Eine Rückkehr zum Goldstandard? Nicht gerade ein origineller Traum, der hier geträumt wird - auch der Goldstandard kann kein stabiles Geld garantieren, wie die Geschichte lehrt. Die eigentliche Gefahr für die Stabilität von Währungen geht vom Staat und dessen Geldschöpfungsmonopol aus. Nur eine wettbewerbliche Geldordnung mit freiem Kapitalverkehr, freien internationalen Finanzmärkten und die Freiheit der Vertragsgestaltung können die staatliche Geldschöpfung disziplinieren. Dass Gold und Asien also zum großen Anlegerparadies avancieren, daran mag man ja glauben - stichhaltige Beweise dafür gibt es allerdings nicht.

      Jürgen von Hagen ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Direktor des Zentrums für Europäische Integrationsforschung in Bonn

      Roland Leuschel und Claus Vogt: Das Greenspan Dossier, München 2004, Finanzbuch Verlag, 351 Seiten, 34,90 Euro



      Liebe Grüsse
      Tippgeber1;)
      Avatar
      schrieb am 16.06.04 20:21:40
      Beitrag Nr. 197 ()
      Warum Denken unmodern ist

      Von Norbert Bolz

      In der von den Massenmedien formatierten Öffentlichkeit ist Kritik durch Moralisierung ersetzt worden: Zwischen den Polen Lob und Tadel wird das Nachdenken eingespart, in Feuilletons und Talkshows wird längst nicht mehr diskutiert, sondern nur noch emotionalisiert.

      Am Anfang war das Kraulen: Den Zusammenhalt der Gruppe sicherten die Affen durch gegenseitige Fellpflege. Aus diesem sozialen Schmusen hat sich vermutlich die Sprache entwickelt; denn in der sehr viel größeren Lebenswelt der Menschen kann das Funktionieren einer Gemeinschaft nur durch Sprache gewährleistet werden. Wir kraulen uns nicht mehr gegenseitig, sondern wir klatschen und tratschen übereinander.

      Sobald es der Gesellschaft dann gelingt, dieses Geschwätz kritisch zu sondieren, wird Aufklärung möglich, und an die Stelle des Gossip, also des Klatschs und Tratschs, tritt der Diskurs. So lässt sich die Evolution des Sozialen von den Menschenaffen zu Habermas auf drei Etappen reduzieren: Am Anfang war das Schmusen, dann kam das Geschwätz und schließlich die Diskussion.

      Dieses - zugegebenermaßen sehr holzschnittartige - Schema ist deshalb interessant, weil die Geschichte der Massendemokratie seit Kants seligen Zeiten den Eindruck vermittelt, als würde die evolutionäre Entwicklung wieder zurückgedreht. Moderne Streitkultur, der Stolz der westlichen Welt, hat sich längst in Talk aufgelöst; und dieser nimmt neuerdings einen Aggregatzustand an, den man als neue Flauschigkeit bezeichnen könnte. Wir haben es offensichtlich mit einer Devolution vom aufgeklärten Streit, der soziale Konflikte artikuliert, zum Geschwätz der Talkshows und schließlich zur Schmusewelt des Politainment zu tun. Die Diagnose lautet ganz einfach: Ende der Kritik.

      In der von den Massenmedien formatierten Öffentlichkeit wird Kritik durch Moralisierung ersetzt. Statt über die komplexen Sachverhalte der modernen Welt zu diskutieren, erspart uns der einfache Code der Moral, nämlich Loben oder Tadeln, das Nachdenken. Loben heißt konkret Marketing. Das Tadeln wird als Skandal inszeniert. Bücher, Theateraufführungen und Ausstellungen werden nicht mehr kritisch rezensiert, sondern enthusiastisch angepriesen. Die Folge: Elke Heidenreich hat mit ihrer Wohlfühl-Literatursendung " Lesen!" mehr Einfluss auf die Bestsellerlisten, als dem lautstark diskutierenden " Literarischen Quartett" von Marcel Reich-Ranicki je vergönnt war.

      Andererseits werden Figuren des öffentlichen Lebens, die durch eine Kleinigkeit das Ressentiment der Political Correctness reizen, als Sündenböcke zur Strecke gebracht. Der von den Massenmedien liebevoll gehegte Skandal ist der demokratische Schauprozess - der nach dem Wirbel um seine gesponserten Hotelkosten gefeuerte Bundesbankchef Ernst Welteke kann ein Lied davon singen.

      Im Skandalkonsum goutiert das Publikum die soziale Lust des Moralischseins. Welche Romane der vergangenen Jahre fanden in den Feuilletons die größte Aufmerksamkeit? " Tod eines Kritikers" von Martin Walser, in dem es um die fiktive Ermordung eines jüdischen Großrezensenten (gemeint war Marcel Reich-Ranicki) ging; und Thor Kunkels Nazi-Porno-Buch " Endstufe" , bei dem die einen sich darüber erregten, dass der Rowohlt Verlag es herausbringen wollte, und die anderen " Zensur" schrien, als der Verleger schließlich von einer Veröffentlichung absah. " Sociopleasure" hat der amerikanische Anthropologe Lionel Tiger das genannt. Gemeint ist die gute Unterhaltung durch die Spielformen von Moral und Gefühlen, also Sentimentalität und Sensation.

      Dazu passt das " Celebrity Design" in der öffentlichen Darstellung von Politik. Berühmtheiten dürfen Schwachsinn äußern, ohne damit störend aufzufallen. Wer unlängst Peter Maffay bei " Sabine Christiansen" gesehen hat, ahnt, was hier noch auf uns zukommen kann. In jedem Fall prämiert die Medienöffentlichkeit Typen ohne Ecken und Kanten - man denke nur an den als Talkmaster firmierenden Traumschwiegersohn Reinhold Beckmann oder an den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, den die Berliner nur deshalb gewählt haben, weil er so " knuffig" ist.

      Wer dies kritisch sieht, sollte die Intelligenz des Nettseins nicht unterschätzen: Politiker und Journalisten, die sich gegenseitig die Hände waschen, können enorme Kooperationsgewinne abschöpfen. Prominente sind nämlich Eigenwerte der Massenmedien, die das Chaos der Welt wie seltsame Attraktoren ordnen. Das erklärt, warum das Fernsehen so beliebt ist, obwohl alle über das niveaulose Programmangebot klagen. Hier kann ich mir ein Bild von der Welt machen; hier gibt es noch Unmittelbarkeit und Dramatik. Hier bin ich Mensch, hier darf ich`s sein.

      Seit es Privatfernsehen gibt, sehen wir zwar nicht mehr dieselben Sendungen. Doch gleichgültig, welchen Sender wir einschalten - überall erwartet uns Gerhard Schröder. Nicht dass er uns etwas zu sagen hätte. Fernsehen ist der schlichte Körperkult der Prominenz. Und der gemeinsame Bezug auf Prominente hält die Gesellschaft zusammen. Wer etwa seinen Sonntagabend der ARD opfert, erlebt alles, was unsere moderne Welt im Innersten zusammenhält. Zunächst den " Tatort" als unwiderstehliche Propaganda der Political Correctness, der, wie alle Fernsehserien, die soziale Lust des Moralismus bietet: Man kann zusehen, wie Gerechtigkeit geschieht. Und dann " Sabine Christiansen" - Talk als Kult unserer Staatsreligion. Früher hat man das richtige Verhalten in der Polis gelernt; heute genügt es, den Fernseher einzuschalten.

      Doch in Talkshows werden nicht nur Prominente ausgestellt; sie befriedigen auch die Ausdrucksbedürfnisse moderner Subjektivität. Wichtiger als die Information ist die Beteiligung an Kommunikation: Reden wir miteinander! Talk heißt Klatsch und Tratsch. Und Klatsch ist die Art von Konversation, in der es um Standards und Werte geht. Sie trennt innen und außen. Massenmedien weiten den Klatsch-Mechanismus auf Fremde aus. Das heißt, Prominente und Politiker werden von den Zuschauern als wichtige Gruppenmitglieder behandelt. Ob ich das Tun und Treiben von Dieter Bohlen und Gerhard Schröder nun in der ARD oder in den Lifestyle-Magazinen verfolge - stets arbeite ich am " updating" meiner gesellschaftlichen Landkarte. Insofern entspricht die Unterhaltungsformatierung aller Ereignisse in den Massenmedien nicht nur unseren tiefsten Wünschen, sondern auch einer sozialen Notwendigkeit. Konsum von Klatsch ist das Genießen der Unterwürfigen - und zugleich die Form, in der sie soziale Intelligenz ausbilden.

      Wie gesagt: Schimpansen kraulen sich, wir schwätzen miteinander. Beides hat denselben sozialen Sinn: den Gruppenzusammenhalt zu sichern. Im Medium von Klatsch und Tratsch beobachten wir die soziale Komplexität unserer Welt und trainieren so unsere soziale Geschicklichkeit. Wer hat was mit wem? Statt also, wie es die Vertreter der Gutenberg-Galaxis ganz selbstverständlich unterstellen, die Massen zu verblöden, funktioniert Fernsehen als Schule der sozialen Intelligenz. Was soll ich glauben? Was kann ich hoffen? Was darf ich begehren?

      Die Antworten darauf gibt die gute Unterhaltung in den Massenmedien, die uns mit einem Set von Überzeugungen und Wünschen versorgen. Das ist der praktische Humanismus des Fernsehens. Es leistet konkrete Lebenshilfe bei der Flucht aus der Komplexität. Vorm Fernseher und im Kino haben wir gelernt, was uns keine Schule und kein Elternhaus beibringen konnte: So also geht man mit Frauen um; so funktioniert die Welt; das ist Glück! Das war und ist die Welt der Stars, die Geburt der großen Gefühle von Ruhm und Ehre - und natürlich der demokratische Mythos des Erfolgs. Was man von Film und Fernsehen derart lernen kann, nennen Anthropologen " behavioral literacy" .

      Seit das Fernsehen nicht mehr von einem " Kulturauftrag" faselt, sondern um Kunden konkurriert, kann man deutlicher erkennen, wie die technische Entwicklung der Medien mit den Kundenerwartungen in der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts und dem Selbstverständnis demokratischer Bürger harmoniert. Der Zuschauer rückt ins Zentrum der Medieninszenierung. Man kann es auch so sagen: Die auf den Märkten heute selbstverständliche Kundenorientierung hat jetzt auch die Massenmedien erreicht. Man hat endlich begriffen, dass der Medienkunde selbst das eigentliche Produkt einer Sendung ist. So wird Fernsehen zum Event. Das ist das Eine.

      Zum andern entsprechen die Massenmedien dem wachsenden Wunsch der Bürger nach politischer Partizipation. Formen direkter Demokratie werden wieder attraktiv. Das ist natürlich nur mit den Medien und in den Medien möglich. Man denke nur an die wachsende Bedeutung der Meinungsumfragen, die mittlerweile den Rahmen für alle politischen Entscheidungen abgeben. Natürlich hat dieses Mehr an Unmittelbarkeit seinen Preis. Besonnenheit und Geschmack haben in unserer Kultur kaum mehr eine Chance. Doch ist das ein Grund für Kulturkritik? Auch wenn es weh tut: Wir müssen lernen, mit Geschmacklosigkeiten zu leben. Denn Geschmack diskriminiert - und das ist in Massendemokratien unerträglich. Deshalb haben demokratische Kulturen den Geschmack durch die öffentliche Meinung ersetzt, die von den Medien inszeniert wird.

      Das Internet und das Fernsehen präsentieren Information als Fetisch und Kommunikation als Kult - man denke nur an Talkshows und Chatrooms. Nicht was, sondern dass geredet wird, zählt, und je mehr, desto besser. Kommunikative Lust hat mit Information nichts zu tun. Es geht um Geschwätz, Dabeisein - " Hallo, ich bin`s ..." Kein Mensch strebt, Aristoteles zum Trotz, von Natur aus nach Wissen. Und außer einigen Geschäftsleuten und Wissenschaftlern will auch niemand ständig Informationen abrufen. Informationen verunsichern nämlich. Kommunikationen dagegen verleihen Sicherheit, und zwar gerade durch das Gegenteil von Information: Redundanz, Resonanz - kurz: Geschwätz.

      Um Informationen kommunikationstauglich zu machen, werden sie von den Massenmedien emotionalisiert. Der amerikanische Ökonomie-Nobelpreisträger Herbert Simon hat das einmal " Hot Dressing" genannt: Information im Kontext von Emotion. Zugleich funktioniert diese Emotionalisierung als Unterbrechungsmechanismus, der es den Medien erlaubt, von einem Thema zum nächsten zu kommen. Wir haben es also mit einer Art " Emotional Design" der öffentlichen Meinung zu tun, der es nicht um die Lösung von Problemen, sondern um die Klärung von Gefühlslagen geht.

      Der Kulturanthropologe Clifford Geertz hat darauf hingewiesen, dass wir wissen müssen, wie wir über einen Sachverhalt fühlen, um uns über ihn eine Meinung bilden zu können. Und um das herauszufinden, brauchen wir die öffentlichen Gefühlsmuster, die früher von Mythen, Ritualen und der Kunst verordnet wurden, heute aber vor allem von den Massenmedien angeboten werden. Gefühle wurden schon immer moralisch bewertet und rituell sanktioniert. Heute sehen die Hohenpriester dieses Kults aber nicht mehr hieratisch streng, sondern ganz harmlos, nett und freundlich aus. Und sie haben Namen wie Jürgen Fliege oder Sandra Maischberger.

      __________________________________________________________________
      http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,302357,00.h…
      Der gute Herr Bolz, ist natürlich auch nicht besser als andere Journalisten, das merkt man schon allein daran, das er wie jeder andere den Artikel künstlich in die Länge zieht, und dadurch leidet natürlich die Qualität des Artikels stark. Aber Journalisten schreiben nun mal keine Artikel, damit sie ihre Gedanken zu Papier bringen, sondern sie schreiben damit sie ihre Brötchen verdienen ;)
      Avatar
      schrieb am 16.06.04 20:23:45
      Beitrag Nr. 198 ()
      Der Zusammenbruch der traditionellen Familie

      Täglich wird von den Politikern über die Verantwortung für zukünftige Generationen gesprochen und sehr häufig wird dabei erwähnt, welche Rolle die niedrige Geburtenrate für die zukünftige Notwendigkeit von Abgaben und Steuern spielt.

      Zur Analyse dieses Umstandes hat Per Henrik Hansen als Wirtschaftsprofessor an der Business School Kopenhagen vor kurzem einen Artikel verfasst, der die Problematik anhand der Entwicklungen in Dänemark aufzeigt, meiner Meinung nach aber für gesamt Westeuropa gilt.

      Zunächst einige statistische Fakten:

      - Nur noch 47 % aller Frauen im Alter von 30 Jahren sind verheiratet, verglichen mit 88 % im Jahr 1970. Das durchschnittliche Alter der Erstheirat stieg in den letzten 30 Jahren von 23 auf 30 Jahre, für Frauen und von 25 auf 33 Jahre, für Männer. Mittlerweile lebt etwa ein drittel der Haushalte allein.

      - Immer mehr Ehen werden heute geschieden. So ließen sich zwischen 1950 und 1975 nur rund 18 % der Ehepartner scheiden, so beträgt diese Quote zwischen 1975 bis 2000 schon 37 %.

      - Das durchschnittliche Alter der Mütter stieg von 27 auf 30 Jahre und die Geburtsraten nehmen drastisch ab und liegen in den meisten industrialisierten Ländern deutlich unter ihrer Reproduktionsrate von 2.

      - Immer mehr Familien brechen zusammen. Betrug der Prozentsatz von „intakten“ Familien 1981 noch 80 %, sind es heute nur noch 75 %. Hinzu kommt, dass die Zahl der Familien in denen beide Elternteile Vollzeit arbeiten, zwischen 1980 und 2000 von 50 % auf 83 % angestiegen ist. Damit einhergehend ist die Zahl der Kindergartengänger innerhalb der letzten 35 Jahre von 7 % auf 77 % angewachsen.

      - Ebenso liegt der Anteil der Familien welche auf permanente Sozialtransfers angewiesen sind (ohne das obligatorische Kindergeld) bei fast 40 %. Nahezu alle (94 %) Familien haben während der Erziehung ihrer Kinder zumindest zeitweise soziale Transferleistungen erhalten.

      Die Gründe für diese besorgniserregende Entwicklung sind vielfältiger Natur, wie zum Beispiel, dass Frauen heute ein höheres Ausbildungsniveau erreichen wollen, eine eigene Karriere beginnen möchten und der überall zu beobachtende „Bruch mit den Traditionen und Werten“ der Familie sowie ein erhöhtes Maß an Individualismus, der bereits in eine oft zu beobachtende Form des Egoismus umgeschlagen hat. Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten schon an diese Trend gewöhnt und scheinen nur noch am Rande zu realisieren, dass ein Teil dieser Entwicklungen auf die Entstehung eines „unerschütterlichen“ Sozialstaats begründet liegt. So muss heute der Einzelne keinerlei Konsequenzen fürchten, wenn er die Familienstrukturen verlassen und seinen eigenen Weg gehen möchte, auch wenn er finanziell gar nicht in der Lage dazu ist. Die Familie wurde als nächste Instanz für den Schutz vor Krankheit und Arbeitslosigkeit verdrängt und der Sozialstaat hat diese Aufgabe übernommen. Die Lasten, welche für den Einzelnen entstehen werden von der Allgemeinheit getragen und die Familie wird in ihrem Stellenwert immer weiter zurückgedrängt. Mit diesen großmütigen Sozialprogrammen hängt eine sehr hohe Besteuerung zusammen, die zur Gegenfinanzierung unvermeidlich ist. Doch wir beobachten bereits heute, wie stark die Steuereinnahmen Jahr für Jahr zurückgehen, obwohl von Seiten des Staates immer wieder der Versuch unternommen wird, die Steuereinnahmen zu stabilisieren. Immer mehr Menschen erkennen die vermeintliche Vorteilhaftigkeit des Sozialstaates. Auf der anderen Seite stehen nur noch sehr wenige, die in der Lage sind diese Lasten zu tragen.

      Aufgrund der enormen dadurch entstehenden Spanne zwischen Brutto- und Nettolohn, sind immer mehr Familien darauf angewiesen, dass beide Elternteile arbeiten um ein anständiges Leben zu ermöglichen und in der Lage zu sein seine Kinder in subventionierten sowie staatlichen Einrichtungen, in Form von Tagesstätten und Kindergärten unterzubringen. Es wird vielfach behauptet, dass die Gesellschaft auch keine andere Möglichkeit mehr zulässt, was soweit auch richtig scheint, nur wird der Grund für diese Verhältnisse viel zu häufig bei den gestiegenen Leistungsforderungen der Arbeitgeber gesucht, als beim Staat. Hinzu kommt, dass der so genannte „Sozialstaat“ trotz seiner vielfältigen Ziele nicht mehr in der Lage ist eine vernünftige Betreuung sicher zustellen, die den einfachsten Ansprüchen gerecht wird. Dies trifft nicht nur für die jungen Familienmitglieder zu, sondern ebenso für die alten und pflegebedürftigen, zumal mit der zunehmenden Zahl der staatlichen Einrichtungen die Missbrauchsgefahr einer bewusst gesteuerten Meinungsmanipulation einhergeht. Aus eigener Erfahrung heraus kann ich zum Beispiel über den Zustand des viel gelobten Kindergrippen- und Kindergartensystems der DDR vor 1989 berichten. Hier wurden viele Kinder systematisch zu staatstreuen Gefolgsleuten des Kommunismus erzogen, was glücklicherweise in meinem Fall fehlschlug. Die Forderungen diverser Gruppen, nach einem Ausbau dieser staatlichen Erziehungsstrukturen, sollte man deshalb mit Vorsicht genießen. Zumeist ist der Hintergrund im Ziel einer Erhöhung der Staatsquote zu suchen.

      Ein weiterer Aspekt in der Analyse der heutigen Familienstrukturen, stellt das staatliche Ziel der Förderung des Öffentlichen Personennahverkehrs dar, welches sogar in die neuen Ziele der EU-Transportpolitik einfließt und vorsieht, dass Mineralöl für den Individualverkehr mit einer Mindeststeuer belegt wird, wohingegen öffentliche Transportmittel subventioniert werden. Dabei geht es schon lange nicht mehr um ökologische Aspekte, wenn bestimmte Beförderungszweige explizit von der Ökosteuer befreit werden und andere über alle Maßen hinaus belastet werden. So sollte man auch die aufgeschärfte Diskussion über die Höhe des Benzinpreises und die Rolle der OPEC nicht überbewerten wenn man bedenkt, dass 75 % des Benzinpreises reiner Steueranteil sind. Die Argumentation diverser Politiker wie Hans Eichel, die OPEC für die steigenden Benzinpreise verantwortlich zu machen läuft daher ins Leere und macht nur zu deutlich, wie uns „Sozialpolitiker“ zum Narren halten wollen.

      Hinzu kommen erhebliche Steuern auf den Verkauf von Neuwagen, die eine Anschaffung von ökologisch vernünftigen Fahrzeugen erheblich erschwert. Darüber hinaus wird kaum noch in das öffentliche Straßennetz investiert, was die Nutzbarkeit der Autobahnen erheblich einschränkt. So beträgt der gesamte Bundeshaushalt für Verkehr gerade einmal 5 Mrd. Euro. Ein Großteil dieses Geldes wird für die Verwaltung und den Erhalt der bestehenden Straßen verwendet und die vielfach als „Investitionen“ deklarierten Geldmittel sind nichts weiter als in Vergangenheit aufgelaufene Abschreibungen, da dass staatliche Finanzierungswesen das Wort Abschreibung nicht kennt und demzufolge alle baulichen Maßnahmen Investitionen sind. Familien sind in einem erheblichen Maße auf das Auto angewiesen.

      Ungeachtet der ökonomischen und ökologischen Vernunft wird von staatlicher Seite also eine Politik gefördert, die den Individualverkehr gegenüber dem öffentlichen erheblich benachteiligt. Über die Gründe muss man nicht lange streiten, denn es handelt sich auch hier offenbar um die Verfolgung des Zieles einer Ausweitung der Machtbasis des „Sozialstaats“.

      Ungeachtet der vielfach von staatlicher Seite geäußerten Schlagwörter wie Ungerechtigkeit, Ungleichheit oder Diskriminierung, sollte man bedenken, dass der Zerfall von traditionellen Gesellschaftsstrukturen wie der Familie ein direktes Ergebnis des staatlichen Fürsorgeprinzips ist, welches die „privatwirtschaftliche“ Alternative einer intakten Familie verdrängt.

      So ist die Lösung oder zumindest eine Teillösung der demographischen Probleme in Europa, die unsere gesamte finanzielle Grundlage bedroht auch keinesfalls in staatlichen Maßnahmen zu suchen, sondern im Gegenteil in einer Rückführung der staatlichen Interessen und einer niedrigeren Staatsquote.

      http://www.aktienboard.com/portal/modules.php?name=News&file…
      Avatar
      schrieb am 20.06.04 17:14:44
      Beitrag Nr. 199 ()
      Gesetzliche Krankenkasse:
      Billige Zusatzpolicen – aber wer wechselt, verliert den Sondertarif

      Von Biallo & Team

      Seit die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen (GKV)
      weiter gekuerzt wurden, sind private Zusatzversicherungen
      zunehmend gefragt. Diese kann man seit Anfang des Jahres
      nun direkt bei den Gesetzlichen Kassen abschliessen.

      Neben Sehhilfen und Zahnersatz, Behandlungen durch
      Heilpraktiker und Chefarzt im Krankenhaus umfassen
      die Zusatzpolicen auch Tagegelder, Auslands-
      krankenversicherungen sowie zusaetzliche Vorsorge-
      untersuchungen. Dabei treten die Kassen nicht selbst
      als Versicherer auf, sondern haben Rahmenvertraege
      mit privaten Partnern abgeschlossen. Auf Grund ihres
      grossen Mitgliederbestandes wurden hierbei oft
      lukrative Preisnachlaesse ausgehandelt. Je nach Tarif
      beziffern die Kassen den Preisvorteil zwischen
      5 und 15 Prozent gegenueber den herkoemmlichen
      privaten Zusatzpolicen. Viele der neuen Angebote
      sind geschnuerte Versicherungspakete. Sie differieren
      sowohl in Inhalt wie in Preisgestaltung und sind
      deswegen im Einzelnen schwer vergleichbar. Bei
      Vertragsabschluss spielt das Eintrittsalter des
      Versicherten eine wesentliche Rolle. Ein 20-Jaehriger
      zahlt weniger Monatsbeitrag als jemand, der sich
      erst mit 40 oder 50 zusaetzlich versichert. Neu ist
      auch die Frage nach dem Gesundheitszustand. So ist
      in der Regel ein Fragenkatalog auszufuellen, der
      sich von Vorerkrankungen und aktuellen Beschwerden
      ueber den Zustand des Gebisses bis hin zu Kranken-
      hausaufenthalten erstreckt. Mit der moeglichen
      Konsequenz, dass bestimmte Leistungen ausgeschlossen
      werden, die Beitraege hoeher liegen oder der
      Interessent ganz abgelehnt wird.

      Doch ein Blick auf die Angebote lohnt sich. So bietet
      die Barmer Ersatzkasse in Kooperation mit der HUK-Coburg
      fuer alle Mitglieder zwischen 21 und 65 Jahren einen
      Zusatzschutz fuer Zahnersatz, Implantate und Inlays
      fuer 6,42 Euro (Mann) bzw. 8,43 Euro (Frau) monatlich
      an. Bei der GEK zahlt ein 30-Jaehriger Mann im Tarif
      Comfort im Monat 7,72 Euro und erhaelt dafuer einen
      Zusatzschutz fuer Zahnersatz, Sehhilfen und grosse
      Hilfsmittel (Hoergeraet/Rollstuhl) sowie ein Kranken-
      haustagegeld von 10 Euro und ein Kurtagegeld von 13 Euro
      pro Tag plus eine Auslandsreise-Krankenversicherung.
      Wer mit 50 Jahren abschliesst, zahlt dafuer 13,78 Euro.
      Identische Tarife bieten die bundesweit aktiven BKK
      Oetker und die Sancura BKK durch ihre Kooperation mit
      der Barmenia. Zusatzschutz fuer Zahnersatz, Sehhilfe
      plus eine Auslandsreise-KV gibt es fuer eine 30-Jaehrige
      bereits fuer 8,97 Euro monatlich. Auch die Allgemeinen
      Ortskrankenkassen offerieren ein breites Spektrum im
      ambulanten wie stationaeren Bereich fuer den kleinen
      Geldbeutel.

      Wer sich Angebote von den Kassen einholt, darf nicht
      nur allein auf den Preis achten, sondern muss die
      einzelnen Leistungen und Zuschuesse detailliert pruefen.
      Zahlt die eine Versicherung nur 20 Prozent beim Zahn-
      ersatz dazu, erstattet die andere vielleicht 50 Prozent.
      Ein wichtiger Aspekt ist auch, ob die Zusatzleistung
      nur als Aufstockung einer GKV-Leistung oder unabhaengig
      davon sein soll.

      Eines wird zukuenftig fuer viele sicher nicht leichter:
      der Kassenwechsel. War es ueblich, sich bei einer
      Beitragserhoehung eine guenstigere Kasse zu suchen und
      dabei zu sparen, so kann dieser Weg jetzt sogar teurer
      werden. Verlaesst man die Kasse, endet die Zusatz-
      versicherung. Oft gibt es zwar die Moeglichkeit, die
      Police auch nach der Kuendigung der GKV im direkten
      Verhaeltnis beim privaten Versicherer weiter zu fuehren.
      Dieser wird jedoch meist eine Gesundheitsuntersuchung
      verlangen, um das eigene Versicherungsrisiko
      kalkulieren zu koennen. Hinzu kommt, dass man ja aelter
      geworden ist und in eine hoehere Einstiegsklasse faellt.
      Auch geht der GKV-Rabatt verloren. Im guenstigsten
      Fall wird der Monatsbeitrag steigen, im schlimmsten
      Fall die Private die Zusatzversicherung verweigern.
      Letzteres duerfte vor allem aeltere und kranke Menschen
      treffen. Wer in der neuen Kasse einfach eine neue
      Police abschliesst, muss bedenken, dass auch hier das
      Eintrittsalter fuer die Zusatzversicherung gestiegen
      ist, was ebenfalls hoehere Monatsbeitraege nach sich
      zieht.



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 25.06.04 21:21:57
      Beitrag Nr. 200 ()
      Die BRD auf den Weg in den Staatsbankrott

      Die Lage des deutschen Staatshaushaltes ist bekanntlich desaströs, und die deutsche Wirtschaftslage ist auch nicht besonders berauschend. Wenn weiterhin Staatsdefizite in der heutigen Höhe, bei mickrigen Wirtschaftswachstum, erzielt werden ist der Staatsbankrott nur noch mittels hohen Inflationsraten abwendbar. Diese Möglichkeit scheidet aber im Fall Deutschland aus, da der deutsche Staat einen zu geringem Einfluss auf die entscheidende Notenbank(EZB) hat.

      Steuererhöhungen zur Haushaltskonsolidierung scheiden in der BRD auch aus, da der Punkt, an dem eine Erhöhung der Steuersätze, zu einem Rückgang der Steuereinnahmen führt, bereits längst überschritten ist. Die einzige Möglichkeit den Haushalt zu konsolidieren, ist also drastisches Sparen, und radikale Liberalisierung der Wirtschaft. Die Schritte werden vermutlich auch in die Wege geleitet werden, aber leider nicht vor den nächsten Bundestagswahlen, und dann vermutlich auch noch zu zögerlich. :(

      Ich befürchte ohnehin, das diese Schritte nicht reichen werden. Andere westliche Industrienationen wie z.B. Neuseeland oder die skandinavischen Länder, hatten vor einiger Zeit zwar mit ähnlichen Problemen zu kämpfen, und hatten einen erfolgreichen Turnaround ihrer Volkswirtschaften und ihre Staatshaushalte hinbekommen. Aber dieser Turnaround wurde von einer eigenen Währung unterstützt. Deutschland hat diese nicht. Die europäische Einheitswährung ist gleich für mehrere Probleme Deutschlands auf einmal verantwortlich:

      -Die Zinssätze(sowohl die Lang- als auch die kurzfristigen!) sind für eine stagnierende Volkswirtschaft viel zu hoch.

      -Der große Währungsraum führt zu einem Kapitalexodus für die deutsche Volkswirtschaft. Mit einer eigenen deutschen Währung, wären immer nur wenige deutsche Investoren bereit gewesen außerhalb der deutschen Volkswirtschaft zu investieren. Da es nun die Euro-Zone gibt, wäre es nun fast verrückt Direktinvestitionen in Deutschland zu tätigen, wenn offensichtlich Investitionen in ein anderes Euroland deutlich rentabler sind. Für Unternehmen die mit viel Fremdkapital arbeiten ist es noch deutlich riskanter in D zu investieren, da die Fremdkapitalgeber, Zinsen verlangen, die sich auf dem Niveau der anderen Euroländer bewegen werden.

      -Hätte D noch eine eigene Währung, dann hätte diese bereits stark abgewertet --> die deutsche Wirtschaft würde alleine dadurch wieder deutlich wettbewerbsfähiger.

      Da der deutsche Staat also fast keinen Einfluss mehr auf die bestimmende Notenbank(EZB) hat, sind die Schulden des deutschen Staates praktisch mit Fremdwährungsschulden gleichzusetzen. Und ich kenne kein Land, das es je geschafft hat mit Fremdwährungsschulden, in dieser Höhe(bald 70% des BIP und vermutlich weiter steigend), den Staatbankrott noch abzuwenden. (afrikanische Staaten deren Fremdwährungsschulden, im Vergleich zur Wirtschaftsleistung der Gläubiger(demokratische Industriestaaten) minimal war, und denen dann die Schulden, oder ein Teil, davon erlassen wurden, einmal unberücksichtigt)


      Stark gegen meine Theorie des Staatsbankrottes sprechen natürlich die Notierungen der langfristigen Bundesanleihen, und deren Ratings, die darauf hindeuten, das der deutsche Staat seinen Zahlungsverpflichtungen auch noch in einigen Jahrzehnten nachkommen kann, aber wenn ich sehe, das man mit irischen Staatsanleihen derzeit sogar minimal höhere Renditen bekommt als mit Deutschen, und wenn man bedenkt das die großen Staatsanleihen-Investoren Versicherungen wie die Allianz sind, dann ziehe ich diesem Fall, das Urteil des Marktes in Zweifel. Auf die Urteile der Ratingagenturen würde ich mich in diesem Fall auch nicht verlassen, denn diese stehen unter einem gewissem „institutionellen Zwang“. Keiner will der erste sein, der eine westliche Industrienation herabstuft, denn gelingt dem Staat dann doch die Wende, dann verliert die Ratingagentur doch einiges von ihrem „gutem“ Ruf. Außerdem ist ein gewisser politischer Druck auf die Agenturen nicht auszuschließen. Das Urteil des Marktes ist dann nochmals zusätzlich in Frage zu stellen, da es sich doch sehr auf die Urteile der Ratingagenturen stützt.

      Kommentare?

      Gruß tt
      P.S. Ich denke der Deutsche Staat braucht den Weg in den Staatsbankrott nicht alleine anzutreten, wir werden vermutlich von unseren französischen Nachbarn begleitet. Wir haben zwar, Dank Neu-Fünf-Land einigen Vorsprung, aber die Franzosen geben sich alle Mühe mit uns Gleichschritt zu halten.

      Thread: Die BRD auf den Weg in den Staatsbankrott?
      Avatar
      schrieb am 26.06.04 15:39:16
      Beitrag Nr. 201 ()
      @tt

      Gehört eigentlich in deinen anderen Thread, aber der ist nur für Vollregistrierte.

      Ich bin anderer Ansicht:
      -Da gerade wichtige Staaten der Eurozone wie Deutschland, Frankreich und Italien ähnliche Probleme haben, ist eine Problemlösung durch Inflationierung durchaus vorstellbar, zumal wenn man an die steigenden Rohstoffpreise denkt (China). Das würde auch die Probleme der Rentenversicherung "lösen"-die Rentenhöhe bleibt erhalten(sie ist nur nichts mehr wert).
      -Die Zinssätze liegen bei 2%, da ist kaum Spielraum und 1% weniger bringts auch nicht. Die stagnierende Volkswirtschaft liegt eher an der schrumpfenden Bevölkerung, der "Konsumübersättigung", der Billigkonkurrenz, den Grenzen des Wachstums, dem Arbeitsplatzabbau durch Produktivitätsfortschritte, den strangulierenden Schulden.
      - Die Investitionen gehen weniger in den Euroraum, sondern nach Osteuropa oder Asien.
      - Japan hat seit Jahren ähnliche Probleme, trotzdem tendiert der Yen trotz erheblicher Interventionen zur Stärke. Bei den Währungen ist das Hauptproblem der schuldenfinanzierte Konsumrausch der Amerikaner im Ausland.

      Italien und Belgien haben im Übrigen eine wesentlich höhere Staatsverschuldung, sie müssten noch vorher bankrott sein.
      Der Euro ist eher ein Nebenaspekt. Das eigentliche Hauptproblem sind auch nicht die Politiker, sondern der Souverän, das Volk. Die Fakten:
      1.) Die hohe, zunehmende Verschuldung
      2.) Die demografische Entwicklung/ Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme
      3.) Die Globalisierung/neue, effiziente Wettbewerber mit sehr niedrigen Lohnkosten
      4.) Nicht mehr realisierbarer Wachstumszwang.
      Diese Faktoren sind real und nicht unbedingt von deutschen Politikern zu verantworten.
      Was die Schulden betrifft, so sieht man gerade gegenwärtig, dass ein Schuldenabbau in Deutschland an der Bevölkerung scheitert. Den Politikern ist der Ernst der Lage bewußt, aber jede Partei, die auch nur zaghafte Reformschritte(= weniger Geld in der Tasche der Bürger) versucht, wird umgehend abgewählt. Momentan ist die SPD der Sündenbock, in 3 Jahren wird es die CDU sein. Hinzu kommt unser (von den Allierten nach dem Krieg gewolltes) föderales System, wo jeder jeden blockiert. Der CDU wird wenig Zeit bleiben. Zunächst werden ein paar Reformen des politischen Gegners zurückgenommen, um die Masse gnädig zu stimmen und sich für die Wahl zu bedanken. Wenn dann Ernst gemacht wird, laufen bei den anstehenden Landtagswahlen die Wähler davon und die Bundesratsmehrheit kippt. Vielleicht wiederholt sich das Spielchen noch ein , zwei Mal, spätestens dann wird es bei der sich zwangsläufig verschlechternden wirtschaftlichen Situation rechts und links zu Parteineugründungen kommen, die Steuererleichterungen (auf Pump), Patentrezepte oder Türken raus propagieren.
      Die Masse der Bevölkerung sieht rot bei einer Praxisgebühr von 10€, hat aber kein Problem mit permanenter Neuverschuldung. Jedes Jahr landen zig Tonnen teuer bezahlter Medikamente im Müll, wegen jedem Schnupfen wird zum Arzt gerannt, obwohl es gegen Viren nachweislich kein Mittel gibt, aber 10€, diesen Missbrauch zu stoppen, mit sinkenden Lohnnebenkosten Arbeitsplätze zu schaffen, sind in Deutschland nicht vermittelbar. Dass jeder zusätzliche Euro Neuverschuldung langfristig zu wesentlich höheren Belastungen führt, kapiert die Bildzeitungsdemokratie nicht. Unterstützt wird diese Ignoranz von "Experten", die von ewigem Wachstum, Konjunkturankurbelung und Konsum auf Pump träumen.
      Ähnlich wie in Frankreich werden Politiker und Staat von der Masse als Feinde gesehen, deren einzige Aufgabe es ist, für stete Wohlstandsexpansion zu sorgen. Dass 2,5 Milliarden Inder und Chinesen auch etwas von dem Kuchen abhaben wollen und bereit sind, für 1 Euro die Stunde, 12 St. täglich, 7 Tage die Woche zu schuften und ihre Produkte und Fähigkeiten zusehends mit unseren konkurrieren können, interessiert den deutschen Michel nicht, Herr Schröder oder demnächst Frau Merkel sollen es gefälligst richten.
      Wie die Realitäten verdrängt und stattdessen Sündenböcke gesucht werden, läßt sich sehr schön im Parallelthread studieren.
      Gruß, Algol
      Avatar
      schrieb am 26.06.04 20:44:08
      Beitrag Nr. 202 ()
      Inflationierung ist sicherlich ein mögliches Szenario, aber ist realistisch. Ich glaube nicht das sich die Herren von der EZB, von den Länderregierungen reinreden lassen, und die EZB denn Ländern aus der selbstverschuldeten Krise hilft. Bei einer möglichen stärkeren Inflationierung wäre der Euro in prosperienden Ländern wie Irland sicherlich bald nur noch Geschichte. Ich halte es aber für wahrscheinlicher, das erst einige Euroländer an den Rand des Staatsbankrottes kommen, und sich erst dann die ersten Länder vom Euro verabschieden. Das der Euro nicht in allen jetzigen Euro-Ländern bestand haben kann, halte ich übrigens für so sicher wie das Amen in der Kirche.

      Die stagnierende Volkswirtschaft liegt eher an der schrumpfenden Bevölkerung, der " Konsumübersättigung" , der Billigkonkurrenz, den Grenzen des Wachstums, dem Arbeitsplatzabbau durch Produktivitätsfortschritte, den strangulierenden Schulden.
      Die stagnierende Volkswirtschaft wird sicherlich nicht von der schrumpfenden Bevölkerung verursacht, denn die Bevölkerung Deutschlands ist bisher überhaupt noch nicht geschrumpft. Länder mit stark schrumpfender und alternder Bevölkerung wie eigentlich alle osteuropäischen Staaten, haben hohe Wachstumsraten, teilweise über 10%p.a.!!

      Wir erleben zwar einen demographischen Wandel dieser sollte aber doch eigentlich eher gut für uns sein! Uns fällt sehr viel Wohlstand einfach in die Hände(Erbschaft). Und hätten wir einen attraktiven Wirtschaftsstandort und eine vernünftige Einwanderungspolitik so konnten wir einige der besten Köpfe weltweit in Land holen, diese würden unseren Wohlstand noch weiter steigern. Das wir weder einen attraktiven Wirtschaftsstandort,noch eine vernünftige Einwanderungspolitik haben, ist unsere eigene Schuld.

      der " Konsumübersättigung" der Billigkonkurrenz, den Grenzen des Wachstums, dem Arbeitsplatzabbau durch Produktivitätsfortschritte, den strangulierenden Schulden
      Ich kenne persönlich keinen Menschen der an Konsumübersättigung leidet. Sicherlich gibt es ein paar Leute die ihren Konsum in Grenzen halten(damit meine ich, sie verzichten bewusst auf Konsum, obwohl sie sich in locker leisten könnten, und dieser Konsum für sich auch sehr verlockend wäre). Diese Leute sind aber eher die Ausnahme von der Regel, und die Regel lautet die breite Bevölkerung leidet niemals an Konsumübersättigung. Sie dir nur einige reiche Länder an, es werden genauso wie in armen Länder der Grosteil der Arbeitseinkommen verkonsumiert. Der Unterschied zu armen Länder ist, das das Geld in qualitativ höherwertige Konsumprodukte fließt.

      der Billigkonkurrenz, den Grenzen des Wachstums, dem Arbeitsplatzabbau durch Produktivitätsfortschritte, den strangulierenden Schulden
      schwachsinniges Wort. Wenn jemand für die gleich Arbeit weniger Geld als bekommt, dann verdient du dein Geld gar nicht!

      den Grenzen des Wachstums, dem Arbeitsplatzabbau durch Produktivitätsfortschritte, den strangulierenden Schulden
      Grenzen des Wachstums aufs Wirtschaftswachstum bezogen? Diese gibt es nicht. Solange es Menschen in ausreichender Anzahl gibt, wird es immer technologischen Fortschritt geben, und damit auch Wirtschaftswachstum. Das ist fast schon ein Naturgesetz.

      dem Arbeitsplatzabbau durch Produktivitätsfortschritte,
      In einen liberalisierten Arbeitsmarkt entstehen durch Produktivitätsfortschritte, neue bessere Arbeitsplätze, das ist doch phantastisch :)

      den strangulierenden Schulden
      Schulden sind ein Hebel. Gibst du das geliehene Geld für Blödsinn aus, dann strangulieren dich die Schulden wahrscheinlich eines Tages. Investierst du das geliehne Geld allerdings vernünftig, dann sind Schulden eine phantastische Sache:)

      Japan hat seit Jahren ähnliche Probleme, trotzdem tendiert der Yen trotz erheblicher Interventionen zur Stärke.
      Der YEN ist und bleibt stark, weil er wie die meisten asiatischen Währungen, an der Kaufkraft im Vergleich zu €,$,Pfund,.. gemessen, unterbewertet ist.

      Die DM war im Vergleich zu anderen €-Währungen bei der Festlegung der Umsetzungskurse überbewertet. Diese Überbewertung wurde konserviert, und bleibt es bis zum Verschwinden des € in Deutschland. Das bedeutet bis dahin einen gewaltigen Kostennachteil aller in Deutschland produzierten Güter, im Vergleich zu anderen €-Ländern. Das alleine wird noch sehr viele Arbeitsplätze in D kosten. Bei der Fixierung des DM/€-Wechselkurses wurde auch alle DM-Schulden auf ein eigentlich zu hohes Niveau fixiert :(

      Was extrem zu hohe Umrechnungskurse bei einer Währungsunion anrichten können, sieht man sehr schön seit 1990 in den neuen Bundesländern.

      Bei den Währungen ist das Hauptproblem der schuldenfinanzierte Konsumrausch der Amerikaner im Ausland
      Schwachsinn!

      Italien und Belgien haben im Übrigen eine wesentlich höhere Staatsverschuldung, sie müssten noch vorher bankrott sein
      Wenn das jährliche Defizit kleiner oder nicht vorhanden ist, wenn die Wirtschaftsleistung schneller wächst, oder wenn die Steuersätze niedriger sind, dann muss eine höhere Verschuldung nicht unbedingt zum Bankrott führen.
      Und da der DM/€-Fixierungskurs äußerst ungünstig für Deutschland war, ist es logisch anzunehmen das sich Deutschlands Wirtschaftsleistung dauerhaft schlechter entwickelt als die der übrigen €-Länder, selbst wenn ansonsten die Politiker und das Volk der einzelnen Länder gleich schlechte Entscheidungung treffen. Deshalb halte ich eben den BRD-Bankrott für am wahrscheinlichsten.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 27.06.04 01:30:43
      Beitrag Nr. 203 ()
      - Irland prosperiert seitdem die EU viel Geld in das im Vergleich zu Deutschland winzige Land pumpt.
      - Wie soll eine stagnierende, tendenziell immer schneller schrumpfende Bevölkerung mehr verbrauchen und Wachstum generieren? Auch die Wachstumsschwäche in Japan geht einher mit der demografischen Entwicklung. Wir haben deshalb keinen attraktiven Wirtschaftstandort, weil die Lohnkosten im Vergleich zu weiten Teilen der Welt zu hoch sind. Wollte die Politik das wirksam ändern, gäbe es eine Proteststurm (also wird es sich zwangsläufig ungewollt ändern ). Die Osteuropäer haben im Vergleich zu uns einen ungeheuren Nachholbedarf. Eine vernünftige Einwanderungspolitik stößt an fremdenfeindliche Grenzen in der Bevölkerung, zudem passen sich Immigranten auch in Bezug auf die Kinderzahl sehr schnell an.
      - "schwachsinnig", wir wollen doch bitte sachlich bleiben. Offensichtlich verdienen Osteuropäer und Chinesen für die gleiche Arbeit einen Bruchteil unseres Lohns, deswegen werden ja so viele Arbeitsplätze ausgelagert!
      - "Grenzen des Wachstums"
      Qualitatives Wachstum bedeutet nicht quantitatives. Hier gibt es mittlerweile mehr Handys als Einwohner, in den USA gilt dasselbe für KFZ. Natürlich gibt es logischerweise bei begrenztem Raum und Ressourcen und sinkender Bevölkerung Wachstums- und Sättigungsgrenzen. Und wenn das Geld knapp wird, ist auch qualitatives unmöglich. Ferner der Umweltaspekt, wir werden noch erleben, was mit dem Klima passiert, wenn Chinesen und Inder derartig hemmungslos konsumieren wie wir.
      - "Produktivitätsfortschritte"
      Was ist dank des Computers in den Banken passiert? Es entstand ein evtl. "interessanter" Arbeitsplatz, aber 5 fielen weg.
      - "schuldenfinanzierter Konsumrausch"
      Das ist ja gerade der Punkt, offenbar können die Schulden nicht sinnvoll investiert werden, sondern fließen in Zinszahlungen(und verursachen weitere) und überflüssigen Konsum. Weltmeister sind die Amerikaner. Die Defizite steigen, das Geld fließt nach China oder in die Rüstung (auf die Art hat schon Hitler die Arbeitslosen vorübergehend von der Straße geholt). Vorbild USA, lachhaft, Argentinien läßt grüßen. In der Tat handelt es sich nicht um eine Euro oder Yenstärke, sondern Dollarschwäche.
      Ich denke, wir gehen harten Zeiten entgegen, aber immerhin haben wir noch etwas zu verkaufen (Exportweltmeister), während die amerikanische Mischung aus falschverstandenem Keynes und Friedmann noch schneller ins Desaster führt.
      Gruß, Algol
      Avatar
      schrieb am 27.06.04 05:04:20
      Beitrag Nr. 204 ()
      Ich möchte dir in eigentlich fast allen Punkten widersprechen, ich habe aber jetzt keine Lust dazu dich von meiner Meinung zu überzeugen, weil es mir wahrscheinlich eh nicht gelingen würde, und wenn es mir gelingen sollte, dann würde das ganze viel zu Lange dauern.

      Wir (die Deutschen) gehen in der Tat harten Zeiten entgegen, andere Länder, wie z.B. die angelsächsichsen Länder(noch höhere Löhne als wir), wirtschaftsliberale asiatische Länder, und noch viele andere, werden beträchtlichen Wohlstand erst erreichen, oder bauen diesen immer weiter aus.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 27.06.04 09:50:54
      Beitrag Nr. 205 ()
      Okay, einverstanden, die Zukunft wird zeigen, wer richtig liegt ;). Was die Zukunft Deutschlands betrifft, sind wir nicht weit von einander entfernt, lediglich was die Ursachen angeht.
      Ich will abschließend nur noch wenige wichtige Punkte loswerden, mein letztes Posting war da etwas unpräzise:

      "zu hohe Löhne"
      Das ist natürlich Sache der Tarifparteien, aber auch da ist ja schon Bewegung reingekommen (Siemens). Was ich meinte, sind die Lohnnebenkosten. Würde eine Regierung hier ernsthaft versuchen, die Leistungen den Realitäten anzupassen, würde vermutlich eine Art Revolution ausbrechen (und La Fontaine bekäme mit einer Linkspartei die absolute Mehrheit)

      "Demografie"
      Natürlich altert die Bevölkerung rapide und Renter konsumieren evtl. mehr Pillen, aber nicht unbedingt mehr Porsche, PCs, usw.

      Was Asien angeht, sind wir einer Meinung, hier entsteht allein mit China, Indien, Japan und Russland ein riesiger dynamischer Wirtschaftsraum. Und dieser Wirtschaftsraum wird eines Tages nicht mehr auf den Zustrom wertloser grüner Scheine angewiesen sein. Und hier liegst du meines Erachtens völlig daneben, in der Einschätzung der amerikanischen Wirtschaft. Hemmungsloser Konsum auf Pump, Hypotheken-, Kreditkartenschulden, Abhängigkeit von asiatischen Geldgebern, konkurrenzfähig nur noch bei Hamburgern (leicht überspitzt), Hauptexportgut grünes Papier-das soll Vorbild sein? Sobald die Asiaten nicht mehr von durchgeknallten amerikanischen Konsumenten abhängig sind , werden sie nicht mehr zu Minizinsen Treasuries kaufen und genau diesen Konsumenten wird bei steigenden Zinsen schon sehr bald das Geld ausgehen. Durch die Entwicklung in Asien, steigen die Rohstoffpreise, allein das wird die Inflation und die Zinsen in die Höhe treiben. Wenn dann der Dollar abstürzt, wird der starke Euro sogar ein erheblicher Vorteil sein: Bezahlbarer Sprit wirkt wie ein Konjunkturprogramm.
      Gruß und viel Erfolg, Algol
      Avatar
      schrieb am 27.06.04 19:00:31
      Beitrag Nr. 206 ()
      Wenn du dir so sicher bist, über die zukünftige Entwicklung, einiger Volkswirtschaften, Währungen, und Rohstoffe, dann würde ich dir empfehlen an den Finanzmärkten auf diese Entwicklungen zu setzen, falls du es nicht bereits getan hast. Und wenn du richtig liegst, bist du wohl bald ein reicher Mann(falls du es nicht schon bist). :)
      Wenn du nicht den Mut darauf hast darauf zu setzen, dann biete ich dir eine Wette auf die US-Wirtschaftsentwicklung an, da ich vorallem in puncto US-Wirtschaft, eine absolut gegenteilige Meinung zu dir habe.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 27.06.04 21:21:05
      Beitrag Nr. 207 ()
      @ tt

      Post!
      Avatar
      schrieb am 29.06.04 10:24:29
      Beitrag Nr. 208 ()
      Da ich hier nur ab und zu mal reinschaue, habe ich nicht alle eure Ausführungen gelesen, daher zerreißt mich nicht gleich, wenn ihr meine Anmerkungen schon diskutiert habt.

      Was ist dank des Computers in den Banken passiert? Es entstand ein evtl. " interessanter" Arbeitsplatz, aber 5 fielen weg.

      Als die Industrialisierung mit Webstuhl und Dampfmaschine begann, stieg die Arbeitslosenquote stark an. Dieser Arbeitslosenanstieg war nur temporär, da der gewonnene Produktivitätsfortschritt zu neuen Investitionen und Konsum der Neureichen führte. Dieses Phänomen des temporären Arbeitslosenanstieges bei Produktivitätsfortschritten begleitet uns seit dem.

      Stell dir doch nur mal vor, Autos würden von Hand produziert. Bei den derzeitigen Produktionsmengen hätten wir echten Arbeitskräftemangel. Nur wer könnte sich so ein Auto leisten? Entweder müssten die Löhne ins unendliche sinken, bei gleichen Verkaufspreisen. Oder die Verkaufspreise müssten deutlich steigen. In beiden fällen fallen die Käuferschichten weg und die Produktionszahlen müssten sinken. Damit sind auch die Arbeitsplätze dahin und zudem sinkt die volkswirtschaftliche Leistung.

      Rationalisierung ist keine Erfindung der letzten 50 Jahre. Wir leben bereits seit über 200 Jahren mit deutlichen Produktivitätsfortschritten und damit einhergehenden Rationalisierungen. Allen Ländern die sich diesem Prozess unterzogen haben, geht es besser als denjenigen die sich dem Fortschritt verweigern.

      Die DM war im Vergleich zu anderen €-Währungen bei der Festlegung der Umsetzungskurse überbewertet. Diese Überbewertung wurde konserviert, und bleibt es bis zum Verschwinden des € in Deutschland. Das bedeutet bis dahin einen gewaltigen Kostennachteil aller in Deutschland produzierten Güter, im Vergleich zu anderen €-Ländern. Das alleine wird noch sehr viele Arbeitsplätze in D kosten. Bei der Fixierung des DM/€-Wechselkurses wurde auch alle DM-Schulden auf ein eigentlich zu hohes Niveau fixiert

      Wenn eine Überbewertung bestand, wurde sie nicht fixiert. Trotz Euro sind die Inflationsraten in der Eurozone unterschiedlich. Durch die höhere Inflation werden auch die Löhne stärker steigen als in Niedriginflationgebieten. Dadurch wird eine evtl. Überbewertung kompensiert. Diesen Prozess hatten wir auch schon zu DM-Zeiten. Durch die geringfügig stärke Inflation, insbesondere in Süddeutschland, sind dort die Preise höher als in Norddeutschland. Dennoch ist die Produktivität höher und die Arbeitslosenquote geringer. Das Problem ist die EZB, die nur die durchschnittliche Inflation im Blick hat und den Ländern mit industriellen Nachholbedarf keine stärke Inflation zugesteht.


      Lesenswert:
      http://wisoge.uni-hohenheim.de/Lehre/Veranstaltungen/Unterla…
      Avatar
      schrieb am 29.06.04 11:01:38
      Beitrag Nr. 209 ()
      #208

      Das kam vielleicht missverständlich rüber, mir ist klar, dass ohne Rationalisierung alle Arbeitsplätze langfristig gefährdet sind.
      Meine Argumentation zielte in die Richtung, dass durch die Produktivitätsfortschritte viele Arbeitsplätze verloren gehen, und zwar deutlich mehr, als durch heute erreichbare Wachstumsraten neu geschaffen werden können. Also die notwendigen Wachstumsraten zur Kompensation können heute nicht mehr erreicht werden (Sättigung auf hohem Niveau, Nachfrageausfälle infolge der Überalterung, Globalisierung=neue Wettbewerber, Verschuldung, weniger Geld in den Taschen der Bürger, usw.).
      Gruß, Algol
      Avatar
      schrieb am 01.07.04 07:16:57
      Beitrag Nr. 210 ()
      Warum sollten nicht sämtliche wegfallenden Arbeitsplätze kompensiert werden? Allein vor dem geschichtlichen Hintergrund, dass die Globalisierung schon seit Jahrhunderten läuft (je nach Definition) und es immer eine Kompensation gab, sehen ich keinen Grund warum sich das ändern sollte. Als zweites Gegenargument kannst du auch die Arbeitslosenzahlen sehen, die in unterentwickelten Ländern höher sind als in entwickelten Ländern.

      Wenn es keine Kompensation gibt, dann liegt das an der Politik und der Einstellung der Deutschen und nicht an Rationalisierungsprozessen.

      Ich glaube auch nicht, dass die Löhne insgesamt zu hoch sind. Das die Deutschen im Maschinenbau und in der Automatisierung weltweit vorne sind, hat zum Teil mit den Löhnen zu tun, die einen hohen Automatisierungsgrad erfordern. Die Lösungen werden in Deutschland erarbeitet und dann exportiert.

      Grüße
      joati
      Avatar
      schrieb am 01.07.04 14:35:44
      Beitrag Nr. 211 ()
      #210

      In mancherlei Hinsicht ist die Situation sehr wohl gänzlich neu und nicht mit der Vergangenheit vergleichbar:

      1.) Globalisierung.
      Wegen des Internets, Flugverbindungen, Telefonkonferenzen usw. ist die Welt zu einem Dorf geworden. Früher war es fast unmöglich, zeitnah weltweite Informationen zu bekommen und Kontakte herzustellen. Hinzu kommt, dass durch politische Entwicklungen, z.B. in China, Indien oder Russland, mehr als 2,5 Milliarden, teilweise sehr leistungsbereite ,leistungsfähige und insbesondere preiswerte Wettbewerber um Arbeitsplätze und Rohstoffe aufgetaucht sind. Diese Situation ist völlig neu. Früher tauchten Staaten wie Taiwan oder Südkorea auf und selbst da warfen einzelne Branchen das Handtuch, dabei handelte es sich aber um Zwergstaaten im Vergleich zu China oder Indien.
      2.) Neue Dimensionen erreicht auch der Schuldendienst. Das Geld, dass unproduktiv in Zinszahlungen fließt, fehlt natürlich an anderer Stelle. Und nur am Rande, wir sind der Staat.
      3.) Auch die demografische Entwicklung ist neuartig. Es ist einfach plausibel, dass eine überalterte oder schrumpfende Bevölkerung weniger konsumiert.
      4.)Schließlich sind teilweise auch Wachstumsgrenzen erreicht: Während Inder, Chinesen usw. von unserem Wohlstand nur träumen können (bis jetzt), braucht man in der Regel nicht mehr als z.B. ein Handy pro Person.

      Gruß, Algol
      Avatar
      schrieb am 01.07.04 18:24:10
      Beitrag Nr. 212 ()
      @joati #208:

      Bei dem was du zum Thema Rationalisierung gesagt hast kann ich dir nur zustimmen. :)

      Der Link aus #208 ist wirklich sehr lesenswert :)

      Wenn eine Überbewertung bestand, wurde sie nicht fixiert.
      Dazu habe ich einiges imThread: Die BRD auf den Weg in den Staatsbankrott? geschrieben.

      Das Problem ist die EZB, die nur die durchschnittliche Inflation im Blick hat und den Ländern mit industriellen Nachholbedarf keine stärke Inflation zugesteht.
      Durch Inflation wird doch nicht der industrielle Nachholbedarf aufgeholt :confused: Ich verstehe nicht was du mir damit sagen willst. Die EZB hat einfach keine Möglichkeit ein Geldpolitik zu betreiben, die für jedes einzelne Euroland optimal wäre.


      @Algol:
      Die Antwort auf #211 steht bereits in #204


      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 01.07.04 23:50:46
      Beitrag Nr. 213 ()
      # tt

      211 galt joati und 204 war die Verweigerung einer Antwort.

      Gruß, Algol
      Avatar
      schrieb am 02.07.04 07:22:08
      Beitrag Nr. 214 ()
      joati,

      in der Tat ist die EZB ein Problem, das liegt aber an den
      politischen Statuten, nur für Geldwertstabilität zu sorgen, koste es, was es wolle, eben auch Millionen Arbeitsplätze.

      In der BRD liegt es aber vor allem an unserem kranken Steuersystem mit den höchsten Steuern in Europa.

      Man sehe nur nach Österreich mit wenig Industrie, mit Strukturen wie bei uns vor dem Krieg und trotzdem funktioniert es dort.

      Aber wie hoch ist dort die Steuerbelastung für Unternehmen und wie hoch ist sie bei uns?

      Versagt hat der Steuergesetzgeber in der BRD mit seinem
      Totalanspruch auf Regulierung.

      Die BRD ist an erster Stelle in der Umweltregulierung, kein
      Land hat solche Umweltauflagen dank der schwachsinnigen grünen Politik.

      Weil wir ja auf einer Insel leben.
      Diesselben Leute, Dampfplauderer hoch drei, fordern andererseits wirtschaftlichen Pragmatismus und machen alles platt.
      Um Dosenpfand wird ein Riesenspektakel gemacht, als ob nun
      dieser Schwachsinn die heile Welt der BRD gefährdet.
      Mit solchen Lächerlichkeiten wird bei uns Politik gemacht,

      Das Bankenwesen hat Narrenfreiheit, ein Treppenwitz, wo es
      letzlich doch nur ums Geld geht.

      Die Gesetze, um der Manipulation und Mauschelei der Banken
      zu begegnen, sind mittelalterlich.

      Man wird die Mauschelei im Mannesmann-Prozeß in ihren Folgen ja sehen, bezweifle, dass die Wirtschaftsprofiteure
      Esser, Funk, Ackermann die Strafe bekommen, die sie verdienen.

      Nichts wird dabei herauskommen.
      Avatar
      schrieb am 06.07.04 18:06:56
      Beitrag Nr. 215 ()
      @tt
      Durch Inflation wird doch nicht der industrielle Nachholbedarf aufgeholt Ich verstehe nicht was du mir damit sagen willst. Die EZB hat einfach keine Möglichkeit ein Geldpolitik zu betreiben, die für jedes einzelne Euroland optimal wäre.

      Nehmen wir an, zwei Länder innerhalb der EU, beides Euro-Länder, konkurrieren miteinander. Land A hat eine geringe Produktivität und eine geringere Industrialisierung als Land B. In Land B ist das Lohnniveau deutlich höher (sagen wir einfach doppelt so hoch) als in Land A. Dieses höhere Lohnniveau zieht sich durch alle Branchen. Auch der Müllfahrer oder Kellner verdient deutlich weniger als in Land B. Das ist auch gerechtfertigt, da die Wertschöpfung des Landes B höher ist.

      Jetzt kommen pfiffige Unternehmer und entdecken Land A als Produktionsstandort. Weitere Unternehmer folgen, die Bildung des Landes wird verbessert und Land A hat nach vielen Jahren die Produktivität von B erreicht.

      Nehmen wir weiterhin an, die Inflationsraten beider Länder waren die ganzen Jahre konstant (beide haben ja die gleiche Währung). Dann sind nicht nur die Lohnkosten in dem produzierenden Gewerbe sondern auch in allen anderen Branchen halb so hoch wie in Land B. Da ein derartiges Ungleichgewicht nicht bestehen kann, müssen die Löhne in Land A stärker steigen als in Land B. Da mit steigenden Löhnen auch Dienstleistungsprodukte teurer werden, steigt die Inflation stärker als in Land B.

      @Algol
      Die Entwicklung ist kontinuierlich, vielleicht mit kleinen Sprüngen. Ich verstehe einfach nicht was heute grundlegend anders ist als vor hundert Jahren? Das Internet ist weniger Meilenstein als die ersten Telegraphieverbindungen oder Telefongespräche. Mit der Eisenbahn, dem Dampfschiff, dem Flugzeug, jedes Mal wurde die Welt etwas dörflicher. Die Fortschritte der letzen 20 Jahre sind da eher gering.

      Die Demografische Entwicklung ist übrigens nicht neu. Dieser Prozess läuft in Europa seit über 150 in die gleiche Richtung. Nur wir haben ein Problem daraus gemacht. Die Erfindung der Rente ist da zu nennen.

      Wieso sind Wachstumsgrenzen erreicht? Es wird auch in Zukunft neue Produkte geben die irgendwann jeder haben muss. In den 70er konnte man sein Geld einfach nicht für Computer, Flachbildschirme und Handys ausgeben. Es gab das Zeug halt nicht.

      @Schürger
      Hast du Weltschmerz?
      Avatar
      schrieb am 07.07.04 10:25:22
      Beitrag Nr. 216 ()
      @joati
      Evtl. müssen wir einfach stehen lassen, dass wir unterschiedlicher Ansicht sind, aber noch ein Versuch:

      Vor hundert Jahren war China im Vergleich zu Deutschland extrem rückständig und abgeschottet. Die einzige Verbindung waren im Vergleich zu heutigen Containerschiffen sehr langsame Nussschalen, heute gibt es zusätzlich Flugzeuge und Eisenbahnen. Per Internet kann man für jedes Produkt weltweite Angebote hereinholen. Technologisch hat China (u.v.a.) Anschluss gefunden und hat u.a. einen bemannten Raumflug zustande gebracht. Heutzutage lassen sich komplette Fabriken von Deutschland aus überwachen und steuern.
      Bei der demografischen Entwicklung ist neu, dass die Überalterung begonnen hat und der Bevölkerungsrückgang einsetzt.
      Die Grenzen des Wachstums sind partiell erreicht. Einmal bei der Verbreitung etlicher Konsumprodukte, zweitens bei der finanziellen Belastbarkeit der Bevölkerung-wieviel Geld verbrauchst du und deine Familie z.B. monatlich für Handy, Telefon und Internetzugang? Wegen Globalisierung und Verschuldung sinken die Löhne eher, bzw. die Belastungen steigen (kommunale Abgaben, Krankenvers.etc.,Steuern). Auch bzgl. der Umwelt zeichnen sich Wachstumsgrenzen ab (Klima, betrachte Deutschland mal von oben). Schließlich werden auch wegen der Entwicklung in Asien einige Rohstoffe knapp und teuer. Schließlich die erwähnte demografische Entwicklung: In der Zukunft gibt es in D jedes Jahr weniger konsumfreudige Einwohner.
      Gruß, Algol
      Avatar
      schrieb am 07.07.04 15:03:09
      Beitrag Nr. 217 ()
      @Algol
      Wir lassen das einfach mal so stehen. Es kann sich ja jeder selber seine Meinung bilden.

      Grüße
      joati
      Avatar
      schrieb am 07.07.04 18:32:13
      Beitrag Nr. 218 ()
      @joati:

      Was du in #215 geschrieben hast, das klingt wirklich alles sehr vernünftig, wahrscheinlich habe ich wohl die Risiken eines deutschen Staatsbankrottes ein wenig überschätzt. Das wahrscheinlichste ist natürlich dass unserer nächsten Regierung eine Restrukturierung unseres Staatshaushaltes gelingt, so wie es in den 80igern u.a. den USA,GB;NL;Neusseland und den skandinavischen Ländern gelungen ist, ihre Wirtschaft wieder auf Trab zu bringen, und ihren Staatshaushalt zu konsolidieren.
      Sollte allerdings der unwahrscheinlichere Fall auftreten das es D nicht gelingt, den Bankrott abzuwenden, dann wird meiner Meinung nach die vermeintliche Ursache die unflexible innereuropäische Einheitswährung sein. Aus #215, und deinen anderen Postings, wird für mich nicht klar ersichtlich, ob du nun der Meinung bist, das die Einheitswährung € für keines ihrer Mitgliedsländer irgendwie schädlich ist, oder ob du der Meinung bist, dass durch den €uro zwar ein gewisser Schaden für einige Mitgliedsländer entsteht(und im Gegenzug natürlich auch ein Nutzen für andere Mitgliedsländer), aber dieser Schaden nur sehr gering ist?

      Sollte der unwahrscheinliche Fall auftreten, und Deutschland kann den Staatsbankrott nicht mehr abwenden, dann bietet sich noch eine zweite mögliche Ursache an:
      Die "Mentalität" der deutschen. Es fällt auf das die oben genannten Länder überwiegend protestantisch geprägt waren. Und überwiegend protestantisch geprägte Länder hatten eigentlich schon immer, eine florierendere Wirtschaft und einen höheren Wohlstand als z.B. Erzkatholische Länder, beim Vergleich mit muslimischen, oder gar sozialistisch/atheistischen Ländern wird das Wohlstandsgefälle immer größer. Einiges widerspricht zwar auch dieser Theorie, z.B. das leichte innerdeutsche Nord/Süd-Protestantisch/Katholisch -Wohlstandsgefälle, dies hat aber vermutlich andere Ursachen.
      Ist es diese Theorie wert diskutiert zu werden, oder ist das nur ein Hirngespinst von mir?

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 08.07.04 21:57:49
      Beitrag Nr. 219 ()
      Interview
      Ifo-Chef Sinn will 44 Stunden-Woche


      Im FOCUS-MONEY-Interview äußert sich Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn über Arbeitszeitverlängerung und notwendige Strukturreformen in Deutschland.

      Focus-Money: Derzeit tobt ein erbitterter Streit um die Verlängerung der Wochenarbeitszeit. Die Gewerkschaften behaupten, man müsse die wenige Arbeit auf mehr Schultern verteilen. Die Unternehmen entgegnen, dass sie eine Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich brauchen, damit sie die deutschen Arbeitsplätze erhalten können. Wer hat Recht?

      Hans-Werner Sinn: Die Unternehmen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens können Betriebe, die sonst in Niedriglohnländer verlagert würden, gehalten werden. Zweitens wirkt die Arbeitszeitverlängerung wie ein großer Produktivitätsschub für die Arbeit und das Kapital. Dieser erhöht das Volkseinkommen und bereitet damit die Basis für die Finanzierung zusätzlicher Investitionen, die neue Arbeitsplätze schaffen. Da die Lohnkosten je Stunde fallen, werden sogar besonders viele Arbeitsplätze geschaffen.

      Money: Wo soll die Nachfrage für die zusätzliche Produktion herkommen? Wenn die nicht steigt, wird der Produktivitätsgewinn in Entlassungen umgemünzt.

      Sinn: Klar, aber die Nachfrage steigt mit der Produktion. Mehr Produktion bedeutet mehr Wertschöpfung und damit mehr Einkommen und Nachfrage. Im konkreten Fall steigen die Gewinne der Unternehmen im Umfang des Wertes der zusätzlich produzierten Waren und Dienstleistungen. Die Kaufkraft für den Erwerb der Mehrproduktion wird also automatisch geschaffen.

      Money: Aber der einzelne Betrieb wird doch trotzdem Mitarbeiter entlassen?

      Sinn: Den Kaufkraftzuwachs kann man bei einer einzelwirtschaftlichen Betrachtung vernachlässigen, denn er richtet sich auf die Produkte anderer Unternehmen. Insofern kann es tatsächlich sein, dass die Beschäftigung desjenigen Unternehmens fällt, das die Arbeitszeit verlängert, wenn die anderen Unternehmen nicht folgen. Doch wenn alle Unternehmen die Arbeitszeit verlängern und mehr produzieren, ist das völlig anders. Dann kommt dem einzelnen Unternehmen die Mehrnachfrage der anderen Unternehmen zugute, und die ist im Durchschnitt genauso groß wie die eigene Mehrproduktion. Deswegen ist es wichtig, dass wir nicht nur allgemein von einer Flexibilisierung der Arbeitszeiten reden, weil das so gut klingt, sondern dass jetzt wirklich eine Massenbewegung zur Ausweitung der Arbeitszeiten zu Stande kommt. Das ist der kleine Unterschied zwischen einer betriebs- und einer volkswirtschaftlichen Sicht der Dinge.

      Money: Um wie viel sollte die Arbeitszeit verlängert werden?

      Sinn: Als grobe Faustregel gilt: Eine Lohnzurückhaltung von einem Prozent gegenüber einem anderen Land bedeutet langfristig einen Beschäftigungszuwachs von einem Prozent gegenüber diesem Land. Um beispielsweise den Kostennachteil gegenüber Holland zu beseitigen, der sich seit 1982 aufgebaut hat, müssten wir die Lohnkosten pro Stunde um 13 Prozent senken. Das ist schon erheblich. Wir müssten nämlich die Arbeitszeit von durchschnittlich 38 auf 44 Stunden steigern. Fürs Erste würde ich mit 42 Stunden beginnen. Das wäre etwa so viel, wie die Italiener heute arbeiten. Bekanntlich ist das mit dem Dolce Vita noch kompatibel.

      Money: Was hat uns Holland voraus?

      Sinn: 1982 wurde dort zwischen den Tarifpartnern und der Regierung das so genannte Wassenaar-Abkommen einer langfristigen Lohnzurückhaltung geschlossen. Während in Holland die Industriearbeiterlöhne in 20 Jahren nur um 20 Prozent zulegten, stiegen sie in Deutschland um 38 Prozent. Ergebnis: Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen in den Niederlanden stieg um ein Viertel, das deutsche stagnierte; es war 2002 exakt so groß wie 1992. In den USA waren die Effekte noch stärker. Dort gelang es problemlos, 18 Millionen Zuwanderer in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Und trotzdem fiel die Arbeitslosigkeit.

      Money: Führen nicht vor allem teure Sozialabgaben zu hohen Lohnkosten?

      Sinn: Ja und nein. Sie sind natürlich hoch, aber das waren sie schon lange. Die Lohnnebenkosten sind zwar ein wenig schneller gestiegen als die Bruttolöhne, aber nicht viel. Die Direktentgelte stiegen in den betrachteten 20 Jahren insgesamt nur um zwei Prozentpunkte weniger als die Lohnkosten. Das Problem sind die Tariflöhne selbst.

      Money: Verfechter höherer Löhne wenden ein, man müsse die Lohnkosten je Stück betrachten und nicht die Lohnkosten je Stunde. Bei diesem Vergleich stehe Deutschland gar nicht so schlecht da, weil die deutsche Produktivität so hoch sei.

      Sinn: Das ist ein Denkfehler, den ich als Dr.-Fritzchen-Müller-Problem bezeichne. Der Doktor weiß etwas mehr als Lieschen Müller, denkt die Dinge aber nicht zu Ende. Zunächst klingt der Einwand plausibel. Doch die hohe Produktivität ist die Produktivität jener, die die Hochlohnpolitik überlebt haben. Diejenigen, die auf Grund der hohen Lohnkosten Pleite gingen, zählen dabei nicht mit. Die Hochlohnpolitik rechnet sich scheinbar selbst, indem die schwächeren Betriebe aus der Statistik eliminiert werden. Um den Denkfehler zu vermeiden, müssen die Arbeitslosen bei der Messung der Produktivität mit einem Wert von null einbezogen werden. Dann sind wir leider kein Land mehr, das durch eine besonders hohe Produktivität glänzen kann.

      Money: Für die Lohnhöhe sind die Tarifpartner verantwortlich. Die Gewerkschaften leugnen zwar den Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Arbeitslosigkeit. Diese fundamentale Gesetzmäßigkeit wird aber von allen ernst zu nehmenden Ökonomen konstatiert. Lügen Gewerkschafter oder sind sie dumm?

      Sinn: Sie können nicht anders. Die Arbeitslosigkeit ist praktisch ihr Erfolgsausweis.

      Money: Wie bitte?

      Sinn: Die Gewerkschaften sind ein Kartell derjenigen, die Arbeit haben. Und wie jedes Kartell dient es dazu, überhöhte Preise durchzusetzen. Würden sich die Löhne frei nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage bilden, gäbe es keine Arbeitslosigkeit. Es stellt sich im Gleichgewicht eine bestimmte Lohnhöhe ein, die den Markt räumt. Das Kartell dient dazu, einen höheren als den Gleichgewichtspreis durchzusetzen. Ist der Lohn höher, werden Arbeitskräfte, deren Beschäftigung sich für den Unternehmer nicht mehr lohnt, entlassen oder gar nicht erst eingestellt. Es entsteht Arbeitslosigkeit. An der Zahl der Arbeitslosen kann der Gewerkschafter ablesen, dass der Preis für Arbeit, den er durchgesetzt hat, höher war als derjenige, der sich ohne sein Zutun ergeben hätte. So gesehen ist jeder Arbeitslose mehr ein Orden mehr an der Brust des Gewerkschafters.

      Money: Was also tun?

      Sinn: Es gibt nur einen einzigen Weg: Die Macht der Gewerkschaften muss gebrochen werden. Die Tarifpartner sollten per Gesetz verpflichtet werden, in ihren Tarifverträgen wirksame Öffnungsklauseln vorzusehen, die es der Belegschaft eines Betriebs ermöglichen, freiwillig vom Flächentarifvertrag abzuweichen. Im Endeffekt würde das die Tarifautonomie stärken, weil die Belegschaften vor Ort mehr Mitspracherechte hätten.

      Money: Wäre es nicht sinnvoller, den Kündigungsschutz zu streichen?

      Sinn: In der Tat ist der gesetzliche Kündigungsschutz eine der wirksamsten Waffen der Gewerkschaften im Tarifpoker. Er zwingt die privaten Unternehmen, die Arbeitsleistung dann noch zu kaufen, wenn sie ihnen zu teuer geworden ist. Das Perverse daran: Der Kündigungsschutz hat keine sicheren Arbeitsplätze geschaffen, ganz im Gegenteil. Wer heute gekündigt wird, weiß nicht, ob er schnell einen neuen Arbeitsplatz findet. Das Risiko, jemanden einzustellen, ist vor allem für kleinere und mittlere Unternehmen viel zu hoch.

      Money: Politisch kaum durchsetzbar ...

      Sinn: Richtig, dafür braucht es Mut. Die Dänen hatten diesen Mut 1993. Sie schafften den Kündigungsschutz ab, was zunächst in gewissem Umfang zu Arbeitslosigkeit führte. Danach folgte ein beispielloses Jobwunder. Die Arbeitslosenquote sank in zehn Jahren von 9,6 auf 5,5 Prozent, während sie in Deutschland sehr deutlich zunahm. Heute muss kein Däne mehr fürchten, keinen neuen Arbeitsplatz mehr zu bekommen, wenn er seinen alten verliert.

      Money: Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck fordert Mindestlöhne.

      Sinn: Mindestlöhne produzieren Arbeitslosigkeit, weil sie einen höheren Preis für Arbeit verlangen, als am Markt zu erzielen ist. Es ist aberwitzig, genau jetzt so etwas zu fordern. Dann wird die Massenarbeitslosigkeit der gering Qualifizierten zementiert. Davon abgesehen haben wir de facto Mindestlöhne in Form der Sozialleistungen – das Hauptproblem in Ostdeutschland. Niemand kann erwarten, dass jemand für einen Lohn arbeitet, den er auch für Nichtstun bekommt. Auch das Problem löst die aktivierende Sozialhilfe. Das meiste Geld fließt nicht mehr, wenn man nicht arbeitet, sondern wenn man mindestens einen Halbtagsjob im Niedriglohnsektor annimmt.

      Money: Sie fordern das Zurückfahren staatlicher Leistungen. In wenigen Jahren sind die Empfänger staatlicher Zuwendungen in der Mehrheit. Wie soll es dann dafür noch politische Mehrheiten geben?

      Sinn: Deshalb bietet sich nach der Wahl 2006 vielleicht die letzte Chance, das Ruder noch einmal herumzureißen. Sonst wird Deutschland einem schleichenden Siechtum verfallen.

      http://focus.msn.de/finanzen/news/sinn-interview
      Avatar
      schrieb am 14.07.04 14:17:52
      Beitrag Nr. 220 ()
      @tt #218

      In einem Artikel habe ich mal gelesen, dass der Euro den deutschen Maschinenbauern Vorteile gegenüber der europäischen Konkurrenz bringt. Vor dem Euro wurde die D-Mark gegenüber den anderen Währungen ständig aufgewertet, dieser Nachteil ist nun weg. Wenn zudem nur ein Teil deises Effektes eintritt, den ich in #215 beschrieben habe, sollten weitere Vorteile entstehen. Insgesamt glaube ich, dass der Euro eher positiv für Deutschland ist. Fraglich ist noch, inwieweit der Euro den Dollar als Weltwährung ablöst. Mittlerweile scheint es ein gewisses vertrauen in den Euro zu geben, der dem Euro eine höhere Bedeutung als Divisenreserve geben könnte. Da solche Vorgänge sehr langsam gehen, kann ich mir eine mehrjährige langsame Euroaufwertung vorstellen.

      Zum Thema Religion und Wirtschaft stand vor längerer Zeit ein Artikel in der WiWo. Ich muss allerdings gestehen: ich habe ihn nicht gelesen. Der Aspekt sollte auch nur eine Nebenrolle spielen. Viel wichtiger sind die Kultur, die Trends und vielleicht die konzentrierte Förderung von vorhandenen Stärken. Wo z.B. sollte sich ein Kunststoffformbauer niederlassen? Egal wie viel Förderung er in MeckPomm bekommt, ohne Kunden geht es nicht und die sitzen nun mal im Süden. Den Faktor Religion kann man zumindest in D vernachlässigen. wirtschaftlich starke Regionen ziehen allein durch ihre Stärke neue Unternehmen an.

      Grüße
      joati
      Avatar
      schrieb am 19.07.04 13:00:18
      Beitrag Nr. 221 ()
      Die totale Antidiskriminierung
      von Roland Baader

      Der Vertrag von Amsterdam hat der Europäischen Gemeinschaft weitreichende Kompetenzen übertragen. Man sollte ihn deshalb Ermächtigungsvertrag nennen. Art. 13 ermächtigt die EG zur „Bekämpfung von Diskriminierung“. Dabei geht es nicht nur um rassistisch motivierte Diskriminierung, sondern auch um Ungleichbehandlung aus Gründen der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Alters, des Geschlechts und der sexuellen Ausrichtung, sowie aufgrund von Behinderung. Zu diesem Behuf hat der Rat der Arbeits- und Sozialminister der EU drei Richt-linien erlassen:

      - Richtlinie 2000/43/EG (vom Juli 2000) zum Verbot von Diskriminierung aufgrund von Rasse oder ethnischer Herkunft in den Bereichen Beschäftigung, Bildung, soziale Sicherheit und Gesundheitsdienste, Zugang zu Gütern, Dienstleistungen und Wohnraum. Diese Richtlinie war bis 19.07.2003 in nationales Recht umzusetzen.

      - Richtlinie 2000/78/EG (vom Nov. 2000) zum Verbot von Diskriminierung aufgrund von Religion oder Weltanschauung, von Alter, Behinderung oder sexueller Ausrichtung im Bereich der Beschäftigung; umzusetzen in nationales Recht bis 2.12.2003.

      - Richtlinie 2002/73/EG, umzusetzen bis 5.10.2005.

      Im Zentrum steht wohlgemerkt die zivilrechtliche Umsetzung der Richtlinien. Das Bundesjustizministerium unter Hertha Däubler-Gmelin legte im Dezember 2001 einen Gesetzesentwurf vor, der weit über die Vorgaben der Richtlinie 2000/43/EG (Rasse und ethnische Herkunft) hinausging und auch die Merkmale Geschlecht, Religion und Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Identität als zivilrechtliche Diskriminierungsmotive umfaßte. Außerdem sah der Entwurf eine Umkehr der Beweislast vor, d.h. nicht der Kläger soll seine Diskriminierung belegen - sondern der verdächtigte Diskriminierer soll seine Unschuld (fehlende Diskrimi-nierungsabsicht) beweisen.

      Aufgrund massiver Einwände wurde der Entwurf 2002 wieder zurückgezogen. Im März 2003 ließ Justizministerin Zypries verlauten, die Richtlinie nur noch „1 zu 1“ (gemäß Mindestvorgabe der EU) umsetzen zu wollen. Im Dezember 2003 drohte die EU-Kommission mit einer Klage gegen Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof, weil beide Richtlinien noch nicht im nationalen Recht verankert waren. Zypries wollte bis zum 30. Juni 2004 einen Neuentwurf vorlegen. Diese Frist ist verstrichen. Die rot-grüne Regierung hat sich darauf geeinigt, die Umsetzung auf zwei Fachressorts aufzuteilen: a) Ein „Gesetz zur Verhinderung von Diskriminierung im Arbeits- und Sozialrecht“ (mit dem umfassenden Katalog aller möglichen Diskriminierungsmotive) soll in Zusammenarbeit von Familienministerium und Ministerium für Wirtschaft und Arbeit entworfen werden, und b) ein „Gesetz zur Verhinderung von Diskriminierung im Zivilrecht“ vom Justizministerium. Ersteres liegt offenbar zur Einführung bereit; um letzteres wird noch gestritten. Wir dürfen also noch kurze Zeit gespannt sein: Wird es in Deutschland nur dunkel - oder bockfinstere Nacht?

      „Wieso finster?“, fragt Otto Normalbürger. Gegen Diskriminierung zu sein, ist doch eine gute Sache.

      Wie bei so vielen Begriffen, wurde auch der Terminus Diskriminierung von der kulturrevolutionären Linken besetzt und mit falschem Inhalt gefüllt. Das lateinische discriminare heißt trennen, unterscheiden. In rechtlicher Hinsicht hat es die Bedeutung ungleich behandeln angenommen. Zu Recht verbietet der Grundgesetzartikel 3 jegliche Form der Benachteiligung oder Bevorzugung einer Person aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, Glaubens usw. Aber dieses Verbot richtet sich ausschließlich auf das Verhältnis Staat zu Bürger. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist ein Grundpfeiler des Rechtsstaats. Der Staat darf sein potentiell gefährliches Gewaltmonopol niemals dazu mißbrauchen, seine „Untertanen“ ungleich - und damit nach Belieben - zu behandeln. Die Bürger aber haben keinerlei Recht auf Ausübung von Gewalt, Zwang und Herrschaft. Ihre Interaktionen müssen friedlich verlaufen und sich auf freiwillig geschlossene Verträge beschränken. Im Privatleben hat das Gleichheitsprinzip deshalb nichts zu suchen, jedenfalls nicht als rechtsverbindliche Vorgabe.

      Weil alle Menschen verschieden sind und unterschiedliche Vorlieben und Abneigungen haben, unterschiedliche Wünsche, Bedürfnisse, Ziele, Vorstellungen, Fähigkeiten etc. - sowie den verschiedenartigsten Gegebenheiten und Notwendigkeiten unterliegen, gehört es selbstverständlich zum Wesen und zum Leben einer jeden Person, daß sie Andere unterschiedlich bewertet und behandelt. Deshalb würde ein Gebot der wechselseitigen Gleichbehandlung der Menschen untereinander alles Leben ersticken und alle Freiheit zerstören. Wenn sie überhaupt überleben könnten, dann nur als ameisenhafte, ihres Menschseins beraubte Befehlsempfänger. Deshalb ist der Diskriminierungsbegriff oder das Gleichbehandlungsgebot im Privatrecht (wozu auch die berufliche und geschäftliche Sphäre gehören) ein Fremdkörper, ein eitriges Geschwür. Würde man hier jede Ungleichbehandlung als Diskriminierung bezeichnen, dann würde jeder Mann, der eine Frau heiratet, alle anderen Frauen diskriminieren, dann würde jede Person, die in ein Restaurant geht, alle anderen Wirte oder Köche diskriminieren, und jeder Mensch würde bei jedem Vertragsschluß mit irgend jemandem alle anderen Menschen als potentielle Vertragspartner diskriminieren. Ein abstruser Unsinn.

      Auf ein derart pervertiertes Menschenbild und eine solche Auslöschung der Privatautonomie und der Vertragsfreiheit (als dem Wesenskern aller Freiheit) zielen die Antidiskriminierungsgesetze der rot-grünen Koalition (und der EU). Die meisten Befürworter der Gesetze räumen sogar ein, daß es sich dabei um Eingriffe in die Privatautonomie handelt, behaupten aber, dies sei „notwendig“, weil die „grenzenlose“ Privatautonomie zum „Recht des Stärkeren“ führe. Ob dem Einzelnen eine Ungleichbehandlung von Mitmenschen erlaubt oder untersagt werden soll, sei politisch zu entscheiden. Das bedeutet im Klartext: Parteikader, Bürokraten und Interessenverbandsfunktionäre basteln sich im Namen der „Moral“ Entscheidungsinstanzen über die Privatbeziehungen aller Bürger. Damit wird das Individuum kollektiviert und der Rechtsstaat weicht dem totalitären Gesinnungsstaat. Ein Privatrecht ohne freie Wahl der Vertragspartner ist nur noch eine leere Worthülse.

      Der Vertrag, das Recht zum freien Vertragsschluß, steht in unmittelbarer Verbindung zum Eigentum. Das Wesen des Privateigentums besteht im sogenannten Ausschlußrecht. Das heißt: Man kann nur dann von Eigentum sprechen - und Eigentum ist nur dann von Wert für den Einzelnen, wenn er bestimmte Andere davon in freier Entscheidung ausschließen kann. Wenn ich nicht mehr bestimmen kann, wer mit meinem Auto fahren darf und wer nicht - egal aus welchen Gründen und Motiven -, dann ist mein Eigentumsrecht am Auto schwerwiegend entwertet. Der Wesenskern der persönlichen Freiheit ist das Eigentum eines jeden Menschen. Die Zerstörung des Eigentums durch Kriminalisierung des Ausschlußrechts bedeutet zugleich Auslöschung der Person und ihrer Freiheit. (Das gilt natürlich auch für „nur“ graduelle Minderungen des Eigentumsrechts).

      Mit einem solchen Antidiskriminie-rungsgesetz (oder -gesetzen) wird der Abschluß, die Veränderung oder Beendigung von Verträgen zum unkalkulier-baren Risiko. Wenn ein Vermieter mit 10 Bewerbern für eine Wohnung spricht und mit dem 11. Bewerber abschließt, muß er damit rechnen, von den übrigen 10 verklagt zu werden und zehn Prozesse führen zu müssen. Ein Blick auf die Abmahnvereine in Sachen „Vergleichende Werbung“ zeigt, daß sich für solche Horrorszenarien rasch Anwälte und Ver-bandsfunktionäre als professionelle Dauer- und Massenkläger einfinden werden. Bewerbungs- und Einstellungsgespräche von Unternehmern oder Personalchefs werden zum gefährlichen Eiertanz mit staatsanwaltlicher Begleitmusik. Sicherster Ausweg: Überhaupt niemanden mehr einstellen. Die christlichen Kirchen können ebenfalls einpacken. Wer als Priester den Islam als Weg zu Gott verneint oder Homosexuellen die kirchliche Trauung verweigert, kann den Talar gleich ausziehen. Das kommt dabei heraus, wenn Kirchen das fast 1000seitige Sozialgesetzbuch mit der göttlichen Offenbarung gleichsetzen und den irdischen Samtpfotensozialismus mit dem Himmelreich verwechseln. Am Ende des Irrwegs wird eine neue weltweite Christenverfolgung stehen.

      Nicht nur die Freiheitsverluste des Antidiskriminierungswahns werden ungeheuerlich sein, sondern auch die finanziellen Kosten für die Bürger. Allein die den Versicherungsgesellschaften aufgezwungenen „Unisextarife“, mit denen der Zusammenhang zwischen Prämien und individuellen Risiken zerrissen wird, werden Milliardensummen verschlingen.

      Die nationalen Antidiskriminie-rungsgesetze sind aber wohlgemerkt nur der Punkt auf dem i. Die Fallen sind längst gelegt. Die Soft-Sozialisten in allen Regierungen Europas haben längst den Staats- und Gesellschaftsbegriff ausgetauscht: Weg von der Rechtsge-meinschaft und hin zur „Wertegemein-schaft“. Da die Erziehung eines „neuen Menschen“ unter allen Formen und Systemen des Sozialismus gescheitert ist, versucht man es jetzt (leider erfolgreich) auf dem Umweg „Antirassismus“, indem man diesen Begriff so weit auslegt, daß in Europa jeder Konservative, jeder Patriot und jeder Gegner einer uferlosen Einwanderung, eines schrankenlosen Multikulturalismus und eines unbeschränkten Sozialstaats - kurz: jeder Nicht-Linker - als „Rassist“ und „Dis-kriminierer“ bezeichnet werden kann, dessen Äußerungen unter Strafe zu stellen sind.

      Wie einst bei den roten Sozialisten des Ostens und den braunen Sozialisten Deutschlands werden die „Gemein-schaftswerte“ über die Freiheitsrechte der Person gestellt. Grundwerte statt Grundrechte. Die Neutralität des Staates gegenüber den Werthaltungen der Gesell-schaftsmitglieder wird aufgegeben. Schon die Grundrechtscharta der EU mit ihren 15 Diskriminierungsverboten und ihrer Einschränkungsermächtigung für Grundrechte und Freiheiten (wie der Meinungsfreiheit) „falls notwendig“ (Art. 52) ist eine Proklamation des latenten Totalitarismus.

      Der Katalog der Grundrechte ist von einem Schutzschild der Bürger gegen den Staat zu einer Waffe des Staates gegen die Bürger geworden - und zum Blasebalg für die Feuer des strafrechtlich bewehrten Gesinnungskrieges der Bürger gegeneinander.

      Von all dem aber erfahren die Bürger kaum etwas. Die Massenmedien „enthüllen“ zwar alles (mit Vorliebe private Dinge, die niemanden etwas angehen), nur nicht die elementaren Grundsätze von Recht und Freiheit; ebensowenig die raffinierten Mechanismen des gesellschaftlichen Umsturzes in eine Meinungsdiktatur mit vollständiger Politisierung des privaten Lebens. Nur wenige mutige Stimmen klären darüber auf, wie der Robespierresche Tugendterror geboren wird, wenn der Staat die Moral politisiert und die Regeln der privaten Ethik in strafrechtlich verbindliche Rechtsnormen umgießt. Ernst-Joachim Mestmä-cker, ehemaliger Direktor am Max-Planck-Institut, schrieb im Handelsblatt vom 31.10.2001: „Eine Wertegemein-schaft unterscheidet sich… grundlegend von einer Gemeinschaft des Rechts… Es mag von einer Mehrheit der Gesellschaft für tugendhaft gehalten werden, bestimmte Werte zu achten und sie zu verwirklichen, aber in einer freien Gesellschaft sind sie im Gegensatz zu den Rechtspflichten nicht erzwingbar... Wo das richtige Bewußtsein, das Wertebewußtsein zumal, zur Pflicht erklärt wird, bleibt dem Untertan nur die Wahl zwischen Bekenntnis und Emigration.“

      Noch grundsätzlicher hat der Schweizer Sozialphilosoph Robert Nef die für die offene Gesellschaft so überlebens-wichtige Unterscheidung zwischen Ethik und Recht dargelegt. „Die Ethik“, schreibt Nef, „lebt von der Freiwilligkeit, sie besteht aus Pflichten, die [von den meisten Bürgern] aus freien Stücken ohne äußeren Zwang übernommen werden. Das Recht ist seinem Wesen nach mit… Zwang verbunden. Es ist das gemeinsam verbindlich zu erklärende ethische Minimum. Es ist eine irrige Auffassung, daß man ein Maximum an ethischen Normen als rechtsverbindlich in Gesetze einbringen sollte. Das Recht regelt das äußere Verhalten - ohne sich um Gesinnung zu kümmern. Es verlangt [in einem Rechtsstaat] das ethische Minimum.“ (Reflexion vom Januar 2001)

      Die Soft-Sozialisten Europas haben sich lange Zeit darauf konzentriert, die Regeln der („bürgerlichen“ ) Moral zu zerstören. Dieses Werk ist vollbracht. Jetzt gehen sie daran, einen „Moralkodex“ für das zu entwerfen, was geschrieben und gesagt werden darf. Bald werden auch Zeitungsartikel wie der vorstehende nicht mehr möglich sein. Der Jura-Professor Johann Braun (Uni Passau) hat es auf den kurzen Nenner gebracht: „Deutschland wird wieder totalitär.“ Und ich ergänze: Die Farbenlehre zeigt, daß aus Rot und Grün bei bestimmter Mischung leicht Braun werden kann. Wo ist in diesem Land die Opposition, die der Bevölkerung klar macht, was wirklich geschieht, wenn mit den Antidiskriminierungsgesetzen das Eigentums- und Vertragsrecht stranguliert wird. Der Stick dazu ist bereits gedreht. Demnächst wird in Berlin noch ein wenig darüber geschwätzt werden. „Uneinigkeit zwischen Regierung und Opposition herrscht noch bezüglich der Punkte x und y“, wird dann vermeldet werden. Doch was der Bürger für eine politische Bühne hält, ist sein Schafott.

      aus http://www.junge-freiheit.de/

      © JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. 30/04 16. Juli 2004
      Avatar
      schrieb am 19.07.04 22:22:45
      Beitrag Nr. 222 ()
      Der Klassiker:D
      mal was zum Lachen....



      Wie die Zeiten sich aendern


      Von Dr. Bernd Niquet

      "Kuerzlich war ueber eine bislang unveroeffentlichte
      Studie des DIW zum Thema „Armut“ zu lesen. Haupt-
      saechlich betroffen davon sind hier zu Lande neben
      Auslaendern, Arbeitslosen und schlecht Ausgebildeten
      die Alleinerziehenden und Familien mit vielen
      Kindern. Es sind die Jungen, die heute arm sind,
      und nicht die Alten.

      Wir haben es gegenwaertig mit einer vollstaendigen
      Umkehrung der Situation zu tun, wie sie bisher in
      nahezu der gesamten Menschheitsgeschichte vorge-
      herrscht hat. Frueher war das Kinderkriegen die
      einzige Chance auf ein gut versorgtes Leben im
      Alter. Je mehr Kinder man hatte, umso unbeschwerter
      konnte man seinem Lebensabend entgegen sehen.

      Heute hingegen hat sich die Situation diametral
      gewandelt. Denn an die Stelle der individuellen
      Vorsorge ist die kollektive Vorsorge getreten.
      Und das heisst: Das Kinderkriegen ist ersetzt
      worden durch die gesetzliche Umlage und das
      Ansammeln von individuellem Sachvermoegen. Hier
      allerdings profitiert derjenige am meisten, der
      am wenigsten Kinder bekommt. Die Umdrehung der
      geschichtlichen Verhaeltnisse koennen wir derzeit
      daher nahezu in Perfektion erleben.

      Und warum bekommen wir dann heute ueberhaupt noch
      Kinder? Der von mir sehr geschaetzte Autor Joachim Bessing
      schreibt dazu in seinem Buch „Rettet die Familie!“:
      „Es scheint, als seien Kinder heute vor allem
      Zeitvertreib, belebte Spielzeuge und Augenweide,
      und der Umgang mit ihnen ist oft darauf angelegt,
      dass sie diesem Erwachsenenbeduerfnis entsprechend
      funktionieren. An diesem erwarteten Funktionieren
      orientiert sich dann auch die Entscheidung der
      Eltern, sich mit ihren Kindern intensiv – oder
      eben weniger intensiv – zu beschaeftigen.“

      Und was man selbst nicht intensiv nutzt, das wird
      eben ausgeliehen. So funktioniert unsere gesamte
      Geldwirtschaft, in der das Geld, das nicht zu
      Liquiditaets- und Sicherungszwecken gehalten wird,
      fuer Spekulations- und Investitionszwecke aus-
      geliehen wird. Wer den Dutroux-Prozess in Belgien
      aufmerksam verfolgt hat, kann nun noch auf ganz
      andere Ideen kommen. Hier hat man einen Einzel-
      taeter lebenslang in Haft geschickt, doch das
      internationale Paedophilen-Netzwerk voellig un-
      thematisiert gelassen. Dabei sind seit Dutroux´
      Festnahme nicht weniger als 27 (!) Zeugen und
      zwei Untersuchungsbeamte ums Leben gekommen. Und
      es gilt als sicher, dass ganz Europa auf hoechster
      Ebene hier beteiligt ist. Ueberall werden die ent-
      sprechenden Ermittlungen verschleiert. Nur in
      Portugal ist es aufgedeckt, dass ein Kinder-
      schaender-Ring, der bis in die hoechsten Kreise
      hinein reicht, jahrelang von den Behoerden und
      der Justiz gedeckt worden ist.

      So etwas hat es sicherlich in den letzten Jahr-
      hunderten und Jahrtausenden ebenso gegeben wie
      heute. Doch es passt einfach wie die Faust
      aufs Auge in die oekonomische Logik von Dienst-
      leistungsgesellschaft, Kollektivsicherung und
      die damit verbundene Tendenz, von der Arbeit
      bis zur Verantwortung alles, aber auch wirklich
      alles, an andere abzuschieben."



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 28.07.04 02:07:24
      Beitrag Nr. 223 ()
      weil so schön war....;)


      Radikale Sanierung

      Von Dr. Bernd Niquet

      Der Goldpreis schwaechelt derzeit etwas. Ist das ein
      Zufall oder steckt hier Methode dahinter?

      Die Bundesrepublik Deutschland zieht mit Hartz IV
      den ersten Schritt eines radikales Sanierungsprogramm
      der Staatsfinanzen durch. Weitere Schritte werden
      folgen, und andere Laender werden es sich nicht
      leisten koennen, abstinent zu bleiben. Gerhard Schroeder
      zeigt, dass er kein Weichei, kein schwaechlicher Mann
      ist, sondern hart wie eine Frau – wie Margaret Thatcher.

      Die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe werden jetzt
      zusammen gelegt, die Zumutbarkeitsgrenzen fuer das
      Annehmen einer neuen Arbeit nahezu voellig aufgehoben
      und jegliche Vermoegensbestaende in die Berechnung der
      neuen Sozialleistungen einbezogen. Das heisst, nicht
      nur die eigenen Vermoegensbestaende des Bezugsempfaengers,
      sondern auch alle familiaeren und verwandtschaftlichen
      sowie quasi-familiaeren Vermoegen sind in diesem Prozess
      bis auf einen Grundbetrag aufzubrauchen.

      In der Summe bedeutet das, dass der Transfer von
      denen, die viel Einkommen haben, zu denen, die
      staatliche Zahlungen erhalten, deutlich gemildert
      wird. Der Staat beginnt sich zu sanieren und hat
      damit eine ganz wichtige Grundentscheidung getroffen:

      Im Zweifel fuer die Sicherung von Einkommen und
      Vermoegen und gegen den sozialen Frieden!

      Bisher wurde ja vielfach die These vertreten, dass
      die Staaten mit ihren Schulden nicht klarkaemen,
      jegliche Sanierung aus Gruenden des sozialen Friedens
      unterlassen, Pleite machen und die Waehrung ruinieren
      wuerden. Die aktuelle Entwicklung hierzulande laesst
      diese These in weite Ferne ruecken. Man wird nicht
      sofort, aber doch auf mittlere Sicht die Staats-
      defizite auf null zurueckfahren, das ist die
      Botschaft – und die Botschaft ist ueberzeugend.

      Nicht verwechseln darf man den Defizitabbau mit der
      populistischen Angst „Die Staatsschulden werden niemals
      mehr zurueckgezahlt werden koennen“. Natuerlich werden
      sie niemals zurueckgezahlt! Daimler-Chrysler, die
      Deutsche Bank und die Allianz werden ihre Verbind-
      lichkeiten auch niemals zurueckzahlen. Warum sollten
      sie auch? Schulden muessen nicht zurueckgezahlt, sondern
      mit Zinszahlungen bedient werden. Und sobald der
      laufende Haushalt keine Defizite auf Dauer erzielt,
      besteht wenig Grund, auch an der langfristigen
      Bedienung der Schulden des Staates zu zweifeln.

      Fuer die Besitzer von Vermoegen brechen also gute Zeiten
      an. „Golden“ wird man sie allerdings sicherlich nicht
      nennen duerfen. Denn sobald auch dem Letzten klar-
      geworden ist, dass die Staaten alles tun werden, um
      nicht Schiffbruch zu erleiden, wird das Gold – und
      mit ihm sein Preis – weich werden wie Wachs in der Sonne.

      Brutal wird es hingegen fuer alle diejenigen, die bisher
      kein Vermoegen angesammelt haben. Sie haben in der
      naechsten Selektionsrunde des gerade ausbrechenden
      Darwinismus die schlechtesten Karten.



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 28.07.04 09:44:14
      Beitrag Nr. 224 ()
      Wenn ich das dumme Geschwätz von Niquet aus #223 lese, und ich lese das dieser Schwätzer pessimistisch für Gold ist, dann ist das für mich ein Grund zu überlegen ob ich mir demnächst Goldminenaktien kaufe. Das letzte und bisher einzige Mal, bei dem ich eine Anlageentscheidung getroffen habe, nachdem ich ein Artikel von Kontraindikator Niquet gelesen habe, war als er in einen ähnlich dummen Artikel schrieb, daß von Versorger wie RWE und EON demnächst eine schlechte Performance zu erwarten ist. Das war im Herbst letzten Jahres, ich verdoppelte meine RWE-Vz-Position daraufhin, und seitdem hat sich der Kurs beinahe verdoppelt :)

      #222 ist zumindest teilweise ganz interessant :)

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 03.08.04 01:14:21
      Beitrag Nr. 225 ()
      #222 Wenn das Staatdefizit auf Null gefahren wird, muss "die Mitte" stark geschröpft werden: Tumulte - Deflation!
      Avatar
      schrieb am 03.08.04 16:11:38
      Beitrag Nr. 226 ()
      #225 Falsch,

      Wer das Staatdefizit langfristig auf Null senken will, der muss die Mitte entlasten! Sonst wird das nichts. Die Mitte noch mehr schröpfen -> der sichere Weg in den Staatsbankrott.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 09.08.04 19:04:08
      Beitrag Nr. 227 ()
      Hallo ihr lieben,

      also, wenn man nachfolgenden Beitrag von Niquet sich
      durchliest, denkt man, Niquet lebt auf einem anderen
      Planeten.....man kann wirklich nur noch mit dem Kopfe
      schütteln.......allen geht es ja so gut.
      Wo mag Niquet leben, fragt man sich besorgt.....




      "Der Wohlstand quillt aus allen Ritzen

      Von Dr. Bernd Niquet

      Der Hochsommer hat unser Land fest im Griff. Trotzdem scheuen
      die Menschen keine Strapazen, um in andere, in weite Laender
      zu entkommen. Ich habe mich einmal umgehoert in den letzten
      Tagen bei den Leuten, mit denen ich gesprochen habe.
      Derjenige, der am wenigsten weit gefahren ist, hatte ein
      Ferienhaus bei Perugia gemietet. Alle anderen hat es noch
      weiter getragen. Ich habe fast den Eindruck als ob Geld in
      Hinsicht auf den Urlaub zum freien Gut mutiert. Alle reden
      darueber, dass wir im Alter nichts mehr haben werden. Doch
      aktuell waehlen sie lieber all-inclusive.

      Warum machen wir das alles? Um Abenteuer in fremden Laender
      suchen? Aber das Leben ist doch hierzulande schon abenteuer-
      lich genug! Oder um zu sehen, wie beschraenkt die Menschen
      in anderen Laendern sind? Aber, bitte liebe Leute, auch du
      meine Guete: Das sind wir doch nun wirklich auch! Ich muss
      dabei immer an den Schriftsteller Walter Kempowski denken,
      der es nie bis nach Italien gebracht hat, der das aber auch
      nicht bedauert, weil sein Weg ihn stets nach innen gefuehrt
      habe.

      Doch das ist es natuerlich, was der reisende Deutsche mit
      Sicherheit nicht will! Vielleicht reist er ja deswegen so
      gerne und so oft. Weil es innen leer und hohl ist – und man
      schliesslich viel lieber in Gesellschaft von anderen ist.

      Kehren wir zum Oekonomischen zurueck: Wir verpulvern also
      massenweise unsere Alterssicherung im Ausland. Und wir
      reden zwar viel ueber Billigloehne – am liebsten jedoch,
      wenn diese anderen "zu Gute" kommt. In dieser Woche war
      ich im Rheinland und habe im gesamten Gastronomiegeschaeft
      kaum einen Menschen gesehen, dessen Einkommen auf Dauer
      hier im Lande bleiben wird.

      Wir quellen alle ueber von Wohlstand. Der Wohlstand quillt
      uns aus allen Ritzen. Individuell gesprochen – schauen wir
      dabei nicht nur auf das Geld, sondern doch auch einmal
      darauf, wie fett wir alle geworden sind – und volkswirt-
      schaftlich ebenfalls. Der Wohlstand quillt aus unserem
      fetten Land heraus. Die anderen koennen das gut brauchen,
      weswegen es gegen diese Tendenz auch nichts einzuwenden
      gibt.

      Erstaunlich finde ich nur stets, mit welcher Selbstver-
      staendlichkeit das alles geschieht. Es ist ein bisschen
      so wie an der Boerse in den Jahren 1998 bis 2000. Da hat
      sich auch jeder fuer genial gehalten, hat gedacht, dass
      ihm diese Gewinne ganz einfach zustehen. Und kaum jemand
      hat realisiert, dass er einfach mit Riesenglueck an einer
      historisch nahezu einmaligen Situation partizipiert hat.
      Genau wie wir Deutschen in den letzten gut vierzig Jahren.

      Und genau wie am Aktienmarkt, so ist es auch in Bezug auf
      das gesamte Leben mehr als fahrlaessig, sich in alternden
      Haussen genauso zu verhalten wie in jungen Haussen. Denn
      Haussen dauern niemals ewig. Es wird uns daher nicht viel
      nuetzen, unseren Koerpern weiterhin Speck anzufressen, den
      restlichen Reichtum jedoch immer wieder davonquellen zu
      lassen. Besser waeren wir beraten, es genau umgekehrt zu
      machen. Unsere Fettpolster unter der Haut abfliessen zu
      lassen und dafuer in unserem Geldbeutel Speck anzusammeln."





      Grüssels
      Tippgeber:)
      Avatar
      schrieb am 09.08.04 21:08:25
      Beitrag Nr. 228 ()
      Lieber Tippgeber,

      wenn du den Artikel nicht lesenswert findest, wieso stellst du ihn dann hier rein? :confused:

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 10.08.04 15:19:47
      Beitrag Nr. 229 ()
      durchaus lesenswert, weil er Niquet
      total entlarvt und uns zeigt, zu was
      ein journalist fähig ist, wenn er
      unbedingt geld verdienen muss:laugh:
      Avatar
      schrieb am 11.08.04 17:17:53
      Beitrag Nr. 230 ()
      er=es
      Avatar
      schrieb am 14.08.04 13:31:41
      Beitrag Nr. 231 ()
      DRESDNER-BANK-TIPP

      Sex ist wichtiger als Reichtum

      Von Michael Kröger

      Mit einer Empfehlung ganz eigener Art hat James Montier von der Dresdner-Bank-Tochter Kleinwort Wasserstein, seine Kunden überrascht. Sie sollten das Geldverdienen nicht so wichtig nehmen, schreibt der Investmentberater. Der eigentliche Schlüssel zum Lebensglück sei gesunder Schlaf, Erfüllung im Job und Freude am Sex.

      London - In seiner achtseitigen Studie setzt sich Montier eingehend mit den Thesen von Adam Smith auseinander. Doch Smith war nicht nur der Begründer der Politischen Ökonomie, sondern auch einer der bedeutendsten Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts. Und viele der Thesen, die Smith in seinem Werk " Theorie der ethischen Gefühle" (" Theory of Moral Sentiments" ) zu Papier brachte, sind aktueller denn je.

      In seiner " Theorie der ethischen Gefühle" zeigt Smith, dass " prudence" (Klugheit) - die das ökonomische Handeln bestimmt - nicht das einzige Leitmotiv menschlichen Handelns ist - Montier hakt genau an diesem Punkt ein und entwickelt daraus eine Reihe von Empfehlungen für seine Investoren, die für das persönliche Glücksempfinden wesentlich wichtiger seien, als die Jagd auf die möglichst große Rendite.

      Zunächst gelte es, den Besitz von Reichtümern nicht mit Glückseligkeit zu verwechseln. Empirische Untersuchungen hätten gezeigt, dass Menschen sich sehr schnell an ein höheres Einkommensniveau gewöhnen würden. Deshalb sei das Gefühl der Zufriedenheit nie von langer Dauer.

      Auch regelmäßiges Innehalten, die kritische Distanz gegenüber sich selbst und die Besinnung auf die eigenen Ziele würden die persönliche Zufriedenheit eher gewährleisten, als Geld. Ausreichend Schlaf und persönliche Fitness schafften die dafür nötigen Grundlagen. Im Job gewinne man mehr, wenn seine persönlichen Interessen und Talenten folge, anstatt nach höchstmöglicher Entlohnung zu streben.

      Besonders wichtig, darauf weist Montier hin, sei ein erfülltes Sex-Leben. Für die Steigerung des persönlichen Wohlbefindens gäbe es praktisch keinen Ersatz.

      Eine konkrete Anlageempfehlung verbindet Montier mit seinem Strategiepapier nicht. " Ich dachte, es wäre an der Zeit, meine Kunden daran zu erinnern, dass das Leben mehr ist, als täglich auf Bildschirme mit Aktienkursen zu starren" .

      Natürlich zielt der Anlageexperte mit seinen Empfehlungen keineswegs darauf ab, seine Kunden zu einem Lebenswandel frei von jedweden materiellen Wünschen zu bewegen. Denn auch dem Banker ist klar, dass ein Quäntchen Wohlstand sehr wohl zur Glückseligkeit beitragen kann. " Ich selbst weiß sehr wohl zu schätzen, was es heißt, ein schönes Auto zu fahren, oder in einem komfortablen Haus zu wohnen" , sagt Montier. Entscheidend sei nur, dass sich all die erwähnten Elemente im Gleichgewicht befänden.

      Der Ort, an dem man leben wolle, sei im Übrigen ein sehr gutes Beispiel. Europäer träumten davon, in Paris, London oder Rom zu leben. Amerikaner ziehe es nach Kalifornien. Doch beim Anblick eines romantischen Sonnenuntergangs am Strand von Los Angeles oder beim Spaziergang durch die Gassen von Montmartre könne Einsamkeit viel schmerzhafter spürbar werden als an weniger romantischen Orten.

      Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine Studie, die der Nobelpreisträger Daniel Kahneman zusammen mit seinem Kollegen David Schade erstellt hat. Die Wissenschaftler gingen der Frage nach, ob ein Leben in Kalifornien die Menschen grundsätzlich glücklicher macht. Mit den untersuchten Fallstudien wiesen sie nach, dass auf lange Sicht andere Faktoren viel bedeutender für die persönliche Zufriedenheit sind, als der Ort, an dem man wohnt.

      http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,305310,00.html
      Avatar
      schrieb am 22.08.04 20:09:09
      Beitrag Nr. 232 ()
      Mal was neues von Bernd:kiss:
      Klingt diese Mal ganz nett..
      ob er unsere Kritik nicht doch
      liest..:laugh::laugh::laugh:



      Eine grosse Zaesur

      Von Dr. Bernd Niquet

      Die Menschen sind sehr aufgebracht ueber Hartz IV. Ich habe
      viele Mails bekommen als Reaktion auf meine Aeusserung, dass
      angesichts unserer Rentensituation man eigentlich ueberhaupt
      kein Geld mehr ausgeben duerfte. Der Tenor dieser Zuschriften
      lautet: Ehe wir uns unsere Ersparnisse gegen das Arbeits-
      losengeld II gegenrechnen lassen, dann geben wir sie lieber
      mit vollen Haenden selbst aus.

      Na prima.

      Das ist natuerlich nicht das, was mit Hartz IV bezweckt ist.
      Oder etwa doch? Auf jeden Fall kann ich die Menschen, die so
      handeln (wollen), gut verstehen. Doch ist das wirklich eine
      rationale Strategie?

      Die Bundesrepublik Deutschland verabschiedet sich in diesen
      Tagen von den gluecklichen Jahrzehnten der staatlichen Voll-
      versorgung. „All-inclusive“ ist hier nicht mehr! Und eigent-
      lich ist das ja auch mehr als verstaendlich. Im Tourismus-
      bereich funktioniert „all-inclusive“ ja auch nur durch eine
      Mischstrategie. Wuerden ploetzlich nur noch Dauertrinker und
      Vollalkoholiker diese Reisen buchen, dann waeren die Veran-
      stalter bald Pleite.

      Eigentlich ist es sehr verstaendlich, wenn die Menschen zu-
      erst sich selbst und ihrer Familie helfen muessen – und dann
      erst, wenn das nicht mehr geht, der Staat hilft. Die Umstel-
      lungsprobleme sind jedoch enorm und erinnern mich daran, als
      in Schweden in den 60er Jahren der Strassenverkehr vom Links-
      fahren auf Rechtsverkehr umgestellt wurde. Auch hier gab es
      mehrere Unfaelle. Doch heute funktioniert alles voellig rei-
      bungslos.

      Wer jetzt seine Ersparnisse verknallt und dann nicht arbeits-
      los wird, ist ganz schoen in den Hintern gekniffen. Und wer
      arbeitslos wird, natuerlich auch. Denn ob sich vom Arbeitslo-
      sengeld II gut leben laesst, moechte ich eher bezweifeln. Und
      trotzdem. Es liegt durchaus im Bereich der Moeglichkeiten,
      dass sich Hartz IV zum neuen Konjunkturprogramm mausert,
      gleichsam zu einem Kamikaze-Konjunkturprogramm, in welchem
      die unteren Einkommensschichten ihre Ersparnisse in den gros-
      sen Konsumtopf werfen, damit sie nicht vom Staat kassiert
      werden.

      Und dass neben der flaechendeckenden Schwarzarbeit nun auch
      der flaechendeckende Besitz von Schwarzgeld tritt. Denn wer
      will das eigentlich alles kontrollieren, ob die Bezieher des
      neuen Arbeitslosengeldes wirklichkeitsgetreue Angaben ueber
      ihr Vermoegen gemacht haben? Dazu braucht man ja nicht einmal
      ein Konto in der Schweiz. Das Kopfkissen, prall gefuellt mit
      Bargeld, tut es auch.

      Doch diese partiellen Durchfuehrungsprobleme duerfen eine an
      sich richtige Reform natuerlich nicht verhindern. Die Bundes-
      republik Deutschland macht eine grosse Wende, wir alle erle-
      ben eine grosse Zaesur. Das ist bitter, und das tut weh. Und
      wir werden sicherlich noch Jahre damit verbringen, aufgeregt
      darueber zu reden. Doch der Gesundungsprozess der Staatsfi-
      nanzen beginnt derweil bereits zu wirken. Und wenig ist wich-
      tiger in der heutigen Zeit als das. Denn wenn der Staat nicht
      mehr kann, ist alles am Ende. Deswegen ist es hoechste Eisen-
      bahn, jetzt zu handeln. Auch wenn es Opfer kostet und grosse
      Schwierigkeiten mit sich bringt.



      Grüssels
      Tippgeber:)
      Avatar
      schrieb am 23.08.04 22:10:57
      Beitrag Nr. 233 ()
      Die Wahrheit über Saddam Hussein
      Amerika will einen Diktator beseitigen. Wer ist dieser Mann, der seit 23 Jahren ein blutiges Regime im Irak führt? Er mag Hemingway, ist ein charmanter Erzähler und kann es nicht leiden, wenn seine Opfer vor der Hinrichtung noch etwas sagen wollen. Ein Portät von Mark Bowden

      I.

      Sein Wesen

      Der Tyrann muss sich den Schlaf stehlen. Ort und Zeit muss er ständig wechseln, in seinen Palästen ruht er nie. Von einem geheimen Bett bewegt er sich zum nächsten. Schlaf und feste Gewohnheiten gehören zu den wenigen Luxusgütern, die ihm verwehrt sind. Es wäre zu gefährlich, vorhersehbar zu sein. Sobald er die Augen schließt, entgleitet ihm die Nation, lockert sich sein eiserner Griff, werden in der Dämmerung Komplotte geplant. In diesen Stunden muss er anderen vertrauen. Und nichts ist für den Tyrannen gefährlicher als das: Vertrauen.

      Saddam Hussein – der Gesalbte, glorreicher Führer, Nachkomme des Propheten, Präsident Iraks, Vorsitzender des Revolutionsrats, Feldmarschall seiner Armeen, Doktor seiner Gesetze und Großonkel all seiner Völker – steht um drei Uhr morgens auf. Dann geht er als Erstes schwimmen. All seine Paläste haben Pools. Wasser ist ein Symbol von Wohlstand und Macht in einem Wüstenstaat wie dem Irak, und Saddam verspritzt es in alle Richtungen – mit Brunnen und Becken, überdachten Bächen und Wasserfällen. Seine Schwimmbecken werden aufs Sorgfältigste gepflegt, das Wasser stündlich getestet – um angenehme Temperaturen und pH-Werte aufrecht zu erhalten, um mögliche Gifte zu entdecken.

      Saddam hat Probleme mit dem Rücken: ein Bandscheibenvorfall. Das Schwimmen hilft dagegen, es hält ihn auch schlank und fit. Das befriedigt seine enorme Eitelkeit. 65 ist er inzwischen, aber weil seine Macht auf Angst und nicht auf Zuneigung beruht, darf man ihm nicht ansehen, wie er altert. Der Tyrann kann es sich nicht leisten, gebrechlich und grau zu werden. Schwäche fordert Widerstand heraus. So färbt er sein graues Haar schwarz und setzt möglichst selten in der Öffentlichkeit seine Lesebrille auf. Wenn er eine Rede halten muss, drucken seine Berater ihm diese in riesigen Buchstaben aus, nicht mehr als ein paar Zeilen pro Seite. Da er auf Grund des Bandscheibenvorfalls leicht hinkt, sorgt er dafür, dass er nie mehr als ein paar Schritte lang gesehen oder gar gefilmt wird.

      Er ist kräftig gewachsen, hat große, starke Hände. Im Irak spielt die Größe eines Mannes noch immer eine wichtige Rolle, und Saddam ist beeindruckend. Mit seinen 1,88 überragt er seine kleineren, plumpen Berater wie ein Turm. Natürliche Gewandtheit geht ihm ab, doch hat er sich eine gewisse Eleganz des Umgangs angeeignet, so wie ein Junge vom Land lernt, die passende Krawatte zum Anzug auszusuchen. Sein Gewicht schwankt zwischen 95 und 100 Kilo, aber in seinen Maßanzügen fällt die Körperfülle nicht so leicht auf. Wer ihn genau beobachtet, weiß, dass er in Krisen dazu neigt, abzunehmen; wenn alles gut läuft, nimmt er rasant zu.

      Zweimal in der Woche werden frische Lebensmittel für ihn eingeflogen – Hummer, Shrimps, Fisch, viel mageres Fleisch und Milchprodukte. Die Lieferung geht zuerst an seine Atomwissenschaftler, die sie röntgen und auf Radioaktivität und Gifte testen. Dann bereiten in Europa ausgebildete Köche das Essen zu, die unter der Aufsicht von al-Himaya, Saddams persönlicher Leibgarde stehen. In jedem seiner mehr als 20 Paläste werden täglich drei Mahlzeiten für ihn gekocht; um der Sicherheit willen wird auch in Palästen, wo er gar nicht ist, auf ausgetüftelte Weise so getan, als sei er doch da. Für einen Mann seiner Größe isst Saddam meist wenig, stochert eher in seinem Essen herum, lässt oft die Hälfte auf dem Teller zurück. Manchmal isst er in einem Restaurant in Bagdad zu Abend; dann stürmt sein Sicherheitspersonal die Küche, lässt Töpfe und Pfannen, Geschirr und Küchengeräte gründlich schrubben, mischt sich sonst aber wenig ein. Saddam weiß Kochkunst zu schätzen. Er mag Fisch lieber als Fleisch, isst viel frisches Obst und Gemüse. Zum Essen trinkt er auch gern Wein, ein Kenner ist er allerdings nicht: Sein Lieblingswein ist ein Mateus Rosé. Aber auch wenn er sich nur in Maßen einen genehmigt, achtet er darauf, dass niemand außerhalb des vertrautesten Kreises ihn trinken sieht. Alkohol ist im Islam verboten, und in der Öffentlichkeit ist Saddam ein pflichtbewusster Gläubiger.

      Er hat eine Tätowierung auf der rechten Hand, drei dunkelblaue Punkte in einer Reihe dicht am Handgelenk. Das macht man bei fünf-, sechsjährigen Kindern auf dem Dorf, als Zeichen ihrer ländlichen Wurzeln und Stammeszugehörigkeit. Bei Mädchen werden die Zeichen oft auf dem Kinn angebracht, auf der Stirn oder den Backen (wie bei Saddams Mutter). Bei allen, die wie Saddam in die Stadt ziehen und Karriere machen, bleiben diese Tätowierungen Zeichen ihrer einfachen Herkunft, weshalb manche sie wegoperieren lassen oder sie mit Bleichmitteln fast zum Verschwinden bringen. Saddams Tätowierungen sind verblasst, vermutlich einfach durch das Alter; obwohl er behauptet, vom Propheten Mohammed abzustammen, hat er nie versucht, seine einfache Herkunft zu verbergen.

      Der „Präsident auf Lebenszeit“ bleibt oft bis abends spät im Büro. Tagsüber genehmigt er sich oft ein Nickerchen. Ganz abrupt verlässt er dann eine Besprechung, schließt sich in einem Nebenzimmer ein, um nach einer halben Stunde erholt zurückzukommen. Immer wieder besucht er überraschend Büros, Labors und Fabriken; aber wegen der notwendigen Sicherheitsvorkehrungen eilt die Kunde von seinen Besuchen seiner Ankunft weit voraus. Was er zu sehen bekommt, ist oft verfälscht. Saddam wird schon so lang mit realitätsfernen Informationen versorgt, dass auch seine Erwartungen mittlerweile realitätsfern sind. Seine Bürokraten geben sich größte Mühe, seine Illusionen aufrecht zu erhalten. Ein dummer Mann in seiner Position würde sich im Glauben wiegen, eine perfekte Welt geschaffen zu haben. Aber Saddam weiß, dass ihm etwas vorgegaukelt wird, er beklagt sich darüber.

      Bücher verschlingt er, egal ob es um Physik oder Liebe geht. Besonders schätzt er Militär- und arabische Geschichte. Und er mag Bücher über große Männer – Winston Churchill zum Beispiel, den er bewundert. Saddam hat auch eigene literarische Ambitionen. Er beschäftigt Ghostwriter für einen unablässigen Strom von Reden, Artikeln und Büchern philosophischer und historischer Natur; sein Œuvre umfasst aber auch die schöne Literatur: Zwei romantische Fabeln hat er verfasst, „Zabibah und der König“ und „Das Festungsschloss“; ein drittes Werk soll demnächst erscheinen. Bevor die Bücher veröffentlicht werden, verteilt Saddam sie diskret an irakische Schriftsteller, um Kommentare einzuholen. Die Bücher sollen furchtbar laienhaft geschrieben sein, aber alle geben sich hilfsbereit, machen vorsichtig Anmerkungen für kleine Verbesserungen. Niemand traut sich, offen seine Meinung zu sagen.

      Saddam sieht auch gern fern, nicht nur die von ihm kontrollierten irakischen Sender, auch CNN, Sky, al-Jazeera und BBC. Er mag Spielfilme, vor allem solche mit Intrigen und Verschwörungen wie „Der Schakal“, „Der Dialog“ und „Der Staatsfeind Nr. 1“. Da er kaum gereist ist, prägen diese Filme sein Weltbild, fördern seinen Hang zu umfassenden Verschwörungstheorien. Die Welt ist für ihn ein einziges Rätsel, wer dem Augenschein vertraut, ist nach seiner Meinung nach ein Narr. Auch Literaturverfilmungen weiß er zu schätzen. Zu seinen Favoriten zählen „Der Pate“ und „Der alte Mann und das Meer“.

      Saddam kann durchaus charmant sein, sich sogar über sich selber lustig machen. „Im Fernsehen hat er mal eine urkomische Geschichte erzählt“, sagt Khidhir Hamza, ein Wissenschaftler, der am irakischen Kernwaffenprojekt arbeitete, bevor er in den Westen flüchtete. „Saddam ist ein exzellenter Geschichtenerzähler, der seine Geschichten mit Gestik und Mimik untermalt. Er beschrieb, wie er im Krieg gegen Iran für kurze Zeit hinter die feindlichen Linien geriet. Es geschah bei einem seiner Überraschungsbesuche an der Front, als die Iraner eine Offensive starteten und die Stellung, in der er sich gerade befand, abschnitten. Er prahlte kein bisschen mit dieser Geschichte, behauptete auch nicht, sich durchgekämpft zu haben. Er sagte, er habe sich gefürchtet. Und seine Truppen, ‚Die ließen mich einfach sitzen!` Er wiederholte: ‚Einfach sitzen!`, und wie er das sagte, das war richtig komisch.“

      Die Ärzte haben Saddam geraten, jeden Tag mindestens zwei Stunden zu laufen. Früher tauchte er mit seinem Gefolge plötzlich irgendwo in Bagdad auf. Dann vertrieben seine Leibwächter alle Menschen von den Straßen, damit der Tyrann freie Bahn hatte. Wer sich ihm näherte, wurde fast zu Tode geprügelt. Mittlerweile ist es zu gefährlich für ihn, in der Öffentlichkeit spazieren zu gehen. Außerdem soll ihn niemand hinken sehen. Nur hinter den hohen Mauern und bewachten Zäunen seiner riesigen Besitztümer verbirgt er dies nicht. Oft hat er auf seinen Spaziergängen ein Gewehr dabei, um in seinen privaten Wildparks Rehe oder Hasen zu jagen. Er ist ein ausgezeichneter Schütze.

      Seit fast 40 Jahren ist Saddam verheiratet. Seine Frau Sajida ist eine Cousine mütterlicherseits und die Tochter von Khairallah Tulfah, Saddams Onkel und erstem politischem Mentor. Sajida gebar ihm zwei Söhne und drei Töchter. Sie ist ihm nach wie vor ergeben, obwohl er seit langem Beziehungen mit anderen Frauen hat. Es gibt Gerüchte, er wähle sich jeden Abend eine Jungfrau für sein Bett aus, wie der Sultan Shahryar in „Tausendundeiner Nacht“, habe von einer langjährigen Mätresse einen Sohn, ja, habe eine junge Frau umgebracht, mit der er perversen Sex gehabt habe. Es ist schwer, Wahrheit und Lüge auseinander zu halten. So viele Menschen in und außerhalb des Iraks hassen Saddam, dass jedes peinliche Gerücht mit Freuden geglaubt, weitergegeben und von der westlichen Presse als Wahrheit veröffentlicht wird. Aber wer ihn wirklich kennt, hat für die ganz wilden Geschichten nur Spott übrig.

      II.

      Sein Ehrgeiz

      In Saddams Dorf al-Awja, östlich von Tikrit, im Norden des mittleren Irak, hat seine Sippe in Lehmhäusern gelebt. Das Land ist trocken, die Familien schlagen sich mit dem Anbau von Weizen und Gemüse durch. Saddams Sippe heißt al-Khatab, war als gewalttätig und gerissen bekannt, erinnert sich Sala Omar al-Ali, der in Tikrit aufwuchs und später Saddam gut kennen lernte. Diejenigen, die Saddam ergeben sind, sehen ihn als Saladin-artige Gestalt, als großen panarabischen Führer; für seine Feinde dagegen ist er eine Figur wie Stalin, ein grausamer Diktator; für al-Ali aber wird Saddam einfach immer nur ein al-Khatab sein, der macht, was seine Familie immer gemacht hat – nur eben im ganz großen Stil.

      Im Januar servierte mir al-Ali Tee in seiner Londoner Vorstadtwohnung. Elegant ist er, grauhaarig, ein blasser Mann voll stiller Würde. Er war Iraks Informationsminister, als Saddam 1969 plötzlich verkündete, eine zionistische Verschwörung sei aufgedeckt worden; 14 angebliche Verschwörer, darunter neun irakische Juden, ließ er öffentlich durch den Strang hinrichten und ihre Leichen mehr als einen Tag lang auf Bagdads Platz der Befreiung hängen. Al-Ali verteidigte damals diese Gräueltat. Heute ist er einer von vielen verbannten und ausgebürgerten früheren Regierungsmitgliedern, ein alter Sozialist, der der revolutionären panarabischen Baath-Partei und Saddam diente, bis er mit dem „Großonkel“ zusammenstieß.

      Obschon al-Ali mit der al-Khatab-Sippe bekannt war, lernte er Saddam selbst erst Mitte der sechziger Jahre kennen, als beide sozialistische Revolutionäre waren und den Sturz der Regierung von General Abd al-Rahman Arif planten. Saddam war ein großer, schlanker junger Mann mit einem dichten schwarzen Lockenkopf. Er war gerade aus dem Gefängnis ausgebrochen, wo er nach einem Mordversuch auf Arifs Vorgänger gesessen hatte. Das Attentat, die Verhaftung, das Gefängnis – all das erhöhte Saddams Glanz als Revolutionär. Er war nicht nur ein harter Bursche, der den Kerlen, die für die Baath-Partei die schmutzige Arbeit machten, Respekt einflößte, er war auch belesen, konnte sich gut ausdrücken, schien aufgeschlossen zu sein; ein Mann der Tat, der auch etwas von Politik verstand; ein geborener Führer, der den Irak in eine neue Ära steuern konnte.

      Al-Ali traf den jungen Flüchtling in einem Café in der Nähe der Universität Bagdad. Saddam, im gut geschnittenen grauen Anzug, entstieg einem VW-Käfer. Für beide Männer war es eine aufregende Zeit. Etwas Neues lag in der Luft, die Aussichten der Partei waren gut. Saddam freute sich, jemanden zu treffen, der auch aus Tikrit stammte. „Er hörte mir lange zu“, erinnerte sich al-Ali. „Wir haben besprochen, wie die Partei landesweit organisiert werden könnte. Es ging um komplizierte Fragen, aber er hat sie offensichtlich bestens verstanden.“

      Die Partei kam 1968 an die Macht. Saddam war sofort der eigentliche Machthaber hinter seinem Cousin Ahmad Hassan al-Bakr, dem Präsidenten und Vorsitzenden des neuen Revolutionsrats. Auch al-Ali gehört diesem Rat an. Er war zuständig für den nördlichen Teil des mittleren Irak, einschließlich seiner Heimatstadt Tikrit. Dort sah er zum ersten Mal, worauf Saddams Pläne abzielten. Saddams Familie in al-Awja gab mit dem Namen des gerade aufgestiegenen Verwandten an, riss sich Bauernhöfe unter den Nagel und verjagte Leute von ihrem Land. So liefen die Dinge auf dem Dorf: Hatte eine Familie Glück, brachte sie einen starken Mann hervor, einen Patriarchen, und der häufte durch Tücke oder Gewalt für seine Sippe Reichtümer an. Saddam war jetzt ein starker Mann, nun pochte die Familie auf ihren Anteil. So war es seit jeher gewesen.

      Die Philosophie der Baath-Partei orientierte sich viel stärker am Gleichheitsprinzip. Sie wollte mit anderen arabischen Ländern zusammenarbeiten, um so die gesamte Region wieder aufzubauen, wollte Besitz und Reichtum verteilen, ein besseres Leben für alle schaffen. In diesem politischen Klima war Saddams Sippe ein großer Rückschritt. Die Parteiführer auf lokaler Ebene beklagten sich, und al-Ali trug ihre Klagen seinem mächtigen jungen Freund vor. „Das ist ein kleines Problem“, sagte Saddam. „Das sind einfache Leute. Sie begreifen unsere großen Ziele nicht. Ich kümmere mich darum.“ Zwei, drei, vier Mal ging al-Ali zu Saddam, das Problem verschwand noch immer nicht. Jedes Mal das Gleiche: „Ich kümmere mich darum.“

      Irgendwann verstand al-Ali, dass die al-Khatab-Sippe genau das tat, was Saddam wollte. Diesem scheinbar modernen, gebildeten jungen Dörfler ging es nicht darum, die Partei beim Erstreben ihrer hehren Ziele zu unterstützen; er benutzte die Partei vielmehr, um seine eigenen Ziele zu erreichen. Plötzlich erkannte al-Ali, dass die feinen Anzüge, der urbane Geschmack, die kultivierten Umgangsformen und die sozialistischen Sprüche nur Pose waren. Das wahre Wesen Saddams steckte in der Tätowierung seiner rechten Hand. Er war ein Sohn Tikrits, ein cleverer al-Khatab, nur war er jetzt sehr viel mehr als der Patriarch seiner Sippe.

      Saddams Aufstieg in der Partei mochte langsam und hinterhältig gewesen sein, aber die Macht übernahm er ganz offen. Er hatte als Vizevorsitzender des Revolutionsrats gedient und als Vizepräsident von Irak, nun strebte er die Spitzenpositionen an. Einige Mitglieder der Parteiführung, darunter Männer, die Saddam jahrelang nahe gestanden hatten, hatten andere Pläne. Statt ihm einfach die Zügel zu übergeben, machten sie sich für eine Wahl innerhalb der Partei stark. Also schritt Saddam zur Tat. Seinen Aufstieg inszenierte er wie ein Theaterstück.

      Am 18. Juli 1979 lud er alle Mitglieder des Revolutionsrats und Hunderte anderer Parteiführer in einen Konferenzsaal in Bagdad. Von einer Videokamera ließ er das Ereignis für die Nachwelt festhalten. In seiner Uniform ging er langsam zum Rednerpult, blieb hinter den Mikrofonen stehen und gestikulierte mit einer großen Zigarre. Er schien bedrückt zu sein, mit dem ganzen Körper, dem breiten Gesicht wirkte er traurig. Und sprach von Verrat. Ein syrisches Komplott. Unter ihnen, im Publikum, seien die Verräter. Saddam setzte sich, hinter einem Vorhang kam Muhyi Abd al-Hussein Mashhadi hervor, der Generalsekretär des Revolutionsrats, und gestand seine Beteiligung am Putsch. Ein paar Tage vorher war er heimlich festgenommen und gefoltert worden; jetzt spuckte er Daten, Zeiten und Treffpunkte der Verschwörer aus. Dann fing er an, Namen zu nennen. Während er auf einen nach dem andern im Publikum zeigte, packten sich die Wärter die Angeklagten und führten sie aus dem Saal. (Wochen später, nach geheimen Gerichtsverhandlungen, ließ Saddam die Münder der Angeklagten zukleben, damit sie vor den Erschießungskommandos keine lästigen letzten Worte mehr sagten.)

      Nachdem alle 60 „Verräter“ hinausgeschafft worden waren, ging Saddam wieder aufs Podium und wischte sich Tränen aus den Augen, während er die Namen jener wiederholte, die ihn verraten hatten. Auch im Publikum weinten einige - vielleicht aus Angst. Diese furchteinflößende Vorstellung hatte die gewünschte Wirkung. Jetzt wusste jeder im Saal, wie die Dinge im Irak von diesem Tag an laufen würden. Die Zuschauer erhoben sich und klatschten, zuerst in einzelnen Grüppchen, dann alle vereint. Die Sitzung endete mit Jubel und Gelächter.

      Das war eine klassische Saddam-Nummer. Er begeht seine Verbrechen in der Öffentlichkeit, verpackt sie als Patriotismus und macht seine Zeugen zu Komplizen. Im Zuge jener Säuberungsaktion soll ein Drittel des Revolutionsrats hingerichtet worden sein.

      Während seiner Amtszeit als Vizevorsitzender, von 1968 bis 1979, schienen die Ziele der Partei auch die Ziele Saddams zu sein. Das war eine relativ gute Zeit für den Irak dank Saddams effektivem Durchgreifen als Administrator. Mit drakonischen Maßnahmen ging er gegen den Analphabetismus im Land vor. In jedem Dorf und jeder Stadt wurden Leseschulungen eingerichtet, wer nicht erschien, wurde mit drei Jahren Gefängnis bestraft. Männer, Frauen und Kinder nahmen an dieser Pflichtschulung teil, Hunderttausende Analphabeten lernten lesen und schreiben. Die Unesco verlieh Saddam einen Preis.

      Es gab auch ehrgeizige Bemühungen, Schulen, Straßen, Sozialwohnungen und Krankenhäuser zu bauen. Der Irak schuf eines der besten öffentlichen Gesundheitssysteme des Nahen Ostens. Damals wurde Saddam im Westen für seine Erfolge, wenn auch nicht für seine Methoden, bewundert. Nach der fundamentalistischen islamischen Revolution in Iran und der Besetzung der amerikanischen Botschaft in Teheran 1979 schien Saddam der Mann in der Region zu sein, von dem man sich am ehesten eine säkulare Modernisierung erhoffte.

      Das ist lange her. Innerhalb von zwei Jahren nach der Machtübernahme galt Saddams ganzer Ehrgeiz nur noch seinen Feldzügen. Die im Exil lebenden alten Parteigenossen betrachten Saddams Einsatz für Wohlfahrtsprogramme heute als raffinierte Täuschung. Die großen Pläne für das irakische Volk waren die der Partei, sagen sie. So lange Saddam die Partei brauchte, habe er sich deren Programm zu eigen gemacht. Aber sein einziges, alles überragendes Ziel sei es gewesen, die alleinige Herrschaft zu übernehmen.

      „Anfangs bestand die Baath-Partei aus der intellektuellen Elite unserer Generation“, sagt Hamed al-Jubouri, der heute in London lebt und einst zum Revolutionsrat gehörte: „Viele Professoren, Physiker,Wirtschaftswissenschaftler und Historiker – wirklich die Elite der Nation. Saddam war charmant und beeindruckend. Er hat uns alle eingewickelt. Wir haben ihn unterstützt, weil er als einziger dazu geeignet schien, ein so schwieriges Land, ein so schwieriges Volk unter Kontrolle zu halten. Er schien sowohl intellektuell wie pragmatisch zu sein. Aber er hat sein wahres Ich versteckt, jahrelang, auf diese Weise ist es ihm gelungen, seine wahren Vorhaben zu verstecken. Vielleicht ist das seine größte Fähigkeit.“

      Was will Saddam? Geld scheint ihn nicht zu interessieren, im Unterschied zu anderen Mitgliedern seiner Familie. Seine Frau Sajida ist in New York und London für Millionen Dollar einkaufen gegangen, damals, als Saddam noch gute Beziehungen zum Westen hatte. Saddam selbst ist kein Hedonist; er führt ein geregeltes, eher enthaltsames Leben. Was ihn interessiert, ist der Ruhm. Er möchte bewundert und verehrt werden, für alle Zeiten. Eine 19-bändige offizielle Biografie ist Pflichtlektüre für jedes Regierungsmitglied; Saddam hat sogar einen sechsstündigen Film über sein Leben in Auftrag gegeben, „Die langen Tage“. Terence Young, als Regisseur von drei frühen James-Bond-Filmen bekannt, hat ihn zusammengestellt. Seinem offiziellen Biografen hat Saddam erzählt, dass es ihn nicht interessiert, was die Menschen heute von ihm dächten, sondern, was sie in 500 Jahren von ihm denken würden. Hinter Saddams blutigem, unbeirrbarem Streben nach Macht scheint schlichte Eitelkeit zu stecken.

      Doch was für eine grenzenlose Eitelkeit ist das, die einen Mann dazu bringt, alle einzusperren oder hinzurichten, die ihn kritisieren oder widersprechen? Riesige Statuen von sich im ganzen Land aufzustellen? Romantische Porträts in Auftrag zu geben, auf denen der Großonkel der Nation als Wüstenreiter, Weizen mähender Bauer oder Zementsäcke tragender Bauarbeiter dargestellt wird? Fernsehen, Radio, Filmproduktion und Presse jedes Wort, jede Tat von ihm feiern zu lassen? Kann das Ego allein die Erklärung sein? Oder ist es vielleicht eher das Gegenteil? Was für eine gigantische Unsicherheit, was für ein Selbsthass machen solche Kompensationen erforderlich?

      Allein das Ausmaß der Taten des Tyrannen spottet jeder Psychoanalyse. Aus Ego und Ehrgeiz wird eine politische Bewegung. Saddam verkörpert zuerst die Partei, dann die Nation. Andere machen sich zu Verschwörern dieser Entwicklung, um ihren eigenen Ehrgeiz zu stillen, selbstlos und selbstsüchtig zugleich. Dann wendet der Tyrann sich gegen sie. Der Kult um seine Person wird zu mehr als einer politischen Strategie. Die Allgegenwart der Bilder von ihm in heroischen oder väterlichen Posen, seines Namens, seiner Leitsätze, seiner Tugenden, seiner Leistungen – diese ständigen Wiederholungen sollen seine Macht unausweichlich, unanfechtbar erscheinen lassen.

      III.

      Sein Ziel

      Jedes Mal, wenn Saddam dem Tod entkam – 1959, als er nach einem missglückten Attentat auf den irakischen Präsidenten Abd al-Karim Qasim mit einer leichten Beinverletzung davonkam; 1964 , als er an einem missglückten Putschversuch der Baath-Partei beteiligt war, aber der Todesstrafe entging; als er im Iran-Irak-Krieg hinter den feindlichen Linien eingeschlossen wurde; als er, mehrmals, Putschversuche überlebte; 1991, als er die amerikanischen Angriffe auf Bagdad überstand und danach die landesweite Revolte nach dem Golfkrieg – bestärkte ihn das in seiner Überzeugung, dass sein Weg gottgewollt, Größe ihm vom Schicksal vorbestimmt war. Und da seine Weltanschauung von Stammesstrukturen geprägt ist, bedeutet Schicksal für ihn Blut. Daher hat er Genealogen beauftragt, ihm einen Stammbaum zu konstruieren, der ihn auf Fatima, Tochter des Propheten Mohammed, zurückführt. Saddam sieht den Propheten weniger als Übermittler der göttlichen Offenbarung, denn als politischen Vorläufer: als großen Führer, der die arabischen Völker vereinte und die arabische Kultur und Macht aufblühen ließ.

      Wenn Saddam eine Religion hat, dann ist es sein Glaube an die Überlegenheit der arabischen Geschichte und Kultur, einer Tradition, von der er überzeugt ist, dass sie wieder aufsteigen und die Welt durcheinander bringen wird. Sein Bild von der früheren Größe des arabischen Reiches ist durch und durch romantisch, voll von prunkvollen Palästen und mächtigen Kalifen. Seine Vorstellung von Geschichte hat nichts mit Fortschritt zu tun, mit neuen Erkenntnissen, den Rechten und Freiheiten des Einzelnen, mit all dem, was im Westen zählt. Es geht einfach um Macht. Für Saddam ist die heutige Übermacht des Westens, vor allem der USA, eine Phase. Amerika ist ungläubig und minderwertig. Was dem Land fehlt, ist das reiche, althergebrachte Erbe, über das der Irak und andere arabische Staaten verfügen. Sein Platz an der Spitze der Weltmächte ist nichts als eine Laune der Geschichte, die Folge technischen Fortschritts. Es wird sich nicht halten.

      Arabien, das Saddam für den Ursprung der Zivilisation hält, werde eines Tages aber wieder an der Spitze stehen. Wenn dieser Tag komme, ob zu seinen Lebzeiten, in 100 oder gar 500 Jahren, würde sich sein Name unter denen der Großen der Geschichte befinden. Saddam sieht sich im Pantheon großer Männer: Eroberer, Propheten, Könige und Präsidenten, Gelehrte, Dichter, Wissenschaftler. Es ist egal, ob er deren Ideen versteht oder nicht. Wichtig ist allein, dass die Geschichtsschreibung sie in Erinnerung behält, und sie für ihre Leistungen ehrt.

      In einem Buch mit dem Titel „Saddam`s Bombenmacher“ (2000) erinnert sich der Atomwissenschaftler Khidhir Hamza an seine erste Begegnung mit Saddam, als der zukünftige Diktator offiziell noch Vizevorsitzender war. Ein großer neuer Computer war gerade in Hamzas Labor installiert worden, und Saddam kam angerauscht, um ihn sich anzusehen. Aber der Computer interessierte ihn kaum; eine Reihe von Bildern, die Hamza an die Wand gepinnt hatte, erregte seine Aufmerksamkeit, ein berühmter Wissenschaftler neben dem anderen, von Kopernikus bis Einstein. Die Bilder waren aus Zeitschriften herausgerissen.

      „Wer sind die Leute?“, fragte Saddam.

      „Das sind die größten Wissenschaftler der Geschichte“, erklärte ihm Hamza. Daraufhin sei Saddam wütend geworden: „Was für eine Beleidigung! Diese ganzen großen Wissenschaftler! Und Sie haben so wenig Respekt vor diesen großen Männern, dass Sie ihre Bilder nicht einmal rahmen? Sie können sie nicht besser ehren als so?“ Saddam schien persönlich beleidigt zu sein. Er sieht sich schließlich als einen der großen Männer der Geschichte, als Teil der Geschichte. Mangelnde Ehrerbietung gegenüber einem Bild von Kopernikus könnte auf mangelnde Ehrerbietung gegenüber Saddam hindeuten.

      Der Journalist Saad al-Bazzaz, der 1992 aus dem Land floh, hat viel über diesen Punkt nachgedacht - während seiner Zeit als Zeitungsredakteur und Fernsehproduzent in Bagdad und seither als Verleger einer arabischen Zeitung in London. „Ich brauche ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber“, erklärte er mir in der Hotellobby des „Claridge`s“. Er breitete das Blatt auf einem Tisch aus und teilte es mit einer Linie.

      „Sie müssen verstehen, dass das Verhalten im Alltag einfach ein Ausdruck der Mentalität ist. Die meisten Leute glauben, dass der Grundkonflikt der irakischen Gesellschaft ein konfessioneller ist, zwischen Sunniten und Schiiten. Aber der wirklich große Graben hat nichts mit Religion zu tun. Es ist der Unterschied der Mentalitäten von Dörflern und Städtern. Also: Das hier ist ein Dorf.“ Al-Bazzaz schrieb auf die rechte Seite des Blattes ein D und zeichnete darunter lauter einzelne kleine Vierecke. „Das sind Häuser oder Zelte“, meinte er. „Beachten Sie die Abstände dazwischen. Das liegt daran, dass in einem Dorf jede Familie ihr eigenes Haus hat, und die Häuser manchmal kilometerweit auseinander liegen. Die Menschen sind autark, bauen ihre eigene Nahrung an, nähen ihre eigenen Kleider. Wer auf dem Dorf aufwächst, hat vor allem Angst. Es gibt dort keine Überwachung der Gesetze, keine Zivilgesellschaft. Jede Familie fürchtet sich vor der anderen, und alle zusammen fürchten sie sich vor Fremden. Das ist das Stammesdenken. Die einzige Loyalität, die sie kennen, ist die ihrer Familie oder ihrem Dorf gegenüber. Du kannst lügen, betrügen, stehlen, sogar töten, das ist alles okay, solang du Deinem Dorf oder Stamm gegenüber treu bist. Für diese Menschen ist Politik ein blutiges Spiel, in dem es allein darum geht, Macht zu erlangen oder zu behalten.“

      Über die linke Seite des Blatts schrieb al-Bazzaz das Wort „Stadt“. Darunter zeichnete er eine Zeile aneinander grenzender Vierecke. Darunter noch eine Zeile und noch eine. „In der Stadt lässt man die alten Stammesbindungen hinter sich. Alle leben nah beieinander. Der Staat spielt im Leben aller eine große Rolle. Sie haben Jobs und kaufen Lebensmittel und Kleider in Geschäften. Es gibt Gesetze, Polizei, Gerichte und Schulen. Die Menschen in der Stadt verlieren ihre Angst vor Fremden und interessieren sich für Dinge aus dem Ausland. Das Leben in der Stadt beruht auf Kooperation, auf komplexen sozialen Netzwerken. Man erreicht nichts, ohne mit anderen zusammenzuarbeiten, weshalb in der Stadt Politik eine Kunst der Kompromisse und der Partnerschaften ist. Die höchsten Ziele der Politik sind hier Zusammenarbeit und Wahrung des Friedens. So ist die Politik in der Stadt per definitionem gewaltlos. Das Rückgrat urbaner Politik ist nicht Blut, sondern das Gesetz.“

      Nach Ansicht von al-Bazzaz verkörpert Saddam die Stammesmentalität. „Er ist der Inbegriff des irakischen Patriarchen, der Dorfhäuptling, der eine Nation unter seine Kontrolle gebracht hat. Und weil er es so weit gebracht hat, glaubt er sich vom Schicksal gesalbt. In den letzten Jahren hat er in seinen Reden wiederholt Sätze aus dem Koran zitiert, wobei er die Worte so spricht, als seien es seine eigenen. Im Koran sagt Allah: „Wenn ihr mir dankt, so werde ich Euch mehr geben.“ Die gleiche Formulierung wählte Saddam bei einer Ordensverleihung an seine Offiziere. Er hält sich nicht mehr für einen gewöhnlichen Menschen. Dadurch ist ein Dialog mit ihm unmöglich geworden. Er kann nicht begreifen, warum Journalisten ihm kritisch begegnen dürfen sollen.

      Auch wenn Saddam über die reiche Geschichte Arabiens ins Schwärmen gerät, gesteht er dem Abendland eine eindeutige Überlegenheit in zwei Bereichen zu: erstens im Bereich der Waffentechnik, weshalb er unermüdlich die neueste militärische Hardware zu importieren und eigene Massenvernichtungsmittel zu entwickeln versucht. Zweitens in der Kunst, Macht zu erlangen und zu behalten. Er hat sich intensiv mit einem der größten Tyrannen der Weltgeschichte beschäftigt: Josef Stalin. In seiner Biografie „Saddam Hussein: Die Politik der Rache“ (2000) berichtet Said Aburish von einem Treffen Saddams mit dem kurdischen Politiker Mahmoud Othman im Jahre 1979. Es war am frühen Morgen, Saddam empfing Othman in einem kleinen Büro in einem seiner Paläste. Othman hatte den Eindruck, Saddam habe in diesem Büro übernachtet: In einer Ecke stand ein schmales Feldbett, der Präsident empfing ihn im Morgenmantel. Neben dem Feldbett, erinnert sich Othman, standen „mehr als zwölf Paare teurer Schuhe. Den gesamten Rest des Büros nahmen Regale mit Büchern über einen einzigen Mann ein, über Stalin. Man könnte also sagen, dass Saddam mit dem russischen Diktator ins Bett ging.“

      Saddams Einmarsch in Kuwait im August 1990 gehört zu den größten militärischen Fehleinschätzungen der modernen Geschichte. Eine Frucht des Größenwahns. Wagemutig geworden durch seinen „Sieg“ gegen den Iran, wollte Saddam weitere unrealistische Unternehmungen in Angriff nehmen. Er hatte eine Armee von mehr als einer Million untätiger Soldaten – mit Sicherheit genug, um den Nachbarstaat Kuwait mit seinen reichen Ölvorräten überrollen zu können. Saddam glaubte, dass dies dem Rest der Welt egal wäre. Ein Irrtum. Drei Tage nachdem Saddam das winzige Königreich besetzt hatte, ließ Präsident George Bush im Krisengebiet eine der größten Streitmächte aller Zeiten aufmarschieren.

      Anfang 1991 wartete Ismail Hussain in der Wüste Kuwaits auf den Gegenangriff der USA. Er ist ein kleiner, gedrungener Mann, ein Sänger, Musiker und Komponist. Die ganze Zeit, während der er zwangsweise in einer Uniform steckte, war ihm klar, dass er nicht hineinpasste. Er hoffte, nicht kämpfen zu müssen, doch wo er hinsah, lauerte der Tod. Ging er auf die Amerikaner zu, erschossen sie ihn. Rannte er davon, würde er von seinen Vorgesetzten umgebracht - weil diese umgebracht würden, wenn ihre Männer desertierten. Es gab keinen Ausweg. Das amerikanische Kampfflugzeug, das ihm das Bein abschoss, hat er nie gesehen.

      Allen Angehörigen der irakischen Armee, von einberufenen Soldaten wie Hussain bis zu Saddams höchsten Generälen, war klar, dass sie gegen eine solche Streitmacht nicht ankamen. Saddam hingegen sah das anders. Al-Bazzaz erinnert sich, wie sehr ihn das erschreckte. „Wir hatten am 14. Januar 1991, zwei Tage vor dem Angriff der Alliierten, eine erschreckende Sitzung“, erzählte er mir: „Saddam hatte gerade den Uno-Generalsekretär getroffen, der in letzter Minute noch eine friedliche Lösung aushandeln wollte. Ihre Sitzung hatte mehr als zweieinhalb Stunden gedauert, weshalb die Hoffnung groß war, es sei eine Lösung gefunden worden. Doch dann sprach Saddam, und es war klar, dass er die Gelegenheit nicht genutzt hatte. Er sagte: ,Fürchtet euch nicht. Ich sehe die Tore Jerusalems vor mir aufgehen.’ Ich dachte, was soll der Scheiß? Demnächst würde ein Feuersturm auf Bagdad niedergehen, und dieser Mann erzählte uns was von seinen Visionen von der Befreiung Palästinas?“

      Wafic Samarai steckte in einer besonders schwierigen Lage. Wie kann man als Geheimdienstchef eines Tyrannen arbeiten, der die Wahrheit nicht hören will? Sagt man ihm die Wahrheit, und sie widerspricht seinem Gefühl der Unfehlbarkeit, sitzt man in der Patsche. Sagt man ihm nur, was er hören will, würden diese Lügen mit der Zeit unweigerlich aufgedeckt.

      Samarai war sein Leben lang Offizier gewesen. Er hatte Saddam während des langen Krieges gegen den Iran beraten und beobachtet, wie Saddam sich ein recht hoch entwickeltes Verständnis militärischer Begriffe, Waffen, Strategien und Taktiken angeeignet hatte. Aber Saddams Sicht der Dinge wurde stark beeinträchtigt von seiner ausgeprägten Neigung zum Wunschdenken – dem Untergang so vieler Amateur-Generäle. Samarai lieferte unablässig Geheimberichte darüber, wie die USA und ihre Verbündeten eine Truppe von beinahe einer Million Mann in Kuwait zusammenzogen, mit einer Luftwaffenschlagkraft, die alles übertraf, was die Iraker aufbieten konnten, mit Artillerie, Raketen und Panzern, die der irakischen Ausrüstung um Jahrzehnte voraus waren. Die Amerikaner versteckten diese Waffen nicht. Sie wollten, dass Saddam genau wusste, worauf er sich einließ.

      Aber Saddam ließ sich nicht einschüchtern. Er hatte einen Plan, den er Samarai und seinen anderen Generälen bei einer Sitzung in Basra, Wochen vor dem Beginn der amerikanischen Offensive, erklärte. Er schlug vor, amerikanische Soldaten gefangen zu nehmen und sie als menschliche Schutzschilder an irakischen Panzern festzubinden. „Nie würden die Amerikaner auf ihre eigenen Soldaten schießen“, sagte er triumphierend, als wäre solche Zimperlichkeit ein tödlicher Fehler. Es war klar, dass er selbst keinerlei solcher Bedenken hätte. Im Laufe der Kämpfe, versprach er, würden zu diesem Zweck Tausende feindlicher Soldaten gefangen genommen. Dann könnten seine Truppen ungehindert ins östliche Saudiarabien vordringen und die Alliierten zum Rückzug zwingen. Das war auf jeden Fall sein Plan.

      Samarai wusste, dass all das eine reine Halluzination war. Wie sollten die Iraker Tausende amerikanischer Soldaten gefangen nehmen? Niemand konnte sich – und in Massen schon gar nicht – den amerikanischen Stellungen nähern, ohne entdeckt und getötet zu werden. Und selbst wenn: Die Vorstellung, Soldaten als menschliche Schutzschilde zu benutzen, war widerwärtig, verstieß gegen alle Gesetze und internationalen Abkommen. Doch keiner der Generäle, Samarai inbegriffen, sagte ein Wort. Alle nickten pflichtschuldig und machten sich Notizen.

      Und doch: Als Chef des Geheimdienstes fühlte Samarai sich verpflichtet, Saddam die Wahrheit zu sagen. Am späten Nachmittag des 14. Januar meldete sich der General für eine Sitzung in Saddams Büro im Palast der Republik. Im gut geschnittenen schwarzen Anzug saß der Präsident hinter seinem Schreibtisch. Samarai schluckte schwer, dann gab er seine düstere Einschätzung der Lage. Bisher seien keine feindlichen Soldaten gefangen genommen worden, und daran würde sich wohl nichts ändern. Die irakischen Streitkräfte seien so dünn über die Wüste verteilt, dass die Amerikaner praktisch geradewegs auf Bagdad losgehen konnten. Samarai hatte viele Belege für seine Einschätzung der Lage – Fotos, Nachrichten, Zahlen. Die Iraker müssten mit einer raschen Niederlage rechnen und befürchten, dass die Iraner ihre Schwäche ausnutzen und im Norden einmarschieren würden.

      Saddam hörte sich diese Litanei bevorstehender Katastrophen geduldig an. „Jetzt sage ich Ihnen meine Meinung“, sagte er dann, ruhig und zuversichtlich: „Der Iran wird sich auf keinen Fall einmischen. Unsere Streitkräfte werden härter kämpfen, als Sie glauben. Sie können Bunker graben und so den amerikanischen Luftangriffen trotzen. Sie werden lange kämpfen, und auf beiden Seiten wird es viele Opfer geben. Nur: Wir sind bereit, Opfer hinzunehmen, die Amerikaner nicht. Das amerikanische Volk ist schwach. Sie werden es nicht hinnehmen, wenn viele ihrer Soldaten fallen.“

      Samarai war entsetzt. Aber er hatte das Gefühl, seine Pflicht getan zu haben: Er hatte Saddam die Wahrheit gesagt. Und Saddam schien ihm die schlechten Nachrichten nicht übel zu nehmen.

      Drei Tage später begannen die schweren Luftangriffe. Fünf Wochen danach, am 24. Februar, folgte die Offensive zu Lande, Saddams Truppen ergaben sich sofort oder ergriffen die Flucht. Tausende wurden am Mutla-Grat erwischt, bei dem Versuch, in den Irak zurückzukehren; die meisten verkohlten in ihren Fahrzeugen. Der Iran machte keinen Versuch, ins Land einzudringen, aber ansonsten entwickelte sich der Krieg genau so, wie Samarai vorhergesagt hatte.

      In den Tagen nach dieser Niederlage wurde Samarai erneut zu einer Sitzung mit Saddam geordert. Der Präsident arbeitete in einem geheimen Büro. Zum Schlafen war er in den Vororten Bagdads von Haus zu Haus gezogen, hatte diese einfach nach dem Zufallsprinzip okkupiert, um nicht von amerikanische Bomben erwischt zu werden. Samarai fand, dass Saddam davon nicht nur unberührt wirkte, sondern so, als würde ihm all das auf merkwürdige Weise Auftrieb geben.

      „Was ist Ihre Einschätzung, General?“, fragte Saddam.

      „Ich glaube, das war die schlimmste Niederlage der Militärgeschichte“, sagte Samarai.

      „Wie können Sie so etwas sagen?“

      „Sie ist schlimmer als die Niederlage bei Khorramshahr“ (dort hatten die Iraker im Krieg gegen den Iran Zehntausende verloren).

      Saddam sagte erst mal gar nichts. Samarai wusste, dass der Präsident nicht blöd war. Er hatte mit Sicherheit mitbekommen, was alle gesehen hatten: die Massen-Kapitulation seiner Truppen, das Gemetzel am Mutla-Grat, die verheerende Zerstörung durch die amerikanischen Bombardements. Doch selbst wenn Saddam die Einschätzung des Generals geteilt hätte - es auszusprechen, hat er nicht über sich gebracht. Bis dahin konnten immer die Generäle die Schuld für eine Niederlage zugeschoben bekommen. Dann waren die Militärs der Sabotage, des Verrats, der Unfähigkeit oder Feigheit bezichtigt worden. Es hatte Verhaftungen und Hinrichtungen gegeben, und konnte sich Saddam der Illusion hingeben, dass er die Wurzeln der Niederlage beseitigt hatte. Aber diesmal lag die Ursache der Niederlage klar bei ihm. Das hätte er natürlich nie zugeben können. „Das ist ihre Meinung“, sagte er kurz angebunden und ließ es dabei bewenden.

      Auf diese militärische Niederlage reagierte Saddam in den folgenden Jahren mit immer wilderen Plänen und Träumen, die er in seiner typischen Rhetorik wie ein Messias zum Ausdruck brachte. Im August letzten Jahres erklärte er in einer Fernsehansprache ans irakische Volk: „Mit Ihnen und durch Sie werden die guten Araber den Sieg davontragen. Ihr Sieg wird großartig, unsterblich, makellos und von einem Glanz sein, den nichts zu trüben vermag. In unseren Herzen und Seelen ebenso wie in den Herzen und Seelen edler und glorreicher irakischer Frauen und hochgemuter irakischer Männer sind wir vom Sieg absolut überzeugt, so Allah will. Das Pflücken der endgültigen Frucht in Einklang mit ihrer Beschreibung, auf die alle Welt hinweisen wird, ist eine Frage der Zeit, deren Art und letzte, endgültige Stunde entschieden wird vom gnädigen Allah. Und Allah ist der Größte!“

      Um Allah zu helfen, hatte Saddam bereits geheime Entwicklungsprogramme für biologische, chemische und Kernwaffen in Auftrag gegeben.

      IV.

      Seine Grausamkeit

      Anfang der 80er Jahre erlebte ein irakischer Bürokrat, der auf mittlerer Ebene im Wohnbauministerium in Bagdad arbeitete, wie mehrere seiner Kollegen von Saddams Regime beschuldigt wurden, Bestechungsgelder angenommen zu haben. Wahrscheinlich zu Recht, meinte er. „Es gab in unserer Abteilung Fälle von Bagatellkorruption“, sagte er. Die Angeklagten wurden alle zum Tod verurteilt.

      „Allen im Büro wurde befohlen, an ihrer Hinrichtung teilzunehmen“, erzählt der ehemalige Bürokrat, der heute in London lebt: „Ich beschloss, nicht hinzugehen, aber als meine Freunde davon erfuhren, riefen sie mich an und beschworen mich, es mir noch einmal zu überlegen, weil ich mich sonst verdächtig machen würde.“ Also ging er hin. Zusammen mit den anderen aus seinem Büro wurde er in einen Gefängnishof geführt und sie mussten mitansehen, wie ihre Kollegen und Freunde – mit denen sie jahrelang zusammengearbeitet hatten, mit deren Kindern ihre eigenen Kinder spielten, mit denen sie auf Partys und Picknicks gewesen waren – herausgeführt wurden mit Säcken über den Köpfen. Sie sahen und hörten, wie die Angeklagten flehten, weinten und ihre Unschuld beteuerten. Einer nach dem andern wurde erhängt. In dem Moment beschloss der Bürokrat, den Irak zu verlassen.

      Grausamkeit gehört zur Kunst des Tyrannen. Er studiert sie und macht sie sich zu eigen. Seine Herrschaft beruht auf Angst, aber Angst allein genügt nicht, um allen Einhalt zu gebieten. Es gibt Männer und Frauen, die sehr mutig sind, die bereit sind, ihr Leben zu riskieren, um dem Tyrannen Widerstand zu leisten.

      Doch der hat Mittel und Wege, auch diesem Mut zu begegnen. Denn von denen, die den Tod nicht fürchten, fürchten einige Folter, Schande oder Demütigung. Und sogar wer diese Dinge für sich selbst nicht fürchtet, fürchtet sie für Vater, Mutter, Brüder, Schwestern, Frauen und Kinder. Der Tyrann benutzt all diese Mittel. Er befiehlt nicht nur Akte der Grausamkeit, sondern auch grausame Schauspiele. Wenn Saddam gegen schiitische Geistliche vorgeht, lässt er nicht nur die Mullahs, sondern auch deren Familien hinrichten. Schmerz, Erniedrigung und Tod werden zu öffentlichen Spektakeln. Schuld oder Unschuld sind im Grunde unwichtig, denn es gibt keine Gesetze oder Werte, die schwerer wiegen als des Tyrannen Willen: Will er jemanden verhaften, foltern, verurteilen und hinrichten lassen, genügt das. Das geschieht nicht nur zur Warnung, Strafe oder Säuberungszwecken, sondern soll seinen Untertanen, Feinden und potenziellen Rivalen demonstrieren, wie stark er ist. Mitleid, Fairness, Rücksicht auf ordentliche Verfahren oder Gesetze sind nichts als Zeichen von Unentschlossenheit. Unentschlossenheit bedeutet Schwäche. Grausamkeit beweist Stärke.

      Bei den Zulu heißt es, ein Tyrann sei „voll von Blut“. Einer Schätzung zufolge wurden im dritten und vierten Jahr nach Saddams offizieller Machtübernahme (1981/1982) mehr als 3000 Iraker hingerichtet. An Saddams Gräueltaten im Laufe der mehr als 30 Jahre seiner inoffiziellen und offiziellen Herrschaft wird eines Tages in einem Museum und in Archiven erinnert werden. Doch zwischen den allergrößten Scheußlichkeiten drohen kleinere zu verschwinden, die für ihn charakteristisch sind.

      Tahir Tahya war irakischer Premierminister, als 1968 die Baath-Partei an die Macht kam. Es heißt, 1964, als Saddam im Gefängnis war, habe Yahya ihn persönlich getroffen und dazu zu bewegen versucht, sich gegen die Baath-Partei zu wenden und mit dem Regime zu kooperieren. Seit er erwachsen war, hatte Yahya dem Irak als Offizier gedient und war eine Zeit lang selbst ein führendes Mitglied der Baath-Partei, einer von Saddams Vorgesetzten. Doch er hatte sich Saddams Verachtung eingehandelt. Nach der Machtübernahme ließ Saddam Yahya, dem er seine Kultiviertheit verübelte, ins Gefängnis werfen. Auf Saddams Befehl musste Yahya einen Schubkarren von Zelle zu Zelle schieben und die Toiletten- und Abfalleimer der Häftlinge einsammeln. „Abfall! Abfall!“, rief er jedesmal. Die Demütigung des ehemaligen Premierministers erfüllte Saddam bis zu Yahyas Tod im Gefängnis mit Freude. Heute noch erzählt er die Geschichte gern und kichert, wenn er „Abfall! Abfall!“ sagt.

      1990 kam Saddam zu Ohren, der Generalleutnant Omar al-Hazzaa habe schlecht über ihn geredet. Er wurde nicht nur zum Tod verurteilt. Vor der Hinrichtung ließ ihm Saddam noch die Zunge herausschneiden und außerdem al-Hazzaas Sohn Farouq hinrichten.

      Saddam macht sich keine Illusionen darüber, was für brutale Vergeltung er zu erwarten hätte, sollte ihm je die Macht entgleiten. In ihrem Buch „Out of the Ashes“ (1999) erzählen Andrew und Patrick Cockburn von einer Familie, die sich bei Saddam beklagte, eines ihrer Familienmitglieder sei zu Unrecht hingerichtet worden. Ohne eine Spur von Reue erklärte er: „Glaubt nicht, dass Ihr Euch rächen könnt. Sollte sich je eine Gelegenheit dazu bieten, dann wäre bei Eurer Ankunft kein Fetzen Fleisch mehr an unseren Leichen.“

      Aber kein Mensch ist frei von Widersprüchen. Selbst von Saddam ist bekannt, dass er Trauer empfunden hat ob gewisser Exzesse. Einige, die ihn während der Säuberungsaktion 1979 am Rednerpult weinen sahen, tun dies als Show ab, doch Saddam ist bekannt dafür, dass er zuweilen in Tränen ausbricht. Während der Hinrichtungswelle nach seiner offiziellen Machtübernahme schloss er sich laut Saïd Aburishs Biografie zwei Tage lang in seinem Schlafzimmer ein, und als er wieder herauskam, waren seine Augen vom Weinen rot und geschwollen. Aburish berichtet, dass Saddam danach der Familie von Adnan Hamdani, dem hingerichteten Regierungsbeamten, der Saddam in den zehn Jahren zuvor am nächsten gewesen war, einen Kondolenzbesuch abstattete, der bei aller Unverschämtheit offenbar ehrlich gemeint war. Er bekundete keine Reue – die Hinrichtung sei notwendig gewesen – , aber Trauer. Bedauernd sagte er Hamdanis Witwe, „nationale Gesichtspunkte“ hätten nun mal Vorrang vor persönlichen. Ab und zu zumindest beklagt also Saddam, der Mensch, was Saddam, der Tyrann zu tun gezwungen ist.

      Der Konflikt zwischen seinen persönlichen Prioritäten und denen als Präsident ist besonders schmerzhaft in Bezug auf seine eigene Familie. Uday Hussein, Saddams ältester Sohn, ist allen Berichten zufolge ein sadistischer Verbrecher, wenn nicht gar völlig verrückt. Er ist ein großer, dunkelhäutiger, gut gebauter 37-Jähriger und in seinem Narzissmus und Mutwillen fast schon die Karikatur seines Vaters. Uday hat von diesem die ganze Brutalität, aber offenbar nichts von seiner Disziplin. Er ist ein ausschweifender Trinker und bekannt dafür, dass er seine wilden Aufmachungen selbst entwirft. Fotos zeigen ihn mit riesigen Frackschleifen und Anzügen, deren Farben zu seinen Luxusautos passen.

      Ismail Hussain, der als Soldat in der kuwaitischen Wüste ein Bein verlor, erregte als Sänger nach dem Krieg Udays Aufmerksamkeit. Als Lieblingskünstler des Erstgeborenen wurde er eingeladen, auf den Riesenfeten zu singen, die Uday jeden Montag- und Donnerstagabend schmiss. Sie fanden oft in einem Palast statt, den Saddam in der Nähe von Bagdad auf einer Insel im Tigris hatte bauen lassen - so opulent, dass den Besuchern fast die Augen raus fielen: Alle Türklinken und Wasserhähne im Palast waren aus Gold.

      „Während ich auf diesen Partys sang“, sagt Ismail, der heute in Toronto lebt, „stieg Uday gern mit einem Maschinengewehr auf die Bühne und feuerte in die Saaldecke. Alle warfen sich vor Schreck zu Boden. Da ich schwerere Geschütze als Udays Kalaschnikow gewohnt war, sang ich einfach weiter. Manchmal waren auf diesen Parties Dutzende von Frauen, aber nur fünf, sechs Männer. Uday besteht darauf, dass alle sich mit ihm betrinken. Wenn er richtig besoffen ist, werden die Gewehre hervorgeholt. Seine Freunde haben alle furchtbar Angst vor ihm, weil er sie ins Gefängnis werfen oder umbringen lassen kann. Ich habe einmal einen seiner Wutausbrüche gegenüber einem Freund erlebt. Er gab ihm einen solchen Tritt in den Hintern, dass sein Stiefel abflog. Der Mann raste los, um den Stiefel zu holen und versuchte verzweifelt, ihn Uday wieder anzuziehen, der ihn in allen Tönen verwünschte.“

      Saddam duldete die Exzesse seines Sohns - bis Uday 1988 auf einer Party einen der höchsten Berater des „Großonkels“ ermordete. Uday versuchte sich sofort, mit Schlaftabletten das Leben zu nehmen. Die Cockburns schreiben: „Während Uday der Magen ausgepumpt wurde, kam Saddam in die Notfallstation, schob die Ärzte zur Seite, schlug Uday ins Gesicht und schrie: ,Dein Blut soll fließen wie das Blut meines Freundes!’“ Dann ließ sich der Vater erweichen: Der Mord wurde als Unfall eingestuft. 1996 wurde auf Uday selbst ein Anschlag verübt: Er wurde von acht Kugeln getroffen, seitdem ist er von der Hüfte abwärts gelähmt. Sein Verhalten dürfte ihn um die Nachfolge seines Vaters gebracht haben. In den letzten Jahren hat Saddam deutlich gemacht, dass er Qusay aufbaut, ein ruhigerer, disziplinierterer, pflichtbewussterer Erbe.

      Aber das Attentat auf Uday war Saddam eine Warnung. Es hieß, es sei von einer Gruppe gebildeter irakischer Dissidenten ausgeführt worden – Tausenden von Verhaftungen und Verhören zum Trotz wurde keiner von ihnen gefasst. Gerüchten zufolge sollen die Attentäter zum Umfeld der Familie von Omar al-Hazzaa gehören, dem Offizier, dessen Zunge herausgeschnitten wurde, bevor man ihn und seinen Sohn hinrichtete. Dem mag so sein; aber es mangelt im Irak nicht an Menschen, die Unrecht rächen wollen.

      Allen Bedrohungen zum Trotz betrachtet Saddam sich als unsterblich. Nichts könnte das besser illustrieren als die Handlung seines ersten Romans „Zabibah und der König“. Die simple Fabel, die in einer mythischen arabischen Vergangenheit spielt, handelt von einem einsamen König, der hinter den hohen Mauern seines Palastes eingesperrt ist. Da er sich von seinen Untertanen abgeschnitten fühlt, geht er gelegentlich hinaus unters Volk. Auf einem dieser Ausflüge in ein Dorf sticht ihm die Schönheit der jungen Zabibah ins Auge. Sie ist mit einem brutalen Mann verheiratet, aber der König lässt sie zu sich in den Palast kommen, wo ihr ländliches Gebaren von den weltgewandten Höflingen zunächst verachtet wird.

      Doch im Lauf der Zeit bezaubert Zabibah durch ihre liebenswerte Einfachheit und Tugendhaftigkeit den Hof und gewinnt des Königs Herz - ihre Beziehung freilich bleibt keusch. Als der König seine strengen Methoden in Frage stellt, versichert ihm Zabibah: „Das Volk braucht strenge Maßnahmen, damit es sich durch seine Strenge beschützt fühlt.“ Doch dunkle Mächte dringen in das Königreich. Von aussen kommende Ungläubige plündern und zerstören das Dorf, unterstützt von Zabibahs eifersüchtigem und gedemütigtem Ehemann, der seine Frau vergewaltigt. (Diese schändlichen Geschehnisse tragen sich am 17. Januar zu, am Tag also, an dem 1991 die USA und ihre Verbündeten den Luftangriff auf den Irak begonnen hatten.) Zabibah wird umgebracht; der König besiegt seinen Feind und erschlägt Zabibahs Ehemann. Danach versucht er seinem Volk mehr Freiheiten zuzugestehen, doch das führt zu Kämpfen innerhalb des Volks. Die Streitereien werden unterbrochen durch des guten Königs Tod, worauf das Volk begreift, wie groß und wichtig er gewesen ist. Der weise Ratschlag Zabibahs, die den Opfertod gestorben ist, ruft ihm in Erinnerung: Das Volk braucht strenge Maßnahmen.

      So propagiert Saddam die einfachen Tugenden einer glorreichen arabischen Vergangenheit und träumt davon, dass sein Königreich, auch wenn es allenthalben verachtet und besudelt wird, eines Tages neu erstehen und triumphieren werde. Wie der gute König ist er auf eine Weise wichtig, die erst nach seinem Hinscheiden wirklich begriffen werden wird. Erst dann werden wir alle die Worte und Taten dieser großartigen, der Unbill trotzenden Seele studieren. So erwartet er seinen Augenblick des Triumphs in einer fernen, glorreichen Zukunft, die eine ferne, glorreiche Vergangenheit spiegeln wird.

      Der Autor erhielt für seine Reportagen zahlreiche internationlae Preise und veröffentlichte mehrere Bücher (u. a. „Black Hawk Down“;). Sein Porträt von Saddam Hussein erschien zuerst im „Atlantic Monthly“.

      http://www.tagesspiegel.de/Pubs/sonderthema1/pageviewer.asp?…
      Avatar
      schrieb am 01.09.04 05:17:41
      Beitrag Nr. 234 ()
      Konstantin Wecker kämpft für eine bessere Welt, sucht das nicht käufliche Glück und findet es wichtig, zu meditieren


      Vor genau einem Jahr reiste Konstantin Wecker mit der Tübinger Gesellschaft
      "Kultur des Friedens" in den Irak. Er wollte den bevorstehenden Krieg
      verhindern und gab in Bagdad ein Konzert. Dieser Aktivismus brachte dem
      engagierten Linken auch aus den eigenen Reihen viel Häme und Protest ein.
      Der 55-jährige Sänger, Komponist und Autor zählt zu den erfolgreichsten
      deutschen Liedermachern. Mit seinem Album "Genug ist nicht genug" (1977)
      machte er sich international einen Namen. Legendär ist seine 1988er Tournee
      gemeinsam mit Joan Baez und Mercedes Sosa. Auch in der DDR gastierte
      Konstantin Wecker in der zweiten Hälfte der 80er Jahre. 1995 wurde der
      Münchener in seiner Heimatstadt wegen Kokainbesitzes verhaftet. Er räumte
      ein, seit 15 Jahren von der Droge abhängig zu sein. Seine Verurteilung zu
      zweieinhalb Jahren Gefängnis wurde im April 1999 aufgehoben. Wecker ist
      Vater von zwei vier und sechs Jahre alten Söhnen. 2002 und 2003 brachte er
      gemeinsam mit Christian Berg "Das Dschungelbuch" und "Pinocchio" als
      Kindermusical auf die Bühne. Mit Konstantin Wecker traf sich Karim Saab.

      Herr Wecker, wie fühlt man sich auf verlorenem Posten? Sie
      sind einer der letzten bekennenden Pazifisten in Deutschland.

      Ich würde von mir nie sagen, ich bin Pazifist.
      Pazifist zu werden, das ist ein schwerer Weg. Ich möchte den Pazifismus als
      Ideologie der Menschheit nicht überstülpen. Das geht gar nicht, das muss
      jeder für sich selbst entscheiden.

      Gegen den Pazifismus wird meist eine Standardfrage ins Feld geführt: Gab es
      zum Einmarsch der Alliierten in das Nazi-Deutschland 1945 eine Alternative?

      Wecker: Wodurch ist Hitler in seiner ganzen Schrecklichkeit
      denn ermöglicht worden? Durch die Militarisierung, die nach dem Ersten
      Weltkrieg erfolgt ist. Irgendwann kommt dann immer der Punkt, an dem es
      heißt: Jetzt müssen wir mit militärischen Mitteln eingreifen, anders geht es
      nicht. Man hätte vorher anfangen müssen. Hitler wurde doch gestützt,
      weltweit, vor allem von der Industrie. Die Amerikaner selbst haben ihn
      gewähren lassen, weil er ihnen als Feind gegen den Kommunismus willkommen
      war. Nein, es gibt andere Möglichkeiten, Diktatoren zu entfernen. Wie war
      das denn in Südafrika und in den Ostblockländern 1989? Es muss nicht immer
      Krieg sein. Man kann auch den Widerstand in einem Lande unterstützen.

      Womit wir bei Ihrer umstrittenen Irak-Reise im Januar 2003 wären. Wollten
      Sie nicht, dass Saddam Hussein entmachtet wird?

      Wecker: Es ging nicht darum, den Diktator zu entmachten. Das ist nicht der ehrliche Grund für den Krieg gewesen. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld arbeitet derzeit mit drei, vier anderen schlimmen Diktatoren geräuschlos zusammen. Es ging vielmehr darum, dieses Land an die freie Marktwirtschaft anzubinden. Das ist jetzt passiert. Und der Widerstand im Irak ist deshalb so gigantisch und wird anhalten, weil das Land ausverkauft wird. Die Amerikaner sind nicht nur Besatzer, sie verkaufen das Öl, Straßen und Plätze. Das verstößt übrigens gegen internationales Recht. Ein Besatzer darf das Land nicht verkaufen.

      Freuen Sie sich über den blutigen Widerstand im Irak?

      Wecker: Ich sympathisiere überhaupt nicht mit Gewalt. Ich
      sympathisiere nicht mit Individualterrorismus und nicht mit
      Staatsterrorismus. Aber ich bin gegen die amerikanische Besatzung. Mit
      welcher Chuzpe behaupten wir eigentlich, dass wir überall auf der Welt genau
      das System installieren müssen, das wir für das Beste halten. Die arabische
      Welt bevorzugt andere Wege.

      Liedermacher sind heute eine aussterbende Spezies - ähnlich wie die
      Kabarettisten. Wie kommt es, dass das kritische Bewusstsein, für das Sie
      stehen, so aus der Mode gekommen ist?

      Wecker: Das bezweifle ich. Bei meiner letzten Tournee mit
      Hannes Wader, einem anderen alten Herren, kamen pro Konzert zwei- bis
      viertausend Leute. Es gibt sogar junge Leute, die sich heute wieder als
      Liedermacher bezeichnen, auch wenn sie zu anderen musikalischen Mitteln
      greifen. Das politische Lied wird wieder gepflegt. Der Nachwuchs hat aber
      keine Chance, bekannt zu werden. Was fehlt, sind Klubs, und die Industrie
      zeigt sich alles andere als engagiert. Im Februar werde ich zusammen mit
      Hans-Eckhardt Wenzel beim Festival des politischen Liedes als Pate aktiv.
      Die Frage ist letztlich, wann wird das Bedürfnis der Menschen nach Inhalten
      wieder so groß sein, dass auch die Industrie wieder hellhörig wird, denn sie
      will ja Geld verdienen. Wir Konsumenten in der freien Welt haben alle
      Chancen, uns zu verweigern und die Industrie und die Politiker zu
      beeinflussen.

      Viele Mitmenschen hatten offenbar vom Moralisieren die Nase voll. Wer etwas
      kritisiert, ist schließlich auch ein ewiger Besserwisser.

      Wecker: Die Menschen haben immer die Schnauze voll davon, mit
      wachen Augen sich ihre Gesellschaft und Umwelt anzuschauen. Es ist immer
      schwerer, an etwas Unangenehmem zu rütteln als den Leuten vorzugaukeln, es
      sei alles in Ordnung. Wenn wir uns die Welt derzeit betrachten, dieses
      gigantische Gefälle zwischen Arm und Reich, wie lange soll das bitte noch
      gut gehen? Ich glaube, jeder vernünftig denkende Mensch spürt, dass in den
      nächsten Jahren etwas Furchtbares passieren wird. Das kann nicht mehr so
      weitergehen. Die globale Erwärmung, das Artensterben. In Amerika, Kanada und
      Mexiko haben die gentechnisch manipulierten Pflanzen bereits so ein
      Übergewicht, dass es für bestimmte Pflanzen kaum noch Saatgut gibt. Wir
      werden alle in eine neue Leibeigenschaft hineingeraten, in eine
      Leibeigenschaft von wenigen Konzernen, die an jeder Politik vorbeioperieren
      können. Man kann davor die Augen verschließen, aber wir sind gerade dabei,
      die ganze Spezies Mensch zu vernichten.

      Offenbar drücken Sie die globalen Probleme mehr als der in Deutschland so
      heftig diskutierte Umbau der Sozialsysteme?

      Wecker: Nicht Umbau, ich nenne es Abbau! Das bewegt mich
      schon. Es geht derzeit um die neoliberale Herrschaft. Der Macht der Konzerne
      wird nachgegeben, wo auch immer. Es wäre genügend Geld da, das wissen alle,
      es ist nur einfach ungerecht verteilt. Ich sage das nicht als alter DKPler,
      ich war nie in einer Partei und ich war nie Kommunist. Zugleich bin ich aber
      auch der Meinung, dass nicht alle sozialistischen Ideen verdammt werden
      dürfen.

      Da werden Sie es bei der nächsten Wahl schwer haben.

      Wecker: Sehr schwer. Ich weiß es nicht, ob es noch eine Chance
      gibt, dass sich links von dieser berühmten Mitte noch einmal was formiert. Das wird wohl alles den Leuten auf der Straße überlassen
      bleiben. Da formiert sich derzeit was.

      Ist der Künstler Konstantin Wecker also drauf und dran, in die Politik zu
      gehen?

      Wecker: Für mich als Künstler ist die spirituelle Komponente
      wichtiger. Wie geht man als einzelner Mensch mit diesen Bedrohungen um. Wo
      kann man noch so etwas wie Glück finden, das uns nicht verkauft wird. Je
      mehr wir kaufen, desto weniger glücklicher werden wir. Das hat ja schon fast
      jeder erkannt. Aber wo soll man anfangen zu suchen? Ich sage nur: innen, bei
      sich selbst. Jeder muss sich die Frage stellen, was habe ich dazu
      beigetragen, dass es so weit gekommen ist. Wo sind meine Feindbilder?
      Inwieweit bin ich für das Kriegerische in unserer Gesellschaft mit
      verantwortlich?

      Sie mussten erst 50 Jahre alt werden, um eine Familie mit Kindern zu
      gründen. Wie denken Sie heute über den Konstantin Wecker, der kein Vater
      war?

      Wecker: Dass ihm da etwas entgangen wäre. Deshalb bin ich ja
      auch so erzürnt, wenn es um Zukunftsfragen der Menschheit geht. Welche Welt
      übergeben wir unseren Kindern? Es wird immer weniger Arbeit geben. Die
      technologische Entwicklung wird sich potenzieren. Was soll ich meinen
      Kindern raten? Zu studieren? Zu lernen? Künstler zu werden?

      Vielleicht sollten Sie Ihren Söhnen vor allem Meditationstechniken
      beibringen, damit sie wenigstens lernen, mit der vielen Freizeit umzugehen?

      Wecker: Das ist genau der Punkt. Das werde ich versuchen,
      schon durch mein Beispiel. Die Kinder merken ja, dass ich jeden Tag
      meditiere. Diese halbe Stunde möchte ich eigentlich nicht gestört werden.
      Das nehmen sie auch sehr ernst. Einmal kam der Kleine und setzte sich in den
      Schneidersitz neben mich und machte auch Ohhmmm, um mich ein bisschen zu
      verarschen.

      Sind Sie buddhistisch inspiriert?

      Wecker: Wenn man sich mit Meditation beschäftigt, kommt man am
      Buddhismus nicht vorbei. Ich halte den Buddhismus für eine faszinierende
      Philosophie und Psychologie. Aber die Bilder sind mir sehr fremd. Die Bilder
      des Christentums sind mir näher. Die christliche Mystik fasziniert mich
      sehr. Bei Meister Eckhart finde ich vieles, was mich antreibt, den Weg nach
      Innen weiter zu gehen.

      Sie tragen um den Hals eine Kreuz-Kette. Können Sie etwas mit dem leidenden
      Christus anfangen?

      Wecker: Das Kreuz trage ich nicht als Bekenntnis, sondern nur,
      weil ich es geschenkt bekommen habe. Von der katholischen Kirche meiner
      Kindheit bin ich meilenweit entfernt. Aber ich finde es ungerecht, dass dem
      Christentum vorgeworfen wird, dass es eine Philosophie des
      Leidens sei. Es geht doch niemandem darum, sich um jeden Preis ins Leid
      stürzen zu wollen. Aber das Leben ist nun mal Leid.
      Da trifft sich das Christentum mit dem Buddhismus. Der erste Satz in
      den Vier Wahrheiten heißt: Das Leben ist Leid, und der zweite, es gibt einen
      Weg, aus diesem Kreislauf des Leidens herauszutreten. Ich habe lange
      gebraucht, mir zuzugestehen, dass das Leben Leid ist. Wieso Leid, mir geht
      es doch hervorragend, habe ich mir immer gesagt. Das war natürlich ein sehr
      enger Blickwinkel. Wenn man mit etwas Mitgefühl seine Mitmenschen betrachtet
      und sieht, was allein in der engsten Umgebung für Schicksalsschläge
      passieren, dann stellt sich doch die Frage, ob man das Leid wegdrängt oder
      annimmt. Ich möchte mich dem stellen. Zum Pazifismus gehört die
      Bereitschaft, Leiden anzunehmen und auf sich zu nehmen. Das hat Gandhi
      vorgemacht.

      Haben Sie schon während Ihrer Drogenkarriere meditiert?

      Wecker: Da habe ich zwar viel drüber gelesen und mich auch
      damit beschäftigt. Aber wenn man zugedröhnt ist, gibt es keine Möglichkeit,
      wirklich praktisch an sich zu arbeiten. Die Chance habe ich erst im
      Gefängnis ergriffen.

      Sind Sie denn einverstanden mit der Drogengesetzgebung, mit der Sie in den
      Jahren vor Ihrem neuen Leben in Konflikt geraten sind?

      Wecker: Für mich war die Verhaftung ein Segen, das lässt sich
      nicht auf andere übertragen. Ich hatte ein funktionierendes soziales Umfeld
      und war innerlich schon auf diesen gewaltigen Schritt, endgültig mit den
      Drogen aufzuhören, vorbereitet. Aber ich wehre mich vehement dagegen, die
      Kriminalisierung Süchtiger als Patentrezept zu verwenden. Was glauben Sie,
      wäre wohl für ein Aufstand programmiert, wenn man Alkoholiker oder
      Tablettensüchtige wegsperren würde? Diese Drogenpolitik ist verlogen und
      falsch. Süchtigen müssen wir die Hand reichen, anstatt sie durch
      Kriminalisierung weiter ins Elend zu stoßen.

      Ist Ihre Religiosität auch eine Droge, mit der Sie Ihre Abhängigkeit vom
      Kokain kompensiert haben?

      Wecker: Sie meinen meine Spiritualität. Es gibt von einem
      Obdachlosen eine wunderbare Definition über den Unterschied: "Religiös sind
      Menschen, die Angst vor der Hölle haben. Spirituell sind Menschen, die durch
      die Hölle gegangen sind." Der spirituelle Mensch ist weiterhin auf der
      Suche. Wer sich hinter religiösen Dogmen verbarrikadiert, will sich nicht
      mehr weiterentwickeln. Sicher ist es sehr gefährlich, in die Fänge eines
      Gurus zu geraten, gerade wenn man psychisch instabil ist. Und es ist auch
      sehr gefährlich, in dieser Innenansicht der Welt zu verschwinden. Deswegen
      achte ich auch immer wieder auf eine klare Analyse der politischen
      Situation, damit der Verstand nicht einfach ausgeschaltet wird. Auch die
      großen spirituellen Führer, die derzeit leben, etwa der Dalai Lama, sind der
      Meinung, dass man sich nicht einfach auf einen heiligen Berg zurückziehen
      darf. Gerade als spiritueller Mensch muss man aktiv am Leben teilhaben und
      sich engagieren. Nicht das politische Bekenntnis wird derzeit verlacht,
      sondern das Engagement an sich. Ich frage mich, ob da nicht ein gezielter
      Versuch der Industrie dahintersteckt. Denn engagierte Menschen sind keine
      guten Konsumenten. Persönliche Hilfsbereitschaft ist ihnen wichtiger, sie
      rufen keine kaufbaren Institutionen an.

      Stört Sie nicht manchmal die Schlichtheit der Weisheiten, die der Dalai Lama
      von sich gibt?

      Wecker: Der Dalai Lama ist ein höchst gebildeter Mensch. Aber
      er beherrscht die Kunst, neben sehr komplizierten auch einfache Texte zu
      schreiben. Wenn man sich auf einem spirituellen Weg befindet, erkennt man
      irgendwann, dass Verstand und Ratio allein nicht glücklich machen. Warum ist
      es nicht möglich, sich mit dem Verstand die Welt zu erklären? Mit der Ratio
      können wir nicht sagen, warum diese Welt überhaupt da ist. Das ist nur ohne
      Denken zu erfahren. In den glücklichsten Situationen in meinem Leben habe
      ich nicht gedacht - in der Liebe, in der Musik.

      "Ich denke, also bin ich", das ist doch auch ein gutes Gefühl.

      Wecker: Solche Momente mag es geben, aber Dasein, nur
      Dasein ...

      Gefunden unter
      http://www.wecker.de/cgi-bin/cgi_presse1?id=251&ok





      Grüssels
      Tippgeber:)
      Avatar
      schrieb am 02.09.04 18:20:38
      Beitrag Nr. 235 ()
      Vor allem die (populären)Lügen und das linke Geschwätz von Wecker am Anfang des Interviews, machen das Lesen des Interviews zur Qual. Das Interview wird zur Mitte hin allerdings etwas besser.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 06.09.04 05:00:26
      Beitrag Nr. 236 ()
      Vom Grundvertrauen in unsere Welt

      Von Dr. Bernd Niquet

      Warum sind eigentlich manche Menschen so pessimistisch be-
      zueglich der Aktienmaerkte, der Zukunft unseres Landes und
      gar hinsichtlich des Schicksals des Welt-Finanzsystems? Warum
      sehen viele hier beinahe zwangslaeufig den Zusammenbruch auf
      uns zukommen – und warum sind andere bei der selben Frage
      hingegen sehr optimistisch?

      Wissen die einen hier mehr als die anderen?

      Aus meiner Sicht ist es der groesste Trugschluss, dem man in
      dieser Welt aufsitzen kann, den Untergangs-Philosophen einen
      Wissensvorsprung zu unterstellen. In der heutigen Zeit sind
      alle Informationen fuer jedermann frei zugaenglich. Doch die
      Welt ist so komplex und heterogen, die Informationen sind so
      vielfaeltig, dass zu jedem Zeitpunkt stets mindestens ein
      optimistisches und ein pessimistisches Szenario in voller
      Uebereinstimmung mit den Tatsachen abzuleiten ist.

      Unsere Entscheidung, ob wir optimistisch oder pessimistisch
      sind, kann damit also nichts mit den Informationen zu tun
      haben. Sie hat nichts mit der Welt an sich zu tun, sondern
      spiegelt ausschliesslich das wider, was wir selbst tun –
      naemlich eine Entscheidung zu treffen. Der Grund dafuer, ob
      wir optimistisch oder pessimistisch sind, liegt also zu
      hundert Prozent in uns selbst.

      Betrachten wir die Welt mit Optimismus, dann werden wir immer
      genuegend Gruende dafuer finden, zumal der Optimismus (wie
      der Pessimismus) eine Zukunftskategorie und damit sowieso
      unabhaengig von der Gegenwart ist. Optimistisch kann man
      naemlich auch in duestersten Zeiten sein.

      Betrachten wir jedoch die Welt mit Pessimismus, dann werden
      wir auch fuer diese Einstellung stets so viele Beweise fin-
      den, dass wir nicht genoetigt sein werden, unserem Pessimis-
      mus abzuschwoeren. Und selbst wenn augenblicklich die Engel
      singen, dann heisst das noch lange nicht, dass nicht morgen
      schon ein fuerchterlicher Absturz kommen kann.

      Schauen wir nur auf die Wortmeldungen am Aktienmarkt. Ein
      Gottfried Heller beispielsweise verliert auch im groessten
      Crash niemals seinen auf ewig verinnerlichten Glauben an die
      Stabilitaet unserer Welt, wohingegen alle Leuschelies dieser
      Welt, die Konstanzer Kreise, Elliottwellen-Untergeher und
      alle sonstigen „abgespacten" goldgehoernten Inflation-Defla-
      tion-voellig-egal-Hauptsache-es-knallt-Tieftaucher in jeder
      schlechten Nachricht bereits den Fingerzeig des Juengsten
      Gerichtes erblicken.

      So ist es eben. Das muss man wissen. Das ist das Wichtigste.
      Alles andere ist dabei voellig zweitrangig. Wie hat doch der
      US-Boersianer David Dreman, der unter dem Pseudonym „Adam
      Smith" viele Buecher veroeffentlicht hat, so unuebertrefflich
      geschrieben: „Wenn Sie nicht wissen, wer Sie sind, dann ist
      die Boerse ein kostspieliger Ort, es zu lernen." Dem bleibt
      nichts hinzuzufuegen.


      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 08.09.04 15:59:00
      Beitrag Nr. 237 ()
      HEDGEFONDS

      Außer Spesen nichts gewesen

      Von Patricia Döhle und Ulric Papendick

      Intelligente Produkte wie Hedgefonds sind für Anleger eigentlich hochattraktiv. Doch was deutsche Fondshäuser offerieren, ist meist teuer - und oft nur zweite Wahl.

      Er soll die deutsche Antwort auf George Soros werden: Jan Viebig, bis vor wenigen Wochen gewöhnlicher Aktienfondsmanager bei Deutschlands größter Investmentgesellschaft, DWS - und neuerdings deren erster und hauptamtlicher Hedgefonds-Experte.

      Dass er mindestens so kompetent ist wie Hedgefonds-Legende Soros, der mit seinen Spekulationen die Bank von England zur Abwertung des britischen Pfunds zwang, daran lässt der 34-Jährige keinen Zweifel. Mit der belehrenden Miene des passionierten Besserwissers erläutert der promovierte Wirtschaftswissenschaftler den theoretischen Unterbau der neuen Produkte, schiebt Charts über den Tisch, die zeigen sollen, wie günstig die Risiko-Rendite-Relation ist, betont, wie eng er mit den New Yorker Hedgefonds-Profis der DWS-Mutter Deutsche Bank in Kontakt steht.

      Musterschüler Viebig, in der Theorie eine Eins; der Praxistest allerdings steht noch aus. Drei Monate lang darf er mit hauseigenem Geld üben. Dann soll sein Fonds marktreif sein. Ob der annähernd so erfolgreich abschneidet wie George Soros` Quantum-Fonds, darf bezweifelt werden. Doch das spielt ohnehin keine Rolle. Über die Vertriebsmaschinerie der Deutschen Bank werden wohl in Kürze hunderte von Millionen deutscher Anlegergelder in die Hedgefonds von Viebig & Co. fließen.

      Auch in den anderen Frankfurter Bankentürmen mutieren derzeit ganz normale Fondsmanager zu Experten für Strategien wie "Long/Short", "Global Macro" und "Convertible Arbitrage".

      Ausgelöst hat die hereinbrechende Euphorie für seltsam klingende Hedgefonds-Techniken ein Sinneswandel in Berlin. Finanzminister Hans Eichel, dessen Behörde die spekulativen Papiere noch vor Jahresfrist als Teufelszeug schmähte, will die Fonds ab 2004 in Deutschland zulassen. Der Sinneswandel erscheint auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbar.

      Immerhin versprechen die hochgezüchteten Wunderwaffen eine stetige Wertsteigerung. Und zwar auch dann, wenn es an der Börse bergab geht. Für alle vom Dauercrash entnervten Anleger eine geradezu traumhafte Vorstellung.

      Entsprechend hoch sind die Erwartungen in der Branche: Bis zu 85 Milliarden Euro, schätzen Berater, könnten deutsche Investoren in den nächsten fünf Jahren in das neue Segment pumpen

      Eine gewaltige Summe, die sich Deutschlands Geldhäuser nicht entgehen lassen wollen. Mit beharrlicher Lobbyarbeit haben Banken und Investmentgesellschaften für ein Gesetz gesorgt, das ihnen den Großteil des lukrativen Kuchens sichert.

      Die Interessen der Kunden rangieren erst an zweiter Stelle. Was Deutschlands Privatanlegern vom nächsten Jahr an unter dem Label Hedgefonds am Bankschalter offeriert wird, ist mit ziemlicher Sicherheit kein Spitzenprodukt, sondern zweite Wahl.

      Anstelle von Topfonds international renommierter Häuser wird den deutschen Investoren Standardware serviert, hergestellt von Debütanten, die ihre Qualität erst noch unter Beweis stellen müssen. Und statt auf die Expertise einzelner Manager setzen zu können, werden die meisten Anleger gezwungen, sich an einer Mixtur unterschiedlichster Strategien zu beteiligen. Mit dem Ergebnis, das zwar die Risiken niedrig gehalten werden, aufgrund horrender Gebühren aber die Rendite leidet.

      Werden Hedgefonds "made in Germany" ein Reinfall?

      Sicher ist, dass in den kommenden Jahren Milliarden mit den neuen Fonds umgesetzt werden. Dafür sorgt allein schon die geballte Vertriebskraft der großen deutschen Fondsgesellschaften.

      An Verkaufsargumenten mangelt es nicht. Kaum ein anderes Investment gilt als derart lukrativ wie Hedgefonds. Zweistellige Renditen sind für die Stars der Szene eher der Normalfall als die Ausnahme. Im vergangenen Jahrzehnt stiegen die Kurse der Hedgefonds, gemessen am Branchenindex CSFB Tremont, im Durchschnitt um 10,9 Prozent pro Jahr.

      Wie die Finanzakrobaten ihre Geldmaschinen in Gang halten, bleibt in den meisten Fällen aber gut gehütetes Betriebsgeheimnis. Seit Jahren umweht die Branche eine Aura des Geheimnisvollen. Die Strategien der Topmanager, die hunderte von Millionen Dollar pro Jahr verdienen - George Soros, Louis Bacon (Moore Capital) oder Steven Cohen (SAC Capital Advisors) etwa -, konnte bislang kein Branchenbeobachter auch nur annähernd entschlüsseln.

      Eines ist aber klar: Hedgefonds-Manager haben einen gravierenden Wettbewerbsvorteil gegenüber ihren Kollegen, die handelsübliche Publikumsfonds betreuen. Sie müssen sich weder Regulierungsbehörden noch gesetzlichen Auflagen beugen, keine Benchmark und kein Index bindet sie an festgelegte Strategien. Wenn sie glauben, dass die Märkte einbrechen, können sie auf sinkende Kurse wetten, statt - wie traditionelle Geldverwalter - dem Absturz mehr oder minder tatenlos zuzusehen.

      Die Hochseilakrobaten der Börsen nutzen ihren Spielraum weidlich aus. Sie brechen mit nahezu jeder herkömmlichen Anlageregel. Mal verkaufen sie Aktien, die sie sich zuvor nur geliehen haben; mal vervielfachen sie ihren Einsatz durch die Aufnahme von Krediten; manche Fonds steigen auch gezielt bei Pleitefirmen ein und schlachten sie aus.

      Mit diesen teilweise äußerst riskanten Manövern lagen die Anlagevirtuosen sogar noch im Plus, als die Kapitalmärkte weltweit einbrachen. Börsenkrise, Konjunkturflaute und Terrorattacken zum Trotz schaffte die Branche seit dem Platzen der Blase immerhin eine Rendite von knapp 6 Prozent pro Jahr.

      Längst haben sich auch deutsche Finanzprofis unter die illustren Reihen der Hedgefonds-Manager gemischt. Elisabeth Weisenhorn etwa. Ende 2000 gründete die damalige Starmanagerin der größten deutschen Investmentgesellschaft, DWS, ihr eigenes Unternehmen "Weisenhorn & Partner".

      Seither managt "die Frau, die Millionäre macht" (früherer DWS-Werbeslogan) neben konventionellen Aktienfonds auch einen auf den Cayman Islands registrierten Hedgefonds namens "European Pearl Fund".

      Welchen Unterschied die größere Dispositionsfreiheit ausmacht, hat die Finanzexpertin selbst erlebt. Mit ihren Aktienfonds legte sie seit dem Start eine kräftige Bauchlandung hin. Ihr "Weisenhorn Europa" verlor seit Anfang 2001 knapp 40 Prozent. Der Pearl Fund hingegen schaffte ein Plus von rund 25 Prozent.

      Gewinne unabhängig von den Launen der Börse zu erzielen, versucht auch Klaus Sterzik. Seit gut einem Jahr arbeitet der einstige Leiter des Eigenhandels der Deutschen Bank als Hedgefonds-Manager bei der Frankfurter Firma Arsago. Das von ehemaligen J.-P.-Morgan-Bankern gegründete Unternehmen hat sich auf das Aufspüren von weltweiten Trends an den Kapitalmärkten spezialisiert; "Global Macro" heißt das im Branchenjargon.

      Goldpreisanstieg, Zinswende und DollarSchwäche bescherten Sterzik in den vergangenen zwölf Monaten eine Performance von gut 10 Prozent. Wesentlich größeren Wert legt der Geldmanager allerdings auf die Feststellung, dass sein Fonds in dieser Zeit keine größeren Einbrüche verkraften musste. "Ein kontrolliertes Risiko", sagt Sterzik, "ist mir wichtiger als exorbitante Gewinne."

      Damit beschreibt der Mann eine Trendwende. Die wilden Jahre der Hedgefonds sind vorbei. Von skurrilen Ausnahmen abgesehen will die Branche heute vor allem die Gefahren ihrer Investments niedrig halten.

      Von Hasardeuren zu Kontrolleuren - Katalysator dieses Wandels sind institutionelle Anleger. "Versicherungen und Pensionsfonds wollen eine Anlageform, die unabhängig von der Börsenlage konstante Ergebnisse bringt", sagt James Dilworth, Chef der deutschen Vermögensverwaltung der US-Investmentbank Goldman Sachs, "diesen Investoren geht es vor allem darum, die Marktrisiken zu verringern." Folglich sind die Zauberkünstler heute vor allem dann gefragt, wenn sie moderate, aber stetige Erträge erzielen.

      Anlagestrategien, die bei jeder Börsenlage Gewinne erwirtschaften, dazu ein wachsames Risikomanagement - dürfen sich Deutschlands Privatanleger mithin glücklich schätzen, demnächst auch vom Können der genialen Geldmagier zu profitieren?

      Zweifel sind angebracht. Gut gemachte Hedgefonds sind eine hervorragende Anlageform - für Hedgefonds "made in Germany" dürfte dies in den seltensten Fällen zutreffen.

      Was Anleger hier zu Lande in ihren Depots wiederfinden werden, sind teure und überdiversifizierte Dachfonds. Konstruktionen also, die das Geld der Anleger nicht selbst investieren, sondern sich nur für die Auswahl möglichst guter Hedgefonds, auch Ziel- oder Single-Fonds genannt, zuständig fühlen.

      Das Produkt der zum genossenschaftlichen Sektor gehörenden Fondsgesellschaft Union Investment verdeutlicht das Dilemma, vor dem private Hedgefonds-Anleger in den kommenden Jahren stehen werden.

      "Multi-Hedge Strategy" nennt sich der Fonds, der im Prospekt vollmundig mit "Ertragsquellen ohne Ende" beworben wird. Andreas Engel, bei der Union für Hedgefonds zuständig, strebt eine überdurchschnittliche Rendite nach Kosten an, also einen Zins, der deutlich über dem für sichere Anlagen liegt. Und, das sei für Anleger derzeit besonders wichtig: kein Verlustrisiko. "Dazu stehen wir", bekräftigt Engel.

      Klingt gut - lässt sich wohl aber kaum verwirklichen. Der Dachfonds, der seinerseits wiederum in rund 15 verschiedene Hedge-Produkte investiert, kombiniert nämlich Strategien, deren Ergebnisse in der Vergangenheit höchst unterschiedliche Resultate aufwiesen.

      Hinzu kommt, dass Dachfonds vor allem Kosten produzieren. Aus diesem Grund müssen die Geldverwalter deutlich überdurchschnittliche Erträge einfahren, damit für ihre Anleger nach Abzug aller Gebühren auch tatsächlich die in Aussicht gestellte Rendite übrig bleibt.

      Beim Multi-Hedge Strategy sieht die Rechnung wie folgt aus: Normalanleger zahlen allein auf Dachfondsebene 6 Prozent Ausgabeaufschlag, 2,5 Prozent laufende Managementgebühr plus eine gewinnabhängige Vergütung von 7,5 Prozent. Hinzu kommen Gebühren, die die Manager der Zielfonds vom Kapital der Kunden abziehen: eine weitere laufende Managementgebühr von im Schnitt 1,5 Prozent pro Jahr und eine zusätzliche erfolgsabhängige Vergütung, die zwischen 10 und 20 Prozent liegt.

      Selbst wenn es dem Multi-Hedge Strategy gelingt, die langfristig branchenübliche Wertsteigerung von 11 Prozent pro Jahr zu erzielen, bleibt nach Abzug aller Gebühren bei den Anlegern gerade mal die Hälfte hängen: knapp 5,5 Prozent.

      Und dabei ist noch nicht einmal der Ausgabeaufschlag berücksichtigt, den der Kunde beim Kauf des Fonds zahlt. Verteilt man diese 6 Prozent rechnerisch über eine Haltedauer von beispielsweise sechs Jahren, vermindert sich die Rendite auf knapp 4,5 Prozent - das entspricht ziemlich genau der Verzinsung einer zehnjährigen Bundesanleihe.

      Das Beispiel belegt: Die extremen Gebühren machen Dach-Hedgefonds für Privatanleger uninteressant. Selbst dann, wenn sie - wie der Multi-Hedge Strategy - gut gemanagt werden. Die Union hat sich für ihr erstes Hedge-Produkt nämlich einen erfahrenen Partner gesucht: Die Schweizer Partners Group, die das Dachfondsgeschäft bereits seit Jahren international erfolgreich betreibt.

      Andere große deutsche Fondsgesellschaften hingegen verzichten weitgehend auf professionelle Hilfe und ziehen es vor, alles selbst zu machen, sprich: möglichst viele der neuen Produkte im eigenen Hause zusammenzunageln, die Dachfonds ebenso wie die Zielfonds. Das Motiv ist klar: Nur wer eigene Zielfonds anbietet, verdient das große Geld. Denn die Dachfonds müssen üblicherweise erhebliche Teile der Managementgebühr und der erfolgsabhängigen Vergütung an die Zielfonds abtreten.

      Bei der DWS schulen zurzeit Experten des Mutterhauses Deutsche Bank nicht nur Jungdynamiker Viebig, sondern auch andere Fondsmanager im Umgang mit den ungewohnten Investments. Und bei der Sparkassentochter Deka will Vorstand Peter Mathis die hauseigenen Computermodelle aufrüsten, um vom nächsten Jahr an auf Knopfdruck selbst gemachte Hedgefonds anbieten zu können.

      Für DWS- und Deka-Kunden kommt es damit zu den Nachteilen, die sie durch die Überdiversifikation und die horrenden Kosten der Dachfonds hinnehmen müssen, noch ein weiterer potenzieller Renditekiller hinzu: die Unerfahrenheit der Fondsmanager.

      Viele Experten zweifeln daran, dass normale angestellte Fondsmanager für das sehr viel komplexere, risikoorientiertere Hedgefonds-Geschäft überhaupt geeignet sind. "Das haben viele in den vergangenen Jahren versucht, und die wenigsten waren langfristig erfolgreich", weiß Andreas Benz, zuständig für das Deutschland-Geschäft bei Man Investments, einem der weltweit größten Hedgefonds-Anbieter.

      "Den traditionellen Fondsprofis fehlt es vor allem an Erfahrung im Umgang mit Short Selling", dem Verkauf geliehener Aktien also, sagt Benz. Die Besten der Branche kommen daher aus dem Eigenhandel großer Banken, wo sie den tagtäglichen nervenaufreibenden Umgang mit offenen Verkaufspositionen von der Pike auf gelernt haben.

      Und: Kaum ein erfolgreicher Hedgefonds-Manager arbeitet für einen großen Finanzkonzern. "Das sind Unternehmertypen, die in kleinen Teams auf eigene Verantwortung agieren und immer auch ihr persönliches Vermögen mit einsetzen. Das macht einen Großteil ihrer Motivation und ihres Erfolgs aus", bestätigt Christian Zügel, Chef des US-Hedgefonds Zais Group, der drei Milliarden US-Dollar für internationale Großanleger verwaltet.

      Zügel hat keine Pläne, nach Deutschland zu expandieren. Ähnlich desinteressiert zeigt sich der renommierte New Yorker Hedgefonds Moore Capital. Kein Wunder: Starmanager Louis Bacon kann sich schon in den USA vor Kapital kaum retten. Und das gilt für viele internationale Topadressen.

      Magerkost also für deutsche Anleger. Vom ursprünglichen Charme der Hedgefonds werden sie nicht viel zu spüren bekommen. Für den Anfang ist deshalb Zurückhaltung angesagt.

      Schon einmal hatte die deutsche Finanzbranche eine vermeintliche Wunderwaffe angekündigt: Hedge-Zertifikate. Eine Sonderform der Dachfonds, mit der die Banken die bislang nicht zugelassenen Produkte für den deutschen Markt anpassten.

      Milliarden sammelten die großen Banken mit den angeblichen Wunderwaffen ein. Allein die Deutsche Bank platzierte im Spätsommer 2000 mit dem Slogan "Aktienrendite bei Anleihenrisiko" Papiere im Volumen von 1,7 Milliarden Euro. Statt der anvisierten Rendite von 15 Prozent jährlich brachte Xavex HedgeSelect bislang einen Verlust von knapp 4 Prozent ein - und die Kosten sind da noch nicht einmal eingerechnet.

      Mal sehen, ob es die Deutsche-Bank-Tochter DWS mit ihren Dachfonds besser kann.

      http://www.manager-magazin.de/magazin/artikel/0,2828,274661,…
      Avatar
      schrieb am 08.09.04 16:05:24
      Beitrag Nr. 238 ()
      Hedgefonds-Manager: Finanzmagier mit goldenen Händen
      von Harald Grimm


      Sie agieren im Verborgenen, spekulieren mit riesigen Vermögen und bringen ganze Volkswirtschaften ins Wanken: Hedgefonds-Manager gelten als gierige Finanzhaie. manager-magazin.de präsentiert die Stars und Topverdiener der Branche, die bis zu 750 Millionen Dollar im Jahr kassieren.
      Hamburg - Sie glauben, dass Deutsche-Bank-Primus Josef Ackermann mit seinen Gesamtbezügen von 11,07 Millionen Euro im vergangenen Jahr zu viel kassiert hat? Es gibt Großverdiener, die lachen über solche Beträge. Denn während in Deutschland die Diskussion um Vorstandsgehälter entbrannt ist, kassieren die Stars der Hedgefonds-Branche Jahreseinkünfte im dreistelligen Millionenbereich.



      Das Fachblatt "Institutional Investor" hat die Topverdiener unter den Finanzjongleuren aufgelistet. Die Zahlen sind beeindruckend: Mit 750 Millionen Dollar hat Hedgefonds-Altmeister George Soros das dickste Paket mit nach Hause genommen und seinen vielen Nachahmern noch einmal gezeigt, wie es geht.

      Doch auch die jungen Wilden, manche erst Anfang 30, kassieren ordentlich ab. Um überhaupt in die Liste der 25 Großverdiener aufgenommen zu werden, mussten die Hedgefonds-Manager mindestens 65 Millionen Dollar im Jahr verdienen. 17 haben im vergangenen Jahr sogar mehr als 100 Millionen Dollar eingesackt, das Durchschnittseinkommen der Top 25 lag bei 207 Millionen Dollar.

      "Hedgefonds sind der Heilige Gral"

      Bei diesen Mega-Gehältern wundert es nicht, dass überall auf der Welt Hedgefonds wie Pilze aus dem Boden schießen. Börsen-Altmeister Warren Buffett, der vor seiner Zeit bei Berkshire Hathaway übrigens auch im Konzert der Hedgefonds mitgespielte, erklärt den neuen Trend so: "Derzeit sind Hedgefonds der Heilige Gral."

      Aber wie können einzelne Fondsmanager so viel Geld verdienen? Das Geheimnis liegt in der Gebührenstruktur. Auf das Gesamtanlagevermögen wird bei Hedgefonds eine Managementgebühr von 1 bis 5 Prozent erhoben. Bei einem Anlagevolumen von mehreren Milliarden Dollar kommt da bereits eine ordentliche Summe zusammen.

      Richtig zuschlagen können die Hedgefonds-Manager aber bei den Performance-Gebühren. Die Granden der Branche behalten bis zu 50 Prozent der Gewinne für sich! Und weil die Profis so viel Vertrauen in ihre eigene Arbeit haben, verwalten sie im Fonds häufig einen Großteil ihres eigenen Vermögens.

      Im Millionengehalt ist noch Spiel drin

      Der "Institutional Investor" hat bei der Berechnung der Hedgefonds-Manager-Einkommen 2003 deshalb zu einem großen Teil auf Unterlagen bei der US-Börsenaufsicht SEC beziehungsweise Mitteilungen der einzelnen Fondsgesellschaften zurückgreifen können.

      Zur genauen Bestimmung wurden Gehalt, Erfolgsprämien und die Gewinne aus dem eigenen Vermögen zusammengerechnet. Nach Angaben des Branchenmagazins erfolgte die Berechnung eher konservativ, die wirklichen Einkünfte könnten noch höher liegen. Auf den folgenden Seiten porträtiert manager-magazin.de acht Stars der Hedgefonds-Szene und stellt 17 weitere Topverdiener vor.


      George Soros, der Großmeister der Hedgefonds-Szene

      George Soros mag die richtig fetten Deals. Sein größter Coup liegt zwölf Jahre zurück und ist bereits Legende: 1992 hat der Finanzmagier mit seinen Spekulationen die britische Notenbank und das Pfund in die Knie gezwungen. Rund eine Milliarde Dollar soll Soros bei diesem Geschäft verdient haben, das nebenbei die Wirtschaft des Inselstaats über Monate hinaus kräftig durchgeschüttelte.

      Neben diesem Mega-Deal hat der Großmeister der Hedgefonds-Szene aber auch sonst - von der Öffentlichkeit weit gehend unbemerkt - riesige Summen bewegt und verdient. Allein mit seinem 1973 aufgelegten Quantum Fund erzielte Soros durchschnittliche Steigerungsraten von mehr als 30 Prozent - jährlich.

      Mittlerweile beschäftigt sich Soros lieber mit Politik und Philosophie. Das Gefühl für die Märkte Anzeige

      hat er dennoch nicht verloren, wie sein Jahreseinkommen 2003 beweist: 750 Millionen Dollar.

      Vehementer Bush-Gegner

      Derzeit konzentriert er sich nach eigener Aussage auf ein Ziel: Ein Präsidentschaftswechsel in den USA. Einigen Mitgliedern in der Bush-Regierung unterstellt Soros eine Mentalität ähnlich der von Arafat oder Sharon. Der Präsident selbst erinnere ihn mit Sprüchen wie "Sie sind entweder für oder gegen uns" an die Nazis.

      Für den aktuellen Präsidentschaftswahlkampf hat Soros deshalb einen zweistelligen Millionenbetrag an verschiedene Anti-Bush-Gruppen überwiesen. Verglichen mit seinen sonstigen Spenden sind das aber nur Peanuts. Über verschiedene Stiftungen sollen in den vergangenen zehn Jahren rund fünf Milliarden Dollar in Schwellen- und Entwicklungsländer geflossen sein. Das Geld wurde vornehmlich in Projekte für wirtschaftliche Entwicklung und demokratische Bildung investiert.

      Trotz der Freigebigkeit bleibt für Soros noch genügend übrig. Nach Schätzungen des US-Magazins "Forbes" kann er auf ein Privatvermögen von sieben Milliarden Dollar zurückgreifen. Dieses wird zum größten Teil von seinen Spezialisten im "Soros Fund Management" verwaltet. Dieses Investmentbüro gilt als Schaltstelle für den 8,3 Milliarden Dollar schweren "Quantum Endowment Fund" und verschiedene andere Investments wie Immobilien und Unternehmensbeteiligungen.

      Neben seinem Gespür verlässt sich Soros auf die gute Goldman-Sachs-Schule: Mit Jacob Goldfield (Chief Investment Officer) und Mark Schwartz (Chief Executive Officer) stehen zwei frühere Goldman-Lenker an der Spitze von "Soros Fund Management".

      Tellerwäscher-Karriere mit Zwei-Milliarden-Patzer

      Soros, Vater von fünf Kindern, nimmt unter den Hedgefonds-Managern schon auf Grund seines Alters eine Sonderstellung ein: 1930 als Sohn eines jüdischen Rechtsanwalts in Budapest geborenen, durchlebte György Soros erst die Nazi-Besetzung in Ungarn und dann die kommunistische Herrschaft, bevor ihm 1947 die Flucht nach England glückte. An der London School of Economics machte Soros 1952 seinen Bachelor-Abschluss und siedelte 1956 in die USA über - mit 5000 Dollar in der Tasche.

      Seine legendären Devisenspekulationen - neben dem Pfund 1992 wird ihm auch der Zusammenbruch der malaysischen Währung 1997 zu Lasten gelegt - können allerdings auch schief gehen. Bei der Russland-Krise 1998 soll Soros zwei Milliarden Dollar verloren haben. In Anbetracht der Gesamtleistung ist das aber wohl zu verschmerzen.


      David Tepper, die "Mutter Teresa des Finanzmarktes"

      Wer sein Geld den Hedgefonds-Spezialisten von "Appaloosa Management" anvertraut, braucht starke Nerven: 2001 verzeichnete der Appaloosa Investment I Fonds ein Plus von 67 Prozent. Ein Jahr später ging es um 25 Prozent in den Keller, nur um 2003 wieder um 149 Prozent in die Höhe zu schießen - und das alles natürlich schon abzüglich der 1 Prozent Management- und 20 Prozent Performance-Gebühr.



      Für Appaloosa-Gründer David Tepper gehört diese Achterbahnfahrt zum Geschäft: "Ich weiß nicht, wie sie wirklich Geld verdienen können, wenn sie nicht auch gewillt sind, Geld zu verlieren. Das ist es, was uns von anderen unterscheidet", sagt der frühere Goldman-Sachs-Anleihenexperte.

      Sein Anlagestil ist geradlinig und gefährlich: Appaloosa investiert entweder direkt in angeschlagene Unternehmen oder übernimmt deren Bankverbindlichkeiten beziehungsweise Anleihen. Im Gegenzug darf der Hedgefonds bei der Rettung des Unternehmens ein gewichtiges Wort mitreden.

      Geier oder Wohltäter?

      Tepper selbst bezeichnet sich deshalb gerne als "Mutter Teresa des Finanzmarktes", schließlich helfe sein Fonds kriselnden Unternehmen wieder auf die Beine. Kritiker werfen ihm dagegen eine Geier-Mentalität vor.

      Meist beschränkt sich Appaloosa auf nur wenige Investments. Zu den größten gehörten in der jüngsten Vergangenheit Conseco, MCI (ehemals Worldcom) und Marconi.

      Wirklich gut laufen die Geschäfte für Junk-Bond-Experten wie Tepper meist am Anfang eines konjunkturellen Aufschwungs, wenn viele Unternehmen noch in einer Restrukturierungsphase stecken. 2003 war so ein Jahr, wie der Jahresverdienst von 510 Millionen zeigt.

      Millionen für die Ex-Universität

      Der 46-jährige Tepper investiert sein Geld aber nicht nur in riskante Unternehmen. Kürzlich haben er und seine Frau Marlene 55 Millionen Dollar der Carnegie Mellon Universität in seiner Heimatstadt Pittsburgh gestiftet, wo Tepper 1978 mit einem Bachelor sein Wirtschaftsstudium abschloss.

      Erste berufliche Erfahrungen sammelte Tepper als Kredit- und Wertpapieranalyst bei der Equibank. Über das Finanzministerium in Ohio und Keystone Mutual Funds ging es 1985 zu Goldman Sachs, wo er acht Jahre lang blieb. 1993 gründete Tepper "Appaloosa Management".


      James Simons, der Zahlenfreak

      Hinter dem von James Simons gegründeten Hedgefonds-Betreiber "Renaissance Technologies" verbirgt sich keine gewöhnliche Investmentgesellschaft mit Bankern, Händlern und Analysten. Bei Renaissance entscheiden Mathematiker: "Wir stellen niemanden von der Business School ein, wir stellen auch niemanden von der Wall Street ein. Wir stellen diejenigen ein, die gut in den Wissenschaften sind", so Simons in einem Gespräch mit dem "Institutional Investor".



      Mit dieser Unternehmensphilosophie haben seine Anleger, aber vor allem er selbst, gut verdient. Seit 1988 haben die von Simons betreuten Hedgefonds jährlich um 38 Prozent zugelegt.

      Die gute Performance hat ihren Preis. Zur Managementgebühr von überdurchschnittlich hohen 5 Prozent wird noch ein Performance-Bonus von bis zu 44 Prozent aufgeschlagen. Da bleibt viel übrig, allein im vergangenen Jahr 500 Millionen Dollar für Simons allein.

      Zahlenmeister statt Volkswirtschaftler

      Aber wie können 140 Rechenkünstler, von denen rund ein Drittel promoviert hat und an mathematischen Formeln arbeitet, die Wall Street austricksen? Aus dem Hause Renaissance Technologies dringen kaum Informationen nach außen. Simons und seine Mannschaft gelten als extrem pressescheu.

      Sicher ist nur, dass ein Finanzhintergrund bei Neueinstellungen unerheblich ist und viele Beschäftigte auch nach Jahren bei Renaissance keine Ahnung vom klassischen Investmentgeschäft haben. Bewerber müssen dagegen einen wissenschaftlichen Vortrag vor der gesamten Belegschaft halten. Erst danach wird über die Einstellung entschieden.

      Geometrische Knacknüsse statt Wohltätigkeitsgalas

      Auch der 66-jährige Chef selbst hat keinen Finanz-Background. Simons hat an der Elite-Universität MIT seinen Bachelor absolviert und in Berkeley promoviert. Nach Zwischenstationen als Spezialist für Verschlüsselungstechniken beim Institut für Verteidigungstechniken in Princeton wechselte er als Mathematik-Dozent nach Harvard und MIT. An der State University in New York führte Simons auch zeitweilig die Mathematische Fakultät, bevor er 1988 Renaissance gründete. Nebenbei sitzt er noch im Vorstand oder im Aufsichtsrat verschiedener Technologieunternehmen.

      Anders als viele seiner Hedgefonds-Kollegen ist Simons auf Spendenpartys bislang noch nicht groß in Erscheinung getreten, dafür ist er Preisträger der American Mathematical Society. Die nach ihm benannte "Cherm-Simons"-Invariante ist vor allem für Physiker bei topologischen Berechnungen interessant. An der Wall Street schüttelt man darüber wohl nur den Kopf.


      Edward Lampert, der schnelle Unternehmer

      Ein typischer Wall-Street-Vertreter im Vergleich zu Simons ist dagegen Edward Lampert, 42, der nach seinem Wirtschaftsstudium an der Yale-Universität den karrierefördernden Goldman-Sachs-Weg eingeschlagen hat. Heute ist Lampert geschäftsführender Teilhaber von ESL Investments und ein Star der Hedgefonds-Szene, wenn auch seine Methoden umstritten sind.

      Sein Ansatz ist klassisch: ESL sucht unterbewertete Unternehmen mit einem verständlichen Geschäftsmodell, hält diese Aktien über einen längeren Zeitraum und konzentriert sich nur auf wenige Investments gleichzeitig. Schlussendlich wird mit Gewinn verkauft, zumindest wenn alles gut geht. Das klingt harmlos und gar nicht typisch für einen Hedgefonds.

      Der Unterschied steckt im Detail. Kritiker werfen Lampert vor, bei seinen Investments nur kurzfristig erfolgreiche Lösungen zu forcieren, die das Unternehmen auf Dauer teuer zu stehen kämen. Dank seiner großen Aktienpakete setze Lampert das Management gehörig unter Druck. Seine bevorzugten Mittel zum Aufpeppen der Bilanz: Ein Aktienrückkaufprogramm, das den Gewinn je Aktie (EPS) nach oben treibt, aber für die Firmenkasse gefährlich werden kann.

      Henker statt Retter?

      Die jüngsten Problemkinder, bei denen Lampert als Retter in der Not auftritt und einen schnellen Sanierungskurs durchdrückt, sind die US-Unternehmen AutoZone und Kmart . Beide Aktien haben sich nach seinem Einstieg phänomenal entwickelt.

      Gerade im Falle des Autozulieferers AutoZone machen sich nun jedoch Abnutzungserscheinungen bemerkbar. Nach Ansicht vieler Marktbeobachter ist die Gesellschaft geradezu ausgelaugt, die Aktie hat schon wieder einen steilen Abwärtskurs eingeschlagen.

      Die Rendite stimmt

      Ob ein Engagement von Edward Lampert als Großaktionär für ein Unternehmen nun ein Segen ist oder nicht, für seine Hedgefonds-Anleger hat es sich bislang rentiert. Im langfristigen Vergleich haben die von ESL gemanagten Fonds eine doppelt so hohe Rendite erzielt wie der S&P 500.

      Lampert selber profitiert ebenfalls ordentlich. Sein Jahresgehalt von 420 Millionen Dollar weckt Begehrlichkeiten. Im Januar vergangenen Jahres wurde der Hedgefonds-Manager gekidnapped. Seine Peiniger ließen ihn nach zwei Tagen frei - nachdem er ihnen ein Lösegeld von 40.000 Dollar versprochen hat. Der Mann weiß zu handeln.


      Steven Cohen, der Monstertrader

      Steven Cohen gehört zu den mächtigsten und gleichzeitig unbekanntesten Strippenziehern der Wall Street. Kaum jemand bewegt so viel Geld, handelt so intensiv mit Informationen und Finanzinstrumenten - und bleibt dennoch außerhalb des Rampenlichts.

      An guten Tagen verantworten die Mannen seiner Firma SAC Capital Advisors rund 3 Prozent des gesamten Nyse- und 1 Prozent des Nasdaq-Handels. Da weht kein frischer Wind durch das Depot, da wirbelt ein Tornado durch das Portfolio. So kann es auch passieren, dass eine Aktie innerhalb weniger Minuten erst gekauft, dann verkauft und schließlich doch wieder gekauft wird.

      Cohen selbst hat für seine aggressive Anlagestrategie den Begriff "information arbitrage" geprägt. Dahinter verbirgt sich ein rascher und kompromissloser Trader-Stil, bei dem jede noch so winzige und zeitlich begrenzte Information verarbeitet und sofort umgesetzt wird.

      Schnell, gut, sicher

      Bei Cohen wird deshalb nicht lange gefackelt, sondern schnell umgesetzt. Bedenkenträger sind im Hause SAC Capital Advisors fehl am Platz. Cohens Definition eines guten Händlers lautet: Der Trader "ist ganz und gar überzeugt von seinem eigenen besonderen Stil und offenbart eine absolute Überzeugung, wenn er handelt."

      Zahlreiche Wall-Street-Insider unterstellen Cohen jedoch eine ganz andere Anlagestrategie: Nicht Überzeugungstrader seien bei SAC am Werk, sondern Überredungshändler. Auf Grund der tausenden Trades, die im Auftrag von SAC täglich an der Wall Street abgewickelt werden, überweist der Hedgefonds stattliche Gebühren - bis zu 150 Millionen Dollar im Jahr - an die Handelshäuser und Investmentbanken der Wall Street. Im Gegenzug werde SAC als Erster mit den Informationen versorgt. In der Branche sind solche Freundschaftsdienste nicht gerne gesehen, SAC soll wegen seiner Marktmacht und Hartnäckigkeit in diesem Punkt aber besonders erfolgreich sein.

      Wer viel hat, gibt auch viel aus

      Wie auch immer Cohen - der sein Handwerk bei Gruntal & Co. gelernt hat - an seine Marktinformationen kommt, eines ist sicher: Sein Hedgefonds ist überdurchschnittlich schnell, flexibel und erfolgreich. In den vergangenen Jahren hat SAC durchschnittlich ein Plus von 18 Prozent erzielt. Hauptprofiteur war der Chef selbst: 2003 belief sich sein Einkommen auf geschätzte 350 Millionen Dollar.

      Mit dem vielen Geld unterstützen der Hedgefonds-Manager und seine Frau Alexandra gerne ihre eigene Stiftung oder spenden zweistellige Millionenbeträge der "Michael J. Fox Foundation" oder "Robin Hood Foundation". So ganz nebenbei beschäftigt sich der 48-Jährige nicht nur mit dem Sammeln von Informationen, sondern auch mit dem Sammeln von Kunst. Seit drei Jahren wird Cohen vom Branchenmagazin "ARTnews" in der Liste der zehn wichtigsten Kunstsammler weltweit geführt.


      Bruce Kovner, der Aufsteiger

      Das abgelaufene Jahr ist als eines der schlechtesten in die Geschichte von Bruce Kovners Caxton Associates eingegangen. Zwar konnte sich das Haus mit einem verwalteten Anlagevermögen von 11,5 Milliarden Dollar als weltweit größte Hedgefonds-Gesellschaft behaupten, allerdings enttäuschte die Wertsteigerung gewaltig: Ein mageres Plus von 8,1 Prozent stand am Jahresende unter dem Strich, die mieseste Performance seit zehn Jahren.

      Gut für Kovner, dass er vorsorglich seine Preisstruktur angepasst hatte. Die Managementgebühr wurde von 2 auf stolze 3 Prozent angehoben, von der Rendite werden jetzt statt 25 Prozent ganze 30 Prozent für die Manager abgezogen.

      Da bleibt auch in schwachen Börsenzeiten genügend hängen: 350 Millionen Dollar Einkommen für Kovner allein in 2003. Damit hat der 59-Jährige ein paar Plätze in der "Forbes"-Liste der reichsten Menschen der Welt gutgemacht. Auf der aktuellen Rangliste wird er mit einem Vermögen von 1,8 Milliarden Dollar auf Platz 310 geführt.

      Der Doktor-Titel blieb verwehrt

      Sein Weg an die Spitze war alles andere als einfach. Eine Schreibblockade wurde ihm als Student zum Verhängnis, von der Harvard-Universität wurde er nach vier erfolglosen Jahren als Ph.D.-Student zwangsexmatrikuliert.

      Danach schlug er sich als Taxifahrer und Berater der Republikanischen Partei durch. 1977 stieg er mit 3000 geliehenen Dollar in das Termingeschäft ein - von da an ging es steil bergauf.

      Kovners Anlagestrategie lebt von der Flexibilität: Seine Hedgefonds-Manager spekulieren mit Währungen, Futures, Wertpapieren - alles, was der Markt so hergibt. Hauptsache, die Rendite stimmt. Seit Gründung von Caxton Associates 1983 betrug die jährliche Steigerungsrate im Durchschnitt 30 Prozent.

      Geld für Gleichgesinnte

      Einen gewissen Bekanntheitsgrad hat Kovner in den USA als Gönner und Mäzen von konservativen Gruppierungen errungen. So hat er mit seinem Privatvermögen beim Aufbau der "New York Sun" mitgeholfen, zudem ist der Vater dreier Kinder Vorsitzender des "American Enterprise Institute". Und weil der Mensch nicht nur vom Brot allein lebt, hat Kovner zwei Millionen Dollar einem Bibelprojekt vom dem US-amerikanischen Künstler Barry Moser gestiftet.


      Paul Tudor Jones, der Robin Hood in New York

      In New Yorks Charity-Szene ist Paul Tudor Jones ebenso bekannt wie in der Finanzmeile. Der Hedgefonds-Manager hat bereits 1988 die "Robin Hood Foundation" mitgegründet, eine der bekanntesten und größten privaten Stiftungen in den USA.

      Neben Jones pumpen auch seine Kollegen Glenn Dubin und Peter Borish zweistellige Millionenbeträge in verschiedene Wohltätigkeitsprojekte, für die öffentliche Breitenwirkung sorgen Hollywood-Größen wie Robin Givens oder Gwyneth Paltrow.

      Kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hat Tudor Jones Showgrößen wie Paul McCartney, Mick Jagger, Billy Crystal und Meg Ryan zu einem Konzert in den Madison Square Garden eingeladen - rund 33 Millionen Dollar sind bei der Spendenaktion für die Opfer der Attentate gesammelt worden.

      Auch die Universität von Virginia, wo der 49-Jährige sein Wirtschaftsstudium abschloss, profitierte bereits von seiner Freigebigkeit: Fast 50 Millionen Dollar überwies Tudor Jones an die Einrichtung.

      Mit dem Crash fing alles an

      Woher kommt das ganze Geld? Sein 1986 aufgelegter Hedgefonds ist 1987 richtig in Schwung gekommen, als Tudor Jones den Börsencrash richtig vorhergesagt und mit seinen umfangreichen Leerpositionen einen respektablen Gewinn von über 200 Prozent eingefahren hat. Die jährliche Durchschnittsrendite des heute knapp vier Milliarden schweren Tudor BVI Global beträgt 26 Prozent.

      Dank einer 4-Prozent-Management- und 23-Prozent-Verwaltungsgebühr bleibt für Tudor Jones genügend übrig, rund 300 Millionen Dollar im vergangenen Jahr. Das Gesamtvolumen aller Hedgefonds, die von der Tudor Investment Corp. verwaltet werden, beträgt 7,8 Milliarden Dollar.


      Kenneth Griffin, das Wunderkind der Hedgefonds-Szene

      In seinem Wohnheimzimmer in Harvard begann Kenneth Griffin Ende der 80er Jahre eine der wundersamsten Börsenkarrieren. Als Student arbeitete er bereits an ersten Handelsmodellen für den Terminmarkt.



      Nach seinem BA-Abschluss übernahm der an der Wall Street als Wunderkind Gepriesene kurzfristig ein Wandelanleihen-Portfolio für die Glenwood Investment Corp. in Chicago. 1990 machte sich Griffin mit der Citadel Investment Group selbstständig.

      Schneller Erfolg

      Heute arbeiten für den 35-Jähringen 750 Mitarbeiter an fünf Standorten: Chicago, San Francisco, New York, London und Tokio. Sie verwalten ein Fondsvolumen von 9,5 Milliarden Dollar. Dabei sind sie äußerst erfolgreich: Mit seinem größten Fonds hat Citadel seit Anfang 1998 durchschnittlich 28 Prozent verdient, abzüglich der Managementgebühren.

      Nach eigenen Angaben sind die Citadel-Fondsmanager für 1 bis 2 Prozent der täglichen Handelsvolumen an der Börse in New York und Tokio verantwortlich. Dabei konzentrieren sich die Spezialisten nicht auf eine einzelne Strategie, sondern nutzen das gesamte Spektrum moderner Finanzinstrumente aus.

      Das Leben genießen

      Mit dem Börsenerfolg hat sich bei Griffin auch der private finanzielle Erfolg eingestellt. Allein 2003 haben seine Einkünfte rund 230 Millionen Dollar betragen. Mit diesem Polster kann er sich auch kostspieligere Hobbys leisten.

      Ebenso wie sein Hedgefonds-Kollege Steven Cohen wird auch Griffin in der "ARTnews"-Liste der zehn bedeutendsten Kunstsammler der Welt geführt. Erst vor wenigen Wochen kaufte er dem Casinomogul Stephen A. Wynn ein Selbstbildnis und ein Stilleben von Paul Cezanne ab - für den Schnäppchenpreis von angeblich 75 Millionen Dollar.

      Und wenn reiche Hedgefonds-Manager heiraten, dann lassen sie es richtig krachen. Vorigen Sommer gab Griffin seiner Frau auf Schloss Versailles das Jawort.


      Lukrative hintere Ränge, Plätze 9 bis 25

      Acht weitere Hedgefonds-Manager haben im Jahr 2003 laut "Institutional Investor" dreistellige Millioneneinkünfte eingefahren, aber auch auf den hinteren Rängen ist noch genügend übrig geblieben. Eine Übersicht:

      9. Daniel Och, 150 Millionen Dollar, Och-Ziff Capital
      10. Leon Cooperman, 145 Millionen Dollar, Omega Advisors
      11. Mark Kingdon, 135 Millionen Dollar, Kingdon Capital
      12. Israel Englander, 128 Millionen Dollar, Millennium Partners
      13. Marc Lasry, 125 Millionen Dollar, Avenue Capital
      14. D. Keith Campbell, 120 Millionen Dollar, Capbell & Co.
      15. Raymond Dalio, 110 Millionen Dollar, Bridgewater
      15. James Pallotta, 110 Millionen Dollar, Tudor Investment
      17. Luis Bacon, 100 Millionen Dollar, Moore Capital
      18. Richard Perry, 95 Millionen Dollar, Perry Capital
      18. Thomas Steyer, 95 Millionen Dollar, Farallon Capital
      20. Kenneth Tropin, 92 Millionen Dollar, Graham Capital
      21. Glenn Dubin, 80 Millionen Dollar, Highbridge Capital
      21. Henry Swieca, 80 Millionen Dollar, Highbridge Capital
      23. Stephen Feinberg, 75 Millionen Dollar, Cerberus Capital
      24. Jeffrey Gendell, 70 Millionen Dollar, Tontine Associates
      25. Seth Klarman, 65 Millionen Dollar, Baupost Group

      http://de.biz.yahoo.com/040819/330/46dsc.html

      __________________________________________________________
      Wer sich näher für die Strategien einiger der genannten Personen dieses Artikels(Bruce Kovner, Paul Trudor Jones) interessiert, dem empfehle ich die "Market-Wizards"-Bücher von Jack Schwager. In diesens, meiner Meinung nach äußerst interessanten Büchern, sind u.a. Interviews mit diesen und anderen äußerst erfolgreichen Marktteilnehmern.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 13.09.04 02:20:51
      Beitrag Nr. 239 ()
      Private Krankenzusatzversicherung: Die Tuecke liegt im Detail

      Von Biallo & Team

      Gesetzliche und private Krankenversicherungen ueberhaeufen
      derzeit Kassenmitglieder mit Angeboten, die gesunkenen Lei-
      stungen der gesetzlichen Krankenversicherung durch private
      Zusatzabsicherung auszugleichen. Ihr Argument: Einerseits
      koenne eine Zusatzpolice den Gesundheitsschutz in vielen Be-
      reichen wirkungsvoll aufbessern, andererseits geniessen Zu-
      satzversicherte die Annehmlichkeiten von Privatpatienten,
      ohne dabei auf die Vorteile der gesetzlichen Kasse verzichten
      zu muessen. Doch welcher Schutz ist wirklich sinnvoll, auf
      was sollten Interessenten achten?

      Private Krankenzusatzversicherungen gibt es in unterschied-
      licher Form und mit differierenden Leistungen. Meist sind
      verschiedene Bausteine waehlbar, die aufeinander aufbauen.
      Von Zusatzpolicen, die nur anteilige Kostenerstattung bei
      Zahnersatz beinhalten bis zu umfassenden Angeboten, die meh-
      rere medizinische Bereiche abdecken, reicht die Angebotspa-
      lette. Komplexere Krankenzusatzversicherungen bieten in der
      Regel Kostenerstattung bei Zahnersatz, Sehhilfen, Hoerge-
      raete, Heilpraktikerleistungen sowie Zuzahlungen zu Kur- und
      Krankenhausaufenthalten. Oft mit von der Partie ist die Aus-
      landsreisekrankenversicherung. Wer mehr Komfort geniessen
      moechte, der kann seinen Schutz um Chefarztbehandlung oder
      Unterbringung in Einbettzimmern bei einem Krankenhausaufent-
      halt erweitern.

      Kosten

      Die Beitraege sind sehr unterschiedlich. Sie richten sich
      nach der Hoehe und dem Umfang der gewaehlten Leistung sowie
      dem Eintrittsalter und dem Geschlecht des Versicherten. Ein-
      fachen Schutz mit geringen Leistungen gibt es bei manchen An-
      bietern, etwa der Victoria Versicherung, bereits ab fuenf
      Euro im Monat. Die Masse der Anbieter verlangt jedoch zehn
      bis zwanzig Euro. Moechte der Kunde umfangreichere und bes-
      sere Versorgung, beispielsweise Chefarztbehandlung oder hohe
      Erstattungen bei Zahnersatz, dann schnellt der Beitrag auf 30
      Euro und mehr im Monat hoch.

      Leistungen und Vertragstuecken

      Bei der Wahl der Zusatzversicherung kommt es sehr darauf an,
      auf was der Versicherte Wert legt. Brillentraeger duerften
      dabei auf moeglichst hohe Zuzahlungen bei Sehhilfen erpicht
      sein, Patienten mit schlechten Zaehnen eine moeglichst hohe
      Kostenerstattung bei Zahnersatz anstreben. Doch hier liegen
      die Tuecken im Detail. So entfaellt erst ab einer bestimmten
      Leistungshoehe der ab 2005 faellige Pflichtbeitrag fuer Zahn-
      ersatz in der Pflichtversicherung. Nicola Heidrich von der
      Envivas Krankenversicherung empfiehlt daher, "auf Zusatzpoli-
      cen zu setzen, die den gesetzlichen Zahnersatz-Pflichtschutz
      ueberfluessig machen". In die gleiche Kerbe schlaegt Michael
      Katsoulis von der Deutschen Vermoegensberatung. Um nicht ab
      kommendem Jahr doppelt zahlen zu muessen, raet der Versiche-
      rungsexperte zu "befreienden Zahnzusatzversicherungen". Sol-
      che Policen erstatten wenigstens 50 Prozent der Zahnarzt-
      kosten und machen, laut Katsoulis, "den gesetzlichen Pflicht-
      beitrag hinfaellig". Da der Gesetzgeber jedoch keine exakten
      Angaben darueber macht, wie hoch die Erstattung prozentual
      sein muss, raet Thomas Neumann vom Bundesgesundheitsministe-
      rium dazu, "sicherheitshalber einen Passus aus dem Sozialge-
      setzbuch V in den Vertrag einzuarbeiten". Danach sollte die
      Zusatzversicherung "in Art und Umfang mindestens die gesetz-
      liche Kassenleistung abdecken", nur dann entfaellt ganz si-
      cher der Pflichtbeitrag, so Neumann. Positiv: Die Kosten fuer
      die private Zahnpolice sind nur geringfuegig teurer als die
      acht bis 12 Euro, die derzeit bei den gesetzlichen Kassen
      fuer Zahnersatz im Gespraech sind. So zahlt ein 30-jaehriger
      Mann bei der Nuernberger Versicherung nur gut 13 Euro und ge-
      niesst dafuer zugleich den Status eines Privatpatienten.

      Guenstige Heilpraktikerleistungen

      Mit dem Abschluss einer privaten Krankenzusatzversicherung
      laesst sich das Spektrum der Gesundheitsvorsorge deutlich er-
      weitern. Besonders guenstig ist die Kostenuebernahme von
      Heilpraktikerleistungen und alternativer Medizin, die Kassen-
      patienten ansonsten aus eigener Tasche zahlen muessen. Die
      Dresdner Heilpraktikerin Eleonore Faulian sieht in der Kran-
      kenzusatzversicherung denn auch eine echte Chance, dass "Men-
      schen, die mit ihren Beschwerden beim Hausarzt nicht weiter
      kommen, sich kostenguenstig alternativ Behandeln lassen koen-
      nen". Akupunktur, Irisdiagnostik oder Bioresonanztherapie er-
      weitern nach Ansicht der Expertin die Grenzen der Schuldmedi-
      zin und fuehren oft "zu sehr positiven Heilerfolgen".

      Vorteil: Die Kostenerstattung von Heilpraktikerleistungen ist
      je nach Zusatzversicherung recht hoch. Von 500 bis 1.000 Euro
      im Jahr reicht die Palette der Angebote, Arzneimittel einge-
      schlossen. Bei fuenf bis sechs Praxisbesuchen im Jahr hat
      sich die Zusatzpolice praktisch schon amortisiert. Nach Er-
      fahrungen von Heilpraktikerin Faulian ist es sinnvoll "die
      Kostenerstattung eher im oberen Bereich zu waehlen", da die
      "komplexen gesundheitlichen Probleme vieler Patienten nur
      selten mit zwei oder drei Praxisbesuchen geloest werden koen-
      nen". Kleiner Wermutstropfen: Viele Anbieter verlangen einen
      Selbstbehalt von 20 oder 30 Prozent. Wer oefter zum Heilprak-
      tiker geht, dem empfiehlt Faulian die niedrigere Eigenbetei-
      ligung vorziehen.



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 20.09.04 14:38:43
      Beitrag Nr. 240 ()
      Sterntaler in New York

      Von Thomas Hillenbrand, New York

      Es war einmal ein kleines Unternehmen namens Travelzoo.com, das schenkte den Besuchern seiner Webseite 700.000 scheinbar wertlose Aktien. Jetzt fällt Geld vom Himmel. Ein Dotcom-Märchen


      Webseite Travelzoo: Weniger wert als gebrauchte Rabattmarken
      New York - Es gab eine Zeit, da taten Internet-Unternehmen alles, um Websurfer auf ihre Seiten zu locken. Sie boten Gutscheine. Nackte Mädels. Oder Aktien. Pionier der Gratisaktie war seinerzeit Travelzoo.com. Die Tourismusseite schenkte jedem, der ihren Newsletter abonnierte, drei Aktien. Wer weitere Interessenten köderte, konnte bis zu zehn Travelzoo-Anteilsscheine umsonst bekommen.

      Es war eine hübsche PR-Aktion, die sich der deutsche Travelzoo-Gründer Ralph Bartel damals ausgedacht hatte. Die Surfer kamen in Scharen und alle großen Blätter, darunter die "New York Times" und das "Wall Street Journal" druckten die Geschichte - wenn auch meist mit einem negativen Tenor. Travelzoos Massenbeschenkung galt vielen als Beweis dafür, dass die junge Internet-Branche inzwischen völlig durchgeknallt war (dabei wurde es später noch viel schlimmer). Auch das "Handelsblatt" witterte Verrat: "Die Angebote", meckerte die Zeitung, "riechen nach Bauernfängerei."

      www.mumpitz.com

      Das Misstrauen war durchaus berechtigt. Weder Travelzoo noch ein anderes Unternehmen, das so genannte Aktien verschenkte, notierte seinerzeit an der Börse, die Papiere waren folglich nichts wert. Für das zweifelhafte Privileg, Shareholder einer drittklassigen Internet-Firma sein zu dürfen, hatten die Beschenkten im Gegenzug ihre persönlichen Daten herausrücken müssen. Das sah nach einem ungleichen Tauschgeschäft aus. Auch gab es Ärger mit der US-Börsenaufsicht SEC. Die störte sich an dem ihrer Ansicht nach irreführenden Begriff "Aktie".

      Dennoch versicherte Travelzoo seinen Aktionären, ganz im träumerischen Stil der Zeit, dass große Reichtümer auf sie warteten. Im Kapitel Frage-und-Antwort der Webseite wurde auch der Wert der Anteilsscheine diskutiert. Das Unternehmen wies darauf hin, dass die beliebtesten Websites im Internet "1.000.000.000 Dollar oder mehr" wert seien. "Travelzoo ist keine von ihnen", kommentierte das Börsenmagazin "Barrons" damals trocken.

      Auch in den kommenden Jahren wurde aus Travelzoo kein Amazon und auch kein Yahoo!. Nicht einmal innerhalb des Universums der Reiseseiten wurde das Unternehmen eine bekannte Marke; wer in den USA Flüge oder Hotels bucht, klickt eher zu Expedia, Orbitz oder Hotels.com. Travelzoo listet hingegen lediglich die Werbeangebote von Fluggesellschaften oder Autoverleihen auf. Und so geriet die ganze Sache schnell in Vergessenheit. Es schien sinnvoller, abgelaufene Rabattmarken aufzubewahren denn Travelzoo-Aktien. Erstere besitzen zumindest einen - wenn auch geringen - Materialwert.

      www.spaetzuender.com

      Mit einer an Starrsinn grenzenden Zielstrebigkeit machte Vorstandschef Bartel nach dem Platzen der Dotcom-Blase weiter. Zunächst verlegte Travelzoo seinen Firmensitz von den Bahamas nach Delaware. Dann brachte der studierte Journalist sein Unternehmen im August 2002 an den so genannten OTC-Markt der Börse. Das ist das Wall Streetsche Pendant zu Rudis Resterampe, aber immerhin. Anfang 2004 erreichte Bartel dann sein Ziel: Nicht zuletzt dank eines soliden Geschäfts und schwarzer Zahlen gelang Travelzoo im Januar der Wechsel an die Wachstumsbörse Nasdaq.

      Seit dem Börsengang 2002 hatten Travelzoos Gratisaktionäre zwei Jahre Zeit, ihre Alt-Anteile in richtige Aktien zu konvertieren. Nur wenige nahmen das Angebot wahr, die meisten hatten vermutlich bereits vor Jahren die Hoffnung aufgegeben. Schade eigentlich: Am Tag der Erstnotierung an der Nasdaq kostete das Papier mit dem Kürzel TZOO 8,65 Dollar. Wer viereinhalb Jahre zuvor die maximale Stückzahl von zehn Aktien abgegriffen hatte, bekam somit 86,50 Dollar geschenkt. Nicht die Welt, aber immerhin ein flottes Abendessen zu zweit. Und umso beachtenswerter, als man an der Wall Street für gewöhnlich nichts geschenkt bekommt - außer zweitklassigen Analystenberichten, wenn einem der Broker eine angeblich sensationelle Aktie andrehen will.

      www.kursgranate.com

      Aber der wahrhaft märchenhafte Teil der Geschichte kommt erst noch.

      Ende April 2004 setzte bei Travelzoo die Schwerkraft aus. Binnen eines Monats stieg die Aktie um 224 Prozent auf 22,56 Dollar. Anfang Juni kletterte der Preis auf den bisherigen Höchststand von 27,25 Dollar. Warum, weiß keiner so genau. Gerüchte über eine Übernahme oder einen bevorstehenden Riesendeal gibt es nicht. Auch das Unternehmen hat nach eigenen Angaben keine Ahnung, warum die Aktie durch die Decke geht.

      Ein Rücksturz zur Erde scheint unausweichlich. Irgendwann wird den Börsianern auffallen, dass eine werbelastige Reiseseite mit ein paar Millionen Abonnenten keine 350 Millionen Dollar wert ist. Der Kurs bröckelt bereits wieder. Bis auf weiteres können sich die Aktionäre von einst jedoch freuen. Am Freitag waren zehn Travelzoo-Aktien 179,90 Dollar wert. Bartel sieht die Entwicklung einer Unternehmensmitteilung zufolge mit gemischten Gefühlen: "Wir glauben nicht, dass es im Interesse unseres Unternehmens oder unserer Aktionäre ist, wenn Handel auf Basis unfundierter Gerüchte ... stattfindet." Na ja. Für den Mehrheitsaktionär ist mit ein paar Jahren Verspätung der Traum jedes Dotcom-Gründers wahr geworden. Mit einem Aktienpaket im Wert von über 240 Millionen Dollar ist der Deutsche nun märchenhaft reich.

      http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,305018,00.html

      Aktueller Kurs von TZOO: ca. 72Dollar! :eek:
      Avatar
      schrieb am 27.09.04 00:30:40
      Beitrag Nr. 241 ()
      :rolleyes:

      Der neue Partyspass

      Von Dr. Bernd Niquet

      Was glauben Sie denn, wie es wirtschaftlich in der naechsten
      Zeit weitergehen wird? Ich muss dabei immer an ein altes Lied
      von Erika Pluhar denken in dem sie singt: "Weisst du, ich
      glaube an das, was ich mir wuensche ..." Und geht es uns al-
      len nicht ebenso? Es geht ja auch gar nicht anders! Denn da
      wir nicht in die Zukunft schauen koennen, also kein objekti-
      ves Bild der Zukunft gewinnen koennen, sondern immer nur ein
      subjektives, glauben wir natuerlich auch immer an das, was
      wir uns wuenschen. Oder eben an das, was wir fuerchten, was
      letztlich jedoch das Gleiche ist, denn in diesem Fall wuen-
      schen wir uns eben einfach die Angst.

      Partygespraeche in wirtschaftlich interessierten Kreisen dre-
      hen sich heutzutage fast alle um ein Thema. Es ist beinahe
      wieder so wie 1998 und 1999 als der Hoehenflug des Neuen
      Marktes das alles beherrschende Gespraechsthema war, ueber
      das jeder eine Meinung hatte, die allerdings von derjenigen
      des Nebenmannes in keiner Weise abwich.

      Das, was damals der Neue Markt war, ist heute das US-amerika-
      nische Leistungsbilanzdefizit. Genauso wie damals alle der
      gleichen Meinung waren, nun ploetzlich reich zu werden, sind
      jetzt alle der gleichen Meinung, dass die USA nunmehr ploetz-
      lich richtig arm werden. Und genauso wie damals lauter Leute,
      die noch vorher nicht die geringste Ahnung hatten, was eine
      Aktie ist, staendig Expertenwissen von sich gaben, so sind es
      heute diejenigen, die sich noch niemals mit der Saldenmecha-
      nik der aussenwirtschaftlichen Bilanzstatistiken vertraut ge-
      macht haben.

      "Die USA benoetigen inzwischen ja rund 2 Mrd. USD pro Werk-
      tag, um ihr Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren", schrieben
      neulich die Kolumnisten von „Das Kapital“ in der FTD. Und
      mein Freund Bill Bonner wird noch direkter: "Die Amerikaner
      werden Tag fuer Tag um 2 Milliarden Dollar aermer. Wer er-
      waehnt das ueberhaupt? Die Amerikaner absorbieren jetzt 80 %
      der Ersparnisse der gesamten Welt – nicht um eine gewinnbrin-
      gende Volkswirtschaft aufzubauen, sondern alleine um das ak-
      tuelle Konsumniveau zu halten. Wer warnt sie?"

      Dass jedes Defizit bei seinem Entstehen bereits finanziert
      ist – und deswegen nicht hinterher erst finanziert werden
      muss, habe ich schon oft geschrieben. Doch was ist mit dem
      Argument des Aermer-Werdens, der Absorbierung von Ersparnis
      und dem Ueberkonsum?

      Heutzutage reden alle Leute unentwegt von der Globalisierung,
      in ihren Koepfen tragen Sie jedoch weiterhin die alten anti-
      quierten nationalstaatlichen Konzepte des vorletzten Jahrhun-
      derts. Nehmen wir einmal an, Chelsea London oder Arsenal Lon-
      don gewinnen dieses Jahr die Champions League – mit einer
      Mannschaft, in der kein einziger Englaender steht. Ist das
      dann ein Triumph der Briten oder eine Schmach? Man kann die
      Frage lange hin und her wenden. Sie scheint keinen rechten
      Sinn mehr zu ergeben. Und was ist mit den nationalen oekono-
      mischen Konzepten? Die besten Wissenschaftler der Welt arbei-
      ten in den USA. Ist das nun eine Staerkung der USA oder viel-
      mehr eine Schmach?

      Die US-Amerikaner absorbieren die Ersparnis der Welt. Sie
      konsumieren mehr als sie verdienen. Ja, um Gottes Willen, wer
      soll den sonst die ganzen Gueter konsumieren, die in China
      und Europa hergestellt werden? Es ist doch wohl eher so, dass
      die USA ohne ihre Importe ganz gut weiter leben koennten.
      Doch wenn uns superschlauen Deutschen die Exporte wegbleiben
      wuerde, dann gaebe es hierzulande kein Gerede mehr ueber das
      US-Leistungsbilanzdefizit. Weil dann hier das Licht ausgehen
      wuerde.

      Es passt also alles irgendwie gut zusammen. Die fleissigen
      Geizhaelse in Europa und Asien produzieren mehr als sie kon-
      sumieren, und die Sonnenanbeter in den USA machen genau das
      Gegenteil. So what? Und dafuer gehoeren nun zunehmende Teile
      der US-Aktiva Asiaten und Europaeern. Wen sollte das eigent-
      lich stoeren? DaimlerChrysler beispielsweise zahlt jeden Mo-
      nat millionenfach mehr Loehne als man Lohneinnahmen hat.
      DaimlerChysler hat also ein Lohnbilanzsaldodefizit. Spiegel-
      bildlich dazu gehoeren der Belegschaft zunehmende Anteile an
      dem Unternehmen. Und? Ist das nicht eine gesunde Struktur?
      Wird davon tatsaechlich die Welt untergehen?

      Also, wenn ich einen Weltuntergang erfinden muesste, dann
      wuerde ich mir nicht solche dummen Geschichten wie Leistungs-
      bilanzdefizite einfallen lassen. Da wuerde ich mehr Phantasie
      walten lassen. Eine Atombombe vom Iran beispielsweise. Aber
      nein, darueber darf man hierzulande ja nicht sprechen. Denn
      Diktatoren sind ja immer stabiler als die Freiheit, siehe
      Irak. Diktatoren sind fast so stabil wie das US-amerikanische
      Leistungsbilanzdefizit.
      Avatar
      schrieb am 03.10.04 19:37:30
      Beitrag Nr. 242 ()
      Fruchtzwerge:laugh::laugh:

      Von Dr. Bernd Niquet

      "Die herrschende liberale Wirtschaftstheorie erklaert unser
      Wirtschaftsgeschehen in der Hauptsache durch den Begriff der
      "Konsumentensouveraenitaet". Danach entscheiden die Konsumen-
      ten nach ihren individuellen Nutzenvorstellungen, welche Gue-
      ter und Dienstleistungen sie gerne konsumieren moechten – und
      die Unternehmen produzieren diese schliesslich. Es sind also
      die Haushalte, die das Wirtschaftsgeschehenen sowie die Pro-
      duktpalette letztlich bestimmen.

      Die Wirklichkeit sieht indes anders aus – nahezu diametral
      entgegengesetzt sogar. Denn hier sind es die Unternehmen, die
      stets neue Produkte kreieren – und damit erst die entspre-
      chenden Nutzenvorstellungen der Haushalte in die Welt brin-
      gen. Sind die Unternehmen dabei erfolgreich, Einfluss auf die
      Konsumenten zu nehmen, dann laeuft die Wirtschaft gut. Sind
      sie es hingegen nicht, dann haben wir es mit einer Stagnation
      zu tun.

      Ganz besonders gut gelingt es der Industrie, Beduerfnisse bei
      Kindern und Jugendlichen zu wecken. Das hoert bei der
      Playstation auf – und ist damit durchaus ein wichtiger Faktor
      der gesamten Innovation und Produktivitaet einer Volkswirt-
      schaft. Es beginnt jedoch viel frueher: zum Beispiel bei den
      Fruchtzwergen.

      Bei uns:eek: im Kindergarten ist dies in jedem Spaetsommer, wenn
      neue Kinder aufgenommen werden, ein wichtiges Thema. Die Kin-
      der sollen so einen Mist nicht essen, sagen die Kindergaert-
      nerinnen, denn die Fruchtzwerge sind viel zu suess und damit
      in vieler Hinsicht schaedlich fuer das Wohlergehen von Heran-
      wachsenden. Die Industrie bietet hier systematisch Produkte
      mit hohen Folgekosten (die dann allerdings bei anderen Wirt-
      schaftszweigen als Zukunftsertraege anfallen) an, weil sie
      genau wissen, dass sie damit die Nutzenvorstellungen von Kin-
      dern tangieren koennen. Und nebenbei tun sie durch die damit
      in Gang gesetzten Multiplikatoreffekte auch noch etwas fuer
      das Gesamtwachstum der Wirtschaft, hauptsaechlich fuer die
      Gesundheitsindustrie.

      Gleichzeitig werden dabei auch die gesellschaftlichen Unter-
      schiede visionalisiert, wie man das bereits in den USA gut
      beobachten kann: Wer intelligent, interessiert, gut ausgebil-
      det und wohlhabend ist, bleibt schlank, wohingegen die Unter-
      schicht unsagbar fett wird. Mit Whopperbaeuchen und Frucht-
      zwergenaerschen schon im Kindesalter. So etwas geht ein Leben
      lang nicht mehr weg und wird damit sogar gleichsam zum
      virtuellen Erbgut.

      So weit, so beschissen:confused:. Und betrachtet man die Welt durch ein
      extrem zuckerhaltiges Joghurtglas, dann merkt man sofort,
      dass unsere Politiker in Wirklichkeit auch nichts anderes als
      Fruchtzwerge sind. Wenn sie uns eigentlich etwas Saures prae-
      sentieren muessten, dann ueberzuckern sie es dennoch so, dass
      die Folgekosten in der Zukunft viel, viel hoeher sind als die
      Einsparungen in der Gegenwart.

      Und hier begegnen sich die Marktwirtschaft und die Demokratie
      in ein und dem selben Defekt: Denn wie soll man den Menschen
      etwas Vernuenftiges und Zukunftstaugliches servieren, wenn
      der Nachbar sich stets dadurch beliebt machen kann, anstelle
      dessen lieber einen zuckersuessen Fruchtwerg aus der Zwergen-
      tasche zu ziehen?!"



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 05.10.04 09:27:07
      Beitrag Nr. 243 ()
      Der Artikel #241 ist gut, #242 ist noch besser :)
      Avatar
      schrieb am 05.10.04 12:11:37
      Beitrag Nr. 244 ()
      Was bringt Kyoto wirklich?

      Das Klima-Abkommen von Kyoto gilt als umweltpolitisches Moral- und Prestige-Projekt höchster Güte. Was aber taugt das Protokoll tatsächlich? Skeptiker sprechen noch immer von einem Multimilliarden-Euro-Leerlauf

      von Dirk Maxeiner

      Die russische Regierung hat sich bereit erklärt, das Kyoto-Protokoll zu unterzeichnen und nach der wahrscheinlichen Zustimmung des Parlaments zu einem völkerrechtlich bindenden Instrument werden zu lassen. Laut der Vereinbarung wollten die Industrieländer den Ausstoß von Kohlendioxid bis zum Jahre 2012 um etwa fünf Prozent unter die Werte von 1990 senken. Bundeskanzler Schröder und Jürgen Trittin begrüßen den Durchbruch. Die EU-Kommission bezeichnete den Schritt "als großen Erfolg im Kampf gegen den Klimawandel." Doch hat das mit der Wirklichkeit wenig zu tun: Das Kyoto-Protokoll hat zwar einen großen symbolischen, aber fast keinen praktischen Einfluss auf das Klimageschehen.


      Dafür genügt bereits ein Blick in die jüngste Klima-Veröffentlichung des Bundesforschungsministeriums mit dem Titel "Herausforderung Klimawandel". Darin stellt der "Sachverständigenkreis globale Umweltaspekte" fest: "Die Auswirkungen des Kyoto-Protokolls sind nur vereinzelt hochgerechnet worden. Danach scheint die im Kyoto-Protokoll vorgesehene Reduktion der Treibhausgas-Emissionen der Industrieländer nur einen geringen Effekt auf die Temperaturentwicklung zu haben. Auf der Zeitskala bis 2050 ist sogar durch das Kyoto-Protokoll keinerlei Veränderung gegenüber dem "business-as-usual-Szenario´ zu erkennen." Der ausgewiesene amerikanische Klimawarner Tom Wigley hat zumindest den Versuch unternommen zu kalkulierten, welche Auswirkungen es haben würde, wenn sich tatsächlich alle Industrieländer (inklusive der USA) an das Regulierungswerk halten würden. Einmal unterstellt, die derzeitigen Klimamodelle rechnen richtig, ergäbe sich laut Wigley für das Jahr 2050 eine Verminderung des Temperaturanstiegs um 0,07 Grad. Dies liegt unterhalb der praktischen Nachweisbarkeit


      Richard E. Benedick, unter Präsident Ronald Reagan einer der Architekten des Montrealabkommens zum Verbot der ozonschädigenden FCKW-Stoffe, ist auch einer der Initiatoren des Kyoto-Protokolls und einer der Gründungsväter des UN-Klimarates IPCC. Heute sieht er den Kyoto-Ansatz äußerst skeptisch: Das Protokoll ist seiner Ansicht nach ein Irrweg, weil es viel zu kompliziert und bürokratisch ist und die rasant wachsenden Schwellenländer wie China und Indien nicht in die Reduktionsverpflichtung einbezieht. China ist heute bereits der zweitgrößte Kohlendioxid-Emittent der Welt und wird die USA bald überholen. Benedick glaubt deshalb, dass die USA mit ihrem Hinweis auf wissenschaftliche Unsicherheiten der Klimaforschung lediglich eine schlechte Begründung für ihren Ausstieg lieferten: "Sie haben das Richtige aus den falschen Gründen getan."


      Das dänische "Environmental Assessment Institute" in Kopenhagen lud kürzlich acht führende internationale Ökonomen, darunter drei Nobelpreisträger, ein, um eine Kosten-Nutzen-Analyse der Maßnamen vorzunehmen, die gegen globale Probleme wie Armut und Umweltzerstörung vorgeschlagen werden. Das Kyoto-Protokoll landete ganz hinten, ausdrücklich als "bad project". Dabei wollten die Ökonomen die Klimafrage gar nicht verharmlosen. Sie kamen lediglich zu dem Schluss: Das Kyoto-Protokoll kostet Unsummen, hat aber keine messbare Auswirkung auf die Globaltemperatur. Die Kosten/Nutzen-Analyse fiel entsprechend aus.

      Bjørn Lomborg, Leiter des "Environmental Assessment Institute", schätzt die jährlichen Kosten des Kyoto-Protokolls auf 160 bis 350 Milliarden Euro. Das entspricht dem drei- bis siebenfachen der gesamten Entwicklungshilfe weltweit. Lomborg fragt: "Wollen die Industriestaaten den Ländern der Dritten Welt ineffizient helfen, indem sie Milliarden in die Treibhausgas-Verringerung hineinstecken - oder wollen sie in die wirtschaftliche Entwicklung investieren, damit sich diese Länder in 50 oder 100 Jahren selber der Klimafolgen erwehren können?" Geld kann nur einmal ausgegeben werden. Eine gegen die Armut gerichtete Strategie funktioniert auch dann, wenn Klima-Umschwünge wie in der Vergangenheit nicht vom Menschen gemacht, sondern schlicht Schicksal sind. Und nur mit wachsendem Wohlstand können sich arme Länder effizientere Energietechnologien leisten.


      Ob das Inkraftreten der Vereinbarung, wie von den Befürwortern erhofft, ein Einstieg in weitere Reduktionsvereinbarungen sein wird, kann derzeit niemand voraussagen. Kritiker führen an, dass der ganze methodische Ansatz langfristig kontraproduktiv sei, weil er den Volkswirtschaften durch den Entzug enormer Summen Dynamik raubt. "Der bisherige, teilweise fragile Konsens über die Realität des Klimawandels und die daraus abzuleitenden Handlungsnotwendigkeiten führen nicht nur in eine Sackgasse", schriebt der mit den gesellschaftlichen Aspekten der Klimapolitik befasste Soziologe Nico Stehr in dieser Zeitung, "sie verhindern zudem intelligente Forschungsprogramme, und vermindern die Chancen der Gesellschaft, sich an Klimabedingungen aktiv anzupassen." Die Verbesserung der Lebensqualität, Verringerung sozialer Ungleichheit und mehr politischer Teilhabe erleichtert nach dieser Denkschule nicht nur die Anpassung an Klimaveränderungen, sie befördert auch schneller Innovationen und Forschungsvorhaben. Technische Lösungen für das Kohlendioxidproblem wären in diesem Szenario rascher und billiger erreichbar.


      Auch Hans von Storch, ein renommierter deutscher Klimaforscher, der von der Realität des menschengemachten Treibhauseffektes überzeugt ist, zweifelt an der Sinnhaftigkeit der derzeitigen Politik: "Sollen wir Unsummen für eine CO2-Reduktion ausgeben, damit der Wasserstand in Bangladesh in 100 Jahren um zehn Zentimeter weniger ansteigt - oder helfen wir den Menschen dort wirkungsvoller, indem wir ihnen heute Schutzbauten finanzieren?" Viel Gehör finden solche Positionen allerdings nicht, da es für die Europäer auch um die moralische Lufthoheit geht. Von Storch: "Bislang wird jede Forderung, sich an den Klimawandel anzupassen, verteufelt oder als unmoralisch dargestellt. Unterschwellig wird unterstellt, dass man das Böse einfach hinnimmt oder den Klimawandel sogar gut findet. Doch mir geht es um den rationalen Umgang mit etwas Unausweichlichem. Wir müssen den Menschen die Angst vor der Klimaveränderung nehmen."


      Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt auch der zitierte Sachverständigenkreis des deutschen Forschungsministeriums: "Bisher wurde die Debatte auf die Verminderung von Emissionen fokussiert, während der Aspekt der Anpassung kaum thematisiert wurde. Die bisherige pauschale Annahme, dass Klimaänderungen "negativ´ zu sehen seien, sollte durch eine vorurteilsfreie Sicht ersetzt werden, da es nicht um "gut´ und "schlecht´ geht, sondern darum, wie mit dem, was da kommt, rational umgegangen wird."


      Doch die Chancen dafür stehen nicht gut. Das Kyoto-Protokoll sieht beispielsweise vor, nicht nur den C02-Ausstoss durch Schlote oder Auspuffrohre anzurechnen, sondern in einem gewissen Umfang auch dessen Absorption, beispielsweise durch Wälder. Und hier kommen die ausgedehnten russischen Wälder ins Spiel. Doch die Frage lautet: Welcher Art Wald absorbiert wann, wo, wie viel und wie lange Kohlendioxid? Je nachdem, wann und wo und unter welchen Bedingungen Wälder wachsen, können sie große Mengen Kohlendioxid schlucken oder sogar ausspucken. Das angesehene internationale Forschungsinstitut für Systemanalyse in Laxenburg bei Wien ist schon im Jahr 2000 bei dem Versuch gescheitert, eine seriöse Kohlenstoffbilanz der Biosphäre Russlands aufzustellen. Die Unsicherheiten seien einfach zu groß, das Protokoll von Kyoto unkontrollierbar und undurchführbar.


      Doch die Europäer sind entschlossen das politisch-moralische Prestigeobjekt Kyoto zu retten, koste es was es wolle. "Es gibt nur zwei ernsthafte Anbieter von Quoten, Russland und die Ukraine", sagte der Wissenschaftler Viktor Danilow-Daniljan. Durch die Stilllegung von Betrieben aus der Sowjetzeit ging der Emissionsausstoß teilweise stark zurück. Russische Kyoto-Befürworter erwarten für das Land bis zu 20 Milliarden Dollar Einnahmen durch den Verkauf von Rechten zum Ausstoß der Treibhausgase. Diese Zeche werden dann die Verbraucher anderer Länder zahlen, ohne dass bei dem Luftgeschäft auch nur eine Tonne Kohlendioxid eingespart wird. Dem Klima ist das alles herzlich egal.


      http://www.welt.de/data/2004/10/02/340683.html?s=1
      Avatar
      schrieb am 05.10.04 12:42:44
      Beitrag Nr. 245 ()
      @tt

      ich fürchte, Bernd muß Insolvenz anmelden:laugh::laugh:
      Avatar
      schrieb am 07.10.04 11:15:39
      !
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      Avatar
      schrieb am 10.10.04 22:22:55
      Beitrag Nr. 247 ()
      Interessant:rolleyes:


      Der Einfluss des Einzelnen

      Von Dr. Bernd Niquet

      Manche Dinge halten wir fuer so selbstverstaendlich, dass wir
      niemals auf die Idee kommen, sie in irgend einer Weise zu
      hinterfragen. Nein, heute moechte ich ausnahmsweise einmal
      nicht ueber die diversen Crash-Prognosen und das US-Leis-
      tungsbilanzdefizit schreiben. Obwohl das natuerlich treff-
      liche Beispiele sind, denn hier wird stets eine Entwicklung
      aufgezeigt, die, wenn man sich nur auf diese Elemente kon-
      zentriert, beinahe zwangslaeufig eintreten muss. Und ein
      Zweifel daran ist innerhalb dieses Denksystems unmoeglich.
      Dazu muesste man heraustreten und es in Gaenze von aussen
      besehen.

      Oft bekomme ich Mails, in denen Leser sich enttaeuscht darue-
      ber aeussern, dass man in der Politik und auch anderswo ja
      sowieso nichts aendern koenne. Und auch mir geht das natuer-
      lich oft so. Man fuehlt sich voellig machtlos, man kann sagen
      und tun, was man will, es aendert sich ja sowieso nichts.
      Mein Buch "Keine Angst vorm naechsten Crash" wird von der
      These durchzogen: Heutzutage kann zwar jeder alles sagen,
      doch es hoert niemand mehr zu. Doch das ist natuerlich nur
      die eine Seite der Medaille.

      Von Groucho Marx stammt der schoene Spruch: Ich wuerde keinem
      Club beitreten, der jemanden wie mich als Mitglied aufnimmt.
      Packt man nun diese beiden Dinge zusammen, dann kommt man
      ploetzlich zu einer ganz anderen Weltsicht, die da in etwa
      lautet: Wenn tatsaechlich jeder jedem zuhoeren wuerde, wo
      wuerden wir denn dann hinkommen? Ich habe auch schon die Ant-
      wort: Dann kommen wir ins Internet – wo alles so lange durch
      die Muehle von fuer den Unbeteiligten nicht mehr nachvoll-
      ziehbaren individuellen Wahrnehmungen gedreht wird, bis nur
      noch weisses Rauschen uebrig bleibt.

      Der Schriftsteller Umberto Eco hat die Sorge geaeussert, dass
      dieser Prozess und das Internet unsere Kommunikation unter-
      einander letztlich nicht befoerdern, sondern eher erschweren
      bis unmoeglich machen wird. Weil jeder jetzt in seiner eige-
      nen Wahrheit lebt. Jeder hat seine eigene Enzyklopaedie, sagt
      Eco. Nicht nur die Christen, die Moslems und alle anderen
      Religionen – sondern sogar du und ich!

      Wenn in einem Volk von 80 Millionen Menschen jeder jedem zu-
      hoeren wuerde, dann muessten wir, selbst wenn wir nur jeweils
      einen Satz austauschen, alle bis weit nach unserem Tod nur
      noch reden. Und koennten nichts mehr machen. (Was anderer-
      seits natuerlich vielleicht die Rettung waere.)

      Und noch schlimmer: Wenn jeder dieser 80 Millionen entschei-
      denden Einfluss auf die gesellschaftlichen Entscheidungen
      nehmen koennte, wo wuerden wir dann um Gottes Willen hinkom-
      men? Auch hier habe ich eine Idee – und es ist die gleiche
      wie beim Reichwerden. Wenn alle reich werden koennten, dann
      waere es keiner mehr. Wenn jeder einen Einfluss auf die Ent-
      scheidungen hat, dann hat ihn keiner mehr. Wir brauchen also
      so etwas wie eine Buendelung.

      Der Markt ist ein ideales Gefaehrt fuer so etwas. Hier werden
      Millionen Entscheidungen in einem Preissignal gebuendelt.
      Kein einzelner Akteur kann einen signifikanten Einfluss auf
      die Preise nehmen, alle sind sogenannte "Preisnehmer" und
      "Mengenanpasser". Bis auf die Insider und die grossen
      Einfluesterer, die illegal – oder zumindest im Graubereich
      agierend – doch die Preise beeinflussen koennen.

      Das, was beim Markt verboten ist, ist in der Politik und in
      den Medien hingegen nicht nur erlaubt, sondern sogar er-
      wuenscht. Denn wuerden wir ueberall so orientierungslos da-
      hinvegetieren wie an den Maerkten, dann waere es nicht gut um
      uns bestellt.




      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 30.10.04 23:57:43
      Beitrag Nr. 248 ()
      Fand ich faszinierend...sollte man mal gelesen haben;)


      Der Papst der Wall Street

      John Slade ist 96 Jahre alt und arbeitet immer noch vier Tage in der Woche. Früher hieß er Hans Schlesinger. Doch dann kamen die Nazis, und der Jude mußte fliehen

      von Peter Herkenhoff

      Ein alter Mann sitzt in einem Großraumbüro, inmitten von Computern und knapp 300 jungen Männern. Er starrt auf einen Monitor, über den Börsenkurse und Finanznachrichten laufen, so wie auch bei den anderen. Mit einem Unterschied: Die Schrift auf dem Monitor des alten Mannes ist größer. John Slade sieht nicht mehr so gut. Im Mai ist er 96 Jahre alt geworden.

      Heute morgen ist Slade um halb sechs aufgestanden und hat eine halbe Stunde auf dem Trimmrad gestrampelt. Anschließend ist er zur Arbeit gegangen, zu Fuß, 20 Blocks. Das macht sonst kaum jemand in New York. Slades Büro ist in der Madison Avenue, in der Zentrale des Wall-Street-Handelshauses Bear Stearns. Viermal pro Woche kommt er, jeweils von neun bis zwei. Länger nicht, das hat er seiner Frau Marianne versprochen. Slade ist "Ehrengeschäftsführer" bei Bear Stearns, früher leitete er das internationale Wertpapier- und Arbitragegeschäft. Sie nennen ihn den "Papst der Wall Street". Nach New York kam er 1936, ein paar Jahre später änderte er seinen Namen. Da wurde Hans Schlesinger, deutscher Jude aus Frankfurt am Main, zu John Slade, amerikanischer Staatsbürger.

      Ab und zu trifft sich John, wie ihn hier alle nennen, mit Journalisten im sechsten Stock zum Mittagessen im feinen Executive Restaurant. Slade nimmt stets am selben Tisch Platz. Von Genießen kann keine Rede sein. Hastig ißt er den Salat, auch die Hauptspeise kaut er im Eiltempo. Zwischendurch erzählt er aus seinem Leben. Episoden, Mosaiksteine. Lieber würde er vor seinem Monitor sitzen. So oft hat er seine Geschichte erzählt, hat sie für die inzwischen eingestellte Emigrantenzeitschrift "Aufbau" auch aufgeschrieben. Daß er in den Gaskammern ermordet worden wäre, hätte er Deutschland nicht rechtzeitig den Rücken gekehrt. Wie er sich an der Wall Street hochgearbeitet hat. Daß er in seinem Leben vor allem eins hatte: Glück. Nach einer dreiviertel Stunde steht Slade auf, zieht sich den Nadelstreifenanzug zurecht und verabschiedet sich. Er müsse pünktlich zurück zur Arbeit.
      Als Slade noch Schlesinger hieß, galt er als einer der besten Hockeyspieler Deutschlands, war Torwart beim SC Frankfurt. Wie gern wäre der damals 27jährige bei den Olympischen Spielen in Berlin dabeigewesen. Doch mit der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten im Januar 1933 platzt dieser Traum. Kurze Zeit später weigert sich die Mannschaft des HC Heidelberg, gegen Schlesingers SC anzutreten. Man spiele nicht gegen einen Juden, heißt es zur Begründung. Statt sich hinter "Schleo" zu stellen, läßt der Club seinen Torwart fallen. Der tritt sofort aus dem Verein aus, mit dem er zuvor Turniere in England und Frankreich bestritten hatte.

      Als Schlesinger Anfang 1936 im Radio hört, daß Juden nach Inkrafttreten der Nürnberger Rassegesetze verhaftet werden, wenn sie ein "arisches" Mädchen küssen, packt er seinen Koffer. Oscar Oppenheimer gibt ihm ein Empfehlungsschreiben auf die Reise. Bei der Oppenheimer-Bank in Frankfurt ist Schlesinger 1926, gleich nach dem Abitur am Goethe-Gymnasium, in die Lehre gegangen. Einen Tag nach der Ankunft in New York hat er schon den ersten Job. Ein Neffe von Oppenheimer, Winfried, arbeitet bei dem damals noch kleinen Brokerhaus Bear Stearns und heuert ihn an. Als "Runner" verdingt er sich auf dem Parkett. Von den 15 Dollar, die er pro Woche als Laufbursche verdient, kann man aber schon damals in New York nicht leben. Der gelernte Bankkaufmann weiß, daß vor allem das
      Kommissionsgeschäft lukrativ ist. Ende der 30er Jahre geht er oft zum Hafen, schaut sich die Passagierlisten an und sucht unter den Hunderten Flüchtlingen, die jeden Tag nach New York strömen, nach deutsch klingenden Namen. Bald hat er sich einen kleinen Kundenstamm aufgebaut und betreut fortan Schweizer Konten von deutschsprachigen Immigranten
      Slade hat seine letzten Kunden 1990 abgegeben. Heute kümmert er sich nur noch um sein eigenes Depot. Dort schlummern etwa 200 000 IBM- und 350 000 Bear-Stearns-Aktien. Heutiger Papierwert: rund 50 Mio. Dollar.

      Der "ewige Optimist" hält aber auch viel von alternativen Geldanlagen. In seiner Wohnung in der Park Avenue hängen 25 Gemälde von Picasso und Marc Chagall. Nebenher gibt er einen Börsenbrief heraus, ein Wochenrückblick zum Auf und Ab an den Finanzmärkten. "John Speaking" heißt er. Mr. Slade spricht nur noch Englisch. Seine Muttersprache ist zwar dank des hessischen Akzents noch immer herauszuhören, doch in der Öffentlichkeit spricht er kein Deutsch mehr.
      Im Jahr 1941 entschied sich Schlesinger für den amerikanischen Allerweltsnamen Slade. Seine Arbeitgeber fürchten, daß Schlesingers deutscher Name bei potentiellen Kunden Ressentiments hervorrufen könnte. Anfang der 40er Jahre floriert der Handel mit in Dollar notierten Unternehmensanleihen aus Europa. Viele Amerikaner wollen ihr Geld in Sicherheit bringen und verkaufen ihre Bonds aus Norwegen, Dänemark oder Estland. Schlesinger macht sich als "Shortseller" einen Namen: Er leiht sich Anleihen, verkauft sie in der Erwartung, daß der Kurs fällt - und kauft sie dann billig zurück. Die Differenz streicht er für seine Bank als Gewinn ein. Sein bestes Geschäft macht er im Frühjahr 1941. Am 9. April bietet er der Norske Bank in Oslo für 200 000 Dollar norwegische Staatsanleihen zum Nominalwert von 100 Punkten an. Die Papiere sind mit einem Zinskupon von sechs Prozent versehen und werden 1944 fällig. Am nächsten Morgen bestätigt die Bank telegrafisch den Handel. Noch am selben Tag marschiert die Wehrmacht in Norwegen ein. Die Kurse der Anleihen stürzen ab und Slade kauft die Papiere beim Kurs von 60 zurück.

      Das Geschäft bringt Bear Stearns einen Gewinn von 80 000 Dollar ein - und dem Händler eine Standpauke von seinem Chef, Winfried Oppenheimer. Denn bei einem anderen Handel hat Schlesinger gleichzeitig 400 Dollar verloren. Er versteht die Welt nicht mehr und kündigt. Das bekommt Ted Low mit, ein anderer Bear-Stearns-Manager. Der bietet ihm daraufhin an, als stellvertretender Chef in der neuen Abteilung "Risikoarbitrage" anzufangen. Damals werden gerade Teile des New Yorker Eisenbahn- und U-Bahnnetzes verstaatlicht. Schlesinger managt die Transaktion: Die Aktionäre des Schienennetzes bekommen zum Ausgleich Kommunalanleihen von New York City.

      Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 wird sein Chef zur US-Armee eingezogen - und Slade steigt zum Abteilungsleiter auf. Er verdient genug Geld, um seine Eltern, seine Schwester, seinen Bruder und Schwager vor den Nazis zu retten. Der väterliche Betrieb Israel Schmidt Söhne, eine der größten Immobilienfirmen im Deutschen Reich mit Niederlassungen in Frankfurt und Berlin, hat da schon den Besitzer gewechselt, sie gehört heute zu Dröll & Scheuermann in Frankfurt. Auf eine Entschädigung hat Slade verzichtet: Lorenz Scheuermann hatte die Firma von Slades Vater 1939 im Zuge der "Arisierung" übernommen, Slades Eltern aber auch falsche Papiere besorgt und die Flucht nach Übersee arrangiert.

      Manches aus seinem Leben spart Slade aus. Was er nicht erzählt: 1942 meldete er sich freiwillig zur US-Armee. "Wenn Jungs aus Missouri, die nicht wissen, wer Hitler ist, zum Wehrdienst eingezogen werden, muß ich es erst recht tun", hat er einmal gesagt. In Deutschland verhörte er deutsche Kriegsgefangene. Und überredete kurz vor Kriegsende eine SS-Hundertschaft, freiwillig aus ihrem Versteck in einem bayerischen Schloß herauszukommen. Damit verhindert er ein Blutbad. Zurück in den USA wird ihm dafür der "Bronze Star" verliehen, für Tapferkeit vor dem Feind. Slade verschweigt auch, daß er nach der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 ein Kriegsgefangenenlager im bayerischen Eggenfelden übernahm. 1972 schrieb ihm ein Rechtsanwalt aus Mannheim nach New York. In dem Brief bedankte sich der Mann im Namen einer Reihe von Kriegsgefangenen für die stets korrekte und ordentliche Behandlung.

      Slade ("Arbeite hart, sei ehrlich und loyal!") ist länger als sonst jemand bei Bear Stearns. Im Laufe der vergangenen 68 Jahre ist ihm ein halbes Dutzend besser bezahlter Jobs angeboten worden. Die hat er jedoch stets dankend abgelehnt. Seine Treue zu seinem Arbeitgeber hat sich ausgezahlt. All die Firmen, die Slade anheuern wollten, sind längst wieder vom Markt verschwunden. Bear Stearns dagegen, Slade sagt es voller Stolz, hat sich von einem 50-Mann-Broker zu einem Konzern mit mehr als 10 000 Mitarbeitern entwickelt.

      Auf dem Schreibtisch in seinem Büro stehen Pokale und Auszeichnungen, Urkunden und Orden hängen an der Wand. Das wiedervereinigte Deutschland hat ihm im Februar 1990 das "Bundesverdienstkreuz 1. Klasse" verliehen. Weil er die Wiedervereinigung unterstützt hat. Und weil er in den Nachkriegsjahren einige Hundert Banker von überall auf der Welt zur Ausbildung an die Wall Street geholt hat, darunter auch viele Deutsche. Der frühere deutsche Generalkonsul Leopold Bill von Bredow lobt, daß Slade seine Herkunft nie verleugnet habe, obwohl er gezwungen worden sei, seine Heimat zu verlassen. Vor fünf Jahren hat ihn der Frankfurter Sportclub zum Ehrenmitglied ernannt. Schon in den 50er Jahren hatte Slade wieder Kontakt aufgenommen zu dem Verein, bei dem er früher im Tor stand. Wer nachträglich mit so viel Lob überschüttet wird, ruft natürlich auch Neider auf den Plan. Anonyme Kritiker haben Slade vereinzelt vorgeworfen, daß es ihm in den Nachkriegsjahren weniger um Versöhnung gegangen sei als vielmehr ums Geschäft. Seine Freunde und Bewunderer wollen davon freilich nichts wissen. Zuletzt verbeugte sich sogar die New Yorker Börse vor ihrem dienstältesten Broker. Anläßlich seines 95. Geburtstags am 30. Mai 2003 läutete die lebende Wall-Street-Legende John Slade um 16 Uhr Ortszeit in New York die Schlußglocke.

      Doch der stolzeste Moment seines Lebens, sagt John Slade, war im Sommer 1948, in London. Slade war 40 Jahre alt und einer der ältesten Olympia-Teilnehmer. Für die Hockey-Nationalmannschaft der USA stand er im Tor. Und 120 000 Menschen sahen zu, wie er verlor. Nicht ein Spiel gewannen die Amerikaner damals im Wembley-Stadion, Slade trug zudem eine Kopfverletzung davon. Aber den Jubel der Leute, sagt Slade, den werde er nie vergessen.

      Artikel erschienen am Sa, 30. Oktober 2004


      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 31.10.04 00:14:05
      Beitrag Nr. 249 ()
      @thomtrader,

      habe den thread erst heute gefunden - und auf meine Favoritenliste gesetzt.

      Gruß,

      C.
      Avatar
      schrieb am 31.10.04 10:11:00
      Beitrag Nr. 250 ()
      Mythos des Killers
      Ende Oktober kommt eine Hommage an Che Guevara in die Kinos. Der kubanische Guerilla-Führer ist immer noch eine Pop-Ikone
      von Michael Miersch


      Die Protestikone Che Guevara

      Manche Tiere werden von allen geliebt: Robben und Koalabären beispielsweise. Selbst wenn sie zur Plage werden, darf man diesen Tieren nichts tun. Sie sind einfach zu niedlich. Im Naturschutz heißt dieses Phänomen " Bambi-Syndrom" . Che-Guevara-Kult ist politisches Bambi-Syndrom. Jeder weiß, daß der Kommunismus ein Nebelreich der Armut und Unterdrückung war (und in Kuba noch immer ist). Jeder weiß, daß der lateinamerikanische Guerillakampf ein grausames Spiel ideologischer Phantasten war (und in Kolumbien noch immer ist). Und dennoch: Che, der Kommunist und Guerillakrieger, gilt als kuchengut wie der Dalai Lama. Während seine Geistesverwandten längst von ihren Betonsockeln gestoßen wurden, prangt Che weiter auf T-Shirts und Postern, eröffnen Bars und Cafés mit seinem Namen, tragen Uhren, Weinflaschen und Skateboards sein Konterfei, erscheinen Bücher, in denen sein erotischer " Duft von Gebirge und Schmutz, Haut und Hitze" besungen wird (Ana Menéndes: Geliebter Che).


      Warum wird ein totalitärer Machthaber als Freiheitskämpfer verehrt? Warum schleppen Friedensdemonstrationen das Bild eines Feldherrn, der den Dritten Weltkrieg herbeibomben wollte. Warum steht jemand für rebellischen Individualismus, der kollektivistische Unterordnung und eiserne Disziplin predigte?


      Der Spinat-Mythos war auch so ein zähes Mißverständnis. 1890 unterlief einem Chemiker, der bei der ersten Laboranalyse von Spinat mitschrieb, ein Kommafehler. Aus 2,2 Milligramm Eisen pro hundert Gramm Spinat machte er 22. Obwohl der Fehler bereits 1930 entdeckt wurde, zwangen Eltern ihre Kinder noch jahrzehntelang zum Spinatessen, weil dieses Gemüse als besonders eisenhaltig galt.


      Der Kommafehler bei Guevara war die Fotografie des Alberto Corda, auf der der Comandante mit wehendem Haar unterm Barett ins Unendliche blickt. Eine Ikone des jugendlichen Nonkonformismus war geboren. Styling und Accessoires wurden millionenfach kopiert: lange Haare (Beatles), Drei-Tage-Bart (Dutschke), Zigarre (Schröder). " Die Menschen stehen zum Mythos nicht in einer Beziehung der Wahrheit, sondern des Gebrauchs" , schrieb Roland Barthes. " Sie entpolitisieren nach ihren Bedürfnissen." Diese mythologische Verwandlung ist wohl bei keinem politischen Führer so gründlich geglückt wie bei Che Guevara (der Kennedy-Kult ist auch entpolitisiert, aber längst nicht so verbreitet). Ernesto Che Guevara (1928 - 1967) mutierte posthum zu Pop-Ikone, wie James Dean oder Elvis. Wie sagte Sartre so schön: " Che war der vollendete Mensch unserer Zeit."


      Daß die heutige soundsovielte Retrowelle wieder ausgerechnet ihn ausgräbt, daß Che-Guevara-T-Shirts nun in Schwabinger Schicki-Boutiquen angeboten werden und ein Che-Double für Sitzmöbel wirbt, ist die konsequente Weiterführung einer Legendenbildung, die kurz nach seinem Tod einsetzte. Guevara stand schon damals für politische Unverbindlichkeit. Die linken Studenten paukten Marx und Lenin, kaum Guevara. Auf Che konnten sich alle einigen, die mit dem Zeitgeist gingen, vom Twen-Leser bis zum Juso. Selbst kritische Abweichler, denen Mao und Stalin durchaus suspekt waren, stellten sich den schönen Revolutionär als eine Art bewaffneten Hippie vor, einen undogmatischen, menschenfreundlichen Rebellen, der statt sibirischer Kälte karibische Wärme ausstrahlte. Hat er nicht gesagt, Kuba sei " Sozialismus mit Cha-Cha-Cha" ? Klingt doch irgendwie liberal.


      Che Guevara wurde nicht gelesen, sondern einfach nur angehimmelt: eine Projektionsfläche für alles und nichts. Und genau dies gibt dem Mythos bis heute seine Strahlkraft. Die Beliebigkeit, das Unverbindliche ist die dritte Komponente, die für Entstehung einer langlebigen Pop-Ikone nötig ist. Jugendliche Schönheit und früher Tod sind die beiden anderen. Die Bedeutung darf nicht zu klar, zu festgelegt sein. Che-T-Shirts harmonieren auch mit der Südstaatenflagge auf der Motorradjacke. Und der Träger muß deshalb weder links noch Rassist sein.


      Die romantische Naivität, mit der Jugendliche ihr Che-T-Shirt tragen, wird oftmals vom Wohlwollen der Eltern begleitet: Seht her, unser Junge, ein Rebell! Als der Comandante auf einer Münchner städtischen Jugendbühne gefeiert wurde, hefteten stolze Väter ihren Sprößlingen das Idol der eigenen Jugend an die Brust. Als besonderen Service hatte die Theaterleitung im Foyer einen Che-Button-Automaten aufgestellt. Diese gutbürgerlichen Väter hätten eigentlich genug Zeit gehabt, mal über Kult, Mythos und Realität nachzudenken. Mochten sie aber nicht. Sie konservierten lieber ihre eigene adoleszente Ignoranz und verkaufen sie als Courage: Che lebt, und ich bin kein Spießer geworden.


      Während die heutigen Bewunderer von Osama Bin Laden die Taten ihres Idols wenigstens kennen, schließen Guevara-Bewunderer fest die Augen. Dabei sind sich die beiden Idole gar nicht so unähnlich. Schließlich wollte der Comandante auch gern New York in Schutt und Asche legen. Als die Kubakrise 1962 vorüber war, sagte er gegenüber einem britischen Journalisten, die Kubaner hätten die Raketen gezündet, wenn die Russen es nur erlaubt hätten. Er war kein " sanfter Revolutionär" , sondern ein bekennender Stalinist, der nach dem Sieg für die Übernahme des sowjetischen Systems eintrat - gegen andere kubanische Revolutionäre, die einen freiheitlichen Sozialismus anstrebten. In diesem Sinne wirkte er als Verbindungsmann des KGB bei den neuen Machthabern in Havanna. Von Demokratie hielt er nicht viel, wie er immer wieder betonte. Dafür hatte er " vor dem Bild des alten und traurigen Genossen Stalin geschworen" den Kapitalismus zu vernichten. Und zwar koste es, was es wolle. Immer betonte Che Guevara die Bedeutung, die Größe, ja die Schönheit rücksichtloser Gewalt. Seine Visionen ähneln darin goebbelsscher Endkampfrhetorik: " Was bedeuten die Gefahren oder die Opfer eines Mannes oder eines Volkes, wenn das Schicksal der Menschheit auf dem Spiel steht. Der Tod ... sei willkommen, wenn ... andere Menschen bereit sind, die Totenlieder mit Maschinengewehrsalven und neuen Kriegs- und Siegesrufen anzustimmen." Im kommenden atomaren Weltkrieg werden " Tausende von Menschen überall sterben, aber das soll uns nicht beunruhigen" . Denn der Kommunismus wird diesen Endkampf gewinnen. Da darf man nicht zimperlich sein und soll auf das Erfolgsrezept vertrauen: " Ein gnadenloser Haß, der uns vorantreibt und über die natürlichen vererbten Grenzen des Menschen hinausgehen läßt, ihn in eine effektive, gewalttätige, unwiderstehliche und eiskalte Killermaschine verwandelnd." Willkommen im Stahlgewitter.


      Anders als Rosa Luxemburg, die andere Heilige, lebte Guevara seine Gewaltphantasien nicht nur auf dem Papier aus. Er befehligte die Erschießungskommandos in der Festung Cabana, die nach dem Einmarsch von Castros Truppen in Havanna zwischen 200 und 700 Gefangene hinrichten. Die Opfer sind größtenteils Anhänger des geflohenen Diktators Batista. Wenig später treffen die Repressionsmaßnahmen auch oppositionelle Linke und andere Gegner des neuen Regimes. Es ist Che Guevara, der die gefürchteten " Resozialisierungslager" einführt. In diese " Guanacahabibes" landen nicht nur Dissidenten, sondern auch Homosexuelle. Als Präsident der Nationalbank und später Industrieminister setzt er auf eine rigide Planwirtschaft, die in kürzester Zeit Kubas Wirtschaft ruiniert. Damals begann der bis heute anhaltende Mangel an Lebensmitteln und einfachen Haushaltsgütern. Aber was soll`s. " Im allgemeinen wirken die Kubaner kräftig, gesund und zufrieden" , erläutert ein deutscher Reiseführer.


      Danach verlegt er sich auf Revolutionstourismus. Doch aus keinem seiner Funken wird ein Flächenbrand. Die Massen verweigern sich der Avantgarde. Guevaras letztem Versuch, die Revolution zu exportieren, schließt sich in Bolivien kein einziger Bauer oder Landarbeiter an. Macht aber alles nichts, denn Sankt Che starb für uns Sünder. Wenn wir in unserem kleinen Leben auch wankelmütig und gierig, neidisch und feige sind. So wissen wir doch, es gab einen, der so entrückt in die Ferne blickte. Eine Ferne, aus der ganz leise ein sozialistischer Cha-Cha-Cha klingt. Er ist rein.


      Artikel erschienen am Do, 14. Oktober 2004

      http://www.welt.de/data/2004/10/14/345885.html?prx=1
      Thread: Che Guevara - Mythos des Killers
      _____________________________________________________________

      #247 ist wirklich ein interessanter Artikel über einen sehr interessanten Mann. :) Ob Mr. Slade wohl auch solange aktiv bleibt wie Mrs. B?

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 31.10.04 23:50:51
      Beitrag Nr. 251 ()
      Ups, Bernd mal ganz gegen die Engländer:rolleyes:


      Wie der Abstieg aussieht

      Von Dr. Bernd Niquet

      Grossbritannien war einmal die oekonomische und finanzielle
      Fuehrungsmacht der Welt. Davon ist nichts mehr uebrig geblie-
      ben. Und ein Blick auf das Land, wie ich ihn in der letzten
      Woche erheischen konnte, zeigt ganz bildlich, wie so ein Ab-
      stieg aussieht. Zu wachsen, groesser zu werden, Steigerungen
      zu erleben, das ist einfach. Hier gibt es zwar auch vielfach
      Pfusch und Zusammenbrueche, doch die Spuren dieses nervenden,
      nicht dramatischen, dafuer aber langfristig-konstanten Ab-
      stiegs sehen voellig anders aus.

      Betrachten wir die Verschiebungen in der Weltwirtschaft, die
      enormen Zuwaechse der Asiaten, dann kann man sich durchaus
      vorstellen, dass auch die Bundesrepublik Deutschland einmal
      zu einem "Fall Grossbritannien" wird. (Ich denke im Uebrigen,
      dass es in den USA gegenwaertig bereits auch nicht anders
      aussieht als in Britannien.) Vielleicht sind ja auch wir schon
      mitten drin in diesem Prozess – ganz sicherlich sogar. Das
      heisst: Es geht uns weiter ganz gut, die absoluten Ver-
      schlechterungen und die relativen Verschiebungen innerhalb
      der Gesellschaft gehen so langsam voran, so dass sie kaum
      spuerbar sind – und erst mit dem Zeitraffer deutlicher zu
      Tage treten. Und dieser Zeitraffer bin heute ich.

      Grossbritannien ist ein reiches Land mit einer bedeutenden
      Industrie- und eine Dienstleistungsstruktur. Die alten Haeu-
      ser, die man ueberall sieht, haben die Jahrhunderte unbescha-
      det ueberstanden – und sehen wunderbar aus. Auf jeden Fall
      viel besser als die in Deutschland ueberall anzutreffenden
      Zweckbauten. So weit das Aeussere. Was man hingegen im Inne-
      ren erlebt, in etwas voellig anderes: Geheizt wird wie zu
      seligen DDR-Zeiten, entweder per Strom oder mit dem (offenen)
      Fenster als Regulationsmechanismus. Deswegen ist es ueberall
      bullig warm. In keinem Haus, in dem ich war, kam jedoch rich-
      tig Wasser aus der Leitung. Alles veraltet, alles verkalkt,
      kein Druck.

      Die sanitaeren Anlagen in Pubs und Restaurants sehen verwahr-
      lost aus. Die Menschen sind es in grosser Zahl auch. Kein
      Pub, in dem nicht mit grosser Lautstaerke das Fernsehen
      laeuft. Der Schwachsinn, die allgemeine Sinnlosigkeit, haelt
      die Menschen fest im Griff. Brot und Spiele, Brot in fluessi-
      ger Form – und Fussball live fuer alle. Unterhalten kann man
      sich dabei nur noch mit dem Bierglas. Passend dazu: Die bri-
      tischen Zeitungen beschaeftigen sich nahezu ausschliesslich
      mit Promis und Titten – Tittytainment unausgesetzt. Am liebs-
      ten mit den Titten von Promis – Tittytainment zum Quadrat.
      Brot und Spiele – ohne Pause.

      Ein ganzes Land scheint nichts mehr zu investieren. Nicht in
      seine Infrastruktur und nicht in seine Menschen. In der U-
      Bahn steht in jedem Bahnhof eine grosse Tafel, was wo derzeit
      alles nicht funktioniert. Der Jugend geht es anscheinend nur
      noch darum, "to get pissed" and "to talk the time away". Die
      grossen Helden unter den Promis sind die Fussballstars. Sie
      haben zwar keine Titten, doch dafuer saufen sie genau so wie
      die Fans. Die Massen sind ruhig. Und die Zeit schreitet
      unaufhoerlich voran.


      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 01.11.04 19:17:31
      Beitrag Nr. 252 ()
      #250:

      In letzter Zeit hat Niquet einige gute Artikel geschrieben, aber #250 ist wirklich unter aller Sau. Die Bild-Zeitung hat ein höheres Nivea!:cry:

      _______________________________________________________
      Folgendes ist äußerst lesenswert, sollte jeder gelesen haben:
      http://www.energiekrise.de/news/forum/docs/Zuerich_Juni-2004…

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 01.11.04 19:20:49
      Beitrag Nr. 253 ()
      @tt:)

      mag sein, aber mit dem, was er über die engländern
      geschrieben hat, liegt er goldrichtig.:D


      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 01.11.04 19:31:19
      Beitrag Nr. 254 ()
      #251

      _______________________________________________________
      Folgendes ist äußerst lesenswert, sollte jeder gelesen haben:

      http://www.energiekrise.de/news/forum/docs/Zuerich_Juni-2004…


      du hast recht tt, phantastisch, was ich bisher
      lesen konnte....also steigende ölpreise....
      das zeitalter der rohstoffe rückt näher...:rolleyes:



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 09.11.04 17:27:10
      Beitrag Nr. 255 ()
      :rolleyes:



      "Die verzweifelte Suche nach Inhalten

      Von Dr. Bernd Niquet

      Ich bin kein Christ – und schon gar kein "wiedergeborener
      Christ" wie George W. Bush. Ich weiss nicht einmal genau, was
      das ist. Meine Beobachtung ist es, dass es das Schwerste fuer
      den Menschen ist, den Tod zu akzeptieren und zu begreifen,
      dass unser Leben keinen hoeheren Sinn hat, sondern dass wir
      uns den Sinn immer nur selbst geben koennen.

      Ich denke, dass das einer der entscheidenden Gruende fuer die
      Wiederwahl von George W. Bush war. Die Leute wollen ein Ge-
      gengewicht zum "sinnlosen" Kapitalismus haben. Die Religion
      findet wieder verstaerkt Zulauf – und auch das Bekaempfen von
      Terroristen macht ja einen "Sinn". Jedenfalls mehr als ueber
      die Staatsverschuldung und das Gesundheitssystem zu streiten
      und zu wissen, dass sich letztlich dabei ja sowieso nichts
      aendert.

      Die Welt ist so gross und so sinnlos, dass es den meisten
      Menschen nicht leicht faellt, sich in ihr zu orientieren. Die
      Totalitaet unseres Seins kann einen ziemlich leicht erschla-
      gen. Es ist daher viel einfacher, die Komplexitaet auf das
      simpelste Mass zu reduzieren. An der Boerse beispielsweise
      erleben wir das in Reinform. Waehrend in der Wissenschaft nur
      derjenige wirklich mitdiskutieren kann, der die ganze Theorie
      gelernt und verstanden hat, kann an der Boerse jeder voellig
      frei seinen eigenen Sinn (er)finden.

      Ich bin dabei immer an Skinners Taubenexperiment erinnert:rolleyes:,
      bei dem in eine Anzahl von Kaefigen jeweils eine Taube einge-
      sperrt ist – und in jeden Kaefig voellig zufaellig Futter
      hinein faellt. Die Tauben denken – wie wir Menschen – dass
      hier eine Ursache dahinter steht und dass ihr Verhalten zum
      Zeitpunkt des Hereinfallens des Futters (beispielsweise den
      Fluegel zu schlagen oder auf einem Bein zu huepfen) ursaech-
      lich dafuer ist. Und es folglich sinnvoll ist, dieses Verhal-
      ten zu wiederholen. Und so sieht man dann lauter verrueckt
      herumhuepfende und fluegelschlagende Tauben. Ganz genauso wie
      an der Boerse – und auch im normalen Leben sonst.

      Das beginnt bereits im Kindergarten. "Wie lange ist denn der
      Drache tot, den der Prinz erstochen hat?" fragt mich meine
      Tochter immer nach dem Anschauen des Dornroeschen-Films. Ich
      versuche ihr stets zu erklaeren, dass der Drachen fuer immer
      tot ist, doch dann kommt sie aus dem Kindergarten und sagt:
      "Die Vanessa hat gesagt, dass man wieder aufwacht, wenn man
      tot ist." Vielleicht sind ihre Eltern ja wiedergeborene
      Christen wie George W. Bush. Dann ist die Welt natuerlich
      viel einfacher als wenn man sie nimmt, wie sie wirklich ist.

      Und wenn ich dann manchmal einige vermeintlich kritische
      Boersenzeitschriften und Boersenbriefe anschaue, dann muss
      ich immer an den Mann denken, der vor einiger Zeit in grossen
      Anzeigen und Vortragskampagnen behauptet hat, dass die ganze
      Schulmedizin vollkommener Unsinn ist – und man durch die ein-
      fache Einnahme von Vitamin C Herzinfarkte und anderes viel
      besser bekaempfen kann. Ein ausgebildeter Mediziner wird hier
      nicht einmal hingehoert haben. Und genauso geht es den ausge-
      bildeten Oekonomen, wenn sie das ganze Zeug lesen, welches
      die vermeintlich so kritische Boersenpresse stets von sich
      gibt. Dass George W. Bush die Welt ruinieren wird, dass Alan
      Greenspan keine Ahnung hat ... Vielleicht koennen wir die
      Weltwirtschaft ja auch mit Vitamin C heilen. Das waere doch
      eine schoene und einfache Loesung."



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 15.11.04 02:12:29
      Beitrag Nr. 256 ()
      Die Grenze unseres Denkens

      Von Dr. Bernd Niquet

      Beim Nachdenken ueber die Boerse ist man oft dem Wahnsinn
      nahe. An jedem Tag entsteht in der Wirtschaft und an der
      Boerse eine neue Welt. Was gestern noch richtig war, ist
      heute oft schon falsch. Und was gestern noch falsch war, ist
      heute vielleicht richtig. Und manchmal geht es noch schlimmer
      ab, da ist das bereits heute falsch, was heute eigentlich
      richtig ist.

      In der Konsequenz bedeutet die Tatsache, dass wir diese Ent-
      wicklung nicht antizipieren koennen, dass alle unsere Wirt-
      schaftstheorien statisch sind – und auch statisch sein mues-
      sen. Und dass wir hier nichts prognostizieren koennen, jeden-
      falls keine autonome Entwicklung, sondern allenfalls die
      Fortschreibung vermeintlicher Trends leisten koennen. In
      meiner Unizeit habe ich in meiner Dissertation versucht, die
      Gruende hierfuer exakt theoretisch in den Griff zu bekommen.
      Das hat mich teilweise fast den Verstand gekostet, weil man
      sich ploetzlich nur noch in Kreisprozessen und voellig
      selbstreferentiellen Bereichen herumschlaegt.

      Um diesen "gordischen Knoten" schliesslich einmal durch Zer-
      schlagen in den Griff zu bekommen zu versuchen, habe ich im
      Jahr 1988 ein Selbstexperiment gemacht, dessen Protokoll mir
      neulich wieder in die Haende gefallen ist. Dazu habe ich eine
      bewusstseinerweiternde Droge geraucht und mich anschliessend
      hingesetzt, ueber dieses Thema nachgedacht, und aufgeschrie-
      ben, was mir dabei in den Kopf gekommen ist. Leicht sprach-
      lich verbessert praesentiere ich ihnen hier Ausschnitte
      daraus. Als Boerseninteressierte koennen Sie ganz sicher fuer
      sich etwas heraus ziehen:

      "Jedes Morgen wird sich als ein Nichts herausstellen, doch da
      ich genau das weiss, ist das Jetzt existent. Das ist so, weil
      alles nur durch sein Gegenteil existiert. Doch wenn man das
      begriffen hat, dann hat es sich durch das Begreifen bereits
      wieder in sein Gegenteil verkehrt – und ist damit nicht mehr
      greifbar.

      Deswegen kann das, was ich jetzt aufschreibe, spaeter nicht
      mehr gueltig sein, da es ja nur in Verbindung mit meinem
      heutigen Ich Geltung besitzt und nicht mehr mit meinem spae-
      teren.

      Unter jedem Grund (einer Entwicklung) liegt immer noch ein
      Urgrund. Und wenn man diesen Urgrund heraus bekommen hat,
      sich also im Urgrund befindet, dann ist der eigentliche Grund
      nicht mehr der Grund, sondern der Uebergrund. So laesst sich
      alles erklaeren – doch in dem Moment, wo es erklaert ist, ist
      es ja – da es vorher nicht erklaert war und sich dementspre-
      chend verwandelt hat – nicht mehr erklaert. Wie beim Wetter-
      haeuschen geht das.

      Hier ist eine Grenze erreicht, weiter geht es nicht, aber am
      Ende der Grenze finden wir immer wieder einen Anfang der
      Grenze, so dass wir uns letztlich nur im Kreis gedreht haben.

      Alles muss ein Ende finden, um dann, wenn es zu seinem Gegen-
      teil geworden ist, naemlich aufgehoert hat, wieder es selbst
      zu werden. Man kann also nichts letztendlich begruenden.

      Wenn man weiss, dass man es nicht wissen kann, dann weiss man
      es ja. Dann weiss man, dass man es nicht wissen kann. So ein-
      fach ist die Loesung.

      An aller Weisheit ist also nichts dran. Jeder Mensch denkt,
      anders und klueger als die anderen zu sein, da das aber jeder
      denkt, kann es niemand mehr denken. Aus logischen Gruenden
      kann also nur das schoen sein, was eigentlich unschoen ist.
      Und das richtig, was eigentlich unrichtig ist."

      ++++++



      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 15.11.04 09:34:37
      Beitrag Nr. 257 ()
      @Tippgeber:

      mit den letzten beiden Artikeln (#254,#255), sollte sich Niquet endgültig, für diesen Thread disqualifiziert haben.
      Bitte keine weiteren Niquet-Artikel mehr hier reinstellen.
      (Wenn du einen, oder mehrere Niquet-Artikel lesenswert findest, dann kannst du gerne einen eigenen Thread dazu eröffnen)

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 15.11.04 10:25:47
      Beitrag Nr. 258 ()
      Schade, das waren die ersten Äußerungen von Niquet, die mir plausibel erscheinen oder mich (teilweise) sogar weitergebracht haben...
      Avatar
      schrieb am 16.11.04 06:57:59
      Beitrag Nr. 259 ()
      @Algol:)

      ja ich fand sie auch manchmal ganz gut.;)
      da wird mich doch nicht jemand, in meinem
      recht auf freie meinungsäußerung beschneiden
      wollen oder? nur das was tt gefällt ist lesbar?
      finde diese blickrichtung doch sehr sonderbar,
      eingeschränkt und intolerant all den anderen
      gegenüber.:rolleyes:

      heute ist es niquet, morgen jemand anderes...
      kommt mir bekannt vor..so sieht zensur aus....
      erinnert mich an china und das internet und die
      beschneidung anderer meinungen......dass gerade
      tt das macht, hätte ich nun im traum, nicht für
      möglich gehalten...so ändern sich die zeiten.

      intoleranz hat ab heute einen namen....



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 16.11.04 13:51:10
      Beitrag Nr. 260 ()
      Ich will mit Sicherheit hier keine Zensur betreiben:laugh::laugh::laugh:

      Es ist nun mal so, das mit Abstand die meisten Artikel in diesem Thread von Niquet stammen. Würde ich einen Autor so bevorzugen wie du Niquet bevorzugst, dann würde ich einen Thread mit dem Titel "Lesenswertes von xxx" eröffnen, und darin die gesammelten meiner Meinung, nach lesenswerten Artikel von diesem Autor hineinkopieren. Außerdem weiß jeder wallstreet-online-nutzer der Niquet lesenswert findet, ohnehin wo er Niquet-Artikel finden kann(in regelmäßigen Abständen auf der Startseite von w-o).
      Ich finde z.B. sämtliche Aktionärsbriefe von Buffett, an die Berkshire-Aktionäre, 1000mal lesenswerter als einen durchschnittlichen Niquet-Artikel. Trotzdem habe ich noch keinen hier hereinkopiert, den jeder der sich für Value-investing interessiert, weiß eigentlich das die Briefe unter http://www.berkshirehathaway.com/ abrufbar sind.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 20.11.04 19:28:35
      Beitrag Nr. 261 ()
      Aus der FTD vom 19.11.2004
      Kolumne: Deutschland braucht Hilfe
      Von Thomas Fricke

      Selbst nach 15 Jahren Einheitsdesaster und Jahren der Stagnation zahlen die Deutschen per saldo für den Rest des teils boomenden Europas - statt wie einst Maggie Thatcher einen Rabatt einzufordern.


      Freundliche Unterstützung für boomende Länder

      Deutschland steckt in Not. Die Regierung müht sich um Reformen. Nur bewirken die Verzichtspakete bis dato statt Wachstum vor allem eins: immer neue Depressionsschübe bei Konsumenten und Investoren. Und die Frage ist, ob die Deutschen nach bisherigem Muster und aus eigener Kraft aus dem Dilemma herauskommen.

      Womöglich wäre es an der Zeit, Hilfe einzufordern - von jenen in Europa, die von deutschen Geldern, Niedrigzinsen oder Wechselkursgeschenken bisher stark profitierten. Das wäre für die meisten immer noch billiger, als bald die Folgen eines deutschen Abgleitens in die Depression abzubekommen. Die Deutschen müssten dann allerdings eingestehen, dass es vor allem deshalb kriselt, weil sie sich mit der Einheit schlicht überhoben haben.

      Deutsches Geld für Strandpromenaden

      In Deutschland schwinden die Margen, um gegenzusteuern und die Effekte von Einschnitten bei Rente oder Arbeitslosenhilfe konjunkturell aufzufangen. In Japan wurden in ähnlich heikler Lage die Zinsen auf Null gesenkt - nichts da, sagt die EZB. Schweden wertete die Währung ab zugunsten der Exporteure - geht nicht. Bei Amerikanern, Briten oder Dänen halfen sinkende Steuern und höhere Staatsausgaben - nein, sagt Brüssel.

      Immer abenteuerlicher wirkt da, dass die Deutschen mit ihren schwächelnden Steuern den Bau von Strandpromenaden in Spanien oder Zufahrtsstraßen zu High-Tech-Zentren in Irland finanzieren - Länder, die in den vergangenen zehn Jahren boomten. In der Zeit gingen aus Deutschland sage und schreibe 100 Mrd. Euro zur Verteilung nach Brüssel. Das macht netto seit 1997 immerhin 67,5 Mrd. Euro.

      Zwar ist der relative deutsche Beitrag in den vergangenen Jahren von knapp 30 auf weniger als 25 Prozent des EU-Etats gesunken. Selbst das ist absurd, gemessen daran, wie sich die Umstände geändert haben. Vor zehn Jahren lag Irlands Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei vergleichbarer Kaufkraft um 17 Prozent niedriger als das deutsche; das spanische hinkte um 27 Prozent hinterher. Damals erwirtschaftete jeder Deutsche laut Eurostat noch acht Prozent mehr als der Schnitt der EU-Bürger.

      Deutschland zahlt, Europa boomt

      Heute liegen die Deutschen um gut ein Prozent unter dem Schnitt der bisherigen 15 EU-Länder - eine Zeitenwende. Die Iren erwirtschaften pro Einwohner jetzt ein Fünftel mehr - gigantisch. Der spanische Rückstand ist auf elf Prozent geschrumpft. Trotzdem erhalten Spanier wie Iren Jahr für Jahr weiter Netto-Gelder in Höhe von 1,3 und 1,5 Prozent ihres Nationaleinkommens. Bei Portugiesen und Griechen sind es sogar mehr als zwei Prozent.

      Ebenso erstaunlich: Die Deutschen zahlten seit 1997 fast dreimal so viel wie der nächstgrößte Nettozahler Großbritannien; und sechsmal so viel wie die Franzosen - beides Länder, deren Wirtschaft in den vergangenen Jahren ebenfalls besser lief als die deutsche.

      Etwas gut hätten die Deutschen noch aus anderem Grund: Nach gängigen Schätzungen wurde die Mark beim Start des Euro zu einem reichlich überhöhten Kurs umgetauscht - zu Lasten der deutschen Wettbewerbsfähigkeit; umso günstiger fiel der Umtausch für Spanier, Franzosen und Italiener aus. Zudem richtet die EZB ihren Zins nun danach, wie es im Schnitt der Euro-Zone um Konjunktur und Inflation steht: Das ist für Länder wie Deutschland teuer, wo die Konjunktur unterdurchschnittlich läuft; anderswo sind die Zinsen umgekehrt viel günstiger, als es unter normalen Umständen der Fall wäre. Ein deutsches Geschenk.

      Es hat etwas Merkwürdiges, wie zurückhaltend die Deutschen all dies in Brüssel und bei den lieben Partnern bislang geltend machten. Was das kriselnde Land dringend bräuchte, wäre zumindest für ein paar Jahre ein EU-Beitragsbonus, wie ihn Margaret Thatcher einst aus weit weniger triftigen Gründen aushandelte (weil das Land so wenig Landwirtschaft hat). Man wagt sich nicht vorzustellen, was Maggie verlangt hätte, hätten die Briten eine Vereinigung zu bewältigen gehabt, die 15 Jahre nach Mauerfall jährlich fast fünf Prozent der Wirtschaftsleistung an Transfers kostet.

      Unterschätztes Desaster

      Was die Deutschen ebenso bräuchten, wäre ein Aussetzen der unergründbaren Drei-Prozent-Defizitregel. Es war ein löbliches Bestreben, das Defizit trotz Einheitslast brav abzubauen wie alle anderen - doch das geht nicht. Bund, Länder und Kommunen investieren aus lauter Panik nur noch so wenig, dass Schulen und Straßen immer stärker verkommen.

      Zu einem Rettungsplan könnte schließlich gehören, dass sich Euro-Länder mit höherer Inflation wie Spanien oder Irland verpflichten, dieses Problem mit eigenen Mitteln anzugehen und die Konjunktur zu dämpfen, statt auch noch Steuern zu senken. Dann könnte die EZB auch eine drastischere Niedrigzinspolitik à la USA oder Japan betreiben.

      Für einen solchen Plan müssten die Deutschen einräumen, dass sie Hilfe brauchen - und dass ihre Idee der Drei-Prozent-Regel Unsinn war. Das hätte Größe. "Die anderen EU-Länder scheinen noch gar nicht verstanden zu haben, wie kritisch die Lage ist," sagt Véronique Riches-Flores, Europa-Chefökonomin bei der Société Générale. Ohne baldige Wende drohe ein Abstieg in die Deflation wie in Japan. Diese Aussicht sollte reichen, über Sonderhilfen für Deutschland zu reden.

      www.ftd.de/fricke
      Avatar
      schrieb am 21.11.04 17:43:43
      Beitrag Nr. 262 ()
      Avatar
      schrieb am 22.11.04 16:29:26
      Beitrag Nr. 263 ()
      Grundsätzlich gilt: Analysten sind mit Banken gleichzusetzen, sie wollen Aktionären nicht zu dicken Gewinnen verhelfen, sondern sind nur an einer Gewinnmaximierung ihres Unternehmens interessiert. Zudem bestehen zahlreiche Vernetzungen und vielfältige Kontakte
      Mit Vorsicht zu genießen - Analystenempfehlungen


      zwischen Analysten, Großaktionären und den Unternehmen selbst, die leider meist das Ziel verfolgen, Kleinanlegern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Obwohl Insider-Kontakte und die Weitergabe Kursbewegender Informationen verboten sind, ja sogar hart bestraft werden, werden sie tagtäglich genutzt, um den Geldfluss von den Kleinen zu den Großen voranzutreiben.

      So hart das auch klingen mag, die Börse ist nichts anderes als ein Haifischbecken, wo Kleinanleger, die sich auf die Kompetenz von so genannten Experten verlassen, ohne Skrupel „gefressen“ werden. Aus diesem Grunde ist es auch so wichtig, die vom Aussterben bedrohte Spezies der unabhängigen Berater zu finden, welche sich den finanziellen Verlockungen entziehen und nicht aus reinem Eigennutz Aktien nach oben oder auch nach unten treiben.

      Simone A. Hörrlein, M.Sc.
      Life Scientist (Univ.)
      Scientific & Medical Writer


      Wie wahr, wie wahr!!!!

      Banken und Broker haben an der Börse nichts verloren.

      Manipulation pur.
      Avatar
      schrieb am 22.11.04 20:05:17
      Beitrag Nr. 264 ()
      wir werden weniger

      Wie schrumpft man eine Stadt?

      Sachsen erlebt, was westliche Bundesländer noch vor sich haben: Verlassene Wohnungen und verfallende Viertel in fast jeder Kommune. Stadtplaner, Politiker und Bürger lernen allmählich, mit der neuen Leere umzugehen

      Von Götz Hamann

      Es war eine Fahrt im September. Eine Fahrt nach Leipzig und Dresden – und bis nach Görlitz, tiefer geht es nicht in den sächsischen Osten. Gernot Illner, Leiter des Stadtplanungsamtes in Augsburg, hatte geahnt, dass es sich lohnen würde, als er mit anderen Planern in einen Bus stieg.

      In Essen, Osnabrück und Augsburg können sie Häuser und Straßen bauen und ganze Stadtviertel anlegen. Doch keiner hat Erfahrung darin, wie man eine Stadt schrumpft. Rückbaut. Abreißt. »Unser Augsburger Stadtentwicklungsplan sieht das noch nicht vor«, sagt Illner.

      Die Pläne in Sachsen schon.

      Statt fünf Millionen Menschen wie zu Wendezeiten leben heute noch 4,3 Millionen in Sachsen, was bitter ist, der Region aber auch den Ruf eingetragen hat, dort ließe sich ein Blick in die gesamtdeutsche Zukunft werfen. Beispielsweise werden im Ruhrgebiet im Jahr 2020 ebenfalls mehrere hunderttausend Wohnungen leer stehen, sagt das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung voraus (siehe Grafik). Zu wenige Geburten. Zu wenig Arbeit. Auch dort ist es Zeit, das Schrumpfen zu lernen.

      Albrecht Buttolo, Staatssekretär im sächsischen Innenministerium, drängte die Stadtplaner in seinem Land schon vor fünf Jahren aufgrund der Prognosen und der stetigen Bevölkerungsabnahme dazu, jenen Traum nicht mehr zu träumen, der Wachstum heißt.

      29000 Wohnungen wurden seither mit Unterstützung der öffentlichen Hand abgerissen, was den Etat mit mehr als 200 Millionen Euro belastete. Neu sind diese Zahlen nicht, doch jenseits davon beginnt das Unbekannte. Einmalige.

      Wo wird in zehn Jahren das Ortsschild von Görlitz stehen?, wollte Buttolo wissen. Wann fährt in Zwickau die letzte Straßenbahn? Und wie bleiben Städte trotzdem lebenswert? Die Antworten waren nicht immer nach seinem Geschmack. »Ein Planer aus Glauchau meinte, es sei eine gute Idee, alle Eckhäuser abzureißen, seit so viele Wohnungen leer stehen, dass niemand mehr an befahrenen Kreuzungen leben muss«, erzählt Wolfgang Preibisch aus dem Bundesministerium für Verkehr und Bau, und er sagt es nicht, auch wenn es ihm anzusehen ist: Dann würde die Stadt wie ein von Karies zerfressenes Gebiss aussehen. Es würde sie zerstören.

      Auch damit ist Sachsen dem Westen um mehrere Jahre voraus. Denn in all den Irrtümern, Rückschlägen und Erfolgen stecken Erfahrungen, die der Westen noch machen muss.


      Görlitz. Das Licht härtet an diesem Morgen auch die erdigsten Farben. Das Gelb und das Braun und die Sandtöne des Görlitzer Untermarktes erkalten mit jeder Minute mehr, was die Fassaden aus Barock und Renaissance noch stärker hervortreten lässt und die Häuser binnen Minuten in ein historisches Bühnenbild verwandelt. Wer im Vergleich dazu Fotos aus dem Jahr 1989 betrachtet, ahnt, warum es Lokalpolitikern und Stadtplanern bis heute misslingt, sich dem Schrumpfen zu widmen.

      Zu Wendezeiten trug die Innenstadt Züge einer Ruine, die Baupolizei hatte viele Gebäude gesperrt, und nicht viel wäre vom Stadtkern geblieben, hätte er weiter vor sich hin rotten müssen. Seither wurden Laubengänge, Kaufmannshäuser, Speicher und Wohnstraßen, zusammen fast 4000 Baudenkmäler, saniert und mit immensen Zuschüssen von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz in ihren Urzustand versetzt. Gegen so viel Verfall anzugehen kostet Kraft.

      Klaus Keller tritt an jenem Morgen recht früh auf den fast menschenleeren Untermarkt und setzt sich mit einer Tasse Kaffee vor die Ratsapotheke. Keller ist ein schlanker älterer Herr mit klarem Seitenscheitel, er trägt eine leicht getönte Brille, Hemd und Baumwollhose. Früher war er Lehroffizier in der Nationalen Volksarmee der DDR, später Immobilienmakler für ein Unternehmen aus dem Westen. In seinem politischen Leben nach der Wende hat er die Fraktion der PDS im Stadtrat geleitet und sitzt bis heute im Ausschuss für Wirtschaft und Stadtentwicklung. »Wie unberührt die Innenstadt heute aussieht! So hergerichtet war sie wohl noch nie«, sagt er mit sichtbarem Stolz.

      Alle fünf Minuten muss Keller aufstehen. Hände schütteln. Man kennt ihn. Er kennt die anderen, auch die politischen Gegner duzt er, mit denen er gemeinsame Sache zur Sanierung der Innenstadt gemacht hat. In diesen Dingen zählt die Parteizugehörigkeit wenig, denn sie haben sich alle dem Aufbau ihrer Stadt verschrieben, und der Untermarkt ist ihre Bühne. Doch während sie dort ihren Geschäften nachgehen, leert sich der Zuschauerraum.




      Von den 72000 Menschen, die im Jahr 1990 in der Stadt lebten, zogen Tausende auf der Suche nach Arbeit gen Westen. Geblieben sind 58000, was logischerweise dazu führt, dass der Leerstand am Stadtrand wie im Zentrum gestiegen ist. Und er dürfte weiter steigen, weil die Einwohnerzahl bis zum Jahr 2020 auf 46000 gesunken sein wird – so das Statistische Landesamt. Derzeit bleibt nahe des Untermarkts abends jede dritte Wohnung dunkel, und wo die Dunkelheit einmal nistet, breitet sie sich aus, weil Leerstand neuen Leerstand anzieht. Wer wohnt schon gern in halb verlassenen Straßen?

      Einem derartigen Schrumpfen der Bevölkerung allein mit einer Sanierungsstrategie zu begegnen, weil man auf künftiges Wachstum hofft, muss scheitern – und hat Folgen wie in Görlitz.

      Längst ist der Immobilienmarkt in der Region aus dem Gleichgewicht geraten. Stephan Brünn, Geschäftsführer des Görlitzer Mietervereins, muss nur hinter sich greifen, um einen dicken Stapel mit Beweisen von einem Schrank zu klauben. Der Mann sammelt in seinem Hinterhofbüro Prozessakten, Fachliteratur – und Anzeigen von Zwangsversteigerungen. Sein ganzes Zimmer ist voll gestopft, und jede Woche erhöht sich der Stapel mit Vermieterpleiten. Hunderte von Privatleuten hatten in den neunziger Jahren Häuser gekauft, um sie mit Hilfe von Steuererleichterungen und den Mieteinnahmen zu sanieren und zu finanzieren. Wer im Stapel hinter Brünn liegt, hat es nicht geschafft und musste zwangsversteigern. Brünn kennt viele von ihnen noch aus dem Gerichtssaal, wenn es galt, einen der wenigen Mieter aus diesen Häusern zu verteidigen. Er rückt seine Brille etwas weiter vor, um über den Rand zu schauen, und liest vor:

      Leipziger Straße. »Kenne ich.«

      Konsulstraße. »War auch frisch saniert.«

      Struwestraße. »Gehörte einem aus dem Westen.«

      Die Görlitzer Stadtpolitik hat einen Trend verschärft, der weite Teile des Landes erfasst hat: Ministerpräsident Georg Milbradt rechnete auf einer Tagung vor, dass die Differenz zwischen denen, die sterben, und denen, die geboren werden, seit 1990 etwa 370000 Bürger betrage. Da in derselben Zeit viele Gemeinden rund um Dresden und Leipzig sogar noch gewachsen sind, weil sich überall im Land, aber vor allem dort, mehr als 90000 Sachsen ihren Traum vom Eigenheim erfüllten, selbst wenn es ein Musterhaustraum war, schrumpfte die Bevölkerung in mittelgroßen Städten und den Randlagen noch schneller.

      So wird die Null zu einer realen Größe. Im Bauministerium rechnen leitende Beamte damit, dass ganze Dörfer verschwinden. Orte, an denen jahrhundertelang gelebt und gearbeitet wurde, werden verfallen. Nur Namen, die wagt niemand zu nennen, weil es zu schmerzhaft wäre – und weil in jeder Prognose der Irrtum steckt. Aber wie könnte es anders kommen, wenn der Ministerpräsident erwartet, dass in Sachsen »ein weiterer Rückgang um 15 Prozent« bevorsteht, was etwa 600000 Einwohnern entspricht.

      Daher sei es für Hauseigentümer »zunehmend schwieriger, Geld für eine Sanierung oder einen Um- und Neubau zu bekommen«, sagte Peter Haueisen, der das Baufinanzierungsgeschäft der Allianz-Lebensversicherung leitet, kürzlich in der Sächsischen Zeitung: Banken akzeptieren eine Immobilie also immer seltener als Sicherheit für einen Kredit, wenn mit dem Geld ebendiese Immobilie aufgewertet werden soll.

      Ein Haus zu kaufen galt jahrhundertelang als Vorsorge fürs Alter, doch in Sachsen zieht genau das viele Menschen in den finanziellen Abgrund.





      Zwickau. Eigentlich hilft nur der große Abriss. Auf einem Hügel nordöstlich des Stadtkerns von Zwickau wächst zwischen der Carl-Gördeler-Straße und der Moltkestraße ziemlich gewöhnliches Gras. Ein bisschen breitbeinig steht Joachim Pflug neben seinem Passat Variant und zeigt erst auf das Gras und den Hügel hinunter und dann auf das braune, vielleicht drei Tennisplätze große Geviert, auf dem er steht. Es ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit. »Da standen überall Sechsgeschosser.« Pflug hat nach der Wende das Bauamt geleitet und wechselte dann zur Zwickauer Wohnungsbaugenossenschaft, deren Vorstandsvorsitzender er heute ist. Er ist einer, an den Staatssekretär Buttolo denkt, wenn er sagt: »Fahren Sie nach Zwickau. Sehen Sie sich das an! So viel kann man in fünf Jahren erreichen.« Auf dem Hügel im Stadtteil Eckersbach hat Pflug gemeinsam mit Jutta Giebner, der Chefin der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft, mehr als 3000 Wohnungen aus den eigenen Beständen abgerissen. Die Lasten haben die beiden geteilt, wozu die Stadt beitrug, indem sie die ersten Gespräche organisierte und den Rückbau gemeinsam mit den Wohnungsgesellschaften plante.

      In Zwickau-Eckersbach gelang es auf diese Weise, ein Dilemma der Wohnungswirtschaft zu überwinden: Vom Rückbau kann eigentlich nur profitieren, wer nicht abreißt, weil seine Chance steigt, einen Mieter zu finden. Also wartet normalerweise jeder darauf, dass der andere anfängt. Etwas günstiger sind die Voraussetzungen in den Plattenbausiedlungen der früheren DDR, weil die Wohnungen in den Händen weniger großer Gesellschaften liegen.


      Görlitz. Aber auch dann gelingt eine Einigung nicht immer, wie an Görlitz zu sehen ist. Dort hat die lokale Wohnungsbaugenossenschaft im Stadtteil Weinhübel viel Geld in Plattenbauten vor allem am Westrand mit Blick auf das Zwickauer Gebirge gesteckt. Aus Sicht der Stadtplaner müsste dort der Rückbau beginnen, doch die Genossen können gar nicht abreißen, weil aufwändige Sanierungen über viele Jahre abgeschrieben und finanziert werden müssen und den Etat der Genossenschaft erheblich belasten würden, wenn die Mieteinnahmen aus diesen recht gut belegten Blöcken ausblieben. Daraus folgt ein weiterer Grund für die Abrissblockade. Die anderen Wohnungsbesitzer misstrauen den Genossen, wie etwa Gerd Kolley, der die Kommunale Wohnungsbaugesellschaft leitet und argwöhnt, es beginne ein Preiskampf um die Mieter. Damit rückt eine Abrissgemeinschaft in weite Ferne.


      Zwickau. Ein paar hundert Kilometer weiter ist die Zukunft klarer. »Unsere Genossenschaft hatte 7000Wohnungen, etwa 1000 haben wir verkauft, 2500 reißen wir ab, bleiben 3500«, fasst Pflug zusammen, was gibt es mehr zu sagen. »Wir haben das angenommen. Und es rechnet sich.« Für jeden Quadratmeter Wohnraum, den er abreißt, bekommt er 70 Euro vom Land, womit die auf den Platten lastenden Altschulden aus DDR-Zeiten getilgt werden können.

      Anfangs motzten die Mieter, als sie einpacken, ihren Block räumen und ein paar hundert Meter weiter unter den Augen neuer Nachbarn wieder auspacken sollten. »Das waren keine schönen Wochen, aber jetzt ist das akzeptiert, und die meisten sind froh, dass sich der Vorstand mit seiner Ochsigkeit durchgesetzt hat«, sagt Pflug, während er mit seinem Audi auf den Fußwegen aus Betonplatten um die Häuser kurvt. »Man sieht ja, was passiert, wenn die Blöcke immer leerer werden.« Wenige Tage zuvor haben Jugendliche in einer verlassenen Wohnung ein kleines Feuer gemacht, Scheiben eingeschmissen und die zurückgebliebenen Möbel aus dem obersten Stock geworfen.

      Pflug fährt weiter und weiter, zeigt auf Wohnblöcke, die stehen bleiben werden, und auf dazugehörende Grünflächen, um die er Zäune hat ziehen lassen, damit die Mieter aus der Nachbarschaft »ihre Hunde nicht drauf scheißen lassen«. Etwa bei 3,50Euro liegt die Kaltmiete in der normalen »Platte«, bei fünf Euro die Wohnungen mit Aufzug, und zum Schluss seiner Tour hält Pflug noch für einen Moment vor zwei Blöcken, die gerade zu einem Altenheim umgebaut werden. Er kennt seine Mieter. Die Älteren lieben das Leben in der Platte, am Stadtrand und mit einem Parkplatz vor der Tür. Die bleiben bis zum Schluss. Ruth Giebner bestätigt es, indem sie sagt, wenn in der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft etwas frei werde, »dann ist der häufigste Grund der Tod des Mieters oder der Umzug ins Altenheim«.

      Offensichtlich braucht eine Stadt mehrere Strategien für das Schrumpfen: Sie kann – unabhängig von den jeweiligen Besitzverhältnissen – den raschen und vollkommenen Rückbau der Randbezirke gar nicht wollen, weil zu viele Einwohner lieber in umliegende Dörfer abwandern würden als in die leeren Wohnungen der Innenstadt zu ziehen. Es wäre ein Einwohnerverlust ohne Gewinn für die Stadt. Andererseits muss sie mit dem Abriss beginnen, weil der Stadtkern sonst in zehn oder fünfzehn Jahren von einem Kranz aus Plattenbauruinen umgeben sein wird – wer möchte in so einer Stadt dann noch leben?

      Darüber hinaus muss die öffentliche Hand eine Strategie für jene Stadtviertel entwickeln, in denen nicht wenige große Wohnungsbaugesellschaften, sondern Hunderte von Privatleuten ihre Häuser haben. Dafür gibt es noch keine Routine. Auch nach fünf Jahren nicht. Staatssekretär Albrecht Buttolo versucht gerade, ein Modellprojekt in der Stadt Wurzen zu starten. Dort will er die Anwohner dazu bewegen, Teile eines Gründerzeitviertels zu räumen, in dem viel leer steht. Das Angebot lautet: Wer abreißt, bekommt einen Zuschuss und verzichtet dafür auf sein Wohneigentum in diesem Viertel. Oder die Besitzer tauschen ihre leer stehenden Häuser gegen eine Wohnung der lokalen Wohnungsgesellschaft in einem Viertel, das stehen bleiben soll. Es ist immerhin ein Versuch.


      Görlitz. Lutz Penske ist von solchen Ideen weit entfernt. Der Leiter der Stadtplanung fährt in seinem Büro, das in einer alten Kaserne liegt, ruhig und präzise mit seinem Finger über einen Stadtplan. Er fährt um die rot gefärbte Innenstadt und die orangefarbenen Einkaufsstraßen aus der Gründerzeit, und dann zeigt er auf die äußerste Linie, die einen weiten Bogen bis hinter die Bahnlinie macht, im Süden an die Neiße stößt und dann zur Altstadt zurückführt. In diesem Gebiet will Penske alle Häuser erhalten, obwohl etwa die obere Hälfte der alten Prachtstraße hinauf zum Bahnhof völlig verwaist ist. Dort, wo bis zum Zweiten Weltkrieg die teuersten Geschäfte lagen, kleben heute ein paar letzte Nachrichten aus den neunziger Jahren in den Schaufenstern. Die guten handeln vom Umziehen, die anderen vom Aufgeben.

      »Wenn Häuser mal für zehn Jahre leer stehen, ist das für Stadtplaner nicht so wichtig, solange die Substanz saniert ist«, sagt er lapidar. Das ist verständlich, weil Görlitz die einzige deutsche Stadt dieser Größe ist, die im Krieg nicht bombardiert wurde. Nach der Wende konnte Penske dieses einmalige Ensemble mit Hilfe des Staates und privater Investoren bewahren. Es ist auch weitsichtig – auf einem Auge.

      Keine der vagen Ideen, die in der Stadt kursieren und die sich darum drehen, wie Görlitz wieder wachsen könnte, werden die Unterlassungen in Sachen Abriss auf absehbare Zeit kompensieren. Es sind einfach keine tausend neuen Arbeitsplätze in Sicht, kein Zuwandererstrom aus dem polnischen Zgorzelec absehbar, das auf der anderen Seite der Neiße liegt. Aber zumindest eine Perspektive gibt es, die das Schrumpfen mildern könnte: Stadtplaner Penske hofft, dass Görlitz für ältere Menschen aus den Ballungsräumen des Westens ein begehrter Altersruhesitz wird, wie die Bretagne und die Toskana.

      Görlitz, das »Pensionopolis«?

      In einer schmalen Straße am Rand der Görlitzer Altstadt steht in eine Fassade gemeißelt: »Das Leben entwickelt mehr Fantasie, als man sich träumen lässt«, was einerseits kitschig ist, aber andererseits stimmt und besonders auf Dagmar und Horst Eichhorn zutrifft. Die beiden leben in diesem Haus und verkörpern das von Penske erhoffte Wachstum, gerade weil sie nicht am Anfang ihres Arbeitslebens, sondern an deren Ende stehen. Horst Eichhorn ist 71 Jahre alt, hat ein Unternehmen in Krefeld besessen und Krawatten hergestellt. Geld hat er lange genug verdient, ist dafür bis nach Indien, Hongkong und Taiwan gereist, doch um es auszugeben, zog das Ehepaar nach Görlitz.

      Ein Jahr sei es her, dass sie sich »in die Stadt verliebt« haben, sagen sie. Zuerst mieteten sie eine 220 Quadratmeter große Jugendstilwohnung mit geschnitzten Türrahmen, goldener Sonne und anderen Stuckelementen unter der Decke und mit Blick auf einen kleinen Park für weniger als 1000 Euro im Monat. Inzwischen wohnen sie noch besser, auf 300 Quadratmetern, und haben trotzdem »die Lebenshaltungskosten im Vergleich zu früher fast halbiert«, weil sie nebenbei ein paar Zimmer an Touristen vermieten. Hinter Dagmar Eichhorn, die im mittelalterlichen Innenhof ihres Hauses sitzt, ist durch ein bodentiefes Glasfenster das großzügige Wohnzimmer zu sehen und durch eine weitere Glaswand die Neiße, die träge vorbeifließt.

      Das Ehepaar lässt damit eine Tradition vom Ende des 19. Jahrhunderts aufleben, als deutsche Rentner schon einmal erkannt hatten, wie gut es sich an der Neiße leben lässt. Ein Teil der Gründerzeitviertel mit ihren Villen und mehrstöckigen Stadthäusern ist just in dieser Zeit entstanden, weil ehemalige Offiziere des Kaiserreichs, pensionierte Beamte aus Berlin sowie Unternehmer und Ärzte aus Schlesien beschlossen, ihr Vermögen an der Neiße zu investieren.

      Die Eichhorns sind zwei, zwei von ein paar hundert Rentnern. Nur – was sind sie gegen die vielen tausend, die gehen?

      (c) DIE ZEIT 28.10.2004 Nr.45
      http://www.zeit.de/2004/45/sachsen
      Avatar
      schrieb am 22.11.04 20:20:18
      Beitrag Nr. 265 ()
      wir werden weniger

      »Wir leben so gut wie keine andere Generation«

      Wer zahlt für die Babyboomer im Alter? Ein Gespräch über die alternde Bevölkerung, private Vorsorge und Rentnerarmut mit Herbert Walter, dem Vorstandssprecher der Dresdner Bank

      DIE ZEIT: Herr Walter, die Finanzbranche trommelt für die private Altersvorsorge als Antwort auf das Demografieproblem. Aber müssen nicht auch in kapitalgedeckten Verfahren letztlich die Jungen für die Alten aufkommen – wer schafft denn die Erträge, von denen die Alten leben sollen?

      Herbert Walter: Diejenigen, die arbeiten natürlich, daran kann und wird sich nichts ändern. Aber wenn wir jetzt mit der privaten Altersvorsorge beginnen, nehmen wir den künftigen Erwerbstätigen eine Last von den Schultern. Wir leben dann nicht mehr nur von der Hand in den Mund, sondern werden zudem unseren Kapitalstock vergrößert und modernisiert haben. Das wiederum steigert im Vergleich zum gegenwärtigen Umlageverfahren das künftige Volkseinkommen. Vor allem aber halte ich es für eine schreiende Ungerechtigkeit, wenn sich meine Generation – die Babyboomer – ganz und gar darauf verließe, dass unsere Kinder und Enkel die Rente bezahlen. Wir haben so gut gelebt wie keine andere Generation.

      ZEIT: Deutschland exportiert pro Jahr rund 100 Milliarden Euro Kapital in den Rest der Welt. Sie sehen: Hierzulande wird gar kein größerer Kapitalstock aufgebaut.

      Walter: Auch Auslandsinvestitionen sichern die Renten ab. Das Geld wird dort investiert, wo die höchsten Renditen erzielt werden. Ein Grund dafür kann die positive demografische Entwicklung in diesen Ländern sein.

      ZEIT: Moment. Es gibt ja noch Wechselkurse und Währungskrisen. Ist es nicht ziemlich riskant, heute Geld in Indien oder Brasilien anzulegen, nur weil dort die Alterspyramide besser ist?

      Walter: Natürlich. Gelder für die Altersvorsorge müssen sicher investiert werden. Darum ist ein professionelles Management der Anlagen so wichtig. Auf die Mischung kommt es an.

      ZEIT: Die Gefahr ist damit nicht aus der Welt.

      Walter: Die Sparer legen ihr Geld nicht einmal in einer großen Summe für 30 oder 40 Jahre fest an. Das streckt sich ja über viele Jahre. Sie geben es einem Fondsmanager, einer Versicherung. Und die Verantwortlichen schichten es permanent um. Nur so kann man Anlage betreiben im globalen Umfeld.

      ZEIT: Wenn alles so unsicher ist – muss dann die gesetzliche Rente nicht einen wesentlichen Teil des Altersruhegeldes stellen?

      Walter: Auch bei dieser Frage bin ich ein Anhänger der Mischung. Rund die Hälfte des Altersruhegeldes sollte langfristig aus der gesetzlichen Rente stammen.

      ZEIT: Und die andere Hälfte? Finden Sie es beispielsweise gerecht, dass das Rentenniveau abhängig von den Launen des Kapitalmarktes ist? Dass ein Jahrgang, der am Ende eines Aktienbooms in den Ruhestand geht, doppelt so viel Rente aus der privaten Vorsorge bezieht wie ein Jahrgang, der fünf Jahre später aufhört zu arbeiten?

      Walter: So ist das Leben. Aber auch das kann kein Argument gegen die private Altersvorsorge sein. Wenn die Anleger gut beraten sind, schichten sie zum Ende ihres Arbeitslebens um in Richtung Sicherheit, kaufen also mehr Anleihen und weniger Aktien. So groß dürften dann die Unterschiede nicht ausfallen.

      ZEIT: Welche Renditen verspricht die Dresdner Bank ihren Vorsorgekunden?

      Walter: Das kommt ganz auf die Risikoneigung an. Vorsichtige Langfristsparer, die Versicherungen bevorzugen, kommen auf rund vier Prozent. Mit Aktien und anderen spekulativeren Anlagen sind auch sechs bis sieben Prozent drin.

      ZEIT: Das sagen Sie heute! Wie wird sich die Sparwelle auf die Rendite der Kapitalmärkte auswirken?

      Walter: Es gibt kaum Studien dazu. Und die wenigen Prognosen, die es gibt, gehen eher davon aus, dass sich die Kapitalmarktrendite während der Sparwelle verringern wird. Das höhere Sparvolumen treibt die Kurse der Aktien in die Höhe und senkt die Zinsen auf Rentenpapiere. Nach unserer eigenen Kapitalmarktanalyse ist aber nicht mit einem dramatischen Rückgang der Rendite zu rechnen. Dafür ist und bleibt sowohl in Euroland als auch in der Welt die Nachfrage nach Kapital zu groß.

      ZEIT: Und wenn die Babyboomer ihre Sparanlagen auflösen, haben sie nicht nur teuer gekauft, sondern müssen auch noch billig verkaufen. Denn immer weniger junge Menschen werden dann die vielen Aktien und Anleihen auch nachfragen.

      Walter: Das sehe ich nicht so. Aus heutiger Sicht ist nicht zu erwarten, dass die Kurse in der Entsparphase dramatisch abschmelzen werden.

      ZEIT: Warum?

      Walter: Ein Grund ist: Es gibt weltweit nur wenige Länder, in denen alte Menschen aufhören zu sparen. Das mag sich ändern, wenn die gesetzliche Rente geringer ausfällt, aber auch das ist zurzeit nur eine Prognose.

      ZEIT: Sie sind ein Optimist.

      Walter: Eher ein Realist. Und zu den Fakten gehört nun mal, dass das Finanzvermögen nicht alles ist. Rund die Hälfte der deutschen Vermögen besteht aus Immobilien, meist dem Eigenheim. Hier wird die Finanzindustrie noch variablere Lösungen anbieten müssen, wie das Haus verrentet werden kann.

      ZEIT: Etwas konkreter, bitte.

      Walter: Heute kauft man sich in der Regel mit 35 ein Haus, bezahlt es bis 55 ab und wohnt dann mietfrei, bis man es nach dem Tod vererbt. Demnächst wird man es möglicherweise mit 65 einem Finanzinvestor verkaufen und noch rund 20 Jahre und länger darin wohnen können. Gleichzeitig erhält man aber monatlich eine feste Rente, die sich aus dem Verkaufspreis des Hauses ergibt.

      ZEIT: Welchen Herausforderungen muss sich die Finanzbranche noch stellen?

      Walter: Die Finanzdienstleister werden die Kunden in Zukunft allumfassend beraten müssen. Das gesamte Vermögen gehört in eine sinnvolle Vorsorgeplanung – also Versicherungsverträge, Fonds, Immobilien und natürlich auch die Rente, die vom Staat kommt. Die Banken haben sich viel zu lange ausschließlich auf die Wertpapierberatung konzentriert.

      ZEIT: Ein Armutszeugnis für Ihre Branche.

      Walter: Ich gebe zu: Bei der finanziellen Lebensplanung haben wir Nachholbedarf.


      Das Gespräch führte Robert von Heusinger

      (c) DIE ZEIT 18.11.2004 Nr.48
      http://www.zeit.de/2004/48/Walter-Interview
      ________________________________________________________
      Alles in allem ein lesenswertes Interview. Nicht einverstanden bin ich mit den Renditeprognosen von Walter. Otto Normalverbraucher wird diese Renditen mit Bankprodukten, bei denen die Bank gut mitverdient, kaum bis gar nicht(KLV) erreichen können.


      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 22.11.04 22:45:22
      Beitrag Nr. 266 ()
      thomtrader,

      immer wieder interessante Quellen, die Du da ausfindig machst.

      Natürlich ist es völlig sinnlos, heute Hochrechnungen auf dreißig Jahre im voraus anzustellen.

      Diese Hochrechnungen sind bis heute nie so eingetroffen, wie prognostiziert.

      Man braucht ja nur die jüngste Hochrechnung über die Rendite von Immobilien betrachten, die keine vier Jahre alt ist.

      Mit denselben Argumenten hat man die Leute als Alternative zu Aktien in offene Immobilienfonds gelockt, das Ergebnis ist bekannt. Das Geld lag lange Zeit auf Geldmarktkonten, weil die Manager keine geeigneten Investments fanden.

      Wird eine völlig andere Familienpolitik in Zukunft betrieben, werden die Geburtenzahlen und die demographische Entwicklung in der nächsten Generation womöglich sich schlagartig ändern.

      Die ehemaligen Gastarbeiter sind fest in der BRD etabliert, haben im Durchschnitt mehr Kinder gezeugt und
      ihre Kinder sorgen auch jetzt für mehr Nachwuchs.

      Wenn die Transferzahlungen in das Heimatland der Gastarbeiter rückläufig sind, werden die Devisen in der BRD bleiben und hier konsumiert.

      Die momentanen Hochrechnungen sind womöglich in einigen Jahren längst obsolet.

      Wer seit Jahrzehnten die Hochrechnungen über allle möglichen Entwicklungen verfolgt, wird zugeben müssen, dass sich so vieles "Hochgerechnete" überhaupt nicht erfüllt hat.

      Ich gehe mal davon aus, dass die Politik langsam erkannt hat, wo sie den Hebel ansetzen muss, bei der Familie.
      Avatar
      schrieb am 24.11.04 20:07:41
      Beitrag Nr. 267 ()
      Interview mit Bruce Greenwald
      19.11.2004 15:51:00



      Prof. Dr. Bruce Greenwald ist Inhaber des Graham and Dodd Lehrstuhls an der Columbia University und der führende akademische Experte für Value-Investing in den Vereinigten Staaten. Fondsmanager zahlen zweitausend Dollar pro Tag, um in seinen Seminaren das Value-Investing zu lernen. Im Gespräch mit Prof. Dr. Max Otte am 12.11.2004 äußert er sich über seine Philosophie des Value-Investing.
      Frage: Professor Greenwald, was hat Ihr Interesse am Value-Investing geweckt?

      Bruce Greenwald: Es war ein echter Zufall. Ich war vorher an der Harvard University, und wollte wieder vielleicht dahin zurückkehren. Daraufhin bot mir mein Dekan einen "großen" Lehrstuhl an, um mich zu halten. Zusätzlich wollte er mich dabei unterstützen, meine Tochter in einem Top-Kindergarten unterzubringen. (Anm. Max Otte: Das ist in New York extrem schwierig.) Ich sagte, dass er das mit dem Lehrstuhl vergessen sollte, wenn er es nur mit dem Kindergarten schafft. Es kam genau anders herum: auch mein Dekan konnte meiner Tochter nicht den gewünschten Kindergarten besorgen, dafür bekam ich den Lehrstuhl.

      Ich bin studierter Ökonom. Als solcher wird man ja darin indoktriniert, an effiziente Märkte und damit eben nicht an das Value Investing zu glauben. Als ich den Lehrstuhl angeboten bekam, ging ich zu einigen Vorlesungen des Vorgängers. Seitdem bin ich vom Value-Investing fasziniert. Wenn intelligente Menschen die Macht, die Möglichkeiten und das Potenzial des Value Investing sehen, ist es fast unvermeidlich, dass sie davon überzeugt werden.

      Frage: In Ihrem Buch schreiben Sie über drei Ansätze des Value Investing: "Basic Value", "Value of the Franchise / Earnings Power" und "Value of Growth".

      Bruce Greenwald: Es sind nicht wirklich drei unterschiedliche Ansätze. Value Investing ist vielmehr ein Prozess, in dem man alle drei Methoden angemessen einsetzt.

      Sie fangen damit an, mit einem disziplinierten Prozess nach "Schnäppchen" zu suchen. Es ist kein Zufall, gute Aktien zu finden. Wenn Sie meinen, dass Sie ein Schnäppchen gefunden haben, sollten Sie sich jedes Mal fragen, warum Gott so gnädig gewesen ist und ausgerechnet Ihnen diese Möglichkeit offenbart hat. Und auf diese Frage sollten Sie besser eine Antwort haben.

      Wenn Sie eine Aktie verkaufen, muss ein anderer Investor diese kaufen. Einer von beiden liegt falsch - jedes Mal. Deswegen müssen Sie immer darüber nachdenken, ob und warum Sie auf der richtigen Seite stehen. Und deswegen müssen Sie mit einer systematischen Suchstrategie starten, und eben nicht mit dem Zufall.

      Im Markt existieren psychologische Verzerrungen. Aktien, die nicht in Mode sind, fallen noch weiter im Kurs, und Aktien, die in Mode sind, will jeder haben. Vielleicht bietet zum Beispiel die Schwerindustrie in Deutschland eine Möglichkeit für einen Einstieg. Derzeit scheint sie nicht viel Freunde zu haben.

      Coca-Cola ist um 40 Prozent gefallen und bekommt derzeit viel schlechte Publicity. Viele Leute haben vielleicht automatisch verkauft, und es sind derzeit nicht viele enthusiastische Käufer da draußen. Man wäre nicht überrascht, wenn Coca-Cola eine Value-Gelegenheit wäre.

      Jetzt haben Sie also einen Kandidaten. Im zweiten Schritt müssen Sie wissen, was Sie wofür bezahlen. Sie benötigen eine Bewertungsmethode, um das Unternehmen zu bewerten. Und da fangen Sie zunächst, wie auch Ben Graham, mit den Vermögensgegenständen des Unternehmens an.

      Frage: Ist der Buchwert heutzutage noch eine Orientierungsgröße? Viele unserer Leser fragen, ob man angesichts der erheblichen Manipulationen in der Buchführung damit überhaupt noch rechnen kann.

      Bruce Greenwald: Auch heute noch ist der Buchwert eine hervorragende Orientierungsgröße. Wenn Sie einfach die Unternehmen mit dem geringsten Markt- zu Buchwert nehmen, würden Sie den Markt je nach Branche und Land um 3-5 Prozent schlagen. Das schafft kaum ein Fondsmanager.

      Bernstein, eine tolle Value-Investing-Firma, benutzt sehr komplizierte Modelle und schlägt den Markt um 3 Prozent. Die Firma hat dann ihren eigenen Return an einfachen Markt- zu Buchwert-Modellen gemessen und festgestellt, dass die einfachen Modelle den Markt sogar um 3,9 Prozent schlagen.

      Markt- zu Buchwert ist also eine sehr gute Suchstrategie für den Beginn des Prozesses. Es ist aber nur der Startpunkt für das Value Investing. Wenn es mit mechanischen Strategien getan wäre, könnte ein Computer die Arbeit machen. Sie würden keinen Analysten benötigen. Sie müssen also effektiv Wissen hinzufügen, wenn Value Investing Sinn machen soll.

      Sie machen mit der Bilanz weiter und überlegen, ob die Vermögensgegenstände korrekt wiedergegeben worden sind.

      Frage: Das ist aber nicht etwas, was der gewöhnliche Investor machen kann.

      Bruce Greenwald: Lassen Sie mich ehrlich sein - Sie haben recht. Wenn Sie feststellen, wie schwierig das ist, dann überlassen Sie es besser einem professionellen Investor. Sie können aber herausfinden, ob dieser professionelle Investor nach den Prinzipien des Value Investing vorgeht. Solche Manager sollten Sie wählen.

      Wenn die Branche schrumpft, nehmen Sie den Liquidationswert. Wenn die Branche stabil ist, wollen Sie wissen, was es kosten würde, das Geschäft neu wieder aufzubauen.

      Wie Sie sehen, ist es eine sehr schwierige Sache. Und daher sind wirklich gute Value Investoren normalerweise auch nur in wenigen Branche Experten. Im Fall von Warren Buffett sind dies kurzlebige Konsumgüter und Markenartikel, Medien und Versicherungen.

      Nehmen Sie Coca-Cola. Das Unternehmen hat einen Marktwert von 100 Mrd. Dollar, aber der Buchwert ist nur 10 Mrd. Dollar. Im Falle von Coca-Cola kaufen Sie also nicht den Buchwert, sondern das Einkommen.

      Den jetzigen Jahresgewinn kennen Sie. Diesen sollten Sie um außergewöhnliche Einflüsse bereinigen. Dann bleiben derzeit ca. 5-7 Mrd. Dollar übrig. Dies müssen Sie nur noch in einen Unternehmenswert umrechnen.

      Dazu müssen Sie wiederum wissen, welche Rendite Sie von einem Investment wie Coca-Cola erwarten, derzeit vielleicht 9 Prozent. Jetzt nehmen Sie 1/0,09 * 5,5 = 60 (Formel für die Bewertung eines ewigen Einkommensstroms von 5,5 Mrd. Dollar bei 9 Prozent Diskontierungszinssatz). Damit haben Sie einen Wert auf Basis des jetzigen Einkommens von ca. 60 Mrd. Dollar. Das ist immer noch weniger als der Marktwert. Selbst zu diesem Zeitpunkt versuchen also viele Investoren, eine Scheibe vom Kuchen abzubekommen, weil das Geschäft unglaublich lukrativ ist. Wenn es so einfach wäre, könnten Sie einfach 10 Mrd. Dollar investieren und 60 Mrd. Dollar Wert durch Einkommen schaffen. Da es nicht so einfach ist, gibt es immer noch eine hohe Nachfrage für die Cola-Aktie.

      Jetzt müssen Sie sich fragen, ob das Franchise nachhaltig ist. Hier muss der Analyst ein Urteil fällen.

      Eine andere Möglichkeit: Wenn die Vermögensgegenstände des Unternehmens 8 Mrd. Dollar Wert sind, der Wert des Einkommens aber nur 4 Mrd. Dollar, dann vernichtet das Management Unternehmenswert. Die Frage hier ist: kann das Management besser werden?

      Normalerweise sollten aber der Wert der Vermögensgegenstände und der Wert der Gewinne ungefähr gleich sein, wenn es keine Eintrittsbarrieren gibt. Wie Sie sehen, sollten Sie die verschiedenen Ansätze gleichzeitig verwenden, um mehrere Perspektiven zu erhalten.

      Was wir noch nicht behandelt haben, ist der Wert des Wachstums. Und das ist extrem schwierig. Aber Earnings Power und Basic Value zeigen Ihnen fast alles, was Sie benötigen.

      Wenn z.B. der Wert der Earnings geringer ist als der Wert der Vermögensgegenstände, wird Wachstum Wert vernichten. Wachstum hätte also einen negativen Wert. Sie bekommen weniger heraus, als sie reinstecken.

      Wenn beide gleich hoch sind, und es keine Eintrittsbarrieren gibt, kennen Sie den Wert des Unternehmens. Sie kennen ebenso den Wert des Wachstums: Der ist null. Wenn Sie mehr investieren, bekommen Sie gerade ihre Kapitalkosten heraus. Damit wird kein zusätzlicher Wert geschaffen.

      Nur im dritten Fall, z.B. bei Coca-Cola, hat Wachstum einen Wert. Hier sollten Sie sehr konservative Annahmen machen. Sie können die Kurssteigerung der Aktie und das Einkommen von Coca-Cola auf relativ einfache Weise einschätzen.

      Gestern hat Coca-Cola bekannt gegeben, dass die Prognose für die langfristige Wachstumsrate von 5-6 Prozent auf 3-4 Prozent gesenkt wird. Also haben Sie vielleicht ein Volumenwachstum von 4 Prozent. Coca-Cola hat Preismacht. Wenn also die globale Inflation 1-2 Prozent ist, kann Coca-Cola dies an seine Kunden weitergeben, oder sogar die Preise um 3 Prozent p.a. anheben. Das wäre schon eine Rendite von 7 Prozent.

      Zudem kostet es nicht viel, das Wachstum des Unternehmens zu finanzieren. Wenn das Unternehmen 5 Prozent auf dem Marktwert (ca. 5 Mrd. auf 100 Mrd.) erwirtschaftet, kann es wahrscheinlich 4 Prozent als Dividenden ausschütten.

      Jetzt haben Sie 4 Prozent Volumenwachstum, 3 Prozent Preisanstieg und 4 Prozent in Form von Dividenden - insgesamt also immerhin 11 Prozent. Im Aktienmarkt insgesamt haben Sie vielleicht eine Dividendenrendite von 2 Prozent. Die Gewinne des Aktienmarktes insgesamt steigen mit dem Welt-Bruttosozialprodukt, also um ca. 4,5-5,0 Prozent. Der Aktienmarkt insgesamt bringt Ihnen also 6,5-7,0 Prozent.

      Wenn Sie also auf diese Weise nach allen drei Methoden den Wert von Coca-Cola bewerten, kommen Sie zu dem Schluss, dass Coca-Cola Ihnen wahrscheinlich überdurchschnittliche Renditen erwirtschaften wird.

      Frage: In perfekten Märkten müsste man sich natürlich fragen, wie das der Fall sein kann.

      Bruce Greenwald: Genau. Wenn Sie sich das jetzige Umfeld anschauen, werden Sie feststellen, dass alle Geschichten ziemlich negativ sind. Und das ist genau das psychologische Umfeld, in dem Sie suchen. Investoren werden da leicht entmutigt und werden vielleicht eine Aktie eher verkaufen. Aber Sie sehen, wenn Sie alle Stücke des Puzzles zusammenfügen, können Sie mit einer relativ großen Gewissheit sagen, dass die Aktie unterbewertet ist.

      Frage: Lassen Sie mich versuchen, einen sehr speziellen Kommentar von Ihnen zu bekommen. Eine meiner Branchen ist das Internet, und ich habe dort viele Unternehmen kommen und gehen sehen. Seit Jahren habe ich unseren Lesern eBay empfohlen, weil es nach meiner Ansicht das mächtigste Franchise der Wert darstellt.

      Bruce Greenwald: Sie haben recht, dass es ein ungewöhnlich mächtiges Franchise ist. Der beste Beweis dafür ist die Tatsache, dass in Japan Yahoo! den Auktionsmarkt dominiert und dass eBay keine Chance hat, da reinzukommen.

      Das Problem ist, dass der jetzige Cash Return (Gewinne pro Marktwert) ungefähr 1 Prozent beträgt. Wir wissen nicht, wie schnell eBay wachsen wird, weil wir wenig historische Daten haben. Coca hat 4 Prozent.

      Das Wachstum von eBay könnte 15 Prozent betragen, oder es könnte schnell zu Ende sein, weil Auktionsmärkte sehr spezielle Märkte sind. Das Wachstum könnte auch 5-6 Prozent sein. Wenn das Wachstum nur 5-6 Prozent betragen würde, dann bekämen Sie insgesamt nur die 6-7 Prozent durchschnittliche Marktrendite.

      eBay ist für mich in der Kategorie "zu schwer zu bewerten"! eBay hat niemals jemanden enttäuscht. Der Aktienwert ist immer weiter gestiegen. Damit erscheint es für viele Leute immer noch als eine attraktive Möglichkeit, reich zu werden. Wir wissen aus vielen Studien, dass die Leute für Lotterietickets systematisch mehr bezahlen, als diese Wert sind.

      Frage: Wie ermitteln Sie die Kapitalkosten?

      Bruce Greenwald: Es gibt zwei Möglichkeiten. Eine wäre Eins geteilt durch das KGV des Aktienmarktes (22 in den USA, also 4,5 Prozent). Sie würden dann dazu die Inflation addieren, also z.B. 2 Prozent. Damit lägen Sie bei 6,5 Prozent.

      Alternativ können Sie die Dividendenrendite (derzeit durchschnittlich 1,8 Prozent in den USA) und das langfristige Wachstum addieren (4,7 Prozent). Das wären auch 6,5 Prozent. Dies sind dann auch die durchschnittlichen Renditeerwartungen. Wenn Sie allerdings mit Investoren sprechen, werden Sie von fast allen hören, dass sie erwarten, 10-12 Prozent zu machen. Ich würde mit einem Diskontsatz von 8 Prozent rechnen.

      Frage: Wie beurteilen Sie die Tatsache dass amerikanische Unternehmen systematisch höher bewertet sind als deutsche Unternehmen?

      Bruce Greenwald: Deutschland hat systematisch enttäuscht - man denkt, dass es zu industrielastig ist, dass der Euro ein Nachteil ist und dass das Land unfähig zu Reformen ist. Irgendwann sollten Value Investoren davon profitieren.

      Frage: Gemessen am Basic Value sind deutsche Großunternehmen billig, aber nicht gemessen am Earnings Power, da diese Unternehmen oft nicht viel verdienen.

      Bruce Greenwald: Dennoch muss sich irgendwann der Basic Value durchsetzen, da die Vermögensgegenstände nicht ersetzt werden. Die Industrie wandert vielleicht in andere Länder ab, aber Deutschland wird sicher weiter große Dienstleistungsunternehmen haben. Ich habe Deutschland nicht im Detail analysiert, aber eine sorgfältige Value-Analyse würde vielleicht zeigen, dass es viele Schnäppchen gibt.

      Frage: Der DAX fiel von 8.000 im Jahr 2000 auf 2.200 im Jahr 2003 und steht jetzt bei 4.100. Verhält sich so ein normaler, großer Index?

      Bruce Greenwald: Lassen Sie mich das korrigieren. Wahrscheinlich hätten Sie unter 3.000 schauen sollen. Jetzt ist langsam wieder das Interesse der Investoren geweckt, es könnte also schon zu spät sein. Auf jeden Fall sollten Sie jetzt vorsichtiger sein.

      Otte: Prof. Greenwald, thank you very much for your insights.

      http://www.finanzen.net/news/news_detail.asp?NewsNr=245737
      Avatar
      schrieb am 25.11.04 20:37:16
      Beitrag Nr. 268 ()
      MITBESTIMMUNG

      "Warten bis der Dachstuhl brennt"

      Von Andreas Nölting

      Michael Adams ist Wirtschaftsrechtler an der Universität Hamburg


      Für Wirtschaftsrechtler Michael Adams ist die paritätische Mitbestimmung in deutschen Unternehmen ein gravierender Standortnachteil. Hohe Kapitalkosten und niedrige Börsenkurse seien die Folgen. Im Gespräch mit manager-magazin.de sagt er, warum er dennoch nicht mit einem baldigen Ende der "Funktionärsherrschaft" rechnet.


      mm.de: Herr Professor Adams, wie bewerten Sie das Reformmodell der Arbeitgeber von BDI und BDA, wonach die Unternehmen die Art der Mitbestimmung frei wählen sollten?

      Adams: Diese Vorschläge sind ein Fortschritt: So würde die Mitbestimmung in den Konzernen demokratisch legitimiert und den Eigentümern ihre Rechte wiedergegeben. Momentan erleben wir die Funktionärsherrschaft einer kleinen Minderheit der Arbeitnehmer, der man entscheidende Macht über unsere Unternehmen gibt.

      mm.de: Können Sie sich vorstellen, dass sich die Zahl Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat auf freiwilliger Basis reduzieren lässt?

      Adams: Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Es gibt hier zu große Einkommensinteressen der Gewerkschaften. Allein in den Dax-30-Unternehmen, die der Mitbestimmung unterliegen, fallen für die Gewerkschafter 21 Millionen Euro Aufsichtsratsgelder an. Das sind Pfründe, auf die keiner freiwillig verzichtet.

      mm.de: Warum begrüßen Sie dann die Vorschläge der Arbeitgeber, wo sie doch selber an einen freiwilligen Rückzug der Arbeitnehmervertreter aus dem Aufsichtsrat nicht glauben?

      Adams: Ich sehe die demokratische Legitimation, die der Mitbestimmung verliehen werden soll. Der Kompromiss, dass nur ein Drittel der Aufsichtsratsposten von Arbeitnehmervertretern besetzt werden könnten, ist besser als die Realität. Dann wären wir von den Systemen unserer europäischen Nachbarn nicht mehr so weit entfernt. Jetzt haben wir bekanntlich das extremste, teuerste und ineffizienteste Mitbestimmungs-Modell, das sich auf der Welt finden lässt.

      mm.de: Aber warum sollten die Arbeitnehmer freiwillig Macht aus der Hand geben?

      Adams: Die paritätische Mitbestimmung ist ein Gesetz. Sie ist 1976 eingeführt worden und es bedarf eines Gesetzes, um sie wieder aufzuheben. Also, ohne die Mehrheit im Deutschen Bundestag geht nichts. Diese Mehrheit sehe ich im Moment nicht, denn der Bundeskanzler hat gesagt, die Zeit rufe nach mehr Beteiligung der Arbeitnehmer. Er verwechselt hier Gewerkschaftsfunktionäre mit arbeitenden Arbeitnehmern

      mm.de: Also bleibt alles wie es ist?

      Adams: Sollte dieser Vorschlag durchkommen, wird Deutschland erhebliche Standortvorteile zurück gewinnen - etwa bei der Ansiedlung der Holding-Gesellschaften. Im Moment wandern die Holdings aus, oder sie kommen nicht nach Deutschland. So wird etwa die Opel-Krise aus Zürich gemanagt. Der Grund ist klar: Die Schweiz hat überhaupt keine Mitbestimmung, so dass die Kapitaleigner dort ihre Organisation ohne schwere Interessenkonflikte im Kontrollorgan der Gesellschaft durchführen können.

      Es ist das Zerreißen der Kontrollinteressen im Aufsichtsrat, das die Unternehmenssteuerung jetzt so schwierig macht. Denn es ist für einen Vorstand ein tödliches Risiko, zu früh Reformen im Unternehmen einzuleiten, auf längere Arbeitszeiten zu dringen, wenn seine ganze Karriere von den Arbeitnehmervertretern abhängt. Denn bekanntlich müssen Personalvorschläge in Deutschland im Aufsichtsrat mit Zweidrittel-Mehrheit beschlossen werden. Wenn sie sich einmal den Unmut der Gewerkschaften zuziehen, ist ihre Karriere beendet. Also wartet man bis der Dachstuhl brennt, ehe etwas gemacht wird. Das ist ein massiver Wettbewerbsnachteil für die deutschen Konzerne, weil sie sich einfach zu spät anpassen. Das lässt man sich auf Dauer nicht gefallen und wird Deutschland bei der erstbesten Gelegenheit verlassen.

      mm.de: Wie wäre denn ein anderes Mitbestimmungs-Modell in einem Unternehmen technisch umzusetzen?

      Adams: Indem man das Mitbestimmungsgesetz von 1976 einfach ersatzlos aufhebt. Dann würde das Drittelbeteiligungsgesetz von 1952 greifen, das ein Drittel Mitbestimmung von Personen, die im Unternehmen beschäftigt sind, vorsieht. Es ist ja ein Missstand, dass etwa bei Volkswagen in Wolfsburg jemand von Frankfurt angefahren kommt, der dort überhaupt nicht arbeitet, und dann, ohne auch eigenes Geld zu investieren, direkt den stellvertretenden Aufsichtsratsposten übernimmt. Dasselbe gilt bei der Lufthansa . Dort kommt ein wildfremder Verdi-Funktionär aus Berlin, besetzt den stellvertretenden Aufsichtsratsposten und bestreikt das eigene Unternehmen. Das sind natürlich Missstände, die beseitigt werden müssen. Die Gewerkschaften haben ein Entsendungsrecht, besetzen 1600 Posten in den Aufsichtsräten und erhalten viel Geld für eine Angelegenheit, bei der sie nichts leisten.

      mm.de: Wie kann das Mitbestimmungsgesetz von 1976 außer Kraft gesetzt werden?

      Adams: Hierzu bedarf es einfach eines Beschlusses des Deutschen Bundestages und dann ist das Ganze verschwunden. Wenn die paritätische Mitbestimmung wirklich ein Standortnachteil wäre, könnten die Unternehmen die Mitbestimmung freiwillig durch Satzungsänderungen beibehalten.

      mm.de: Bevor also die freiwillige Beschränkung der Arbeitnehmermitbestimmung in den Aufsichtsräten greifen könnte, müsste der Bundestag das Mitbestimmungsgesetz von 1976 streichen. Aber dafür ist doch keine Mehrheit zu sehen?

      Adams: Richtig. Das ist das Allerheiligste der Gewerkschaftsfunktionäre und das wird verteidigt. Die SPD wird sich das nicht auch noch an den Hals hängen. Es wäre ein großer Konflikt in der Partei - viele sind ja Gewerkschaftsmitglieder und genießen freudig die Privilegien. Denn man darf nicht vergessen, dass diese Funktionen ja erstens mit Arbeitsfreistellung, für die jeder deutsche Arbeitnehmer pro Jahr mit 180 Euro belastet wird, und dann typischerweise auch für Betriebsratsmitglieder mit einem absoluten Kündigungsschutz versehen sind. Eine Reform an dieser Stelle ist eine Überforderung der SPD.

      mm.de: Also sind die Vorschläge der Arbeitgeberseite in der Praxis nicht relevant?

      Adams: Sie werden sich irgendwann durchsetzen, vielleicht wird es die nächste Bundesregierung schaffen. Womöglich kommen die entscheidenden Anstöße aus dem Ausland. Die deutschen Unternehmen sind dadurch bereits geschädigt, das jeder an der Börse weiß, wir haben einen nationalen Aufsichtsrat, der zur Hälfte von Funktionären besetzt ist, die ihre eigenen deutschen Interessen durchsetzen und damit eine effiziente Aufstellung der Konzerne verhindern. Dies führt zu entsprechenden Risikoabschlägen bei der Eigenkapitalbeschaffung. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass die wirtschaftlichen Ergebnisse von mitbestimmten Unternehmen schlechter sind. Das wiederum übersetzt sich am Kapitalmarkt in niedrigere Aktienkurse, es übersetzt sich in höhere Kapitalkosten - das hat zur Folge: verminderte Möglichkeiten von Investitionen und eine geringere Zahl von Arbeitsplätzen in Deutschland.

      mm.de: Könnte denn ein Konzern sagen, ich reduziere mich freiwillig im Aufsichtsrat auf ein Drittel Arbeitnehmer, um mich attraktiver für ausländische Investoren zu machen?


      Adams: Das kann er nach dem Mitbestimmungsgesetz nicht. Aber er kann faktisch seinen Sitz ins Ausland verlegen, etwa in die Schweiz, und dann ist er die Mitbestimmung los. Das ist von der Deutschen Bank schon angedacht worden. Bei der Commerzbank war es durchgeplant, dass alles nach Mailand gehen sollte wegen der Mitbestimmung. Hoechst hat Deutschland verlassen nach Frankreich - auch wegen der Mitbestimmung. Und das ist das Muster, wie es kommen wird. Wenn größere Unternehmen bei Fusionen den neuen Standort wählen, werden sie eben nicht auf Deutschland setzen. Das bedeutet natürlich, dass sehr viele Steuerzahler abziehen. Man darf nicht vergessen, dass 50 Prozent der Einkommensteuer von nur 9 Prozent der Steuerzahler kommen. Die fallen dann weg.

      mm.de: Nun berufen sich die Gewerkschaften immer auf das hohe Gut "sozialer Frieden".

      Adams: Wir haben in Deutschland einen künstlichen sozialen Frieden, der mit der Katastrophe Sozialversicherung verbunden ist. Wir schieben eine Massenarbeitslosigkeit von fünf Millionen Menschen vor uns her, Hoffnungslosigkeit und eine vernagelte Zukunft für die jungen Leute. Sozialer Frieden und gewerkschaftliche Mitbestimmung im Aufsichtsrat, das hat nichts miteinander zu tun. Im Gegenteil: Da muss man nur den Vergleich zur Schweiz ziehen.

      mm.de: Wie lange geben Sie dem deutschen Mitbestimmungsmodell noch?

      Adams: Ich gebe dem noch maximal fünf Jahre. Dann ist es vorbei. Ich hoffe nur, es wird nicht weiter wie bisher über bittere Lektionen bezahlt werden, etwa durch den Wegzug ganz wichtiger Unternehmen.


      http://www.manager-magazin.de/unternehmen/mittelstand/0,2828…
      Avatar
      schrieb am 25.11.04 21:01:06
      Beitrag Nr. 269 ()
      ... hab gerade gelesen das einige firmen die mitbestimmung (KOTZ) durch die gründung einer ltd. und der verlagerung des firmensitzes nach gb umgehen.
      Avatar
      schrieb am 25.11.04 21:13:54
      Beitrag Nr. 270 ()
      @berrak: ja, ein weiterer Link zum Thema:
      http://www.manager-magazin.de/unternehmen/mittelstand/0,2828…
      Avatar
      schrieb am 30.11.04 09:18:31
      Beitrag Nr. 271 ()
      NEUES WALL-STREET-MAGAZIN

      Anleitung für Verschwender

      Von Marc Pitzke, New York

      Schnelle Autos, Privatinseln, schöne Mädchen - es gibt kein zu viel für die reichen Jungs von der Wall Street. Für die ultrasolvente Klientel gibt es jetzt "Trader Monthly": Die Hochglanzpostille frönt dem hemmungslosen Hedonismus und verherrlicht die Welt der Börsenhaie.

      New York - Auch Börsenhändler brauchen Liebe. Das ahnt jedenfalls "Jenny T.", 27, eine samthaarige Schöne im Winz-Bikini, die zum Traum-Date nach dem Zockerstress lockt: "Gin & Tonic in der Hand, in kurzen Frottee-Bademänteln, wir füßeln auf der Jacht und haben den Tag am Strand von Palm Beach verbracht. Wir erzählen uns Geheimnisse im Mondlicht." Aber natürlich darf ihr da nicht jeder kommen: "Meine Altersgrenze ist 35."

      Zu finden ist Jennys "Bekanntschaftsanzeige", samt Bikini-Foto unter der kessen Rubrik "TraderDater", in der Premieren-Nummer von "Trader Monthly", einem brandneuen US-Hochglanzmagazin für das "aufregende, schnelle Leben" der Börsen-Profis. "Trader Monthly" frönt so ungeniert dem Hedonismus, wie kein zweites Blatt zuvor. Selbst der "Playboy" wirkt dagegen wie ein Blatt, das alte Werte predigt. Amourös, glamourös, mysteriös - und alles dreht sich natürlich ums Geld: "Sehen Sie es, verdienen Sie es, geben Sie es aus", lockt das Titel-Logo.

      Das Macho-Blatt - ein Zwitter aus "Money" und "Maxim", finanziert vom Ex-Trader Magnus Greaves - ist seit ein paar Tagen für zehn Dollar überall dort zu haben, wo New Yorks Börsen-Bullen in freier Wildbahn verkehren: an den Kiosken des Financial Districts, in der Grand Central Station, an Flughäfen. Cover-Boy ist das 27-jährige Wall-Street-Wunderkind Andy ("Prinz Eisenherz") Priston, ein gelackter Jung-Trader mit einem Jahreseinkommen von "10 bis 15 Millionen Dollar". Andy lehnt an einem Sportwagen, den Blick sichtlich genervt von dem Model abgewendet, das ihn anhimmelt, ihre Hand bittend auf seiner Brust.

      Labsal auf den Bahamas

      So sieht es also aus, das tolle Treiben der Wall-Street-Götter: Dolce Vita statt düsterer Großraumbüros. Die erste Titelgeschichte von "Trader" ist eine knallharte Rangliste der 100 bestverdienenden Händler, vom steinreichen Hedgefonds-Hecht Steve Cohen (Jahreseinkommen eine halbe Milliarde Dollar) bis zu den Schlusslichtern, den zwei einzigen Frauen im Club, Angie Long von J.P. Morgan Chase und Margie Teller von der Terminbörse in Chicago (je fünf bis zehn Millionen Dollar).

      Von wegen Börsen-Flaute. Gemeinsam sackten diese Top-Trader voriges Jahr 5,82 Milliarden Dollar ein. "Unsere Liste zeigt, dass `Trader Monthly` eine Idee ist, deren Zeit gekommen ist", prahlt Chefredakteur Randall Lane, der früher das Krösus-Blatt "Forbes" leitete. Die Liste zeigt außerdem die neue Hackordnung an der Wall Street: Risikofonds stehen ganz oben, dann kommen Großbanken, Eurodollar-Futures und Optionen. Die alten Könige dagegen, die traditionsreichen Parkett-Specialists der New York Stock Exchange, sind entthront: Kein einziger schaffte es auf die "Trader"-Liste.

      Und damit entgeht ihnen einiges. Zum Beispiel Cornish Cay, ein privates 15-Hektar-Eiland, das zu den Bahamas gehört und im Immobilienteil des Magazins für "nur" 4,9 Millionen Dollar feilgeboten wird. Einst soll es den Piraten Blaubart beheimatet haben, jetzt verspricht es dem gestressten Finanzjongleur Labsal "nach verwegener Arbeitswoche". Das Herrenhaus - zwei Schlafzimmer, zwei Badezimmer, Rundum-Terrasse - liegt auf dem Hügel, daneben gibt`s zwei Gästehäuser, einen Tenniplatz und ein Dock für Wasserflugzeuge.

      Poker-Tipps für Schürzenjäger

      Zu den Statussymbolen der Händler zählt auch der fast eine halbe Million Dollar teure Porsche Carrera GT, dem sich der "Trader"-Fahrbericht widmet - ein "Supercar", das begehrenswerter sei als eine "attraktive Frau", wie sie in New York und Paris ja "im Dutzend" herumliefen. Unter dem Pseudonym "Pancho" - er will die Kollegen nicht neidisch machen - testet ein "Hedgefonds-Star" die Rennmaschine auf den Landstraßen New Jerseys, bricht mehrfach das langweilige Tempolimit und kommt sich da vor "wie auf der Achterbahn". Wer nicht "genug Kapital hat, um mit den großen Hunden ins Schilf zu pinkeln" (sprich: wer sich den Porsche nicht leisten kann), möge auf eine Testfahrt verzichten: "Danach willst du nur noch mehr."

      Mehr, mehr, mehr. Ob mit Poker-Tipps ("den Gegner sehr sorgfältig durchschauen"), Experten-Ratschlägen für den Eurodollar-Handel ("auf Anomalien in den Kursdifferenzen achten") oder Reiseempfehlungen der Leser ("`Hard Rock` ist das bei weitem beste Casino für uns schwer trinkende, schwer spielende, schwer den Frauen nachjagende Händler") - dem "Trader" geht`s in erster Linie um die Maximierung und Auskostung des Gewinns.

      Doch "Trader" ist mehr als das spleenige Hobby eines Multimillionärs. Das Impressum ist fast länger als das des Hollywood-Klatschblatts "People", unter anderem benennt es eigene Redakteure für die Ressorts Mode, Reise, Spirituosen, Autos, Elektronik, Uhren und Juwelen. Und immerhin, Chefredakteur Lane hat schon mal einen richtigen Journalistenpreis gewonnen: Voriges Jahr bekam er den "National Magazine Award" für eine Reportage über Weinbetrug in Edel-Restaurants.

      Bodenständig im Plüschsessel

      Am Ende aber dürfte "TraderDater" die wohl populärste Rubrik bleiben. Als "Girl of the Day" annonciert da diesmal die 21-jährige "Laura", die sich halbnackt und tätowiert in einen Plüschsessel schmiegt. Laura ist "bodenständig", "spontan", "unbefangen" und "risikofreudig" und sucht einen Trader unter 26 Jahren. Ihre "Lieblings-Anschaffung" in jüngster Zeit waren Winterstiefel. Und auf die Frage, wie sie sich mit einem Begriff aus der Wall-Street-Welt bezeichnen würde, antwortet sie verführerisch: "High-Yield-Investment."

      http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,330145,00.html
      :laugh::laugh::laugh:
      Avatar
      schrieb am 01.12.04 16:01:36
      Beitrag Nr. 272 ()
      Wer Biographien vom Format Christiane F: "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" lesenswert findet, dem dürfte die Autobiographie von Rainer Schrott interessieren:

      http://www.alkohol-nee.de/ChaosKrisen.htm

      Rainer Schrott ist übrigens seit einigen Jahren hier an Board unter der ID "Katzennarr" aktiv.

      Gruß tt
      Avatar
      schrieb am 09.12.04 17:14:44
      Beitrag Nr. 273 ()
      Chronik einer Panik

      Ein Vierteljahrhundert Waldsterben – oder wie ein deutscher Mythos entstand, sich verfestigte und allmählich zerbröckelt. Beobachtungen aus dem Bundesforschungsministerium

      Von Günter Keil

      Geht das Waldsterben weiter, wie es jetzt wieder heißt? Oder wächst so viel Holz heran wie nie zuvor, was kürzlich die Bundeswaldinventur ergab? Unser Autor Günter Keil betreute von 1990 bis zu seiner Pensionierung 2002 im Bundesforschungsministerium die Waldschadens- und Waldökosystemforschung. Als intimer Beobachter deutscher Waldpolitik und Waldforschung zieht er Bilanz, mit einem kritischen Blick auch auf die Rolle der Medien. Außerdem befragten wir Matthias Berninger, den zuständigen Staatssekretär der Bundesregierung, nach der Wahrheit im Walde.

      Am Anfang war der Frost. Wiederholt hatte harter Witterungsstress die deutschen Wälder gegen Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre getroffen. Zur Jahreswende 1978/79 sackte in Süddeutschland das Thermometer innerhalb weniger Stunden um fast 30 Grad. Forstleute wussten, Frostschäden im Wald waren unausweichlich. Zur gleichen Zeit zeigten verschiedene Baumarten andere Schadsymptome, die auf Nährstoffmangel hindeuteten. Zunehmend wurde darüber berichtet, und manche begannen, an eine gemeinsame, böse Ursache zu glauben.

      Eine passende Erklärung lieferte 1979 der Göttinger Bodenforscher Bernhard Ulrich. Er diagnostizierte Luftverunreinigungen, insbesondere Schwefeldioxid und den sauren Regen, als wahrscheinliche Ursache von Waldschäden und stellte 1981 die extreme Prognose, dass »die ersten Wälder schon in fünf Jahren sterben« würden. Sie seien nicht mehr zu retten. Seither galten die Luftschadstoffe als Hauptverdächtige.

      Das Panikwort »Waldsterben« setzten Forstleute selbst in die Welt

      Ulrichs wichtigster Mitstreiter war der Münchner Forstbotaniker Peter Schütt. Er entdeckte 1981 im Forstamt Sauerlach für ihn unerklärliche Baumschäden, die er als »neuartige Waldschäden« bezeichnete. Dass ein Professorenkollege diese Schäden als altbekannte Pilzerkrankung diagnostizierte, konnte den Siegeszug der neuartigen Waldschäden nicht mehr aufhalten. Sie wurden zur Bezeichnung für alle möglichen realen und vermeintlichen Baumschäden, für die man die Industriegesellschaft verantwortlich machte.

      Die Ironie der Geschichte wollte es, dass die Forstleute selbst – in ihrem Fachjargon hieß jede Baumkrankheit »Sterben« – den Paniknamen »Waldsterben« in die Welt setzten. Eine PR-Bombe von ungeheurer Wirkung. Für Laien war jetzt klar: Der ganze Wald stirbt.

      Die Politik geriet ins Trommelfeuer der aufgeregten Presse und der Umweltverbände, sie musste handeln. Die Bundesregierung ließ vom Landwirtschaftsministerium (BML) ein Sofortprogramm »Rettet den Wald« verkünden, das Bundesforschungsministerium (BMFT) startete ein großes Programm »Waldschadensforschung«. Und die Franzosen, die deutsche Ängste seit je nicht ganz ernst nehmen, fügten ihrem Vokabular le waldsterben hinzu.

      Nun mussten erst einmal die Waldschäden bilanziert werden. Aber was war eigentlich ein Waldschaden? Es wurde ein Expertenkreis gebildet und ein provisorischer Vorschlag diskutiert: Man könnte die Verluste der Bäume an Nadeln oder Blättern zum Maßstab von Schädigungen machen und dies für alle Baumarten in allen Regionen in so genannten Schadstufen zusammenfassen – zunächst versuchsweise für ein Jahr. Vielen Fachleuten erschien diese Methodik oberflächlich, ungenau, mehrdeutig und daher unbrauchbar. Auch bot sie keine Chance zur Feststellung der Ursachen. Aber die Politik brauchte sofort eine Generaldiagnose der Wälder, sei sie auch noch so grob. Also wurde das Verfahren angewendet.

      Die erste bundesweite Erhebung von 1984 zeigte jedoch unerwartete Wirkung. Ihr böse aussehender Befund wirkte in der Öffentlichkeit wie ein Paukenschlag. Zu spät bemerkte die Regierung, dass dieses Verfahren nicht nur ungenau war. Viel schlimmer: Es lieferte systematisch viel zu hohe Zahlen über angebliche Schäden. Die Kritik der Wissenschaftler erwies sich als nur zu berechtigt. Aber der Versuch, nun – wie geplant – ein besseres Verfahren einzuführen, stieß auf vehemente Proteste der Umweltverbände und Medien, die darin den Versuch der Politik witterten, »den sterbenden Wald gesundzulügen«. Die Regierung kapitulierte, erhob die provisorische Blatt-Nadel-Verlust-Methode zum Regelverfahren – und entließ unliebsame kritische Forstwissenschaftler aus dem BML-Expertenkreis. Seither liefert das Ministerium Jahr für Jahr einen Bericht ab, der das stets traurige Ergebnis aller Blatt- und Nadel-Verlust-Zahlen zusammenfasste.

      Im Forschungsministerium türmten sich alsbald Förderanträge aus den Universitäten. Ein schwedischer Forscher zählte mehr als 170 Arbeitshypothesen um die neuartigen Waldschäden zu erklären. Aber das würde dauern.

      Die verzweifelte Regierung Kohl hatte jedoch einen Trumpf, denn ihre Vorgänger hatten vorgearbeitet. Schon in den siebziger Jahren gab es eine internationale Debatte über den sauren Regen und seine Folgen. Vor allem schwefelhaltige Abgase der Kohlekraftwerke gingen zum Teil weit entfernt als Säureregen nieder. Er zerfraß Gebäude, ließ vitale Seen absterben, schädigte Pflanzen und bedrohte auch die Gesundheit der Menschen. Bereits im 1.Umweltprogramm der Regierung Brandt von 1971 wurde dieses Problem detailliert samt entsprechenden Aktionen vorgestellt. Die Stockholmer UN-Umweltkonferenz von 1972 und das Genfer Übereinkommen 1979 führten zu internationalen Verträgen mit weitreichenden Maßnahmen. Bereits im März 1974 konnte Bundesinnenminister Werner Maihofer beachtliche Erfolge vorzeigen. Zur Reinhaltung der Luft war das Bundesimmissionsschutzgesetz mit seinen Verordnungen und Verwaltungsvorschriften wie der TA Luft erlassen worden. Die Wirkung trat ein: Die Schwefeldioxid-Emissionen hatten 1973 ihr Maximum mit 3,85 Millionen Tonnen erreicht und sanken dann von 1979 an drastisch. Die Regierung Kohl, seit 1982 im Amt, setzte diese Umweltpolitik fort mit noch notwendigen Ergänzungen der Gesetze und Verordnungen zur Luftreinhaltung. So hatte der deutsche Wald unbemerkt schon das Schlimmste hinter sich und war vor dem sauren Regen gerettet, bevor die Waldsterbepanik begonnen hatte.

      Der Geldregen aus Bonn für die Wissenschaft hatte seltsame Wirkungen. Einem Forscher gelang zum Beispiel 1984 das Kunststück, zwei der beliebtesten Presse-Horrorthemen zu verknüpfen: Waldsterben und Atomkraftwerke. Dieser Professor Reichelt verortete das KKW Würgassen als Quelle der Waldvernichtung – das Medienecho war enorm. Als ihm der Forschungsbeirat Waldschäden bereits ein Jahr darauf Fehler über Fehler nachwies und seine These verwarf, nahm die Presse dies nicht zur Kenntnis. Die Grünen starteten 1990 eine Kleine Anfrage im Parlament: »Zu den Problemen von Waldsterben … durch Einwirkung von Richtfunk und Radarwellen«. Es erwies sich ebenfalls als Unsinn.

      Das Waldsterben bot auch die Möglichkeit, endlich dem Hauptfeind der Umweltschützer, dem Auto, die Schuld anzuhängen. So verkündete im Oktober 1988 die SPD: »Waldsterben: Kfz-Abgase sind die Hauptsünder«. Auch das entpuppte sich später als falsch.

      Es fehlte Magnesium im Boden – durch Düngen einfach zu beheben

      Sieben Jahre nach der Entdeckung angeblich neuartiger Waldschäden bei Sauerlach durch Peter Schütt wurde festgestellt, dass sich die vom Förster gekennzeichneten Bäume wieder erholt hatten und lebten. Die weitaus meisten angeblich »neuen Baumschäden« erwiesen sich so bei genauerer Betrachtung als wohlbekannt. Andere Schadtypen beruhten auf natürlichen Ernährungsstörungen. So fand Reinhard Hüttl heraus, dass im Boden des Schwarzwalds Magnesiummangel herrschte, was vorübergehend zu Nadelschäden führte – und durch Düngen behebbar war. Auch das zunächst rätselhafte gleichzeitige Auftreten verschiedener Erkrankungstypen zwischen 1980 und 1985 fand eine normale Erklärung: großräumiger Witterungsstress durch Trockenheit oder Frost.

      Einen letzten Schlag versetzte 1995 der Göttinger Ökologe Heinz Ellenberg der Hypothese neuartiger Waldschäden. Er schloss seine Analyse mit dem Urteil, dass man »mit naturwissenschaftlichen Mitteln nicht kausal erklären kann, was als solches überhaupt nicht stattfindet und was nur als Folge ungeeigneter Methoden vermutet worden war«.

      Doch 1981 hatten die Kritiker noch keine vernehmbare Stimme. Der stern titelte im September 1981: Über allen Wipfeln ist Gift, gefolgt vom Spiegel im November mit der dreiteiligen Serie Saurer Regen über Deutschland. Der Wald stirbt. Es folgte eine Negativberichterstattung, in der fast zehn Jahre lang kaum ein kritischer Wissenschaftler direkt oder durch einen Bericht zu Wort kam. Sie mussten sich auf Fachzeitschriften beschränken. Lediglich die Neue Zürcher Zeitung ließ in dieser dunklen Periode kritische Stimmen zu Wort kommen.

      Wie man mit Kritikern umging, zeigte ein Vorfall im August 1996. Das Europäische Forstinstitut EFI präsentierte in Freiburg im Breisgau eine Studie über Wachstumstrends der Wälder Europas. Damals war zufällig Professor Spiecker von der dortigen Universität Vorsitzender des EFI. Deshalb stellte er die Ergebnisse der Studie vor, mit der er selbst nichts zu tun hatte. Ein Ergebnis lautete nun, dass sich das Wachstum der Wälder in Europa überall beschleunigt hatte. Das wussten die Fachleute schon länger; es lag überwiegend an den gestiegenen Stickstoffeinträgen. Bei den Journalisten klingelten aber sofort die Alarmglocken: Wenn die Wälder rascher wachsen, so ihre Logik, dann sterben sie offenbar nicht. Eine Verleugnung des Waldsterbens also. Süddeutsche Zeitung und Stuttgarter Zeitung starteten am 2. September den Angriff: Es handle sich um eine Auftragsarbeit für die Industrie des »in Finnland beheimateten« EFI. Ein für Alarmnachrichten bekannter Forscher aus dem Ulrich-Institut in Göttingen erklärte im Bonner Generalanzeiger, die rasch wachsenden Bäume seien sterbenskrank. Dieser bereits drei Jahre zuvor von einem seiner Göttinger Kollegen verbreitete Schwachsinn wurde mehrfach gedruckt, und Hubert Weinzierl vom BUND prägte dafür den Begriff »krankhaftes Wachstum«, den der Spiegel gern verbreitete.

      Die Entwarnung interessierte nur noch 4 von 54 Tageszeitungen

      In einer Sendung des Fernsehens wurden dem EFI und dem Leiter der Studie korruptes Handeln vorgeworfen. Spiecker wurde beschimpft und verdächtigt. Seine Hoffnung, die Universität Freiburg stelle sich schützend vor ihn, erwies sich als trügerisch. Der Rektor und alle sonstigen Würdenträger duckten sich weg und warteten passiv und geduldig das Ende der Steinigung ab.

      Massive Kritik kam jedoch von außen. In der Zeitschrift Nature erschien im November 1988 ein umfangreicher Artikel, der gründlich mit der in Deutschland gängigen Vorstellung vom Waldsterben aufräumte. Die Benutzung dieses Begriffs sei zu beenden. Es habe sich gezeigt, dass die festgestellten Schäden stets von selbst heilten, wenn die Bäume nicht sehr stark geschädigt seien. Damit falle der Löwenanteil der im deutschen Waldzustandsbericht als geschädigt gezählten Bäume weg – der Bericht sei schlicht falsch und irreführend. In den USA und England könne man nun die Lehren aus Deutschland ziehen und diese falschen Konzepte vermeiden.

      Dieser Donnerschlag reichte aber noch nicht. Es dauerte weitere Jahre, in denen kaum kritische Beiträge in deutschen Zeitungen erschienen. Eine der Ausnahmen war Der krank geschriebene Wald (ZEIT Nr. 49/91). Der Artikel beschrieb gravierende Schwächen im Waldzustandsbericht und gab der massiven Kritik Raum, die von Forschern wie Professor Rehfuess und Professor Führ geübt wurde. 1992 veröffentlichte die ZEIT einen weiteren kritischen Text über die fragwürdige Baumkronenbegutachtung als Maß für Gesundheit. Aber der Spiegel hielt mit der Dokumentation Der Wald stirbt weiter dagegen.

      Beträchtliches Rauschen im Blätterwald erzeugte kurz danach am 2. Februar 1993 das Bundesforschungsministerium (BMFT), als es eine Zwischenbilanz mit einer Stellungnahme seines Expertenkreises veröffentlichte. Dieses Gremium, dem auch Professor Ulrich angehörte, kam zu der klaren Aussage, »dass ein Absterben ganzer Wälder in Zukunft nicht mehr zu befürchten« sei. Ulrich räumte damit in respektabler Manier ein, dass er damals mit seiner Prognose zu weit gegangen war. Nur 4 von 54 Tageszeitungen brachten diese Nachricht, 50 berichteten stattdessen über die Probleme, die zu viel Stickstoff im Wald hervorruft. Der Spiegel erfand dafür den neuen Begriff »das zweite Waldsterben« – eine recht drastische Verfälschung der BMFT-Aussagen.

      Bis zum Sommer 1996 herrschte relative Ruhe an der Medienfront. Dann brachte plötzlich am 7.September die Süddeutsche Zeitung einen ganzseitigen Artikel: Holzwege und andere Irrtümer – stirbt der Wald wirklich? Es war die erste umfassende Zusammenstellung der Kritik in einer Tageszeitung. Eine Woche darauf verteidigte Christian Schütze an gleicher Stelle (Wunderheiler und andere Grünschnäbel) empört das Waldsterben. Als Kernbeweis führte er »die amtlichen Berichte an, von denen niemand behaupten wird, dass sie der Waldsterbepanik Vorschub leisten wollen«. Dies offenbarte die ganze Tragik der Untergangsgläubigen: Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet Berichte der Regierung Kohl wissentlich ein viel zu pessimistisches Bild wiedergaben. Unmöglich; die Lage konnte nur noch schlimmer sein.

      Die Regierung saß hilflos in der selbst gestellten Falle. Um die Umweltverbände zu beschwichtigen, hatte sie leichtsinnig die dauerhafte Waldschadenserhebung beschlossen – und zum Dank wurde sie nun alljährlich für neue und stets falsche Schreckenszahlen geprügelt. Zu dieser Zeit hatte sich ein handfester Streit zwischen Landwirtschafts- und Forschungsministerium entwickelt. Ein von 18 führenden Experten für das BMFT im Herbst 1996 erstelltes Gutachten kam einhellig zu dem vernichtenden Ergebnis: Abschaffung des Verfahrens der Waldzustandserfassung wegen Unbrauchbarkeit. Das Gutachten wurde dem BML vorgelegt. Keine Reaktion. Dann reichte das BMFT einen Kompromissvorschlag zur Neufestsetzung der grob falschen Schadstufen nach. Das war zwar ehrenwert, aber taktisch ein großer Fehler. Nun gab es eine Reaktion: Das vertrauliche Papier landete sofort bei den Umweltverbänden und einigen Zeitschriften, die laut protestierten. Die taz titelte: Waldsterben verboten!, der Spiegel: Forschungsminister Rüttgers will den Wald per Dekret für gesund erklären, der BUND erklärte Rüttgers zum größten Wunderheiler, und der Nabu forderte seinen Rücktritt.

      Trotz der Niederlage des BMFT hatte dieser Streit einen unerwartet positiven Effekt auf die Presse. Plötzlich erschienen kritische Artikel. Die VDI-nachrichten meldeten: Der kranke Wald – nur ein Simulant?, die FAZ: Der Wald stirbt – und wächst in den Himmel. Auch die jährlichen Waldzustandsberichte wurden zunehmend bissig kommentiert. Ein sicheres Zeichen für den Abstieg des Themas in der Öffentlichkeit war auch das Nachreichen von Rechtfertigungslegenden. Es hieß nun mehrfach, die ganze Aufregung habe doch ihr Gutes gehabt, denn ohne sie wäre die Politik nicht zur konsequenten Luftreinhaltung gezwungen worden – und zur Rettung des Waldes.

      Um jedoch an diese Legende zu glauben, muss man mehr als zehn Jahre deutscher Luftreinhaltungspolitik unter den Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt vollständig ausblenden. Es war nur ein letzter schwacher Versuch, dem Ganzen nachträglich etwas Gutes abzugewinnen.

      Die politischen Parteien jedoch hielten unverdrossen am Waldsterben fest. Noch im Mai 2000 stellten die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD gleichlautend fest, »dass es keinen Grund zur Entwarnung gibt«. Dieser Satz dient seit Jahren der umweltpolitischen Geisterbeschwörung – vor allem für die Umweltverbände, die auf Entwarnungen allergisch reagierten. Im März 2001 erklärte Landwirtschafts-Staatssekretär Berninger im Parlament, »dass wir zusätzliche Strategien gegen das Waldsterben entwickeln«. Und im Januar 2002 forderten die Fraktionen der SPD und der Grünen, die Anstrengungen zur Reduktion und Beseitigung der »neuartigen Waldschäden« zu verstärken.

      Dann kam die Überraschung: Im Sommer 2003 erklärte Ministerin Renate Künast das Waldsterben für beendet. Immerhin zehneinhalb Jahre nach dem Bundesforschungsministerium. Und inzwischen schallt es wieder aus ihrem Haus, dem Wald gehe es so schlecht wie lange nicht mehr (siehe nebenstehendes Interview). Die weitgehend in den Köpfen ablaufende Katastrophe ist also noch nicht zu Ende. Dabei ist die Bilanz der Geschichte bereits traurig genug.

      Der Schaden für die Wissenschaftler ist enorm. Nun glaubt ihnen keiner mehr

      Da ist zum einen das Geld. Bund und Länder haben von 1982 bis 1998 für die Waldschadensforschung 367 Millionen Mark ausgegeben. Hinzu kommen die Waldökosystemforschung mit weiteren 180 Millionen Mark und die seit 1984 bis heute von den Ländern durchgeführte und finanzierte Waldzustandserhebung. Dass die Medien so lange einseitig berichtet haben, ist ebenfalls ein tristes Kapitel.

      Auch die Wissenschaft hat Blessuren davongetragen. Leider sind einzelne Wissenschaftler der Versuchung erlegen, sich medienwirksam mit dramatisch negativen Aussagen nach vorn zu spielen. Sie wurden mit größter öffentlicher Aufmerksamkeit belohnt, und einige von ihnen übernahmen bald eine Rolle als ständig wachsame Sofortkritiker anders denkender Kollegen. Der Schaden für die Wissenschaft ist erheblich. Denn wer als Bürger die insbesondere von Wissenschaftlern angefachte und jahrelang geschürte Panik erlebt hat und den allmählichen Zusammenbruch der Potemkinschen Kulissen verfolgt, der glaubt Forschern nichts mehr. Die Glaubwürdigkeitsprobleme der Klimaforscher heute haben hier ihre Wurzeln. Auch ein absolut integrer Wissenschaftler kann die Bürger nicht mehr überzeugend warnen, wenn andere den Kredit der ganzen Zunft vorher verspielt haben.

      Die Umweltverbände können ebenfalls nicht erfreut sein. Sie haben viele Jahre ihre Macht gegenüber der Politik ausgespielt, sie haben maßlos übertrieben und werden letztlich mit Vertrauensverlust bezahlen. Bleibt die Politik. Auch für sie sollte es ein Lehrstück sein. Ihr stand Sachverstand zur Verfügung, aber man hat ihn beiseite geschoben, um Pressure-Groups zu gefallen. Es ist jedoch müßig, Politikern Ratschläge für mehr Zivilcourage zu geben; sie haben es von allen angesprochenen Gruppen gewiss am schwersten.

      Was ist nun mit unserem Wald? Ist er gesund? Natürlich nicht. Der Forstschutz-Professor Michael Müller aus Tharandt hat eine für idealistische Laien enttäuschende Antwort: Der gesunde Wald ist eine idyllische Vorstellung, eine Projektion. Es hat ihn nie gegeben. Wo der Wald lebt, kränkelt er auch.

      Aber er muss deshalb nicht gleich sterben.

      (c) DIE ZEIT 09.12.2004 Nr.51
      Avatar
      schrieb am 13.12.04 10:20:46
      Beitrag Nr. 274 ()
      "Unternehmen müssen nicht patriotisch sein" Verfassungsrichter Udo Di Fabio
      über zuviel Staat, zuwenig Freiheit und die Lehren aus dem Römischen Reich


      FRAGE: Herr Di Fabio, wann ist ein Gesetz ein gutes Gesetz?


      ANTWORT: Solange die Bürger nicht danach rufen, ist das beste Gesetz dasjenige, das nicht erlassen wird.

      FRAGE: Dann haben wir zu viele Gesetze in Deutschland.

      ANTWORT: Eindeutig ja. Das ist eine Fehlentwicklung, die die Akzeptanz des Staates gefährdet.

      FRAGE: Warum?

      ANTWORT: Aufgabe des Staates ist es, dafür zu sorgen, daß die Bürger ihre Freiheit geschützt entfalten können. Der Staat soll Freiheit ermöglichen, aber diese nicht durch Gesetze unnötig einschränken. Denn das Grundgesetz geht vom Bild eines freien und selbst verantwortlichen Menschen aus. Unsere christliche und humanistische Kultur will, daß jeder einzelne Mensch sich selbst entwirft.

      FRAGE: Auf diese Weise entstehen große Ungleichheiten. Es gibt erfolgreiche und weniger erfolgreiche Menschen. Muß nicht das Gesetz auf Mäßigung und Gleichheit achten?

      ANTWORT: Die Verfassung verlangt keine Ergebnisgleichheit. Die Freiheit als Konstitutionsprinzip unserer Gesellschaft hat Vorrang. Unterschiede, die hieraus entstehen, soll der Gesetzgeber nicht übermäßig einebnen.

      FRAGE: Aber er tut das doch ständig: Unisextarife bei der Altersvorsorge, zum Beispiel, leugnen sogar den Unterschied zwischen Mann und Frau.

      ANTWORT: Die Eingriffe in die Vertragsfreiheit verfolgen stets einen guten Zweck. Das Mietrecht schützt vor Willkür, wenn es um ein existentielles Lebensbedürfnis geht. Ähnlich begründen wir den Schutz der Arbeitnehmer vor Entlassung, Krankheit und Berufsunfähigkeit. Auch bei Antidiskriminierungsregeln argumentieren wir so. Doch jeder gute Einzelzweck schränkt die Freiheit und die Privatautonomie immer auch ein kleines Stück ein.

      FRAGE: Die gute Absicht hat böse Folgen?

      ANTWORT: Die Moralisierung des Rechts und der schwindende Sinn für Institutionen sind ein großes Problem. Wenn wir sagen, es dürfe nicht sein, daß jemandem islamischen Glaubens keine Wohnung vermietet wird, sind wir mit einer moralisch eindeutigen Einzelerfahrung konfrontiert. Ich sehe eine gefährliche Tendenz, daß wir nur noch vom Einzelfall inspiriert Gesetze erlassen.

      FRAGE: Was ist daran gefährlich?

      ANTWORT: Wir beschädigen Rechtseinrichtungen wie die Privatautonomie, die eine notwendige Voraussetzung der freien Gesellschaft ist. Ein den Bürger bevormundendes Recht bringt dann nicht mehr den freien, aktiven Menschen hervor und gefährdet die Kräfte, auf denen unser Wohlstand ruht.

      FRAGE: Sie plädieren um der Gerechtigkeit willen für mehr Ungleichheit.

      ANTWORT: Ich plädiere nicht für mehr Ungleichheit, sondern für mehr Chancengleichheit und Wettbewerb. Mir gefällt der klassische liberale Gedanke, daß Gerechtigkeit sich findet, wenn Menschen in Freiheit sich entfalten und Eigentum bilden können
      ANTWORT: .

      FRAGE: Eigentum verpflichtet, lernt jedes Kind.

      ANTWORT: Eigentum ist ein ganz wichtiges Freiheitsrecht und eine Freiheitsvoraussetzung. Wenn ich ein Haus baue und vermiete oder Arbeitsplätze schaffe, dann lasse ich andere an meinem Eigentum partizipieren. Als Eigentümer übernehme ich aber auch ein Stück weit Verantwortung für die, die von der Nutzung des Eigentums abhängen.
      ANTWORT:

      FRAGE: Aber unser Miet-, Arbeits- oder Mitbestimmungsrecht beschränkt die Freiheit der Eigentümer.

      ANTWORT: Grundsätzlich gilt: Der hilfsbedürftige Nichteigentümer darf vom Staat auf Kosten des Eigentümers nur so stark geschützt werden, wie es der Freiheitsgedanke des Eigentums erlaubt. Die Aussicht auf Eigentum soll die Menschen beflügeln und sie auch in die Verantwortung lenken. Ich fürchte, daß das Mietrecht - und viele andere umwelt- und sozialstaatliche Verpflichtungen - die Bereitschaft beschränken, Eigentum zu schaffen.

      FRAGE: Und die Unternehmen verlassen das Land, anstatt hierzulande zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen.

      ANTWORT: Unternehmen waren noch nie sonderlich patriotisch, das ist auch nicht ihre erste Aufgabe. Ich warne freilich auch vor dem Irrglauben, es könne globale Unternehmen geben ohne Bindung an ein Land und eine Kultur. Auch die Deutsche Bank muß sich ihrer Identität, Kultur und Herkunft vergewissern. Jedes Unternehmen braucht eine Leitidee von sich selbst, um stark im Wettbewerb zu sein

      FRAGE: Was bleibt vom Sozialen, Herr Professor?

      ANTWORT: Eine Gesellschaft ist nicht einfach die Addition von Individuen. Die Freiheit ist abhängig von einer konkreten Gesellschaft. Deshalb muß derjenige, der seine individuelle Freiheit entfalten und erhalten will, auch für die Gemeinschaft eintreten.

      FRAGE: Und dazu braucht es den umverteilenden Staat?

      ANTWORT: Um wirtschaftliche Freiheit zu leben, brauchen wir eine Friedensordnung und eine anspruchsvolle Infrastruktur. Der Raum, den ein funktionsfähiger Staat garantiert, ist wirtschaftlich gesehen ein unglaubliches Kapital. Beim Blick in einige Teile Afrikas sehen Sie: Wenn Staaten zerfallen, dann ist die Wirtschaft am Ende.

      FRAGE: Aber wenn der Staat zuviel nimmt, dann ist die Wirtschaft ebenfalls am Ende.

      ANTWORT: Ganz recht. Der Leistungswille der Menschen und ihr Gerechtigkeitsempfinden werden geschwächt. Der Interventionsstaat will sich die Wirtschaft mit politischen Mehrheitsentscheidungen in Dienst stellen und den Menschen notfalls auch ohne ihr Zutun ein gutes Leben garantieren. Das kann zu freiheitsgefährdenden Illusionen führen.

      FRAGE: Der Sozialstaat hat übertrieben?

      ANTWORT: Staatsverschuldung und überlastete Sozialversicherungssysteme deuten darauf hin. Sozialpolitik, die die Leistungsbereitschaft der Menschen und die Attraktivität des Standortes allzusehr mindert, kann in einer Abwärtsspirale enden. Wir kennen dies schon seit den späten Tagen der römischen Republik.

      FRAGE:
      Das kann böse ausgehen.

      ANTWORT: Ein Sozialstaat, der seine Gemeinschaftsgrundlagen gefährdet, gefährdet damit auch die Grundlagen des Wirtschaftens und womöglich die Demokratie.
      FRAGE:
      Ab welcher Abgabenlast kippt das System?

      ANTWORT: Das kann man nicht mit dem Rechenschieber ausrechnen.

      FRAGE: Ein Viertel des wirtschaftlichen Erfolgs von Bürgern und Unternehmern dem Staat, drei Viertel dem Bürger. Wäre das fair?

      ANTWORT: Das ist eine sympathische Formel. Sie entspricht der internationalen Erfahrung: Bei dieser Marge rechnet sich eine aufwendige Widerborstigkeit des Steuerzahlers nicht mehr, die meisten werden Aufwand und Risiko von Abgabenvermeidung und Steuerhinterziehung dann anders beurteilen.

      FRAGE: Ketzerisch gefragt: Mit welchem Recht raubt uns der Staat ein Viertel unseres Eigentums?

      ANTWORT: Wenn Sie für 25 Prozent Ihres Einkommens eine Infrastruktur bekommen, einen Raum der Freiheit und der Sicherheit, wenn Sie Schulen für Ihre Kinder und Straßen für ihre Mobilität bekommen - dann ist das nicht zu teuer bezahlt.

      FRAGE: Steuern und Abgaben sind Preise für öffentliche Leistungen.

      ANTWORT: Natürlich. Privatautonomie heißt Vertragsfreiheit. Verträge schließt man mit Leistung und Gegenleistung. Äquivalenz, Gegenseitigkeit ist auch die Grundidee unseres Verfassungsrechts. Darüber muß auch der nachdenken, der allzu beherzt die Wirtschaft aus der Umarmung des Staates befreien will.

      FRAGE: Der Staat soll sich zurückziehen?

      ANTWORT: Der Staat ist keine Anstalt zur Vollversicherung der Bürger. Er gewährleistet einen sicheren Raum für die Freiheit, aber auch für einen manchmal harten Lebenskampf. Wer in diesem Wettbewerb von vornherein ohne wirkliche Chancen ist oder hier scheitert, der bedarf der Hilfe durch die Gemeinschaft. Manche Märkte wie der Arbeitsmarkt würden vielleicht ohne staatliche Mammutverwaltung auch nicht schlechter funktionieren, und eine private Arbeitslosenversicherung wäre womöglich am Maßstab der eingezahlten Beiträge gerechter.

      FRAGE: Wenn Sie dem Markt die Freiheit zurückgeben wollen, müssen Sie dann nicht zwangsläufig die Demokratie beschränken, weil die Profiteure des Sozialstaats in der Mehrheit sind und das nie zulassen werden?

      ANTWORT: Ich weiß nicht, ob Profiteure das Problem sind, manche Menschen sind falschen Versprechungen aufgesessen. Die Demokratie vertraut auf die Vernunft mündiger Bürger, auch einmal über kurzfristige Interessen hinwegzusehen. Nicht nur Churchill wußte, daß es keine bessere Staatsform gibt. Nur die Demokratie garantiert ein offenes lernfähiges System. Als die Bürger Demokratie in Europa erkämpften, wollten sie nicht die ganze Gesellschaft durchregulieren, sondern frei sein, um für sich selbst und ihre Kinder zu sorgen und die Früchte ihrer Arbeit genießen zu können.

      ANTWORT: Das Gespräch führten Rainer Hank und Georg Meck.
      FRAGE:

      Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.12.2004, Nr. 50 / Seite 37
      http://www.faz.net/IN/INtemplates/faznet/default.asp?tpl=com…

      __________________________________________________________

      @oberpfaelzer:
      Ein sehr guter Artikel :)
      Avatar
      schrieb am 13.12.04 17:09:54
      Beitrag Nr. 275 ()
      Analyse
      Der große Strukturschwindel
      Von Jürgen Kaube


      07. Dezember 2004 Hätte man nur drei Sätze, um die Ergebnisse der jetzt veröffentlichten Pisa-Studie 2003 zusammenzufassen, so müßten sie lauten: Es gibt Familien. Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, alle unglücklichen Familien aber sind auf länderspezifische Weise unglücklich. Und: Wir stehen vor einem Desaster sowohl der deutschen Einwanderungspolitik wie des Umganges mit den Unterschichten in diesem Land.


      Es gibt Familien, das heißt: Die Studie bestätigt erneut, ein wie gutes Indiz die soziale Herkunft eines Kindes und das Wohnumfeld seiner Schule für seinen vermutlichen Schulerfolg ist. Dies gilt für alle untersuchten Bildungssysteme und ist nicht verwunderlich. Denn gerade wenn man, wie im Pisa-Test, nicht bloß schulisch vermitteltes Wissen, sondern die Fähigkeit von Jugendlichen überprüft, sich denkend zu Problemen zu verhalten, schlagen Erziehungsumstände durch.

      Sie haben nichts mit dem Unterricht, aber viel mit dem sonstigen Leben der Kinder zu tun. Graphiken der Bremswege eines Kraftwagens deutet besser, wer auch außerhalb der Schulstunde schon Diagramme entziffert hat. Warum es Tag und Nacht gibt, versteht besser, wer einen Globus besitzt und dem nicht vom Milieu beschieden wird, es sei spießig, einen zu haben. Oder um noch eine Pisa-Aufgabe zu zitieren: Die Qualität eines brieflich mitgeteilten Arguments erläutert der besser, der schon einmal einen Brief erhalten hat und dessen primäre Sozialisationsinstanz nicht das Privatfernsehen ist.

      Gepflegte Fiktion

      Es gibt also Schulumwelt, in ihr Familien, und diese erziehen nicht alle gleichermaßen gut. Das Projekt einer Abschaffung dieser Ungleichheit hätte zum Grenzwert die Abschaffung der Familien oder von Schichtung überhaupt. Wer das vorhat, sollte es sagen und sich nicht hinter Finnlandgemälden verstecken. Man könnte dann offen über seine eigenen soziologischen Bildungsrückstände reden.

      Die statt solcher Träume älterer Machart inzwischen gepflegte Fiktion, die Schule könne jede Art von Herkunftsnachteil kompensieren, müßte sich ihrerseits zu der Tatsache verhalten, daß es auch in Australien und Finnland gute und unbefriedigende Antworten in Klassenarbeiten gibt. Auch dort korrelieren diese Antworten mit Schichtung und Familie.

      Den Kindern der Unterschichten wird weniger zugetraut

      Sie tun es dort nur eben nicht so sehr wie hierzulande. Die Zahlen der schwächsten Schüler sind erschreckend, und diese kommen fast verläßlich aus der Unterschicht. Das liegt nicht zuletzt daran, von wem und wie in Deutschland Bildungsentscheidungen getroffen werden. Womit wir beim unterschiedlichen Unglück in den Familien sind. Denn wenn zwei Schüler in der Grundschule jeweils eine Fünf oder eine Zwei in Mathematik mit nach Hause bringen, hat das je nach Familie verschiedene Folgen.

      Die Angehörigen der Unterschicht, darunter viele Migranten, schicken selbst die Begabten unter ihren Kinder nicht leicht aufs Gymnasium, die bürgerlichen Kreise hingegen selbst ihre weniger Begabten. Und noch schlimmer: Die Schule behandelt die unglücklichen wie die glücklichen Schüler ebenfalls ungleich, je nachdem, woher sie kommen. Der Beruf des Vaters wird damit zu einem besseren Vorhersagemerkmal für die Schulempfehlung als die Noten.

      Gegenüber Kindern aus vom Glück verwöhnten Familien wird das Leistungskriterium also weniger starr angewendet. Die Unterschichten aber trauen ihren Kindern weniger zu, und ihren Kindern wird weniger zugetraut. Aus der Hauptschule, auf der sie sich selbst dann oft finden, wenn sie dort gar nicht hingehören, ist der Aufstieg dann ungleich schwerer als von der Vier zur Zwei auf dem Gymnasium. Und in der Hauptschule, die von der deutschen Bildungspolitik auf beispiellose Weise vernachlässigt wird, geht es dann oft nur noch um Sonderformen der Sozialarbeit.

      Sachfrende Argumentation

      Eben darum sagen die Ranglisten der Pisa-Studie überhaupt nichts über unsere Probleme aus. Die deutschen Schüler sind, was ihre Orientierungsfähigkeit mittels Zahlen, Geometrie und Logik angeht, im Durchschnitt nur Durchschnitt. Das ist ebensowenig beunruhigend wie sich aus der Tatsache, daß man beispielsweise in Hongkong, Finnland und Neuseeland besser abschneidet, allein schon bildungspolitische Folgerungen ableiten lassen.

      Die vom Leiter der OECD-Abteilung für Bildungsstatistik, Andreas Schleicher, monoton wiederholte und von Bildungsministerin Edelgard Bulmahn begierig aufgegriffene These, nur ohne dreigliedriges Schulsystem könne Deutschland das Ideal hoher Leistungen bei hohem Herkunftsausgleich verwirklichen, ist völlig sachfremd. Denn nicht nur führt ihr starrer Blick auf Punktwerte und Korrelationen dazu, daß diese sich als Pseudoempirie an die Stelle angeschauter, also nichtdurchschnittlicher Schulerfahrung schieben.

      Das Versprechen, über Bildungsreform gewissermaßen kostenlos zu sozialer Gleicheit zu kommen, ist darüber hinaus von einer, man muß sagen: typisch deutschen Ideologie getragen. Wenn man nur die Schule richtig einrichtet, besagt sie, dann kann man aus den Kindern vollprächtige Staatsbürger machen, ganz egal woher sie kommen und ganz gleich wie es sonst im Land, auf seinen Arbeitsmärkten, in seinen Innenstädten und im Freizeitverhalten seiner Familien aussieht.

      Gesteigerte Kausalphantasien

      Die richtige Schule kann also alles? Diese Haltung führt in Deutschland seit geraumer Zeit dazu, daß unterhalb der Verwirklichung der ideal eingerichteten Schule, also in der unidealen Wirklichkeit, nichts geschieht außer der Zermürbung des Lehrpersonals durch ständig neue Reformen und Verordnungen, also Unfreiheit.

      Im Unterschied zur idealistischen Schulphilosophie Fichtes, die der Lehranstalt ebenfalls alles zutraute und für die der Lehrer darum der wichtigste soziale Platzanweiser im Staate war, sagt man heute "Wissensgesellschaft" und meint damit nicht den Staat, sondern die Wirtschaft. Aber die Kausalphantasien haben sich seitdem gesteigert. Dachte doch Fichte immerhin an verschiedene soziale Positionen, die nach Maßgabe der schulischen Leistung zu besetzen seien. Heute wird allen alles versprochen - wenn nur die blöde Dreigliedrigkeit von Haupt-, Realschule und Gymnasien nicht wäre.

      Die Dreigliedrigkeit hat ihre klaren Nachteile. Sie liegen darin, daß zu früh entschieden wird, welche Leistungen vom Kind wohl zu erwarten sind, und also jene mutlosen und ungerechten Entscheidungen verhältnismäßig folgenreich, ja faktisch oft irreversibel sind. Darum sollte es den Schulen ermöglicht werden, mit anderen Selektionsformen zu experimentieren. Ermöglicht, nicht verordnet - denn niemand weiß, ob und wie eine finnoide Schule hierzulande erfolgreich sein kann. In der Pisa-Studie finden sich auch unter den schwachen Schulsystemen eingliedrige.

      Mangel-an-Ressourcen-erfordert-Know-How-Blabla

      Die Neigung, in Bildungsfragen die Unterschichten zu vergessen, kommt hierzulande aber tatsächlich leichter auf, weil alle, die über Schulererziehung reden, damit letzlich ihre eigene, gymnasiale meinen. In diesem Sinne geht an der Pisa-Studie auch jene Kritik vorbei, die unterstreicht, daß die überprüften elementaren Kulturtechniken noch nichts mit Bildung zu tun haben.

      Das stimmt zwar, betrachtet aber zugleich das Bildungssystem und seine Qualität ganz vom Gymnasium her - über das Gymnasium aber, das Abendland und die Akademikerquote muß man sich, aller nicht zu leugnenden Probleme zum Trotz, erst einmal keine Sorgen machen. Um die Verbreitung des elementaren Denkvermögens in der Schülerschaft am unteren Rand der Bildungsverteilung hingegen schon.

      Und hier geht es nicht, wie der alerte Herr Schleicher aus dem Statistikbüro ständig betont, um den Beitrag dieser Schüler zu einer angeblichen Wissensgesellschaft und für die Wachstumsabsichten des Landes, also um das Mangel-an-Ressourcen-erfordert-Know-How-Blabla. Es geht vielmehr darum, daß es in diesem Land eine immense Anzahl von Kindern gibt, die um die Teilhabe an einem selbstbestimmten Leben gebracht werden.

      Politik, die Armut in jederlei Form gerne leugnet

      Weil es Familien gibt, deren Lebensführung dem nicht entgegensteuert. Und weil es Unterschichten gibt. Und weil insbesondere dort seit langem bildungs- und aufstiegsindifferente Einstellungen zunehmen. Und weil man beides nicht in den Familien ändern kann. Deshalb hat die Politik, die Armut in jederlei Form gerne leugnet, im Chor mit vielen Bildungsreformern den Bildungsarmen nur mitzuteilen, diesseits einer ganz, ganz großen Strukturreform und der Einrichtung von mehr Didaktiklehrstühlen sei nichts Entscheidendes auszurichten.

      Dieselbe Mischung aus Verzagtheit und Unehrlichkeit läßt dann auch niemand laut sagen, daß die Ganztagsschule ihren pädagogischen - und nicht nur arbeitsmarktpolitischen - Sinn darin hat, die Kinder möglichst lange von ungünstigen Einflußquellen ihres Herkunftsmilieus fernzuhalten, was sie zu einer Art Internat für Unterschichten und andere Risikogruppen macht.

      Verlagerung der Aufmerksamkeit hin zu den Unterschichten

      Genau so unredlich werden die nicht-selektiven Schulsysteme in Kanada, Australien, Neuseeland, Island, Finnland angeschwärmt. Denn wie es in diesen Ländern um die sozialen Ausgangsungleichheiten, das Sprachverhalten der Einwanderer und die Kriterien für Einwanderung bestellt ist, wird genau so beschwiegen wie die Freiheiten, die man dort den Schulen läßt.

      Wer darum Kindern aus bildungsarmen Schichten helfen will, der sollte nicht zum Angriff auf ein Schulsystem blasen, das diesen Angriff aus guten wie aus schlechten Gründen, überstehen wird. Denn das produziert nur jene heiße Luft, die nichts bewegt als die Fähnchen der Lobbyisten auf beiden Seiten.

      Statt dessen geht es um die Verlagerung der Aufmerksamkeit hin zu den Unterschichten, um das Eingeständnis, daß gegen die Lebensstile oder „Kulturen" ganzer Gruppen erzogen werden muß. Und es geht um das Ende der Phantasie von der Schule als großer Kausalmaschine.


      Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.2004, Nr. 287 / Seite 33
      http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc…
      Avatar
      schrieb am 13.12.04 17:20:56
      Beitrag Nr. 276 ()
      Das Geschäft mit der Angst

      von Wolfgang Zeman

      Als Ordnungsprinzip ist die Angst seit Urzeiten zur Lenkung der Gesellschaft genutzt worden; von
      Medizinmännern und Priestern auch als seelisches Zuchtmittel, manchmal mit schrecklichen Folgen,
      wie Hexenverbrennung, Flagellation und Autodafé zeigen. Demokratische und autokratische
      Regierungen ängstigen ihre Untertanen durch entsprechende Gesetze. In der heutigen Demokratie
      wird die Angstmacherei häufig von Minoritäten eingesetzt, um ideologische Ziele zu verfolgen, die
      meist nicht im Interesse der Allgemeinheit liegen. Die Manipulation durch Angst ist zu einem
      bedeutenden Faktor im Gesellschafts- und Wirtschaftsleben der Völker geworden, und die
      Erfolgsrate der sich damit beschäftigenden Funktionäre hat ein hohes Niveau erreicht. Es ist also
      geboten, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen, zumal die Einsätze immer höher werden,
      die Ziele immer bedrohlicher und die Machinationen immer verwickelter und undurchsichtiger.
      Niemand kann sich heute brüsten, daß er nicht gelegentlich durch von dritter Seite induzierte Angst
      in seiner Handlungs- und Urteilsfähigkeit beeinträchtigt wird.

      So haben viele Menschen Angst vor Hochspannungsleitungen, nicht weil sie damit etwa schlechte
      Erfahrungen gemacht hätten, sondern weil gewissen Kreisen daran liegt, die moderne Technik zu
      verteufeln. Deshalb behaupten sie mit Absicht fälschlicherweise, daß die elektromagnetischen
      Felder um die Leitungen krebserzeugend - das ist das übliche Zauberwort in diesem Spiel - sind.
      Induzierte Krebsangst hat auch das gesetzliche Einfuhrverbot für nordamerikanisches Rindfleisch
      bewirkt, obwohl entsprechende handfeste Beweise nicht vorgelegt werden konnten.

      Wie raffiniert die Angstmacher vorgehen, besonders wenn es um ihren persönlichen finanziellen
      Vorteil geht, wollen wir jetzt an einem eklatanten Beispiel erläutern.


      Der Brent Spar Coup

      Greenpeace war nach seinen Erfolgen mit der Säuberung von Gewässern, insbesondere der
      Nordsee, auf harte Zeiten gefallen. Die Spenden flossen immer spärlicher. Dazu kam das Gerede,
      daß die Spendengelder an der Legalität vorbei geleitet wurden. Neue Möglichkeiten für Aktionen
      waren weit und breit nicht in Sicht. Die Situation war aussichtslos. Da erschien eine kurze Mitteilung
      in der Presse: Royal Dutch Oil Corporation plane die Versenkung einer Nördseeölplattform im
      nordatlantischen Graben, in der Nähe sogenannter Vents, das sind Vulkanschlote auf dem
      Meeresboden. Hier finden sich Microorganismen, die unter anderem von solchen toxischen
      Ölkomponenten leben, wie sie sich im Lauf der Jahre im Tank der Plattform angesammelt hatten. Das
      mußte die Rettung sein! Phantastisch: Eine Bühne in der Nordsee, nur Flugminuten von den
      Kapitalen der Euroländer entfernt! Den Okularen der Fernsehkameras ohne störende Hindernisse
      frei zugänglich! Von hier aus konnten riskante Schlauchbootfahrten, flotte Helicopterlandungen und
      gewagte Kletterkünste direkt in die Wohnzimmer der Bürger gestrahlt werden. Ja, es war nicht
      auszudenken, es war fast zu schön um wahr zu sein. Hatte doch schon vor Jahren das
      waghalsige Manövrieren von Schlauchbooten die Ministrabilität von Monika Griefahn erbracht. Die
      Sache war einfach. niemand kannte genau die Mengen der giftigen Rohölrückstände in der
      Plattform. Also konnte man unbeschadet hier ein paar Potenzen zulegen. Aber der wirklich geniale
      Schachzug war, daß es mit dem empörten Angstschrei der »betrogenen und von der Industie
      hinters Licht geführten Volksmassen« nun plötzlich so aussah, als sollte die Brent Star ihre riesigen
      Giftmengen in der Nordsee verspritzen, obwohl davon eigentlich niemals die Rede gewesen war.
      Es wurden nämlich nunmehr die bei einer Versenkung in der Nordsee möglichen Folgen in den
      Gazetten und im Fernsehen diskutiert. Die Bevölkerung Großbritanniens, Dänemarks, Norwegens
      und Deutschlands wurde demnach von einer skrupellosen Ölgesellschaft einem Gesundheitsrisiko
      ausgesetzt, das alles bisher Dagewesene hundertfach übertrifft. Eine Klarstellung war unter
      diesen Umständen nicht mehr möglich und Shell mußte klein beigeben. So überzeugend war diese
      Kampagne, daß ein Milliardär und Eigentümer einer weltweiten Kette von Lebensmittelgeschäften
      öffentlich erklärte, er habe seine 200 plus Tausend (!) Mitarbeiter angewiesen, nicht mehr bei Shell
      zu tanken. Dieser Coup kostete die Ölindustrie Milliarden und so manchem Tankstellenpächter
      seinen Jahresgewinn. Dafür muß nun die Allgemeinheit aufkommen, ebenso widerspruchslos, wie
      sie die Konten von Greenpeace durch generöse Spenden wieder aufgefüllt hat. Kein Reporter, kein
      Politiker, kein Gericht kümmerte sich darum, ob eigentlich alles mit rechten Dingen zugegangen war,
      und so konnte Greenpeace später lächelnd zugeben, daß es die Mengen des in Frage stehenden
      Giftes erheblich übertrieben hatte. Sollte es sich wirklich nur um einen Berechnungsfehler
      gehandelt haben, wie er unbeabsichtigt vorkommen kann?

      Lagen bei diesem Beispiel die Fakten so, daß die Wahrheit von denkenden Menschen leicht hätte
      ermittelt werden können, so haben die Angstmacher mit ihren Bemühungen, Kernkraft und
      Gentechnologie für immer zu bannen, kaum intellektuelle Probleme. Einmal handelt es sich hier um
      Vorgänge, deren Grundlagen nur wenigen Menschen zugänglich sind. Die Angstmacherei kann
      also nur durch einige Fachleute entkräftet werden. Darüber hinaus ist die Wahrheit schwer zu
      verstehen und liegt eigentlich nur Wissenschaftlern zum Verständnis offen.


      Die Antikernkrafthysterie

      Wie alle hochentwickelten Techniken, so birgt auch die Kernkraft erhebliche Risiken. In Anbetracht
      der Unfälle von Three Mile Island und Tschernobyl braucht hierüber kein Wort mehr verloren zu
      werden. Allerdings ist der Entwicklungsstand der heutigen Kernkrafttechnik so fortgeschritten, daß
      Unfälle in dieser Art und Schwere nicht mehr zu erwarten sind. Sie liegen immerhin 20 bzw. 13
      Jahre zurück. lm Vergleich mit der Energieerzeugung durch Brennstoffe wie Kohle, Erdgas und Öl
      schneidet die Kernenergie hervorragend ab, weil Gewinnung, Transport und Verbrennung fossiler
      Energieträger weltweite Schäden verursacht, die kumulativ jährlich etwa zwei GAU (größter
      anzunehmender Unfall) entsprechen. Dem stehen zwei, allenfalls halbe GAUs während der letzten
      20 Jahre bei der Kernenergie gegenüber. Diese eindeutig höhere Sicherheit der
      Kernenergieerzeugung erklärt sich damit, daß der Aufwand an fossilen Brennstoffen zur
      Produktion einer gegebenen Menge Energie 3000mal mehr Gewicht hat und daß die Transportwege
      für Uran wesentlich kürzer sind, seine Gewinnung bedeutend einfacher und ungefährlicher. Dazu
      kommt, daß Kernenergie billiger ist als die aus Verbrennung gewonnene, nicht zu reden von der
      Energieerzeugung durch Wind und Sonnenstrahlung.

      Bei dieser Sachlage ist es unverständlich, daß es einer unbedeutenden, aber lautstarken Minderheit
      gelingen sollte, Mehrheitsbeschlüsse für ein gesetzliches Verbot der Kernenergie zu erwirken. Mit
      Ansteckplaketten: »Kernkraft? Nein danke!« war dies nicht zu erreichen, um so weniger, als
      objektive, überzeugende Argumente nicht zu erbringen sind. Nein, es wurde eine Angstkampagne
      aufgezogen, die sich jeder nur denkbaren Täuschung und Unwahrheit bediente und damit
      erfolgreich war. Es ist ein Lehrbeispiel für eine maliziöse Volksverdummung. Sehen wir uns an, wie
      es gemacht wurde.

      Der Umgang mit radioaktiven Materialien erfordert Sachkenntnis und Sorgfalt, da es sich um höchst
      gefährliche Substanzen handelt. Diese fallen in großen Mengen bei der Produktion von Kernenergie
      an und müssen umweltfreundlich und unschädlich entsorgt werden. Diese Entsorgung war
      jahrelang mangelhaft, vor allem in der früheren Sowjetunion, ist aber heute effektiv und absolut
      sicher, auf jeden Fall in Deutschland. Kernkraftgegner argumentieren nun, daß die Entsorgung als
      solche zwar sicher sein mag, aber daß sie nicht gewährleistet ist. Gerade darum hat sich die
      Industrie jahrelang bemüht, ohne Kosten zu scheuen, und der Erfolg ist beachtlich. Der heutige
      Stand der Entsorgung entspricht allen nur denkbaren Anforderungen. Zukünftigen weitergehenden
      Erfordernissen wird durch entsprechende Planung Rechnung getragen. Hierauf gründeten die
      Überlegungen der Kernkraftgegner, und sie beschlossen, diese Planungen zu hintertreiben,
      gegebenenfalls durch Gerichtsverfahren aufzuhalten, um auf diese Weise die gut funktionierende
      Entsorgung zu behindern, wenn nicht gar zu unterbinden. Mit Hilfe von Bürgerinitativen, die völlig
      ungerechtfertigte Einsprüche gegen die Errichtung von Endlagerungsstätten erheben, wurde die
      Entsorgung für längere Zeit aufgehalten. Die Agitatoren konnten dann, scheinbar mit Recht, darauf
      hinweisen, daß die Entsorgung nicht gewährleistet ist, weshalb die Kernenergie eben ein
      unverantwortliches Risiko bedeutet. Die gewaltträchtigen »Demonstrationen« gegen den Transport
      von radioaktivem Müll verfolgten dasselbe Ziel. Hierbei wird das Engagement von Chaoten und
      Spinnern generalstabsmäßig organisiert und zur Wirkung gebracht, so daß die Polizei sich nicht
      mehr in der Lage sieht, den Spuk zu kontrollieren und von sich aus vorschlägt, die Transporte zu
      unterlassen. Wiederum wird eine funktionierende Entsorgung in Frage gestellt. Mit zynischer
      Arroganz wird den Polizisten weisgemacht, daß sie durch Verschmutzungen der Castorbehälter
      »verstrahlt« wurden und mit Krebs oder anderen ernsten Gesundheitsschäden zu rechnen hätten.
      Natürlich ist nicht das Geringste davon wahr, denn die Strahlung der »verseuchten« Castorbehälter
      ist womöglich geringer als die einiger der begleitenden Polizisten. Aber was nützt die Kenntnis der
      Wahrheit, wenn die Lüge übermächtig ist?

      Eine zweite auf Angsterzeugung gerichtete Strategie der Kernkraftgegner fußt auf der
      Behauptung, daß Kernkraftwerke bei den Anwohnern Krebs hervorrufen können. Wer möchte
      dieses Risiko schon eingehen? Als »wissenschaftlicher« Beweis muß die tödliche Leukämie Marie
      Curies herhalten. Auch die Erinnerung an die Greuel von Hiroshima und Nagasaki wird durch
      geeignete Publikationen, Gedenkfeiern und dergleichen in den Köpfen der zu bearbeitenden
      Bevölkerung wachgehalten, obwohl Atombombenexplosionen etwas völlig anderes sind als
      etwaige Unfälle in nuklearen Installationen. Erwartungsgemäß erscheinen auch schon die ersten
      wissenschaftlichen Arbeiten über das gehäufte Auftreten von Leukämien in der Umgebung von
      Kernkraftwerken. Weil ein lückenloser Zusammenhang aber mit dem besten Willen nicht konstruiert
      werden kann und selbst pseudowissenschaftlich nicht nachzuweisen ist, müssen andere
      Argumente fabriziert werden. Willige und zu allem fähige »Wissenschaftler« dokumentieren
      nunmehr, daß auf den Dachböden von Häusern der Gemeinden, in denen der Blutkrebs gehäuft
      auftritt, Ansammlungen von radioaktivem Plutonium und Neptunium gefunden wurden. Offensichtlich
      ist das naheliegende Kernkraftwerk dafür verantwortlich. Was aber tunlichst nicht erwähnt wird
      ist, daß es sich bei den beschuldigten Substanzen eindeutig um Rückstände aus den
      atmosphärischen Atombombenversuchen der fünfziger Jahre handelt, die fast überall auf der Erde
      niedergegangen sind und nachgewiesen wurden. Sie sind unschädlich, auf keinen Fall für
      irgendwelche menschlichen Krankheiten verantwortlich und kommen garantiert nicht aus einem
      Kernkraftwerk. Aber wen interessiert das? Die Angst vor dem Kernkraftwerk ist in das Bewußt-
      sein der Bevölkerung eingedrungen und wirkt dort im stillen. Die Antikernkraftideologen haben mit
      ihrer Desinformation leichtes Spiel, denn das Wesen der Kernkraft sind Strahlen, die uns Menschen
      auf immer verborgen bleiben, weil wir nicht über entsprechende Sinnesorgane verfügen. Sie
      müssen durch komplizierte technische Apparate aufgezeigt werden. Es gibt solche sogenannten
      ionisierenden Strahlen in großer Mannigfaltigkeit. Ebenso ausgedehnt ist das Spektrum ihrer
      Wirkung auf Lebewesen. In manchen Fällen ist die Wirkung notwendig, in anderen ist sie
      erwünscht und in wieder anderen schädlich. In vielen Fällen kann man sie vernachlässigen. Diese
      Vielzahl der Möglichkeiten kommt natürlich den Angstmachern zugute, weil kaum jemand in der Lage
      ist, die einzelnen Fakten so aufzugliedern, daß ihre Effekte insgesamt beurteilt werden können. Zur
      Wirkung von ionisierenden Strahlen auf biologische Systeme, also Pflanzen, Tiere, Menschen,
      Mikroorganismen liegen aber gut fundierte und aussagefähige Erkenntnisse vor:

      1. lonisierende Strahlen durchziehen das gesamte Weltall, und sie werden in verschiedenem
      Ausmaß von vielen Materialien erzeugt und verursachen die sogenannte background radiation,
      eine Hintergrundstrahlung, die überall vorhanden ist und die in ihrer Intensität schwankt.
      Besonders hoch ist sie in Städten wie Aberdeen, wo die Häuser aus stark radioaktiven
      Natursteinen gefertigt sind, und in allen Hochgebirgen, wo die interplanetare Strahlung durch die
      dünne Lufthülle wenig abgeschwächt wird. Auch im menschlichen Körper befinden sich
      radioaktive Atome, z. B. Kalium-40, die den Menschen zu einem strahlenden Objekt machen, mit
      einer Ausstrahlung, die manchmal nur wenig unter den gesetzlich erlaubten Strahlenintensitäten
      liegt.

      2. Ohne ionisierende Strahlen gäbe es kein Lebewesen, da die Energie dieser Strahlen notwendig
      ist, um biologisch aktive Moleküle, wie Aminosäuren und die Basen von Nukleinsäuren aus
      Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Schwefel zu synthetisieren.

      3. Jedes Lebewesen ist gegen die schädlichen Wirkungen dieser Strahlen geschützt, allerdings
      nur in einem Maße, das in etwa der Intensität und Dosisleistung der überall präsenten
      Hintergrundstrahlung entspricht. Grundsätzlich verfügt jede Zelle über Mechanismen, die
      strahlenbedingte Molekularschäden am Erbgut ausschneiden und dann ersetzen.

      4. Ebenso wichtig wie die physikalischen Größen der Strahlung ist die Qualität des
      strahlenabsorbierenden Materials. So können z. B. viele Lebensmittel sehr hohe Strahlendosen
      in kurzer Zeit absorbieren ohne Schaden zu nehmen, was zur Sterilisierung genutzt wird, da
      die Strahlung etwa vorhandene Keime mit Sicherheit tötet. Auch gewisse menschliche
      Körperteile sind relativ »strahlentolerant«, wie z. B. das Gehirn, Knochen und Knorpel.

      5. Die Faktoren, die die biologische Wirksamkeit bedingen, sind bekannt. Dabei handelt es sich
      einmal um die verschiedenen physikalischen Faktoren der Strahlen. Der wichtigste
      Gesichtspunkt hier ist die Fähigkeit der Strahlung, auch dahin zu gelangen, wo sie eine Wirkung
      entfalten kann. Und diese Voraussetzung wird in den meisten Fällen nicht erfüllt, da alle Materie,
      also auch die Luft, Strahlen absorbiert und damit wirkungslos macht.

      Wie sehr sich die Auswirkungen der Angstmacherei gegen die Kernkraft in den Köpfen der
      Menschen festgesetzt haben, zeigt die folgende Beobachtung. Sterben in einer belgischen
      Kohlenzeche einige Arbeiter durch einen Unfall, dann findet man in unseren Zeitungen eine kleine
      Notiz. Kommen in der Türkei einige Dutzend Bergleute beim Kohlenabbau um, dann widmet man
      ihnen vielleicht einige Zeilen. Kommen aber hunderte von Kumpels in China um, dann wird davon
      kaum Notiz genommen. Beginnt jedoch in einem japanischen Kernkraftwerk ein Rohr des
      Kühlsystems zu lecken, nota bene ohne daß jemand zu Schaden kommt, dann ist das gut für einen
      zweispaltigen Artikel im Hauptteil der deutschen Tageszeitungen.


      Der Haß auf die Gentechnologie

      Ebenso wie bei der Kernkraft sind es bei der Gentechnologie fast ohne Ausnahme ideologisch
      verblendete Fanatiker, die sie bekämpfen. Oftmals handelt es sich sogar um dieselben ldeologen,
      die auch hier, wie bei der Kernkraft, keine stichhaltigen Gründe für ihre gesellschaftlich
      unerwünschten, abstrusen Ziele anbieten können. In Ermangelung von überzeugenden Argumenten
      verfallen sie auf Angstmacherei unter Hinzuziehung von Desinformation, Terror und selbst Gewalt,
      um ihr Anliegen voranzubringen, und sie sind damit auch erfolgreich. Diese Aktivisten haben
      leichtes Spiel, weil die Bevölkerung über die Grundlagen der Gentechnologie kaum orientiert ist.
      Unkenntnis ist der Nährboden von Zwecklügen, und so wird alles getan, um das Niveau der
      Kenntnis so niedrig wie möglich zu halten. Hier kommt den Ideologen, ebenso wie bei der Wirkung
      ionisierender Strahlen, zupaß, daß die Materie spröde ist und daß manche Fragen auch heute noch
      nicht eindeutig beantwortet werden können. Aber werfen wir erst einmal einen Blick auf die
      fundierten Tatsachen.

      Die Gentechnologie befaßt sich mit der gezielten, vorhersagbaren Veränderung des Erbmaterials
      von Lebewesen mit der Absicht, die Eigenschaften dieser Lebewesen zu verbessern oder zum
      Vorteil der Menschen zu verändern. So werden Kulturpflanzen ertragreicher gemacht,
      widerstandsfähig gegen Schädlingsbefall, unabhängig von klimatisch bedingten
      Wachstumsstörungen etc. Bakterien werden »hergestellt«, die schädliche Substanzen entgiften,
      verseuchte Böden regenerieren, Arzneimittel produzieren, Schutzstoffe enthalten, die die
      Lagerfähigkeit von Lebensmitteln verbessern etc. Schließlich werden auch Säugetiere mit Genen
      ausgestattet, die die Produktion wichtiger biologischer menschlicher Substanzen, wie Hormone,
      Cytokine, Wachstumsfaktoren etc. in Milch oder Serum ermöglichen. Für alle diese Unternehmungen
      ist es erforderlich, die notwendigen Gene zu übertragen, d. h. die Gentechnik beschäftigt sich mit
      der Produktion »transgener« Individuen.

      Auf mögliche Gefahren dieser transgenen Technik haben sich ihre Gegner konzentriert, weil damit
      ein Horrorszenario leicht zu erfinden ist. »Stellen Sie sich vor«, heißt es da, »wenn beim Cloning
      von Menschen lauter Frankensteins herauskommen? Wollen Sie etwa riskieren, das Gen eines
      Maikäfers, einer Rapspflanze, eines Regenwurms in sich zu tragen? Was passiert, wenn die Gen-
      techniker ein Unkraut produzieren, das unsere Kulturpflanzen überwuchert, gegen das kein
      wirksames Vernichtungsmittel gefunden wird?«

      Zugegeben, die meisten von uns sind dieser Art von Argumentation nicht zugänglich, weil sie
      fragwürdige und unwahrscheinliche Szenarios ins Feld führt. Deshalb greift man zu subtileren,
      aber desto wirksameren Argumenten. "Schließlich will ich doch noch etwas unverfälschte Natur
      haben« ist häufig als Grund der Gegnerschaft gegen die Gentechnologie von ganz normalen
      Durchschnittsbürgern zu hören. Ja, das wollen wir alle, ob es nun die Landschaft betrifft oder
      unsere Ernährung. Da die Gentechnik etwas grundlegend Neues schafft, so argumentieren ihre
      Gegner, verfälscht sie eben die Natur, so wie Kunsthonig kein Naturhonig ist. Diese Analogie ist
      falsch. Richtig ist allerdings, daß heute viele Lebensmittel verfälscht sind, jedoch nicht durch
      Gentechnik. Das Mehl zum Beispiel, das wir im Supermarkt kaufen, ist durch chemische und
      physikalische Einflüsse so verändert, daß Mehlwürmer nicht mehr darin leben können, weil eben
      die normalen Enzyme und andere wichtige Eiweißstoffe und Mineralien zerstört oder entfernt
      worden sind. Der Naturschützer, der sich dagegen auflehnt, ist aber nicht in Sicht.

      Die Gentechnologie verfälscht gar nichts. Sie ist letzten Endes nichts anderes als die Fortsetzung
      der zehntausend Jahre alten Bemühungen der Menschen, durch Züchtung zu besseren
      Getreidearten, zu domestizierten Fleischtieren, zu mehr effizienten Futterverwertern zu kommen.
      Die heute angewandten Methoden sind alle der Natur abgesehen. So ist zum Beispiel der
      Austausch von Genen zwischen verschiedenen Spezies eine seit hunderten von Millionen Jahren
      geübte Technik der Natur, die die Entwicklung der heutigen Lebewesen aus den einzelligen
      Organismen erst möglich gemacht hat. In unserem Erbgut tragen wir daher nicht nur Gene von
      Menschenaffen, sondern dutzendweise von Viren, Bakterien, Insekten und sogar von Pflanzen,
      und das gilt für alle heutigen Lebewesen, ob Tiere, ob Pflanzen. Die Inaktivierung von Genen, ein
      wichtiges Werkzeug der Gentechnologie, wurde ebenfalls von der Natur kopiert. Im Gegensatz zur
      Natur ist die Gentechnologie jedoch effizienter, weil sie heuristisch, das heißt gezielt, arbeitet und
      nicht empirisch.

      Die langährige Erfahrung mit der Gentechnologie hat bislang keinerlei Anhalt dafür ergeben, daß die
      Argumente ihrer Gegner stimmen. Deshalb ist die Kennzeichnung von Lebensmitteln bestenfalls
      eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, aber auf keinen Fall bietet sie Schutz gegen eine unbestimmte
      Drohung. Sie ist unnötig.


      Schlußbetrachtung

      Wie man sieht, ist die Angstmacherei ein effizientes Werkzeug, mit dessen Hilfe lautstarke und
      skrupellose, oft chaotische Minderheiten soliden Regierungen und ganzen Völkern ihre Meinungen
      aufzwingen, mögen diese auch noch so abstrus sein. Dabei wird mit ostentativem Stolz auf die
      erreichten Errungenschaften verwiesen und nicht vergessen, das ganze Getue als einen Sieg der
      Demokratie darzustellen. Die Bilanz für unser Land ist jedoch niederschmetternd, ist verheerend.
      Durch die Agitation gegen die Gentechnologie sind Tausende von fähigen Wissenschaftlern
      ausgewandert, ein Verlust, der auf viele Milliarden Mark beziffert werden muß.

      Große Industrien haben sich ebenfalls ins Ausland abgesetzt, wobei Tausende von Arbeitsplätzen
      verlorengegangen sind, wie z. B. im Fall Höchst. Die Firma ist eben im Begriff, ihren Sitz nach
      Straßburg zu verlegen, wieder ein enormer finanzieller Schaden und ein deprimierender Verlust an
      Prestige. Im Vergleich mit den USA, Großbritannien, Japan, China, Taiwan und vielen anderen
      Ländern, ist Deutschland auf dem Gebiet der Gentechnik heute ein Entwicklungsland, das
      hoffnungslos hinter dem Fortschritt der anderen Länder herläuft. Was könnte hierfür ein
      überzeugenderes Indiz sein, als die von den Agitatoren in Brand gesetzten, mit transgenen
      Pflanzen bestückten Versuchsfelder? Und wie reagieren unsere Politiker, unsere Justiz, unsere
      Medien auf solche Aktionen?

      Mit der Kernenergie ist es vielleicht noch nicht ganz so weit, doch droht die Regierung, diese Sparte
      der Industrie gesetzlich zu verbieten. Damit würde die führende Position Deutschlands auf dem
      Gebiet der Reaktortechnik verlorengehen, und die deutsche Industrie wäre gezwungen, sich aus
      dem interessanten Geschäft des nuklearen Anlagenbaus zu verabschieden. Deutschland müßte
      Atomstrom, möglicherweise aus Frankreich, importieren. Hunderttausende von Arbeitsplätzen
      werden verlorengehen. Die schädlichen klimatischen Folgen werden weltweit zu spüren sein, alles
      nur, weil einige Fanatiker ihrer absurden Ideologie mit Hilfe von Angstmacherei zum Durchbruch
      verholfen haben. Die Zukunft unseres Landes ist trübe.

      Müssen wir das alles widerspruchslos hinnehmen? Wenn nicht, was kann, was muß getan
      werden? Gewiß eine bessere Aufklärung, eine Vertiefung der Kenntnis der Natur und ihrer
      Gesetze wäre eine Antwort. Aber wer soll diese Aufklärung, diese Kenntnisse vermitteln?
      Diejenigen, deren natürliche Aufgabe es wäre, sind allzu oft selbst Wirrköpfe. Am besten wäre
      natürlich, man würde diesen Propheten der Angst keine Aufmerksamkeit zollen. Aber wie kann man
      die Menschen lehren, sie zu erkennen? Oder sollte man gegen den Irrglauben direkt angehen? Auch
      das wird nicht viel bringen, denn die Skrupellosigkeit dieser Aktivisten läßt sie auf die skurrilsten
      Ideen kommen. So haben sie versteckt und ohne großes Aufsehen die Gesellschaft für eine
      erfolgversprechende Angstmacherei durch Verdummung »aufgeweicht«, indem sie den
      christlichen Glauben der Lächerlichkeit preisgeben und damit diskreditieren, um so die
      Nichtgläubigen für ihre Horrorvisionen empfänglicher zu machen. Nicolas Gomez Davila hatte diesen
      Zusammenhang wohl klar erkannt, als er schrieb »Es gibt keine Dummheit, an die der moderne
      Mensch nicht imstande wäre zu glauben, sofern er damit nur den Glauben an Christus ausweicht.»
      Liegt in dieser Erkenntis der Schlüssel zur Hoffnung oder läßt sie uns an der Zukunft verzweifeln?


      Anschrift des Autors
      Dr. med. Wolfgang Zeman
      Bahnhofstr. 34c
      56112 Lahnstein
      Email: Wolfizeman@aol.com

      http://www.die-neuen-68er.de/pdf/zeman.pdf
      Avatar
      schrieb am 15.12.04 11:38:21
      Beitrag Nr. 277 ()
      Holocaustleugner eröffnet Buchmesse in Frankfurt

      von Thomas von der Osten-Sacken

      Würde, darf man sich fragen, der deutsche Bundeskanzler auch an der Seite eines David Irving oder anderer Holocaustleugner öffentlich auftreten und den Dialog suchen? Seit vergangenem Dienstag scheint zumindest klar, dass allzu große Berührungsängste nicht bestehen.

      Denn nach Schröder sprach zur Eröffnung der diesjährigen Buchmesse, die mit Ehrengast „Arabische Liga“ ausgerichtet worden ist, Mohammad Salmawy, der eine Grußbotschaft des inzwischen 92 jährigen ägyptischen Nobelpreisträgers Nagib Machfus verlas, weil dieser Gesundheitsgründen nicht kommen konnte.

      Salmawy, Herausgeber der französischsprachigen staatseigenen ägyptischen Zeitung Al Ahram Hebdo, ist seit Jahren dafür bekannt, den Holocaust zu leugnen und Selbstmordattentate in Israel zu verherrlichen.

      In Al Ahram etwa schrieb er: „Es gibt keinerlei Erkenntnisse, die auf die Existenz von Massengräbern hinweisen, weil die Größe der Öfen (in Ausschwitz) unmöglich die Kapazitäten für die Vernichtung so vieler Juden hatten.“ Auch hätten die Sowjets Dokumente übergeben, die zeigten, dass sich nicht mehr als 70 000 Juden in dem Konzentrationslager befunden hätten. Derartige Aussagen sind kein Wunder, setzte sich Salmawy doch engagiert für den französischen Holocaustleugner und ehemaligen KPF-Vorsitzenden Roger Garaudy ein und bezog sich ebenfalls positiv auf David Irvings Schriften.

      Die „Verschaffung“ der deutschen Juden in den Osten allerdings findet Salmawys Zustimmung: “Die Deutschen hatten keine andere Wahl als sie in Züge zu verladen und in den Osten zu transportieren, denn die Juden waren unterentwickelt und eine Last für die deutsche Wirtschaft.“

      Zugleich erklärte er einer kanadischen Zeitung, dass all die Untaten, die die Nazis an den Juden verübt hätten (!) heute Israel den Palästinensern antue. Wer dies aber erwähne, werde umgehend von der „zionistischen Lobby“ des Antisemitismus angeklagt.

      In vier Artikeln lobte er zudem Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ als zeitlos treffende Beschreibung jüdischen Verhaltens in Vergangenheit und Gegenwart.

      Ein von ihm verfasstes kürzlich erschienenes Buch „Wafa Idris und andere palästinensische Geschichten“ ist der ersten weiblichen Selbstmordattentäterin Wafa Idris gewidmet, die sich im Januar 2003 in der Jerusalemer Innenstadt in die Luft sprengte. In dem Roman lässt er Wafa Idris sagen: “Die Israelis fürchten uns Frauen mehr als die Männer, denn jeden Tag gebären wir palästinensische Knaben, und jeder neue Palästinenser untergräbt das Fundament des jüdischen Staates weiter. Wenn wir wissen, wie wir diese Kinder richtig erziehen, werden sie Jugendliche, deren Wünsch es ist Märtyrer zu werden.“

      Dass die Buchmesse von einem Holocaustleugner eröffnet wurde, der dem Staat Israel sein Existenzrecht abspricht und Massaker an Zivilisten verherrlicht, stieß bislang in den deutschen Medien auf keinerlei Widerspruch, ja fand nicht einmal Erwähnung. Im Gegenteil, es scheint ganz so als seien Figuren wie Salmawy genau jene Partner, mit denen man in Deutschland so gerne zum Dialog zu Tisch setzt, um für Frieden und Völkerverständigung zu werben.


      erschienen in: "die jüdische", 07.10.2004
      http://www.wadinet.de/analyse/iraq/holocaustleugner.htm
      Avatar
      schrieb am 17.12.04 16:26:51
      Beitrag Nr. 278 ()
      Aus dem Ecomomist:

      "Were these the best financial trades ever carried out?

      THE history buff is in no doubt: the greatest trade ever was the Louisiana purchase in 1803. It was certainly a splendid deal for America, which picked up a great whack of land between the Mississippi and the Rockies for a song. But was it a trade? More of a treaty with a sale-and-purchase agreement tacked on, actually, as was the snapping up of Alas-ka from the Russians some 60 years or so later. To qualify as a trade—at least for the purposes of this article—a deal must be a financial transaction designed and executed using financial instruments to profit from an insight into a market opportunity. In other words, it cannot be something that happened by accident or sheer luck. And it cannot be a deal—a breathtaking takeover, an audacious property punt or an early investment in Google. Any of these might be both clever and lucrative, but it would not be a trade.
      Unfortunately, that rules out one of history`s quirkiest exchanges. In parts of 15th-century Africa, salt was more precious, because scarcer, even than gold. Traders deter-mined enough to transport salt a thousand or so miles from the north found they could exchange the white stuff for its equal weight in gold—surely one of the best deals ever, reckons Peter Bernstein, whose book on “The Power of Gold” includes this tale. True, but it was sheer luck combined with grim effort, not special financial skill, that brought wealth to those fortunate barterers. Nor were financial tools essential.
      Also ruled out must be the group of middle-class women running a charity in Arbois, a small town in France, two centuries ago. In the autumn of 1807 they noticed that bad weather was threatening the grain harvest. Fearing that high prices during the winter would stop their distribution of food to the poor, they went to the local market and paid well above the prevailing price in order to lock in future supplies—an early example of futures trading. During the winter, prices indeed shot up. Had they been speculating, they would have made a fat profit. That was not their aim, though, and there is no evi-dence that they continued to trade.
      No, to be among the greatest trades, there must be something of that special characte-ristic that makes observers wonder why they had failed to think of it themselves. The quality that elicits admiration may be just the simplicity of the idea; or it may be the sheer imagination that constructed a complex set of interactions designed to bring about a specific profitable outcome. Trades involving the modern mechanisms for trading com-modities are certainly eligible to be called the greatest: some of the biggest, boldest and most secretive traders are to be found in the oil and metals markets. So, too, are deals involving derivatives, for they are more than mere mechanisms for executing trades, often using extra techniques to boost returns.

      Soros sets a standard
      Some trades are already well known, and deservedly so. George Soros became a house-hold name after he made Britain`s chancellor of the exchequer look an idiot by forcing the pound out of Europe`s exchange-rate mechanism in 1992. Mr Soros is reckoned to have made a profit of $1 billion by borrowing heavily to bet that sterling would be devalued. That sets a testing benchmark against which to measure other candidates.
      But plenty of traders have made tidy sums and had arguably brighter ideas. Often they wish to remain anonymous, either embarrassed by their success or, more likely, anxious to avoid the attentions of mendicants. A fine example is the young Morgan Stanley man who retired after the 1987 stockmarket crash. His insight was that the heady levels of the market were strikingly reminiscent of an earlier boom that had gone spectacularly bust in 1929.
      He used his knowledge of the market to load up on put options (those that give the hol-der the right to sell) on the S&P 500 share index, and even persuaded his mother to buy some. The options were ridiculously cheap because no one thought they would ever be exercised, so far would the market have to fall for them to be valuable. Fall it did, and the trader had the nerve to wait for Black Monday—October 19th 1987—rather than cash in during the tremors of the previous week. Having sold his options for about 800 times what he had paid for them, he is said to have walked away with $13m and was last heard of living on a ranch in Montana.
      That combination of pluck, tenacity and reserve is powerful. But $13m is small change for Mr Soros. Moreover, the winner of the biggest-trade title will get no prize for mod-esty. In fact, most traders are far from shy about their talents. Remember the Big Swing-ing Dicks made famous by Michael Lewis in his novel, “Liar`s Poker”? One BSD merits such a mention. In the 1980s Andy Krieger was a star at Bankers Trust, an investment bank that later imploded. In his heyday there, Mr Krieger made hundreds of millions of trading profits, before resigning in 1998—to go, as it happens, to work for Mr Soros.

      Putting the kiwi to flight
      Mr Krieger is scarcely remembered these days except perhaps in one country, New Zea-land. The trade for which he deserves mention involved the kiwi, as the New Zealand dollar is known in currency markets. And here is a measure of just how big a BSD Mr Krieger was. During 1987 he sold short (hoping to buy back more cheaply in future) mo-re kiwis than the entire money supply of New Zealand. So huge were his bets against the currency that it is not really surprising that they succeeded, causing the kiwi to collapse. It is said, apocryphally, that New Zealand`s finance minister telephoned Bankers Trust to complain and beg for mercy. In fact, the government was privately pleased, because the weaker currency gave a helpful push to the country`s struggling exports.
      To put Mr Krieger`s effrontery into context, he was just one trader in a veritable sea of them on Wall Street, in London and elsewhere. In a sense, he took on his entire industry and won. But some context is important. Mr Krieger was on to options early, and he soon realised that the youngish options market was inefficient, not least in its failure to ensure that options prices were a fair reflection of prices on the underlying cash markets. Much of his success came from his readiness to make maximum use of that inefficiency by pla-cing huge bets.
      It would be impossible to repeat his feats today. One reason is that banks are far warier and no one is usually accorded the almost limitless freedoms Mr Krieger enjoyed. When big trades are done, they are often seen afterwards as failures of risk management. An-other reason why the world will probably not see another Mr Krieger is that today`s mar-kets are much more efficient: the excess returns that he scooped up are no longer on the table, and only if new markets emerge will there be fresh sources of profit for pioneers. Indeed, a feature of modern financial markets is that they are tending to become more efficient, and that has made great trades harder than ever to concoct. That is one reason why those that do occur get big rewards.
      Most great trades are done in secret by highly paid traders working for investment banks, hedge funds and so on. Rarely does this institutional activity cross paths with the world of retail finance. But for inventiveness in linking the two activities, one trade clearly stands out.
      It originated in 1992 when the Italian government changed its previously lax rules on withholding tax for Eurobonds. At that time some specialist teams in London and other big financial centres did nothing but seek out tax arbitrages: by buying this bond here and moving it there, it was often possible to avoid taxes at the point of purchase and thereby earn extra returns. Exploiting Italy`s rules had been one of the neatest such wheezes, so when it was thwarted several of the tax teams found themselves wondering what to do next.


      Filotti was on holiday in Italy. Reading the local newspaper, something caught his eye. An advertisement was encouraging companies to buy bonds issued by Italy`s Post Office. These bonds were postal savings bonds, rather like Britain`s national savings certificates, and carried the guarantee of the Italian state. Mr Filotti was curious: normally such bonds would only be for retail investors, so he wondered on what terms companies could invest. Back in Britain, he sent his Italian father the equivalent of £100 and asked him to nip down to a post office to buy a bond certificate so that he could study the small print on the bond.
      What he found was encouraging. The postal bonds were “zero coupon”, that is, unlike most bonds, which pay annual interest instalments, they would pay nothing until they matured, so investors would have to wait a set period before pocketing their returns and recovering their original investment. The bonds promised a return of three times the ini-tial investment after 12 years—a rate equivalent to 9.6% a year.
      Back at his bank, Mr Filotti explained his discovery to a colleague, John Hunter, who real-ised that this highly attractive rate would be even more so if the equally juicy rates on Italian-government bonds were to fall. That would open a spread between Italy`s ordi-nary borrowings and the postal bonds, just the kind of “arbitrage” opportunity traders love. But the most remarkable feature of the offer was that there was no upper limit on how much could be invested. Nor were there disadvantageous tax obligations for foreign-ers.
      In fact, the arbitrage quickly disappeared when Italy`s interest rates rose rather than fell. The trading idea sat on a shelf. But, towards the end of 1995, Italy`s economy began its path towards convergence with those of the other countries hoping to join the euro. That meant its interest rates began to fall. And, in the summer of 1996, they started to fall dramatically. Suddenly, the Post Office trade was on. Mr Hunter persuaded his new em-ployer, a big Japanese bank, to buy $50m of the postal bonds.
      At this stage, his trade became one of the greatest ever. It also became amusing. Mr Filotti, who had also gone to work at the same Japanese bank, flew to Italy and, escorted by police, carried a banker`s draft for the equivalent of $50m into a post office. Queuing up alongside pensioners claiming their modest weekly infusion, he exchanged the draft for a savings bond. Soon the certificate was safely lodged in London. With no limit on the amounts that could be invested, a huge and profitable arbitrage was there for the taking.
      Readers who are not financial experts need not worry about exactly how banks can exploit such trades, while the experts will understand that the bonds offered both option and swap opportunities to lock in big profits. Around the time of the trade, there was also large and unusual activity in the market for swaptions (options on swaps).
      Mr Hunter, however, was unable to persuade his conservative masters to go further. No matter: he sold the idea for the trade, first to a single rival bank, then to several others. This set off a mad rush to buy the bonds before the opportunity disappeared. Bankers flew in droves to Italy, jostling to be in front of each other in the queue. In double-quick time UBS bought over $1 billion-worth of the bonds. CSFB bought the most, but, accor-ding to International Financing Review, a trade magazine, later gave back its profits when the Italian government threatened to withhold lucrative mandates for privatisati-ons. Nomura made the biggest single purchase, plonking down $1.1 billion on the coun-ter of a bemused clerk, who duly filled out a certificate for more than a trillion lire.
      Of course, it could not last. After $3.6 billion of the bonds had been issued in the space of a few days, the Italian government suddenly put a ceiling on the amount that could be bought and made threats to the banks` future fee income. Too bad. Mr Hunter, however, is now the chief executive of Brains, a specialist broker that tries to make money by sel-ling clever ideas to other traders.

      Bubble, bubble, short and double
      However, an even better contender for the title must be the trade conceived by Sir John Templeton to profit from the 1990s internet bubble. A renowned investor, Sir John will be remembered for many trades, not least the one in 1939 in which he bought shares in 104 almost worthless, and in some cases already bankrupt, New York stockbrokers. Hitler had just invaded Poland, and the young Mr Templeton correctly foresaw that abundant surpluses of goods and commodities would soon become scarcities, leading to a strong recovery of financial-asset prices. Within three years he had turned a profit on 100 of the 104 purchases.
      Sixty years later, long experience suggested to Sir John that technology and internet shares were an especially inflated part of a huge bubble. The problem was to construct an investment strategy that could exploit this. His solution was ingenious, so much so that it wins the “Wish I`d thought of that” prize by a mile.
      For every flotation there is a “lock-up” period during which insiders at the company are forbidden to sell any of their shares. Sir John reasoned that, in a bubble market, these insiders would generally be keen to sell once they could. After all, this was their only way of getting a lot of money out of their venture if it was unlikely to mature into a profitable long-term business and, as insiders, they ought to know better than anyone that few of their companies were likely to stay the course. So he systematically sold their shares short just before the end of the lock-up. That meant he could buy the shares back more cheaply if they fell in price, as he reckoned they would.
      Sir John acted with great discipline. First, he decided to sell only those shares that were trading at more than three times their original price. Then he set precise points at which he would take profits if prices fell—and he would ruthlessly cut his losses if a particular share held up unexpectedly. In the end he made 84 separate transactions, each for $2.2m. The results were spectacular. Sir John made a return of almost 50% on his $185m bet. On some positions, he made profits of more than 90%.
      Not bad, but still pretty piffling by Mr Soros`s standards. To outdo his $1 billion coup, consider a scheme whose returns have been so great they are unmeasurable. Fittingly, as the winner of the “greatest trade” title, it requires only brief description. In 1996 and 1997 Italy (yes, again) was desperate to reduce its public-sector deficit so that the country would qualify for entry into the euro. One unintended boost came from the sale of the postal bonds described above—bizarrely, because they matured after the euro deadline, they were not counted as current debt. But the stroke of genius by officials in Italy`s finance ministry was to enter into a secret trade that simultaneously brought in cash, took some debt off the books and deferred the repayment of the cash and the debt until after the euro deadline had been successfully reached.
      Many economists were amazed when Italy defied expectations to qualify for the euro. And its admission into the system has been worth an incalculable fortune. It has brought huge savings via systematically lower interest rates and greater economic efficiency. Had Italy not qualified, its economy might have crumbled. Certainly, its public-sector finances would be in dire straits.
      The trade itself was fairly simple, though complicated enough to ensure that it came to light only in late 2001, when Gustavo Piga, an economics professor, stumbled across it while studying public-debt policies. Essentially, Italy used a swap to defer interest pay-ments on an issue of $1.7 billion of yen-denominated bonds that it had made in 1995, at the same time taking an up-front payment for the swap that was later repaid with inte-rest. Thus was Italy able to make it into the euro, merely at the price of a big repayment on the swap in 1998.
      Think of the various elements of the trade. It was bold and risky. It relied on secrecy. It was brilliantly conceived to solve a specific, and apparently insurmountable, problem. It was executed with great skill. And, for a fee, it gave Italy the opportunity to be part of the euro system, with its incalculable rewards. Part of its appeal is that the profits came not from the counterparty on the trade itself, but from the economic consequences of the trade.
      Of course, it was also thoroughly dodgy—had it been done by a company, the manage-ment would probably be in prison for cooking the books—though the Italians have always maintained that it exploited weak rules, rather than broke strong ones. But there is no need to be churlish. This was, after all, the greatest trade ever. Bravissimo!"
      Avatar
      schrieb am 18.12.04 13:04:08
      Beitrag Nr. 279 ()
      Peter Drucker: Mehr als nur ein Managementautor

      Was der 95-jährige Universalgelehrte der Managementlehre alles gegeben hat.

      Sie liegen zu Dutzenden in seinem Büro. Druckfrisch, seit wenigen Tagen im Handel. Eine Art vorgezogenes Geburtstagsgeschenk, das der Jubilar sich selbst gemacht hat. „The Daily Drucker“ – das jüngste Buch aus der Feder von Peter Drucker. Sein 36. Buch, herausgegeben zu seinem 95. Geburtstag. „366 Days of Insight and Motivation for Getting the Right Things Done“: Der Untertitel macht klar, was den Leser erwartet – die tägliche Dosis Drucker pur. Die Essenz seiner Erkenntnisse aus 70 Jahren Schaffen, aufgeteilt in Häppchen, zum täglichen Gebrauch. Druckers Beruf: gründliches Nachdenken. Mal über Zeitmanagement, mal über Innovation, mal über Outsourcing. „Drucker“, so Jim Collins im Vorwort des Buchs, „ist einer der einflussreichsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.“

      Mit seinem Urteil steht Collins, selbst Autor vieler Managementbücher, nicht allein: Drucker gilt als Erfinder des modernen Managements. Auch wenn Drucker selbst diesen Titel „eher dem CEO der Pyramids Inc.“ für den Bau der Cheopspyramide zuspricht: Mit seinen Thesen und Schriften hat er Generationen von Managern und Beratern geprägt. Ob Dezentralisierung und Outsourcing, Corporate Governance, zielorientiertes Management, das Verständnis von Markt und Kunde, die Rolle des Managers oder das Wesen von Organisationen: Es gibt kaum ein Themenfeld für Führungskräfte, mit dem Drucker sich nicht bereits beschäftigt hätte. Er hat viele Trends ausfindig gemacht, lange bevor andere sie aufgriffen und verbreiteten. Und Drucker ließ es nie bei bloßer Analyse bewenden. Immer bietet er handfeste Lösungen an, konkrete Maßnahmen für die tägliche Praxis. „Drucker“, sagt Managementberater Fredmund Malik, „ist der Beste.“

      "Brücke zwischen Zivilisation und Kultur"

      Dass Drucker aus der Masse der Managementautoren unerreicht herausragt, hat einen einfachen Grund: Obwohl selbst Autor von rund drei Dutzend Büchern, ist der weise Greis weit entfernt davon, kurzlebige Moden zu kreieren. Während andere Autoren und Berater regelmäßig neue Säue durchs Dorf der Erfolgsliteratur jagen, erlag Drucker nie der Versuchung, ständig neue Schlagwörter marktschreierisch als Patentrezepte anzupreisen. „Er war immer weit weg“, sagt Personalberater Peter Paschek, Schüler und langjähriger Freund Druckers, „von dem Rezepte-für-Sieger-Müll“.

      Druckers Lebenserfahrung speist sich aus den turbulenten Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, vom Ende der Habsburgermonarchie bis zum Beginn des Internetzeitalters. Er vermag es wie kein anderer, historische und gegenwärtige Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft tief greifend zu analysieren und miteinander in Verbindung zu bringen. „Drucker interpretiert die Zukunft auf eine einzigartige Weise“, sagt Hermann Simon, Gründer und Chef der Managementberatung Simon-Kucher Partners, „weil er ein Mann der Vergangenheit ist.“ Was es ihm glaubhaft ermöglicht, aktuelle Entwicklungen auf ihren Kern zu reduzieren und dadurch ihre wahre Bedeutung zu erkennen.

      Damit ist Drucker viel mehr als bloßer Managementautor. Gesegnet mit einem geradezu enzyklopädischen Gedächtnis, verdient Drucker, der Jane Austen verehrt, Søren Kierkegaard bewundert und sich gerade in die Lektüre Gottfried Kellers vertieft, bei Bedarf aber auch Zahlenkolonnen herunterbeten kann, letztlich das Prädikat Universalgelehrter. „Eher als ein reiner Managementdenker bin ich historischer Schriftsteller“, sagt Drucker. „Management ist ja auch viel mehr als pure Ökonomie, nämlich eine Brücke zwischen Zivilisation und Kultur.“ Und die versteht er im Laufe seines 70-jährigen publizistischen Schaffens zu schlagen wie kaum ein anderer. Immer wieder eilten Druckers Analysen seiner Zeit voraus:

      Integrität und Corporate Governance (1942)

      In „The Future of Industrial Man“ macht Drucker sich grundlegende Gedanken über ein Thema, das heute unter dem Schlagwort Corporate Governance in aller Munde ist: Die Integrität der Unternehmensführung. „Es handelt sich buchstäblich um unbegründete, ungerechtfertigte, unkontrollierte und unverantwortliche Macht“, schreibt Drucker vor fast 65 Jahren über die Macht der Manager. Spürt schon 1950 Groll gegen maßlose Managergehälter, die als „Verweigerung von Gerechtigkeit“ empfunden würden. „Und daran“, sagt er heute, habe sich „wenig geändert“ (siehe Interview Seite 174). Dabei sei es gerade die Integrität der Menschen in einem Unternehmen, die über dessen Erfolg oder Misserfolg entscheiden.

      Führen per Zielvereinbarung (1954)

      Erfolg, so Drucker, gibt es nur im Team. Zwar trägt jeder Mitarbeiter etwas anderes bei, doch alle müssen ein gemeinsames Ziel anstreben. „Damit ein Unternehmen Ergebnisse erzielen kann“, schreibt er 1954 in „The Practice of Management“, müssen alle Tätigkeiten auf die Ziele des Gesamtunterneh- a mens ausgerichtet sein.“ Ein guter Manager, so Drucker, entspreche dem Steinmetz, der auf die Frage nach seiner Tätigkeit nicht antwortet, er verdiene seinen Lebensunterhalt oder das Geheimnis seiner Technik erläutert, sondern sagt: „Ich baue eine Kathedrale.“

      „Mangement by Objectives“ nennt Drucker diesen Führungsstil, Unternehmensführung per Zielvereinbarung. Ein Manager muss wissen, welche Leistungen er von einem Mitarbeiter erwarten kann. Und dieser muss verstehen, welche Leistungen er erbringen soll, damit das Unternehmen sein Ziel erreichen kann. Wie er das Ziel erreicht, legt er selbst fest. Das, so Drucker, „ist echte Freiheit im Rahmen des Gesetzes“.

      Zu den Topmanagern, die ihren Erfolg auf diese Leitsätze zurückführen, die bis heute zu den wichtigsten Managementprinzipien gerechnet werden, zählt Jack Welch. „Meine erste zentrale Idee für GE geht auf Peter Drucker zurück“, sagte der Ex-CEO von General Electric.

      Dezentralisierung (1946)

      Das Fundament für seinen Ruf als Urvater der Managementlehre hatte Drucker noch früher gelegt: mit seiner Publikation über die komplexen internen Abläufe des Automobilkonzerns General Motors. In Managementkreisen ist das Werk vor allem berühmt für die Einführung der Dezentralisierung als Organisationsprinzip. Während er mit seinen Erkenntnissen weder das GM-Topmanagement noch seine Kollegen aus der Wissenschaft überzeugte, wurden Druckers Ideen bei anderen Unternehmen begeistert aufgenommen. Nachdem Henry Ford II 1945 an die Konzernspitze gerückt war, baute er das angeschlagene Unternehmen nach dem Dezentralisierungsmodell um. Auch General Electric setzte Anfang der Fünfzigerjahre beim Umbau des Unternehmens auf die Kernbotschaft des Buchs – und auf Drucker als Berater. Anfang der Achtzigerjahre, so Schätzungen, habe Drucker bis zu 80 Prozent der 500 größten US-Unternehmen zur Umstellung auf eine radikale Dezentralisierung bewegt.

      Direkten Einfluss hatte Drucker auf die wirtschaftliche Entwicklung in Japan und Südkorea. Er arbeitete in beiden Ländern als Regierungsberater, hatte wesentlichen Anteil am Nachkriegswirtschaftswunder. Anfang der Fünfzigerjahre kursierte die Kopie einer Umfrage („Meine Arbeit und warum ich sie mag“), ursprünglich für GM konzipiert, bei Toyota. Und wurde dort zur Basis, das Ethos eines verantwortlichen, qualitätsbewussten Arbeiters zu entwickeln.

      „Die Automation ist die technische Revolution in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, schreibt Drucker 1955 in „America’s Next Twenty Years“, „so wie es die Massenproduktion in der ersten Hälfte war.“ Jahrzehnte vor der massenhaften Verbreitung der Personalcomputer prophezeit Drucker die „deutliche Abnahme der Beschäftigten bei routinemäßiger Büroarbeit“ und „Arbeitslosigkeit durch Verdrängung“.

      Strategie (1964)

      Den Begriff, in der Unternehmenswelt weithin unbekannt, führt Drucker vor 40 Jahren in seinem Buch „Managing for Results“ ein. Er fordert eine aktive Unternehmenspolitik, denn „Ergebnisse entstehen nicht durch die Lösung von Problemen, sondern die Ausnutzung von Chancen. Es heiße „entweder führen oder scheitern“. Da Führungspositionen vergänglich sind, müssen Manager den „Trend zur Mittelmäßigkeit“ stoppen, Strategien überprüfen und anpassen, Ressourcen bündeln und nur die „entscheidenden Chancen“ ergreifen.

      Marketing und Innovation (1974)

      Nicht Geld zu verdienen, ist für Drucker wesentliches Unternehmensziel („nicht nur falsch, sondern auch irrelevant“). Sondern einen Kunden zu finden. „Er entscheidet darüber, was ein Unternehmen ist. Einzig seine Bereitschaft, für ein Wirtschaftsgut oder eine Dienstleistung zu bezahlen, wandelt wirtschaftliche Ressourcen in Wohlstand“. Deswegen habe ein Unternehmen nur zwei zentrale Funktionen: Marketing und Innovation. Das heißt: Ein Unternehmen „muss nicht unbedingt größer, doch es muss stetig besser werden“. Was auch das Marketing neu definiert: „Ein Unternehmen beginnt nicht mit der Frage: ,Was wollen wir verkaufen‘? Seine Frage lautet: ,Was möchte der Kunde kaufen‘?“

      Effektivität (1966)

      Gute Manager fragen: Was hat ein Mitarbeiter gut gemacht? Was kann er wahrscheinlich gut machen? Was muss er lernen? Würde ich meine Kinder für den Betreffenden arbeiten lassen? Und mit welchem Beitrag kann ich Leistung und Ergebnis meines Unternehmens wesentlich beeinflussen? „Es ist ein Unterschied, ob man das Richtige macht oder dafür sorgt, dass das Richtige gemacht wird“, so Drucker in „The Effective Executive“. Letzteres sei „Standard für Effektivität, Ersteres der Effizienzstandard für Handarbeit“. Effektive Führungskräfte machen „das Wichtigste zuerst, das weniger Wichtige gar nicht“. Managen vor allem ihre Zeit, als „knappste aller menschlichen Ressourcen“. Und konzentrieren sich auf Ergebnisse, nicht auf die Arbeit, die dahintersteckt. So warnt Drucker auch vor dem blinden Glauben an Computer, die die Aufmerksamkeit auf Daten statt auf den Kern des Geschäfts lenkten. „Informationen“, sagt Drucker, „sind noch lange kein Wissen.“

      Die Wissensgesellschaft (1966)

      Wissen, das erkannte Drucker früh, wird zum entscheidenden Rohstoff unserer Gesellschaft. „Es ist an kein Land gebunden. Es ist transnational. Es ist tragbar. Es kann überall geschaffen werden, schnell und billig. Und es verändert sich per definitionem.“

      Die Organisation der Wissensarbeiter bestimmt die moderne Gesellschaft. „In jeder Einrichtung hat sich das Hauptgewicht der Tätigkeit auf die Wissensarbeiter verlagert, auf jene Menschen, die keine Körperkraft oder Handfertigkeit einsetzen, sondern ihren Intellekt.“

      Ein Thema, das Drucker seitdem nicht mehr losgelassen hat. Er wird es wieder aufgreifen – in seinem nächsten Buch, dem 36. Und versuchen, eine Antwort zu geben auf die Frage, wie man Wissen produktiv macht. „Ein zentraler Punkt für die Zukunft unserer Gesellschaft“, sagt Drucker, „wir befinden uns wieder einmal mittendrin in Zeiten substanzieller Umbrüche.“
      MANFRED ENGESER
      16.11.2004

      http://www.wiwo.de/pswiwo/fn/ww2/sfn/buildww/id/127/id/83241…
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      Peter Drucker: Zaungast der Zeit

      Vom Ende der Monarchie über den Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Beginn des Internetzeitalters: das wechselvolle Leben des Peter Drucker.

      Drucker: "Wissensdrang ist wie Selbsterneuerung"

      Er steht im Bad, direkt über dem Arbeitszimmer. Durch die Heizklappe dringen drei Stimmen nach oben: die seines Vaters, die seines Onkels; und die von Tomás Masaryk, dem späteren Ministerpräsidenten der Tschechoslowakei. „Das ist nicht nur das Ende Österreichs“, hört Peter Drucker einen der Männer sagen, „sondern der Zivilisation.“ Es ist ein Tag im August 1914. Der österreichische Erzherzog Franz Ferdinand war wenige Wochen zuvor erschossen worden, der Erste Weltkrieg gerade ausgebrochen. Drucker, keine fünf Jahre alt, wird Zeuge einer historischen Zäsur. „Ich war und bin“, zitiert er den deutschen Titel seiner Lebenserinnerungen, „ein Zaungast der Zeitgeschichte.“

      Geboren am 19. November 1909, spannt sich Druckers Leben vom Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und den Ersten Weltkrieg über die Weimarer Republik, die Anfänge der Nazi-Diktatur und den Zweiten Weltkrieg; von Depression und Inflation der Zwanzigerjahre über den Wirtschaftsboom der Nachkriegsjahre und die Ölkrise bis ins Internetzeitalter. Drucker ist ein einzigartiger, ein kluger Zeitzeuge, der das 20. Jahrhundert in allen Schattierungen erlebt hat, mit all seinen Umwälzungen, Zusammenbrüchen und Neuanfängen. „Ich bin ein Außenseiter, der nicht selbst Geschichte macht, jedoch mitten auf der Bühne des Weltgeschehens steht.“

      Druckers Kindheit ist geprägt vom Krieg. Lesen lernt er beim Durchgehen der Gefallenenlisten, auf der Suche nach Namen aus dem Familien- und Bekanntenkreis. „Keiner von uns konnte sich vorstellen, dass der Krieg je aufhören würde“, erinnert sich Drucker. „,Wenn ich groß werde‘ hieß: ,Wenn ich an die Front geschickt werde‘.“

      Zum Intellektuellen erzogen

      Das immerhin bleibt Drucker erspart. Nicht aber die Folge des Kriegsendes: der Hunger. Druckers Retter: Herbert Hoover. Der spätere US-Präsident hatte im harten Winter 1919/20 als Chef der US Food Administration Schulspeisungen für Kinder in ganz Europa angeordnet. „Seitdem habe ich eine Aversion gegen Haferbrei und Kakao“, sagt Drucker, „aber immerhin etwas zu essen.“

      Über Mangel an geistiger Nahrung dagegen kann Drucker nicht klagen. Er wächst auf in der Welt des Wiener Großbürgertums zur Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie, wo Bildung, Kultur, Geschichtsbewusstsein, Musik, Kunst und Kosmopolität ganz oben in der Wertordnung stehen, Kinder ganz selbstverständlich vielsprachig erzogen werden. Seine Eltern – Vater Adolph ist angesehener Ökonom und Anwalt im Wirtschaftsministerium, Mutter Caroline Ärztin – laden regelmäßig zur Soirée.

      Diskutiert wird über Politik und Wirtschaft, Literatur und Mathematik, Medizin und Musik. „Er wird nicht zum Akademiker erzogen“, schreibt Drucker-Biograf Jack Beatty, „sondern zum Intellektuellen.“ Gästeliste und Bekanntenkreis der Druckers lesen sich wie das „Who’s who“ des frühen 20. Jahrhunderts: Joseph Schumpeter, Sigmund Freud, Gustav Mahler, unter dessen Leitung Druckers Großmutter, eine Schülerin Clara Schumanns, als Solopianistin bei den Wiener Philharmonikern wirkte. Auch Franz Kafka, den Drucker nicht nur als Autor, sondern als Erfinder des Sicherheitshelms kennen lernt. Und Thomas Mann, den er bei einer privaten Lesung erlebt. Druckers Urteil: „Eher langweilig.“

      Ein Gefühl, das er aus der Schule kennt. Auf dem Gymnasium vertreibt er sich die Zeit durch „das Lesen von Geschichtsbüchern und klassischer Weltliteratur unter der Schulbank“. Hängen bleibt der Ratschlag eines Religionslehrers. „Wer mit 50 Jahren noch nicht weiß, welche Erinnerung er hinterlassen will, hat sein Leben verschwendet.“ Also nimmt Drucker es in die Hand. Verlässt nach dem Abitur seine Heimatstadt Wien, deren Vorkriegsmelancholie er nicht mehr erträgt. „Die Stadt roch nach Kanalisation“, so Drucker, „ertrank in ihrem eigenen Klatsch.“

      Er ist 17 und geht nach Hamburg, als Lehrling eines Exportunternehmens, und schreibt sich als Teilzeitstudent für Jura an der Uni ein. Statt Vorlesungen zu besuchen, büffelt er Fachliteratur in der Stadtbibliothek, auf Deutsch, Englisch, Französisch. Bei einem Opernbesuch erfährt er, dass Verdi seine letzte Oper „Falstaff“ erst mit 80 Jahren schrieb – weil er nach Vollkommenheit strebte und sich deshalb immer wieder verpflichtet fühlte, es noch einmal zu versuchen. „Diese Einstellung“, erzählt Drucker, „hat mich tief beeindruckt.“

      Sie legte den Grundstein für Druckers hohe Produktivität: mehr als 35 Bücher (darunter zwei Romane), übersetzt in mehr als 30 Sprachen, weltweit mehr als sechs Millionen Mal verkauft. Die letzten zwölf Werke entstanden nach seinem 80. Geburtstag.

      „Wissensdrang ist wie Selbsterneuerung“

      Druckers erste Gehversuche als Autor: ein Aufsatz über die Bedeutung des Panamakanals und eine Analyse der New Yorker Börse. Der Beginn einer Ausbildung zum Anlageberater endet mit der Pleite der Bank, Anfang 1930 beginnt Drucker als leitender Redakteur beim „Frankfurter Generalanzeiger“ –gerade 20 Jahre alt. „Wir fingen um sechs Uhr an, unser Chef legte Wert auf absolute Pünktlichkeit“, erinnert sich Drucker, „das hat mich Disziplin gelehrt.“ Nach Redaktionsschluss setzt er das Studium fort: internationale Beziehungen, internationales Recht, die Geschichte der Institutionen, Finanzwesen. Und Admiralitätsrecht – in Druckers Augen ein Mikrokosmos aus abendländischer Geschichte, Gesellschaft, Technologie, Rechtstheorie und Ökonomie. „Wissensdrang“, so Drucker, „ist wie Selbsterneuerung.“

      Die lebt er seit Jahrzehnten: Alle drei, vier Jahre wendet sich Drucker einem neuen Thema zu, liest, bis seine Neugier befriedigt ist. Über das Finanzwesen des 16. Jahrhunderts, die Geschichte der Technik und der Arbeit, die britische Herrschaft in Indien, amerikanische Staatsmänner oder ostasiatische Kunst, die er auch sechs Jahre unterrichtet. Um die Werke der Philosophen Søren Kierkegaard oder des Jesuiten Balthasar Gracián im Original lesen zu können, bringt Drucker sich en passant selbst ausreichend Dänisch und Spanisch bei.

      Er lernt Ernst Jünger kennen, den Kunsthistoriker Ernst Gombrich, den Architekten Buckminster Fuller, die Wirtschaftsphilosophen Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises. Selbst Georg Siemens und Ludwig Bamberger, Mitgründer der Deutschen Bank, sind ihm aus Erzählungen seines Großvaters vertraut. Eine Detailkenntnis, von der auch seine Leser profitieren. Sie erfahren, dass die erste Managementkonferenz 1882 von der deutschen Post organisiert wurde – und keiner erschien. Oder dass das Wort Risiko im Arabischen einst bedeutete, „sein tägliches Brot zu verdienen“.

      Den Nazis wurde Drucker, inzwischen Doktor für Öffentliches Recht, zum Dorn im Auge: mit einem Aufsatz über den jüdischen Rechtsphilosophen Friedrich Julius Stahl. Das Buch wird kurz nach Erscheinen im April 1933 verbrannt, Drucker entschließt sich zur Emigration. „Um mich herum brach alles zusammen – Gesellschaft, Regierung, Wirtschaft, Zivilisation.“

      Er geht nach London, wo ihm sein Vater einen Job als Investmentbanker besorgt. Und erkennt, dass er kein purer Wissenschaftler ist – beim wöchentlichen Besuch im Seminar von John Maynard Keynes in Cambridge. „Der kam mir vor wie ein Doktor, der bei seinem Patienten einen inoperablen Leberkrebs feststellt und ihm Heilung verspricht, wenn er mit einer Siebzehnjährigen ins Bett geht.“ Weil ihn Neuengland mehr lockt als das alte London, geht er 1937 in die USA. „Ich kam als Schriftsteller“, sagt Drucker, „weil Schreiben eine Sache war, die ich gut konnte – vielleicht die einzige.“

      Den Lebensunterhalt sichert eine Professur für Ökonomie an einem College im Staat New York – wo er entlassen wird, als er sich als Einziger weigert, ein kommunistisches Pamphlet zu unterzeichnen. Er wechselt als Professor für Politik und Philosophie ans Bennington College nach Vermont, berät das Board of Economic Warfare der US-Regierung. Er schreibt Bücher über den Aufstieg des Faschismus („The End of Economic Man“, 1939) und die Gesellschaft der Zukunft („The Future of Industrial Man“, 1942). Und wird zum Unternehmensberater – durch einen Anruf des Pressesprechers von General Motors. Der Auftrag: eine Studie über die Struktur des Unternehmens. Drucker lernt GM-Chef Alfred Sloan kennen – „er wohnte in einer Art Klause im Schlafsaal von General Motors und hatte nicht einmal ein eigenes Badezimmer “.

      „Ich bin Sozialökologe“

      Das Ergebnis von Druckers zweijähriger Recherche: „The Concept of the Corporation“, ein Plädoyer für die Dezentralisierung – nach Druckers Einschätzung „nicht mehr nur eine Managementtechnik, sondern der Entwurf einer Gesellschaftsordnung“. Das Ergebnis: Ablehnung. Drucker wird zur Persona non grata bei GM, aber auch im Kreis seiner Professorenkollegen. „Es ist zu hoffen“, so ein Rezensent, „dass dieser Wissenschaftler seine beträchtlichen Fähigkeiten einem respektableren Thema widmet.“

      Genau dieses Thema hatte Drucker gefunden: das Management von Industrieunternehmen. Er berät General Electric, Coca-Cola, IBM, Intel, Sears Roebuck. Druckers Rezept: „Ich bin Hausarzt für Unternehmen – ich schaue mir den Patienten an, statt ihm blind eine Spezialmethode zu verkaufen.“ Die Berufsbezeichnung Unternehmensberater lehnt er strikt ab. „Ich bin Sozialökologe“, sagt Drucker. „Eine Art historischer Schriftsteller.“

      1950 wird Drucker Inhaber des weltweit ersten Lehrstuhls für Management an der New York University. Der damalige US-Präsident Harry Truman schickt ihn nach Brasilien, wo er die Regierung für die Bekämpfung des Analphabetismus gewinnen soll. 1971 wechselt er ans Graduate College in Claremont, einem Vorort von Los Angeles. Den Ruf an die Harvard Business School hat er zu diesem Zeitpunkt bereits zweimal abgelehnt, weil diese damals nur von College-Abgängern besucht wird. „Studenten ohne Berufserfahrung lernen nichts von mir", sagt Drucker, „weil ich nichts von ihnen lerne.“

      In den vergangenen Jahren konzentrierte sich Drucker immer stärker auf gemeinnützige Einrichtungen: Kirchen, Krankenhäuser, Hilfsorganisationen. Sie bekommen kostenlos, wofür Unternehmen angeblich zwischen 6000 und 8000 Dollar pro Tag bezahlen müssen. Noch heute hat Drucker ein halbes Dutzend solcher Kunden, für die er regelmäßig als Ideengeber fungiert. Bis zum Sommer unterrichtete er an der Claremont University. „Er ist unermüdlich“, sagt Personalberater Peter Paschek, den mit Drucker eine lange Freundschaft verbindet. „Und immer noch erfrischend originell.“

      Seit 1990 kümmert sich das Leader to Leader Institute um die Pflege von Druckers geistigem Erbe – was dieser keineswegs als pietätlos empfindet („Gott braucht keinen Berater“). Und am liebsten tut er immer noch das, was er seiner Meinung nach am besten kann: schreiben. „Mein wichtigstes Buch“, sagt Drucker, „ist immer das nächste.“ Schließlich hält er es wie der dänische Philosoph Kierkegaard: „Das Leben kann zwar in der Schau nach hinten verstanden, aber nur nach vorne gelebt werden.“
      MANFRED ENGESER
      16.11.2004

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      Interview mit Drucker: „Geliehene Macht“

      Managementlegende Peter Drucker über Moral, Verantwortung und die Gier der Manager.

      „In modernen Großunternehmen leitet sich die entscheidende Macht, nämlich die der Manager, nur von den Managern selbst her, die von nichts und niemandem kontrolliert werden und niemand verantwortlich sind. Es handelt sich buchstäblich um unbegründete, ungerechtfertigte, unkontrollierte und unverantwortliche Macht.“ Herr Drucker, kommt Ihnen dieser Satz bekannt vor?

      Ja, ist von mir. Ist aber schon etwas her...

      Der Satz stammt aus Ihrem Buch „The Future of Industrial Man“ von 1942...

      ...und besitzt mehr oder weniger noch heute Gültigkeit. Man gewöhnt sich an alles.

      Klingt fast, als hätten Sie resigniert, auch angesichts der Bilanzskandale der vergangenen Jahre?

      Was wir da beobachten konnten, läuft doch immer wieder nach dem gleichen Schema: In Boomzeiten werden jedes Jahr mehr Umsätze und Gewinne erwartet und versprochen – in Größenordnungen, die statistisch völlig unrealistisch sind. Die Gehälter der Vorstände werden an den Börsenkurs gekoppelt, die Leute haben also ein Eigeninteresse daran, den Kurs nach oben zu treiben. Irgendwann geht das aber nicht mehr. Und dann fangen dieselben Leute an, die Bücher zu frisieren. Jeder Boom endet so.

      Hat sich nichts geändert in den vergangenen 60 Jahren?

      Doch, natürlich. Aber viele Muster lassen sich wiedererkennen.

      Zum Beispiel?

      Eine der Schwächen der Manager heute ist ihre Orientierung an kurzfristigen Zielen. Nehmen Sie nur die US-Pensionsfonds, in denen die Rentengelder verwaltet werden. Ihre Macht ist sehr groß geworden. Sie sind als Großaktionäre gewichtige Eigentümer, die ihre Investitionen sehr aufmerksam verfolgen. Das sind nicht mehr als 200 Gesellschaften, die immer stärker auf kurzfristige Erträge statt auf langfristige Entwicklungen aus sind. Sie sind das wahre Gesicht des Kapitalismus.

      Ein aktuelles, ein amerikanisches Problem.

      Nicht wirklich. Das Denken dahinter beobachte ich auch für Deutschland. Das können Sie schon bei Rudolf Hilferding nachlesen, fähigster Mann der deutschen Sozialdemokratie und ein sehr guter Finanzminister in der Weimarer Republik. Er wurde später von den Nazis gehenkt. Er hat genau diese Entwicklung – die Bündelung finanzieller und industrieller Macht in den Händen weniger Gruppen – vorausgesehen. Das war so ungefähr 1910. Sie sehen: Es wird zu kurzfristig gedacht, überall, schon seit Jahrzehnten.

      But in the long run, we’re all dead – das sagte schon John Maynard Keynes.

      Natürlich, wer nur langfristig orientiert ist, bringt nichts zu Stande. Man braucht kurzfristige Resultate, um langfristig zu überleben. Dennoch halte ich die Abhängigkeit von Börsenkursen für eine der größten Schwächen unseres Wirtschaftssystems.

      Auch in Sachen Gehälter?

      Gerade da. Ich bin völlig dagegen, Gehälter an Aktienkurse zu koppeln. Da herrscht doch die reine Gier. Die Differenz zwischen dem Gehalt vieler Topmanager und dem einfacher Angestellter ist viel zu groß. Und schauen Sie: Der Vorstand hat eine Frau. Die Frau hat viele Wünsche. Und sie hat das Geld, das im Dezember fällig werden könnte, doch im Oktober schon ausgegeben. Spaß beiseite: Der Druck, diesen Bonus zu erreichen, ist ungeheuer groß. Das ist kein Spaß. Das ist Realität

      Welche Folgen befürchten Sie?

      Meine letzten MBA-Studenten, alle zwischen 35 und 40 Jahre alt, aus dem mittleren und höheren Management, erfolgreiche Leute – Sie können sich nicht vorstellen, wie diese Leute die enormen Gehälter für Spitzenleute verachten. Verachtung, das ist das richtige Wort. Sie verachten diese Leute so sehr, dass sie immer weniger mit ihnen zusammenarbeiten wollen. Statt in die großen Konzerne gehen sie lieber in mittelständische Unternehmen.

      Aber ist es im Zeitalter der Globalisierung nicht viel anspruchsvoller geworden, ein Unternehmen zu führen?

      Natürlich ist diese Aufgabe sehr schwer. Manager sind wie Artisten. Sie müssen gut balancieren können: zwischen Angestellten, Aktionären, Banken, Familienmitgliedern. Entscheidend ist, was ist gut für das Unternehmen. Darin besteht die Kunst des Managers: Er muss es schaffen, die einzelnen Ansprüche so zu befriedigen, dass am Ende alle das Maul halten.

      Warum soll, wer das schafft, nicht auch exorbitant gut verdienen?

      Diese Riesengehälter sind doch Selbstbetrug, am Ende mehr Statussymbol als wirkliche Einnahme. Was berechtigt diese Leute denn zu so exorbitant hohen Gehältern? Das Argument, diese Manager nicht als einfache Angestellte, sondern nach unternehmerischem Maßstab bezahlen zu müssen, ist doch dumm. Mitinhaber haben ein viel größeres Risiko als diese angestellten Manager. Die Macht der Manager ist nur geliehen. Dessen sollte er sich bewusst sein. Das Unternehmen ist gewissermaßen sein Klient, sein Patient. So wie sich jeder Arzt fragen muss: Was ist für den Patienten gut. Offenbar ist das für viele nicht so leicht. Aber die meisten Dinge kann man ja doch lernen.

      Auch Integrität?

      Integrität? In der Tat, man spricht sehr viel davon, überall, leider.

      Leider? Haben Sie für all die Bemühungen um eine bessere Corporate Governance nichts übrig?

      Lassen Sie mich folgende Geschichte erzählen: Ich habe am 2. Januar 1930 als Redakteur beim Frankfurter Generalanzeiger begonnen, dem Vorläufer der „FAZ“. Meine erste Aufgabe war die Berichterstattung über einen Kriminalprozess, mit dem ich ein ganzes Jahr verbracht habe: der Zusammenbruch der Frankfurter Allgemeinen Versicherung, damals ein namhaftes deutsches Unternehmen. Das Management hatte zum Schluss die Türknäufe verscherbelt – und ich meine das wörtlich.

      Also ist Corporate Governance...

      ...natürlich nach wie vor unverzichtbar. Aber die Diskussion darüber ist ein alter Hut.

      Soll man deswegen den Kopf in den Sand stecken?

      Nein. Aber besser wäre es, wir hielten es wie einer der Päpste aus dem 19. Jahrhundert. Seinen Namen habe ich vergessen. Aber er hat schon damals gesagt: Bei einem Papst kann man davon ausgehen, dass er an Gott glaubt. Man muss nicht dauernd darüber reden.
      MANFRED ENGESER
      16.11.2004

      http://www.wiwo.de/pswiwo/fn/ww2/sfn/buildww/id/127/id/83240…
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      http://www.wiwo.de/pswiwo/fn/ww2/sfn/buildww/id/127/id/83240…
      Avatar
      schrieb am 20.12.04 10:59:13
      Beitrag Nr. 280 ()
      Avatar
      schrieb am 12.01.05 19:10:09
      Beitrag Nr. 281 ()
      brand eins 8/2004

      No Budget

      Budgetverhandlungen. Wer sie kennt, hasst sie. Und ist doch überzeugt, sie müssen sein. Wie sonst sollte man andernfalls die Zukunft planen?

      Ohne Budgets, lautet die Antwort der Svenska Handelsbanken. Das Himmelfahrtskommando läuft immerhin seit 34 Jahren.

      Text: Mathias Irle Foto: Heji Shin; Michael Hudler


      • Als der studierte Ökonom Niels Pfläging im Dezember 2000 zum ersten Mal von den Svenska Handelsbanken und dem Beyond Budgeting Round Table las, verspürte er ein flaues Gefühl in der Magengegend. Ihm war für einen Moment schwindlig, er musste schlucken und fing an zu schwitzen. Fast 80 Prozent seiner Arbeitszeit als Controller bei der brasilianischen Niederlassung von Boehringer Ingelheim verbrachte er bis zu diesem Zeitpunkt mit Planungen, Planrevisionen, Abweichungsanalysen und der Kontrolle der Budgets. Immer mehr Zeit nahm der Budgetierungsprozess jedes Jahr in Anspruch. Immer detaillierter wurden die Zahlen, die beschrieben, welche Beträge die Abteilungen im nächsten Jahr für ihre einzelnen Posten ausgeben durften. Und mit immer mehr Kennzahlen, Faktoren und Prognosen versuchten er und seine Kollegen die immer schwerer vorhersehbare Zukunft des Pharmakonzerns optimal zu berechnen.

      Doch ihre Arbeit war gemessen am Aufwand, der Anzahl der jährlichen Nachbesserungen und den Zahlen, die nach zähen Verhandlungen mit den Abteilungen eher Kompromissen glichen, zunehmend ineffektiv. Deshalb suchten er und seine Kollegen im Internet nach einer Möglichkeit, den Budgetierungsprozess zu vereinfachen. Sie dachten an neue Software.

      Da tauchte plötzlich ein Link zum Beyond Budgeting Round Table auf, einer Vereinigung, die 1998 von der englischen Industrieorganisation CAM-I gegründet worden war. Ihr Ziel: alternative Ansätze zum klassischen Budgetieren aufzuspüren, zu konzeptualisieren und ihren Mitglieder vorzustellen. Niels Pfläging öffnete den Link, stieß auf einen Artikel, der die Art und Weise beschrieb, wie die Svenska Handelsbanken arbeiteten, druckte ihn aus und begann zu lesen.

      Mit einem Kugelschreiber unterstrich er dabei einzelne Passagen und an den Rand des Artikels schrieb er immer wieder „Quatsch“. Daneben setzte er energisch Ausrufezeichen. Denn was er las, stellte all seine bisherige Arbeit in Frage. Das konnte einfach nicht wahr sein. Doch das ist es.



      Wallander ermittelt: Zentrale Langzeitplanungen taugen nichts. Jeder Standort soll entscheiden, was er braucht



      1970 – Niels Pfläging war gerade ein Jahr alt – befanden sich die traditionsreichen, 1871 gegründeten Svenska Handelsbanken in einer schweren Krise. Wegen ihrer Beteiligung an umstrittenen Transaktionsgeschäften wurde das Management der Bank von der schwedischen Regierung scharf kritisiert, die Rentabilität der Bank war gering, und die Berichterstattung in den Medien wurde zunehmend unfreundlicher. So konnte es nicht weitergehen, das Institut steuerte auf eine Katastrophe zu, es musste sich etwas ändern. Deshalb suchte man einen neuen Direktor mit ungewöhnlichen Ideen und fand ihn in Jan Wallander, einem ehemaligen Wissenschaftler, der im Auftrag der schwedischen Regierung Langzeitprognosen über wirtschaftliche Entwicklungen erstellt und anschließend zehn Jahre eine kleine Bank geführt hatte. Seine Lösung: die Bank radikal dezentralisieren, damit sie wieder effektiver arbeitet.

      Als Wallander seinen Job antrat, wurden Entscheidungen über neue Produkte, Marketingmaßnahmen, Einstellungen oder die Budgets in der Stockholmer Zentrale getroffen und über die zehn Regionalbanken und die 560 Zweigstellen an die 9000 Mitarbeiter weitergeleitet. Der neue Chef stellte diese Pyramide auf den Kopf. Er löste die zentrale Marketingabteilung in Stockholm auf, verkleinerte das Management um ein Drittel und schaffte alle Budgetierungsprozesse und Langzeitplanungen ab. Außerdem organisierte er die einzelnen Zweigstellen als eigenständige Profit Center und sagte den Zweigstellenmanagern: „Machen Sie, was für Ihren Standort gut ist, denn Sie wissen am besten, was dafür nötig ist.“ Ab jetzt sollten Zweigstellen selbst entscheiden, ob sie Mitarbeiter einstellen wollten oder nicht, ob und welche Marketingmaßnahmen sie brauchen, wem sie einen Kredit geben und welche Sorte Schreibtische sie haben wollen.

      Das Ziel, das sie erreichen sollten, wurde den Zweigstellenmanagern fortan nicht mehr durch ein fixes Budget und Umsatzzahlen vorgegeben, sondern durch einen relativen Wert: Der Return of Equity der Svenska Handelsbanken sollte besser sein als der Durchschnitt der Konkurrenz. Und davon sollten alle etwas haben: Die Hälfte der über dem Durchschnitt liegenden erwirtschafteten Überschusse wird in den Pensionsfonds der Bank eingezahlt, an dem alle Mitarbeiter – vom Manager bis zur Sekretärin – zu gleichen Teilen profitieren. Außerdem sollten die Zweigstellenmanager künftig untereinander konkurrieren. Ihre Leistungen sollten in einer Art Liga wie im Sport erfasst und im Verhältnis zu den anderen 560 Zweigstellen bewertet werden. Verbessere eine Zweigstelle ihre Position nachhaltig, werde ihr Manager mit einem höher dotierten Job in der Bank belohnt. Verschlechtere er sich, bekomme er ein Gesprächsangebot von seinem Regionalmanager, gemeinsam versuche man dann die Gründe für die Verschlechterung zu analysieren. Verweigere er sich allerdings dem Gesprächsangebot, könne er die Verbesserungsvorschläge nicht in die Tat umsetzen oder liefere er weiterhin keine guten Zahlen, so müsse man über die Möglichkeiten, weiterhin zusammenzuarbeiten, nachdenken.



      34 Jahre nach der Revolution: Der Erfolg war überdurchschnittlich, und niemals musste jemand entlassen werden

      Viele Mitarbeiter kündigten freiwillig, nachdem sie von den geplanten Maßnahmen hörten, andere begriffen den Ernst der Lage erst, als Jan Wallander die Feiern zum 100-jährigen Jubiläum der Bank 1971 wegen der Umstrukturierung ersatzlos strich.

      Es war eine radikale Veränderung der Bank. Eine ungeheuerliche Maßnahme, getrieben von der Überzeugung des Jan Wallander, seine Mitarbeiter seien kompetente, verantwortungsvolle Menschen, die von Natur aus den Wunsch verspürten, gute Arbeit zu leisten, die mit ihren Aufgaben wachsen würden, die man nicht kontrollieren müsse und die Vertrauen mit Leistung belohnen würden.

      Außerdem vertrat Wallander die Ansicht, ein Unternehmen, das ohne Budgets dezentral arbeitet, sei flexibler, anpassungsfähiger und könne schneller auf Veränderungen von Marktbedingungen reagieren. Das Budgeting hingegen hielt er für banal, weil es die Gegenwart einfach in die nahe Zukunft übertrug, und zudem in seiner Starrheit sogar für gefährlich, sollten sich Marktbedingungen tatsächlich einmal unvorhergesehen verändern. So befand er es fortan für ein „überflüssiges Übel“. Er war überzeugt: „Die Zukunft exakt planen zu können ist eine Illusion.“

      Ging das alles nicht zu weit? Wie sollten die Manager in Stockholm künftig den Überblick über ihre Bank behalten, ohne das jährliche Budget? Drohte die Bank nicht in einzelne, unabhängig voneinander operierende Einzelteile zu zerfallen, ohne Sinn und Struktur? Und was würde mit den Angestellten passieren? Wären sie ohne konkrete Vorgaben mit ihrer neu gewonnenen Freiheit überfordert? Würden sie mit Tatenlosigkeit reagieren, aus Angst, falsche Entscheidungen zu treffen? Und war es nicht gerade mangelnde Kompetenz, Ausbildung und Erfahrung, die sie im Gegensatz zum Management davon abhielt, die besten Entscheidungen für das Unternehmen zu treffen?

      Sehr gesetzt wirkt in diesen Tagen, gut 34 Jahre nach den radikalen Veränderungen von damals, das alte ehrwürdige Hauptgebäude der Svenska Handelsbanken gegenüber vom Kungsträdgården im Zentrum von Stockholm. Das vornehme Grand Hotel und die Oper sind nicht weit. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass man hier noch immer revolutionäres Gedankengut pflegt. Und von außen betrachtet scheint es unmöglich, dass bei den Svenska Handelsbanken das Budget, das Menschen überall sonst auf der Welt ein Gefühl von Sicherheit, Planbarkeit und Kontrolle über die als vage empfundene Zukunft gibt, nicht mehr existiert. Auch im Innern des Gebäudes deutet alles hin auf Normalität: edles Holz an den Wänden, Frauen mit Perlenketten und dunkelblauen Kostümen sitzen hinter Schaltern an Bildschirmen, an kleinen Stehpulten beschäftigen sich Kunden mit Überweisungsformularen. Es wirkt, als habe alles seine Ordnung, als wüsste jeder, was er zu tun habe, als hätte alles einen bestimmten Platz. Ist Wallander schon lange vergessen?

      „Im Gegenteil“, sagt Lennart Francke, Vizepräsident und Leiter der Controlling- und Accounting-Abteilung der heutigen Svenska Handelsbanken in seinem Büro im zweiten Stock, „wir sind seit dieser Zeit eine der erfolgreichsten Banken in Schweden und Europa. Wir mussten in den vergangenen 34 Jahren keinen Mitarbeiter betriebsbedingt entlassen. Und abgesehen von einem Mal gab es jedes Jahr Zahlungen in den Pensionsfonds der Bank – aufgrund unserer fast immer weit überdurchschnittlichen Ergebnisse.“ Trotz eines Managements ohne die Hilfe von Budgets. Trotz der Auflösung der zentralen Marketingabteilung. Und trotz der autonomen Arbeitsweise der 560 Zweigstellen. Noch immer hat Jan Wallander, mittlerweile 84 Jahre alt, ein Büro im gleichen Flur. Und manchmal schaut er bei den Kollegen vorbei – wenn er nicht gerade auf einer internationalen Konferenz vor Controllern spricht, von einer Universität oder Business School zum Vortrag eingeladen ist oder an einem Buch schreibt. Sein bislang letztes erschien vor einem Jahr, es heißt „Decentralisation – why and how to make it work“.

      „Wer seine Organisation ernsthaft dezentral strukturieren, sich von der alten Hierarchie verabschieden und den Mitarbeitern Entscheidungsgewalt und Autonomie geben will, für den machen Budgets keinen Sinn mehr. Und wer ohne Budgets arbeiten will, gleichzeitig aber die Macht weiterhin in der Spitze des Unternehmens hält, der wird scheitern“, sagt jetzt Lennart Francke. Das klingt logisch und einfach, in der Realität und im praktischen Alltag ist die Umsetzung dieser Erkenntnis jedoch schwer.

      Denn beim Budgetieren geht es um weit mehr als ein Gerüst von Zahlen, mit dem man die Ausgaben für das bevorstehende Jahr plant. Es geht auch um Kontrolle, Macht, Vertrauen. Und um das Selbstverständnis der Mitglieder einer Organisation. Schon einige Male hat Lennart Francke dafür Belege in seinen mittlerweile 32 Jahren bei den Svenska Handelsbanken gesehen. Zum Beispiel an den Reaktionen von Zweigstellenmanagern. Die meisten genießen es, dass sie selbst entscheiden dürfen, ob sie einen neuen Mitarbeiter einstellen wollen. Sie wissen es zu schätzen, dass sie über die Art und Weise des Marketings für ihre Filiale entscheiden. Und finden es richtig, dass der ihnen zugeordnete Regionalmanager nur dann Ratschläge geben darf, wenn sie ihn danach fragen, und er sich niemals aktiv zu Entscheidungen der Zweigstelle äußern darf. Denn die Zweigstellenmanager sind es, die näher am Kunden sind, die die lokalen Märkte genauer kennen, und die Veränderungen am ehesten spüren.

      So lange, bis sie selbst zum Regionalmanager aufsteigen. Denn so verständlich sie es fanden, dass sie als Zweigstellenmitarbeiter alle wichtigen Entscheidungen allein verantwortlich treffen, so schwierig finden sie es als Regionalmanager, den neuen Zweigstellenmitarbeitern die gleiche Freiheit und Kompetenz zuzugestehen. Dass man in der Zentrale lernen musste, den Mitarbeitern zu vertrauen, das war und ist überhaupt der schwierigste Prozess. Denn auch wenn die Mitarbeiter schon zwei Jahre nach der Organisationsumstellung Anfang der siebziger Jahre merkten, dass das neue System funktionierte und man all die Angestellten, die einst für Pläne und Budgets zuständig waren, in sinnvolleren Jobs untergebracht hatte: Das Lernen geht weiter, Tag für Tag.

      Die drei Mitarbeiter, die noch in der zentralen Marketingabteilung in Stockholm übrig geblieben sind und dort beispielsweise Poster für die Fenster der Filialen produzieren, dürfen ihre Ideen höchstens noch auf Anfrage als Angebot den Zweigstellen präsentieren. Nationale TV- oder Radiospots gab es das letzte Mal vor ungefähr zehn Jahren. Und diejenigen, die sich in Stockholm neue Produkte wie etwa Versicherungen ausdenken, dürfen eine Filiale niemals dazu anhalten, sie an ihre Kunden zu verkaufen. Die jeweiligen Vorgesetzten – egal, ob es die Regionalmanager oder die Senior Manager in der Zentrale sind – haben keinen direkten Einfluss mehr auf die unter ihnen liegenden Hierarchiestufen. Die Kosten, die sie verursachen, werden auf die 560 Zweigstellen verteilt. Sie haben das Recht, Hilfe anzubieten, wenn die Zahlen in einer Filiale längerfristig schlecht sind. Sonst müssen sie sich ruhig verhalten. Und ihren Mitarbeitern vertrauen.



      Es ist nicht leicht, wenn dir niemand sagt, was du tun sollst – Freiheit ist keine einfache Übung



      Manchmal fühlen sich die Manager in der Zentrale dabei wie Eltern, die ihren heranwachsenden Kindern zwar noch das Gefühl vermitteln können, im Notfall für sie da zu sein, die aber darüber hinaus keinen Einfluss mehr auf ihre Entwicklung ausüben können. Die sich mit Ratschlägen zurückhalten müssen, auch wenn sie meinen, die Dinge besser zu überblicken.

      Es kam auch schon vor, dass die Manager in der Zentrale merkten, dass eigenverantwortliches Arbeiten nicht jedem liegt. Zum Beispiel, wenn ein Zweigstellenleiter sich vor jeder Entscheidung, die er eigentlich selbstständig hätte treffen sollen, telefonisch die Rückversicherung aus der Zentrale holte. In solchen Fällen versuchen die Manager möglichst frühzeitig zu intervenieren und mit einem klärenden Gespräch die Ursachen für die Unsicherheit zu finden. Denn manchmal ist ein Zweigstellenleiter sich auch einfach nicht genügend bewusst über die Ziele, die er verfolgen soll. Die betreffen neben der guten Rentabilität seiner Filiale und dem Übertreffen der Mitbewerber auch die Firmenkultur. Zusammengefasst sind sie in der internen Broschüre „Our Way“. Immer wieder verlassen neue Filialleiter nach der Anfangsphase die Bank auf eigenen Wunsch. Die Zielkriterien sind vielen zu wenig konkret, zu vage.

      Doch in der Regel werden die Manager in der Zentrale für ihr Vertrauen mit hoch motivierten Mitarbeitern belohnt, die blitz-schnell auf Veränderungen in ihren regionalen Märkten reagieren, die richtige Entscheidungen selbstständig treffen und die die Svenska Handelsbanken zur kosteneffizientesten Bank Europas gemacht haben – das schon seit vielen Jahren.

      Ann-Christin Lenksjö ist so eine Mitarbeiterin, sie hat das eigenverantwortliche Arbeiten schon immer geschätzt. Die 39-Jährige sitzt heute auf dem blauen Sofa, auf dem bis vor wenigen Jahren Lennart Francke als Zweigstellenleiter saß. Es steht in einem kleinen Gebäude der Svenska Handelsbanken im Süden Stockholms in ihrem Büro. In die zwei großen Fenster des Schalterraums hat die Filialleiterin Handelsbanken-Poster gehängt, auf ihnen sieht man zwei Kinder auf Schwimmreifen in einem Pool liegen und Menschen in der Abendsonne beim Angeln. Es sind die Sorte Bilder, mit denen Banken auf der ganzen Welt deutlich machen wollen, dass man ihnen vertrauen kann, dass sie Produkte und Service anbieten, die einem als Kunde alle Sorgen nehmen. Neben den Schaltern in der Bank stehen Ständer voller Prospekte. Und die sieben Angestellten der Filiale wirken in ihren Anzügen und den Krawatten in jeder Hinsicht seriös.

      Der Eindruck also auch hier: Es handelt sich um eine ganz normale Filiale einer normalen Bank. Mit einem ausgestreckten Arm und geöffneter Handfläche zeigt Ann-Christin Lenksjö in Richtung ihres Computers auf dem Schreibtisch. „Mein Boss, der Regionalmanager, kann jederzeit die Resultate meiner Zweigstelle in einer Excel-Tabelle sehen und könnte anrufen, wenn er Fragen hat“, sagt sie. Und meint: Auch bei den Svenska Handelsbanken arbeitet niemand im luftleeren Raum. Gegen Herbst – der Zeit, in der andere Firmen mühsam ihr Budget errechnen, – setzt sich auch Ann-Christin Lenksjö mit ihren Mitarbeitern zusammen. Doch statt detaillierte Finanzaufstellungen zu entwickeln, sprechen sie über ihre groben Pläne für das kommende Jahr: Welcher Kunde besonders wichtig ist, welche Strategie sie verfolgen und auf welche Geschäftsfelder sie sich konzentrieren wollen. Anschließend wird das Ganze aufgeschrieben und eine Kopie an den Regionalmanager geschickt, „damit auch er sehen kann, was wir machen“.



      Ein erfolgreiches Modell. Und doch haben die Banker 20 Jahre gewartet, bevor sie es außerhalb Schwedens erprobten



      Und auch: wer die einzelnen Sachen macht. Denn im Gegensatz zu herkömmlichen Banken arbeitet man bei den Svenska Handelsbanken hundertprozentig kundenorientiert. Das heißt: Jeder Kunde ist genau einer Zweigstelle zugeordnet und innerhalb dieser in all seinen Belangen einem Mitarbeiter. Der betreut ihn von der privaten Kreditvergabe, zu der fast alle Mitarbeiter bis zu einem bestimmten Limit eigenständig berechtigt sind, bis hin zu Firmentransaktionen. Bei den Handelsbanken ist jeder Generalist. Und selbst verantwortlich für einen bestimmten Bereich. Wie groß dieser sein soll, kann er bei den Absprachen im Herbst mit der Filialleiterin besprechen. Unter anderem danach und nach der erfolgreichen Bewältigung der Aufgaben richtet sich sein Gehalt. „Mein Ziel“, so Lenksjö, „ist es immer, Verantwortung abzugeben.“

      Eine weitere Konsequenz aus dieser Art zu arbeiten: Bei den Svenska Handelsbanken sind die Mitarbeiter auf ihre Zweigstellenposten stolz und haben nicht das Gefühl, nur ein kleines Rädchen zu sein. „Wenn du bei uns an der Basis arbeitest, giltst du auch in der Zentrale als wer“, sagt Lenksjö. Denn hier vertraut man auf die Marktkenntnis und Kundennähe der einzelnen Filialen. Beispielsweise wenn es um die Kreditvergabe geht. Vor kurzem habe ein Kunde einen Kredit für den Kauf eines Hauses auf einer kleinen Insel vor Stockholm haben wollen. Eigentlich hatte er zu wenige Sicherheiten anzubieten. Doch weil der Mitarbeiter, der ihn betreute sowohl das Haus als auch ihn gut kannte, gab er der Anfrage statt. Schnell und unbürokratisch. Die Kundenzufriedenheit ist bei den Handelsbanken laut internen Umfragen seit Jahren sehr hoch.

      Probleme durch Dialog in den Griff bekommen. Kundennähe. Vertrauen in die Mitarbeiter. Ohne Budgets arbeiten. Sind die Handelsbanken vielleicht ein schwedisches Phänomen? Nur möglich in einem Land mit rund neun Millionen Einwohnern, in dem man das gesellschaftliche Solidaritätsprinzip noch immer wie einen Orden trägt? Auch bei den Handelsbanken hatte man Angst vor den Antworten auf diese Fragen. Deshalb hat es 20 Jahre gedauert, bis man die dezentrale und budgetlose Arbeitsweise auch in den anderen skandinavischen Ländern – Norwegen, Finnland und Dänemark – eingeführt hat. Und noch einmal zehn weitere Jahre, bis man damit auch nach England ging. Dabei war es den Managern in der Zentrale in Stockholm besonders wichtig, in den jeweiligen Ländern Zweigstellenleiter zu finden, die die Ideen und die Philosophie der Handelsbanken teilen. Das Wagnis und die sorgfältige Auswahl haben sich gelohnt. Selbst in England funktioniert das System anscheinend hervorragend. Ann-Christin Lenksjö war erst vor kurzem auf einem Vortrag, den ein Zweigstellenleiter aus South Hampton über seine Erfahrungen mit der Arbeit in Großbritannien hielt. Und obwohl er im Gegensatz zu den meisten schwedischen Handelsbanken-Mitarbeitern – im Schnitt sind die Manager in Stockholm schon 13 Jahre im Unternehmen – erst seit anderthalb Jahren die Zweigstelle führte und vorher viele Jahre in herkömmlichen englischen Banken verbracht hatte, war er vor Enthusiasmus über das Handelsbanken-System kaum zu stoppen. „Nach seinem Vortrag“, so Lenksjö, „dachte ich nur: Wo muss ich unterschreiben?“

      Sie möchte sowieso nicht zu einer anderen Bank, ein Wechsel kommt für sie nicht in Betracht. Auch, weil sie von der Art, wie Entscheidungen getroffen werden, begeistert ist. Zweimal im Jahr kommt sie mit den 81 anderen Zweigstellenleitern aus ihrer Region zusammen. Und obwohl sie untereinander im Wettbewerb stehen und jeder seine Position in der Tabelle kenne, tausche man offen Informationen über erfolgreiche Arbeitsweisen aus. Auch, weil man sich bei den Svenska Handelsbanken niemals einen Kunden teilt.



      Ohne Plan kein Leben, meinen viele: Manche Controller glauben, dass die Handelsbanken heimlich bilanzieren



      Aber würde sie nicht manchmal gern mehr für ihre individuelle Leistung belohnt? Ärgert sie sich nicht über weniger arbeitsame Mitarbeiter? Und laufen den Handelsbanken nicht die Leistungsträger davon? Ann-Christin Lenksjö schaut einen Moment in Richtung Bildschirm, dort könnte sie jetzt die Profitzahlen für jeden Kunden, die Finanzlage der Zweigstelle und die Kostenstruktur sehen. Doch sie lässt den Computer aus. Manchmal sei es schwierig, die Mitarbeiter kompetitiv und auf hohem Niveau am Arbeiten zu halten, sagt sie. Und sicherlich sei es ihnen manchmal nicht gelungen, sehr gute Mitarbeiter ohne Aussicht auf Boni zu halten. „Für Leute, die Stars sein wollen, bieten die Svenska Handelsbanken wohl keinen attraktiven Platz.“

      Vielleicht ist das der Grund, warum bisher kein Unternehmen das so erfolgreiche Handelsbanken-System exakt kopiert. Weil die Menschen eben nicht nur wegen der Gehälter an die Spitze von Unternehmen drängen, sondern weil es ihnen um Macht und Kontrolle geht – die sie auch mithilfe von Budgets ausüben. Und weil niemand, der in einer Organisation Entscheidungsgewalt hat, diese freiwillig beschneidet. Dass in der Verteilung der Macht auch die Chance für eine fundamentale Verbesserung des Unternehmens liegt, eine Möglichkeit, schnell und effektiv auf Marktveränderungen zu reagieren oder die Zufriedenheit der Mitarbeiter zu steigern, wird zunächst nicht gesehen.

      „Der Umwälzungsprozess dauert sehr, sehr lange“, sagt Ann-Christin Lenksjö. Ohne die fundamentale Krise in den Siebzigern und das Charisma Jan Wallanders hätten die Handelsbanken niemals diesen Schritt gewagt.

      Manchmal trifft Lennart Francke, der Manager aus der Zentrale in Stockholm, die Chefs oder Finanzvorstände anderer Banken, und es kommt vor, dass einige ihm kumpelhaft mit dem Ellbogen in die Seite stoßen, ihm zuzwinkern und sagen: „Sei ehrlich, wenn du willst, kannst du jederzeit in den Zweigstellen deine Ideen platzieren.“ Außerdem glauben sie, dass die Handelsbanken heimlich budgetieren.

      Und wenn Niels Pfläging heute Vorträge vor anderen Controllern, Managern oder Finanzvorständen über die Svenska Handelsbanken und Beyond Budgeting hält, sagen die ihm häufig, dass diese Veränderungen bei ihnen nicht funktionieren würden. Weil das in einer deutschen Firma nicht ginge. Weil ihr Unternehmen eine andere Kultur habe. Weil ihre Organisation aus einer anderen Branche komme. „Die Reihe von Argumenten, die Menschen einfallen, um ihren Budgetierungsprozess zu verteidigen, ließe sich beliebig fortsetzen“, so Niels Pfläging. Dabei schätzt man, dass rund 90 Prozent der Firmen weltweit mit ihrem derzeitigen System unzufrieden sind und dass die jährlichen Bugdetverhandlungen mittlerweile gut 30 Prozent der Arbeitszeit und der Energie des Managements verbrauchen.

      Deshalb ließen Pfläging, nachdem er mit seinen Kollegen erfolgreich das neue Softwaresystem bei Boehringer Ingelheim in Brasilien installiert hatte, die Svenska Handelsbanken nicht mehr los. Er fing an, sich besser zu informieren, mehr zu lesen und genauer zu verstehen, wie ein Unternehmen ohne Budget funktionieren kann.

      Zwei Jahre später gab er seinen Job als Controller auf.

      Er gründete eine eigene Unternehmensberatung, die MetaManagement Group, schrieb das Buch „Beyond Budgeting, Better Budgeting“ und wurde offizieller Repräsentant des Beyond Budgeting Round Table, kurz BBRT, in Brasilien und Lateinamerika. Mit ihm sind mittlerweile Professoren von der Stanford University, der London School of Economics und der französischen HEC School of Management verbunden, weltweit unterstützen 92 Unternehmen von American Express über die Deutsche Bank bis Siemens den BBRT mit einer Gebühr. Die Leistungen, die sie dafür bekommen: Kontakte zu Firmen, die bereits Erfahrung in der Umstellung ihrer Budgetierung haben, Einladungen zu den Veranstaltungen des BBRT. Und vor allem: die Übermittlung der Forschungsergebnisse, die fest angestellte Wissenschaftler anhand von Fallbeispielen erarbeiten.

      Nicht alle Veränderungen, die Unternehmen an ihrer Art zu budgetieren und an ihren Organisationsstrukturen vorgenommen haben, sind so einschneidend wie die der Svenska Handelsbanken. Doch was alle untersuchten Firmen eint: Sie haben den Kampf gegen ihre alten Budgetierungssysteme mithilfe relativer Zielvereinbarungen, vom Budget unabhängiger Leistungsvergütungen oder innovativer Planungsmethoden aufgenommen.

      Es ist ein Kampf gegen einen Energie raubenden, zeitaufwändigen, starren Gegner. Aber vor allem gegen tief verwurzelte Überzeugungen und Ängste, durch Veränderungen die Kontrolle über ein Unternehmen zu verlieren. Deshalb schauen die meisten Firmen der Bewegung, die sich um das Thema Beyond Budgeting formiert hat, fasziniert und gleichzeitig verängstigt zu – hin- und hergerissen zwischen dem Wissen um die Nachteile des herkömmlichen Budgetierungsprozesses, der Sorge, einer Modeerscheinung hinterherzulaufen, und dem Unbehagen, möglicherweise eine neue Entwicklung zu verpassen.

      Die meisten Unternehmen befinden sich noch in einer Lauer- und Beobachterposition. Doch die Berichte über erfolgreiche Veränderungen der Budgetierungsprozesse in Firmen häufen sich, man munkelt, auch Aldi, Volvo oder Ikea arbeiteten teilweise schon ohne Budgets, und das Interesse am BBRT nehme vor allem in Australien und Nordamerika zurzeit stark zu.

      Für Niels Pfläging ist das keine Überraschung. Denn er, der ehemalige Controller, sagt mittlerweile: „Die Zwangsjacke, die sich Unternehmen durch exakte Pläne anziehen, wird immer enger. Doch alle Unternehmen können sich aus ihr befreien.“

      Schwindelig wird ihm bei diesem Gedanken schon lange nicht mehr. --



      Niels Pfläging: Beyond Budgeting, Better Budgeting – Ohne Budgets zielorientiert führen und erfolgreich steuern. Haufe Verlag, 2003; 536 Seiten; 39,80 Euro



      Jan Wallander: Decentralisation – Why and how to make it Work. SNS Förlag, 2003; 143 Seiten



      Internet-Adresse des Better Budgeting Round Table: www.bbrt.org

      http://www.brandeins.de/home/inhalt_detail.asp?id=1502&MenuI…
      Avatar
      schrieb am 13.01.05 20:31:47
      Beitrag Nr. 282 ()
      "Die Preisstabilität bei niedrigen Zinsen ist gefährdet"
      Bundesbank-Präsident Axel Weber über die Gefahren steigender Staatsverschuldung und den Nutzen von Goldreserven


      DIE WELT: Herr Präsident, wann sind Sie eigentlich das letzte Mal einen Marathon gelaufen?


      Axel Weber: Einen Marathon? Das ist bestimmt zwei Jahre her.


      DIE WELT: Haben Sie keine Zeit mehr fürs Training?


      Weber: Das erste Amtsjahr als Bundesbank-Präsident ist besonders zeitintensiv. Der Aufwand wird sich danach naturgemäß verkürzen, weil nicht mehr alles neu für mich sein wird. Ich rechne daher fest damit, daß ich bis zum nächsten Herbst fit genug bin, um wieder einen Lauf zu machen.


      DIE WELT: Wie schwer ist es Ihnen gefallen, nicht mehr nur Wissenschaftler sondern auch Geldpolitiker und Manager zu sein?


      Weber: Ich trenne nicht zwischen diesen Aufgaben. Ein Bundesbank-Präsident muß all diese Funktionen ausfüllen. Ich habe seit meinem Amtsantritt nicht feststellen könne, daß ich das eine lieber als das andere mag.


      DIE WELT: Sie haben direkt nach Ihrem Amtsantritt den Finanzminister attackiert und gefordert, daß die Bundesregierung sieben Mrd. Euro einsparen soll. Haben diese Worte ihre Wirkung verfehlt?


      Weber: Die Bundesregierung hat einiges dafür getan, die Budgetvorgaben für 2005 zu erreichen. Das Ziel ist also in Reichweite, aber noch nicht gesichert. Deshalb war es ja auch so wichtig, daß sich die Regierung dazu verpflichtet hat, notfalls zusätzliche Beschlüsse zu fassen, um die Maastricht-Kriterien 2005 zu erreichen.


      DIE WELT: Die Bundesbank will vorerst nur acht statt der möglichen 120 Tonnen Gold abgeben. Warum verkaufen Sie nicht mehr Gold?


      Weber: Zunächst: Es ist falsch, wenn in den Medien der Eindruck erweckt wird, ich habe Gold verkaufen wollen, sei aber im Vorstand gescheitert. Ich habe von Anfang an öffentlich klar gestellt, daß ich in dieser Frage eine andere Meinung als mein Amtsvorgänger habe. Der Vorstand sieht zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Notwendigkeit, die Verkaufsoption auszuüben. Die Goldbestände der Bundesbank sind Teil des Volksvermögens, sie haben für die Bevölkerung einen hohen Symbolwert. Goldverkäufe können im Übrigen kein Ersatz für eine nachhaltige Konsolidierungsstrategie der Finanzpolitik sein.


      DIE WELT: Dann besorgt Sie das Tempo, mit dem die Regierung das Tafelsilber verkauft?


      Weber: Es ist in der Tat bedenklich, daß ein Großteil der Maßnahmen nur für ein Jahr wirksam sein wird und keine nachhaltige Konsolidierung darstellt. In den nächsten Jahren wird sich die Regierung deshalb zusätzlich anstrengen müssen, damit Deutschland mittelfristig das Ziel ausgeglichener Haushalte erreicht.


      DIE WELT: Glauben Sie ernsthaft daran, daß der Finanzminister dieses Versprechen noch hält, nachdem der Stabilitätspakt als Druckmittel weggefallen ist?


      Weber: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt wird vielleicht modifiziert, aber er entfällt ja nicht ...


      DIE WELT: ... dann können Sie sich also mit der Entscheidung abfinden, daß das Defizitverfahren gegen Deutschland und Frankreich nicht wieder aufgenommen wird?

      Weber: Wir haben als Bundesbank immer wieder gefordert, den Pakt so zu lassen, wie er geschaffen wurde und das Defizitverfahren fortzusetzen. Es ist bedauerlich, daß dieser Eckpfeiler der europäischen Finanzpolitik weiter an Glaubwürdigkeit verlieren wird. Mittlerweile ist der politische Druck aber so groß geworden, daß eine Reform vermutlich nicht mehr auszuschließen ist - auch nicht durch die Notenbanken. Zumal diese an der Entscheidung nicht mitwirken.


      DIE WELT: Das klingt resigniert.


      Weber: Wir sind nicht resigniert, sondern versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Kontraproduktiv wäre es, ein geringes Wirtschaftswachstum als weitere Ausnahme zuzulassen, wenn ein Land die Defizitgrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts verfehlt. Auch die Überlegungen, bestimmte Ausgaben aus den Budgetzielen herauszurechnen oder verlängerte Fristen bei der Korrektur zuzulassen, sind nicht zielführend. Dadurch würde die Drei-Prozent-Grenze in die Beliebigkeit abrutschen.


      DIE WELT: Das ist aber sehr wahrscheinlich. Muß die Geldpolitik auf diese Entwicklung reagieren?


      Weber: Die Geldpolitik wird tun, was notwendig ist, um die Preisstabilität im Euro-Raum zu sichern. Wir müssen allerdings sehen, daß bei anhaltend steigenden Staatsdefiziten und Schulden die Preisstabilität bei dauerhaft niedrigen Zinsen nicht mehr gesichert werden kann.


      DIE WELT: Wir können uns die historisch niedrigen Zinsen im Euroraum also bald nicht mehr leisten?


      Weber: Die Preisstabilität bei niedrigen Zinsen ist gefährdet, wenn die Finanzpolitik nicht auf den stabilitätsgerechten Pfad zurückkehrt. Denn dann ist auf Dauer wahrscheinlich, daß sich durch die zunehmende Emission von Staatspapieren am Markt höhere Zinsen einstellen. Das wiederum würde die Refinanzierungskosten von Unternehmen erhöhen und damit möglicherweise die Inflation. Darauf müßte die Notenbank reagieren.


      DIE WELT: Das klingt nach einem Stagflations-Szenario: hohe Inflationsraten, kein Wachstum.


      Weber: Die Gefahr einer Stagflation ist im Moment gering. Wir erwarten, daß das Wachstum in Deutschland immerhin 1,3 Prozent beträgt. Und auch auf der Preisseite gibt es wegen der schlechten Lage auf dem Arbeitsmarkt und der günstigen Importe vorerst keinen zusätzlichen Inflationsdruck.


      DIE WELT: Warum denken Sie dann im EZB-Rat derzeit nur über Zinserhöhungen nach?


      Weber: Wir hatten bei unseren Beratungen zuletzt die Sorge, daß neben den direkten Effekten durch den Ölpreisschock und Änderungen von indirekten Steuern und administrativen Preisen auch die Inflationserwartungen anziehen. Sollte durch Zweitrundeneffekte, also durch übermäßige Lohnsteigerungen, unser Stabilitätsziel gefährdet sein, müßten wir dem entschlossen entgegen treten. Das sehe ich derzeit aber nicht.


      DIE WELT: Der US-Ökonom Stanley Fischer sagt, daß angesichts günstiger Importe die Inflationsgefahren trotz hohem Geldmengenwachstum gleich null sind. Teilen Sie diese Ansicht?


      Weber: Nein. Die Geldmenge ist nach wie vor ein wichtiger Indikator, um die langfristige Preisentwicklung einzuschätzen. Zur Zeit ist mehr Liquidität vorhanden, als zur Finanzierung eines inflationsfreien Wachstums notwendig ist. Daraus ergibt sich jedoch kein automatischer Handlungsbedarf für geldpolitische Entscheidungen. Es kommt darauf an, was die Ursache der Überschußliquidität ist, und wie sie sich abbaut. Momentan strömt dieses Geld eben nicht in den Konsum, sondern läßt die Kurse an den Bondmärkten und die Preise in einzelnen Immobilienmärkten steigen.


      DIE WELT: Und darauf müssen Sie nicht reagieren?


      Weber: Wenn wir solche Immobilienpreisentwicklungen in Teilen des Währungsraums sehen, kann die EZB das nicht abfedern. Denn wir machen eine einheitliche Geldpolitik für zwölf Länder. In diesem Fall müßte die nationale Regierung einschreiten, zum Beispiel über den Abbau von steuerlichen Förderinstrumenten.


      DIE WELT: Auch auf den Anstieg des Euro hat die EZB bisher kaum reagiert. Gleichzeitig hat Bundeskanzler Gerhard Schröder explizit die Interventionspolitik der japanischen Zentralbank gelobt. Fühlen Sie sich dadurch kritisiert?


      Weber: Unsere Aufgabe ist es, die Preisstabilität in der Euro-Zone zu sichern. Diese Aufgabe erfüllt die EZB mit großem Erfolg. Trotz des Ölpreisanstiegs haben wir es geschafft, die Preissteigerungsrate nahe unserem Ziel einer Inflationsrate von knapp unter zwei Prozent zu halten.


      DIE WELT: Aber wie lange kann der Euro-Raum die Anpassungslast durch den Dollar-Verfall noch allein tragen?


      Weber: Die Euro-Aufwertung hat für Unternehmen und Haushalte sowohl Vor- als auch Nachteile. Einerseits verringert sich zwar die preisliche Wettbewerbsfähigkeit europäischer Exporte, andererseits reduziert sich aber auch die Kostenbelastung der Unternehmen und Konsumenten, weil die Importe billiger werden. Drastische Verschiebungen der Wechselkursrelation sind allerdings nicht willkommen.


      Die WELT: Was ist wirkungsvoller, um dagegen vorzugehen: Zinssenkungen oder Interventionen?


      Weber: Die Notenbanken verfügen über ein breites Instrumentarium. Dieses wird die EZB einsetzen, wenn sie den Zeitpunkt für richtig erachtet. Wechselkursveränderungen allein können die globalen Ungleichgewichte nicht abbauen. Ich weise in diesem Zusammenhang auf die Erklärungen der G20- Partner hin, wonach jede Region ihren Beitrag leisten muß, um die weltweiten Ungleichgewichte abzubauen.


      Die WELT: Eine schöne Wunschliste. Nur nimmt sie an den Finanzmärkten niemand mehr ernst.


      Weber: Zu den Reformen gibt es keine Alternative, um in Europa die Arbeitslosigkeit und die Wachstumspotentiale zu mobilisieren.


      Die WELT: Aber das paßt doch nicht zusammen: Die Bürger sollen den Gürtel enger schnallen, und gleichzeitig werden die dadurch erreichten Wettbewerbserfolge durch die Euro-Aufwertung mehr als zunichte gemacht. Da muß die EZB doch einschreiten.


      Weber: Die Erfahrungen der vergangenen 30 Jahre haben gezeigt, daß Notenbanken sich an der Preisstabilität orientieren sollten und nicht an einem bestimmten Wert des Wechselkurses. Indem die EZB niedrige Inflationsraten bei niedrigen Zinsen sicher stellt, leistet sie ihren Beitrag für eine dynamischere Wirtschaft im Euro-Raum. Mehr sollte die Politik von einer Notenbank nicht verlangen. Es ist Aufgabe der Regierungen, ihre Volkswirtschaften flexibler zu machen.


      DIE WELT: Viele Unternehmen kritisieren die weitreichende Mitbestimmung von Arbeitnehmern in Deutschland. Muß sich das nicht auch zu Gunsten von mehr Wettbewerbsfähigkeit ändern?


      Weber: Es kann keinen Zweifel daran geben, daß der deutsche Arbeitsmarkt flexibler werden muß. Die jüngsten Fälle wie Opel oder Karstadt-Quelle haben aber auch gezeigt, daß immer dann, wenn Unternehmen existenzgefährdet sind, hierzulande flexible Lösungen durchaus möglich sind.


      DIE WELT: So lange können wir doch nicht jedesmal warten.


      Weber: Richtig, deshalb ist es ja auch notwendig, daß Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam Lösungen finden, damit intakte Unternehmen konkurrenzfähig bleiben und Arbeitsplätze sichern und schaffen können.


      DIE WELT: Gilt das auch für die Mitbestimmung?


      Weber: Auch die Mitbestimmung muß dem Wandel der Zeit angepaßt werden.


      DIE WELT: Verraten Sie uns wie?


      Weber: Wir können Reformen anmahnen. Die Gestaltung im Detail ist aber nicht unsere Aufgabe.


      DIE WELT: Halten Sie es für angemessen, daß die deutsche Volkswirtschaft, die rund ein Drittel der Eurozone darstellt, nur über eine Stimme im EZB-Rat verfügt?


      Weber: Im EZB-Rat ist nicht die Zahl der Stimmen entscheidend, sondern die Argumente, die jeder einbringen kann. Wenn ich also eine starke Stimme haben soll, dann ist die Kompetenz der Bundesbank eine unabdingbare Voraussetzung dafür. Wir brauchen eine starke Bundesbank.

      Das Gespräch führten Jörg Eigendorf und Anja Struve


      Artikel erschienen am Di, 21. Dezember 2004

      http://www.welt.de/data/2004/12/21/377693.html?s=1
      Avatar
      schrieb am 12.02.05 16:05:22
      Beitrag Nr. 283 ()
      HEDGEFONDS - Kampf um die Krümel

      03.02.2005 Wirtschaftswoche Nr. 6 S. 95 Christof schürmann -- Die Finanzbranchestartet einen neuen Anlauf, um deutschenAnlegern Hedgefondsschmackhaft zumachen. Doch dieGebühren bleiben hoch und die Versprechen überzogen. Worauf Investoren achten sollten.
      So richtig weinerlich treten Finanzmanager selten auf. Doch jüngst weinte eine ganze Schar vonHedgefondsanbietern hemmungslos ins Glas. In der „Financial Times Deutschland“ ließen sie vor drei Wochen verbreiten, die Bürokratie am Finanzplatz Deutschland schrecke „alle guten internationalen Fonds“ ab, wie es Dirk Söhnholz vom Dachfondsanbieter Feri Trust formulierte. Noch vor Jahresfrist hatte die Branche ganz anders gesprochen, da gierte sie danach, endlich mit Hedgefonds für Privatanleger an den deutschen Markt gehen zu dürfen. Zehn

      Milliarden Euro sollten deutsche Anleger 2004 in die erstmals erlaubten Produkte stecken. Ein Jahr später ist gerade mal ein Zehntel dieser Summe zusammengekommen. Die Anleger machten einen großen Bogen um die neue Wunderwaffe der Investmentbranche. Warum?
      Schuld daran sind laut den Anbietern staatliche Stellen wie die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) – als ob die Regeln erst jetzt und nicht bereits vor einem Jahr bekannt gewesen wären. Dabei „hat die Aufsicht das Transparenzthema gut gelöst“, sagt Ferdinand Haas, Investmentvorstand von BCA, der größten deutschen Vereinigung unabhängiger Finanzdienstleister mit Sitz im hessischen Oberursel. In Wahrheit liegen die Gründe für die weinerliche Attitüde der Hedgefondsmanager fernab Berliner Regeln. Zum Teil exorbitante Gebühren zerstören die Rendite der angebotenen Hedgefonds. Das spüren die Anleger und halten sich zurück.
      Hinzu kommt: Die Aussichten auf ordentliche Erträge sind deutlich geringer, als immer wieder behauptet. Eine aktuelle Studie der renommierten Princeton University belegt, dass die Renditedarstellungen der Hedgefondsindustrie hoffnungslos übertrieben sind. Anleger sollten deshalb die gerade einsetzende zweite Welle an Angeboten genau prüfen und kritisch abwägen, ob eine Investition in Hedgefonds lohnt. Zumal noch ein dritter Nachteil ins Spiel kommt: Mit der viel gerühmten Sicherheit der Investition ist es auch nicht so weit her. „Hedgefonds sind deutlich riskanter, als allgemein verbreitet wird“, sagt Burton Malkiel, einer der bekanntesten US-Finanzmarktexperten und Professor an der Princeton University. „Die angeblich nur geringe Schwankungsbreite der Indizes spiegelt nicht den wirklichen Markt wider“, ergänzt Lars Jaeger, Manager der Schweizer Partners Group.
      Das unterschätzte Risiko liegt an der Arbeitsweise der Fonds. So versuchen Hedgespekulanten, Ungleichgewichte am Markt auszunutzen. Das geht nicht immer gut. Beispiel T-Online: Nachdem der Mutterkonzern Deutsche Telekom angekündigt hatte, die Internettochter wieder zu integrieren und die Anteile der freien Aktionäre für 8,99 Euro zu übernehmen, setzte die Spekulation ein. Die Überlegung: Der Konzern könnte sein Angebot nachbessern, dann wäre der Kauf von T-Online-Aktien zu Kursen nahe neun Euro eine Chance ohne Risiko. Zunächst ging das Spiel auf (WirtschaftsWoche 43/2004), Hedgefonds trieben den Kurs im Januar bis auf 10,06 Euro. Doch alle Spekulanten, die erst jetzt einstiegen, verbrannten sich die Finger. Als die Telekom vergangene Woche beteuerte, das Ursprungsangebot von 8,99 Euro werde nicht erhöht, brach der T-Online-Kurs zusammen. Ein dickes Verlustgeschäft für viele Hedgefonds. Neben rund zehn Prozent Prozent Kurseinbußen und Bankgebühren müssen sie auch Geld für Kredite berappen. Denn in der Regel investieren Hedgefonds neben einem Euro eigenem Kapital bis zu 20 Euro an fremdem Geld, auf das Zinsen fällig werden.
      Was in Einzelfällen wie T-Online bekannt ist, bleibt in der Summe ein Versteckspiel. Wer sich als Anleger an Hedgefonds beteiligt, erfährt nicht, was mit seinem Geld geschieht. Die Manager verkaufen beispielsweise geliehene Aktien, in der Hoffnung, sie später billiger zurückkaufen zu können. Sie nutzen kleine Preisdifferenzen am Ren- a tenmarkt, setzen auf Rohstoffe wie Öl oder spekulieren mit Währungen. Da niemand weiß, was die Manager genau treiben, umweht sie ein beinahe mystisches Image. „Die Strategien sind aber oft recht simpel“, sagt Haas. Nicht selten, dass ein Hedgefonds einfach nur Aktien und Anleihen kauft und ein wenig Cash hält – etwas anderes machen Manager herkömmlicher Investmentfonds auch nicht. Dabei sind Hedgefonds am Markt inzwischen dominant. „New Yorker Händler sprechen davon, dass häufig mehr als jede zweite täglich gehandelte Aktie von Hedgefonds bewegt wird“, sagt Malkiel. So machten Verkäufe von Hedgefonds bei Cal-Maine Foods, dem größten amerikanischen Eier-Anbieter, im Januar gut 86 Prozent der frei handelbaren Aktien aus. Beim Internet-Reisespezialisten Travelzoo dominierten Hedgefonds im Januar fast 50 Prozent des Handelsvolumens, dazu vier von fünf Aktien, die beim Glasfasernetzbetreiber Global Crossing die Hände wechselten.
      Ihren immer grösseren Einfluss verdanken die Manager der Hedgefonds den exorbitanten Beträgen, die ihnen die Investoren an die Hand geben. Und am hohen Tempo, mit dem sie diese Gelder umschichten.
      Erzielte die Branche noch 1990 erst 50 Milliarden Dollar an Mitteln, sitzt sie nun auf einem Kapitalberg der 20-fachen Summe von 1000 Milliarden Dollar. Das würde reichen, um etwa die wichtigsten 700 Börsenunternehmen in Deutschland aufzukaufen. Die aus diesen 1000 Milliarden Dollar heraus an den Kapitalmärkten investierte Summe ist noch höher, weil für jeden eingezahlten Dollar ein Mehrfaches an Krediten aufgenommen wird.
      Dabei behindern sich die weltweit inzwischen rund 12 600 Hedgefonds gegenseitig. Versuchten vor zehn Jahren nur ein paar Hundert Manager ein dickes Stück vom Finanzkuchen abzuschneiden, balgt sich nun eine große Schar um die Sahnehäubchen. Dass da für viele nur Krümel übrig bleiben, liegt auf der Hand. Kein Wunder, dass Jahr für Jahr zehn Prozent aller Hedgefonds vom Markt verschwinden. „Zum Beispiel meldeten 1996 knapp mehr als 600 Fonds Daten. Von diesen existierten 2004 nur noch 124, nicht einmal mehr ein Viertel“, so Malkiel. Die Besonderheit: Die Zahlen der Pleitekandidaten gehen nicht in die Berechnung der einschlägigen Indizes für Hedgefonds ein. Auf diese Weise zeichnen die Indizes ein systematisch geschöntes Bild der tatsächlichen Entwicklung.
      So war es auch 1998. Als der milliardenschwere Hedgefonds LTCM vor der Pleite stand und das weltweite Finanzsystem ins Wanken brachte, störte das die ausgewiesene Performance der Industrie nicht. LTCM machte zwischen Oktober 1997 und Oktober 1998 zwar 92 Prozent Verlust. Mit einem Eigenkapital von 4,8 Milliarden Dollar ging das Management, über Großkredite befeuert, risikoreiche Anleihegeschäfte von mehr als 100 Milliarden Dollar ein. Obwohl LTCM damals zu den größten Fonds überhaupt zählte, tauchte die negative Performance in keinem Hedgefonds-Index auf.
      Malkiel hat gemeinsam mit Atanu Saha, Manager der New Yorker Analysis Group, in einer umfangreichen Studie untersucht, wie sich Hedgefonds tatsächlich verzinsen. Das Ergebnis ist ein Schlag für die Industrie, die regelmäßig zweistellige Renditen anpreist. 3,74 Prozentpunkte mehr an jährlichem Ertrag als tatsächlich erwirtschaftet weisen demnach Hedgefonds im Durchschnitt aus. Das ist auf den ersten Blick schon viel, über Jahre addiert erst recht ein immenser Unterschied. So signalisiert der viel beachtete CSFB Tremont Hedge Fund Index eine Kursverdreifachung in den vergangenen zehn Jahren (siehe Grafik Seite 95). Gemessen an den Ergebnissen der Studie schnurrt das Ergebnis auf ein Plus von 124 Prozent zusammen – in Dollar berechnet. „In Euro hat der Tremont-Index in den vergangenen drei Jahren sogar sieben Prozent verloren – Jahr für Jahr“, sagt BCA-Experte Haas. Zum Vergleich: Den in Dollar errechneten Zehnjahresertrag des Tremont-Index hätten Anleger auch mit den Aktien aus dem MDax erzielt. Die brachten 123 Prozent Plus. Auch sichere Dax-Papiere schafften mit 110 Prozent Ertrag in den vergangenen zehn Jahren eine ähnliche Rendite. Konservative Anlagen wie die zehnjährige Bundesanleihe brachten gar 135 Prozent.
      Dabei haben Anleger die Möglichkeit, in Dax und Co. tatsächlich zu investieren. Bei den in den Prospekten der Hedgeindustrie gepriesenen Indizes sieht es dagegen anders aus. „Für eine Investition in die bekannten Indizes gibt es keine Produkte“, so Partners-Group-Manager Jaeger.
      So kocht in der Hedgefondsbranche jeder sein eigenes Süppchen. Und niemand weiß, was drin ist. Dem Anleger werden von den Machern der Zertifikate dann Pro- a dukte auf eigenwillig kreierte Sonderindizes serviert. „Es gibt keine Standards und es fehlt an Transparenz“, sagt Ralf Fix, Manager beim Luxemburger Anbieter Aegis Fund.
      Seit etwa vier Jahren werden solche Hedgefonds-Zertifikate angeboten. Immerhin: Geld verloren haben Anleger mit den wenigsten Papieren. Die meisten haben ein paar Prozentpunkte Plus gebracht oder krebsen an der Nulllinie. Die versprochenen zweistelligen Renditen pro Jahr schaffte aber keines der zehn wichtigsten Zertifikate von großen Anbietern wie der Deutschen Bank, der Dresdner Bank, der Société Générale oder der WestLB. Vorne liegt das Comas-II-Zertifikat der Commerzbank, das binnen gut drei Jahren abzüglich Ausgabeaufschlag einen Gesamtertrag von 16,3 Prozent oder umgerechnet 4,9 Prozent pro Jahr schaffte. Bei Ausgabenaufschlägen von bis zu fünf Prozent und jährlichen Verwaltungsgebühren von regelmäßig 1,5 bis 2,0 Prozent sind die Zertifikate ein glänzendes Geschäft – für die Banken.
      Kein Wunder, dass beispielsweise Berater der Commerzbank selbst Depots von Rentnern zu einem Drittel mit den Papieren ihrer Comas-Familie bestücken. Hauptsache, die Provision stimmt. Allein die Deutsche Bank sammelte mit ihrem ersten Hedgeprodukt auf einen Schlag 1,9 Milliarden Euro ein.
      Noch teurer als Zertifikate sind dieHedgefonds. „Bei Dachhedgefonds zahlen Investoren doppelte Gebühren. Deshalb sind die Renditen generell niedrig“, so Malkiel.
      Dachfonds heißt: Der Anbieter sammelt Anlegergeld für einen Fonds ein, der wiederum in 10 bis 30 andere Fonds (Zielfonds) investiert. Ausgabeaufschläge von fünf Prozent und jährliche Verwaltungsgebühren, die leicht drei Prozent erreichen, machen die Sache schon auf den ersten Blick zu einem teueren Spaß. Zudem verlangen die Dachfondsmanager eine Erfolgsbeteiligung. Die Manager der Zielfonds kassieren zusätzlich ab. Zu den dort anfallenden Jahresgebühren kommen „erfahrungsgemäß 15 bis 20 Prozent Erfolgsbeteiligung für das Management der Fonds, in die wir investieren“, sagt Markus Töllke, Portfoliomanager bei der Münchner Merck Finck, der gerade den neuen Fonds DB Platinum II vertreibt. Dieser Fonds wird von der Deutschen Bank gemanagt. Zuvor wählt Feri Trust eine mögliche Investitionsgruppe aus, die Abwicklung erfolgt über einen Account der Deutschen Bank in London. Alle Beteiligten greifen natürlich ihre Prozente ab.
      So fallen bei einem im vergangenen Jahr aufgelegten Fonds der Dresdner-Bank-Tochter Dit fünf Prozent Ausgabeaufschlag an. 2,25 Prozent jährliche Verwaltungsgebühr und 25 Prozent Erfolgsbeteiligung zahlt der Anleger oben drauf – und das nur auf Ebene des Dachfondsmanagers Dit. „Schon fixe Gebühren von mehr als einem Prozent sind nicht akzeptabel“, meint Haas. Anleger sollten die Prospekte eingehend auf die Kosten abklopfen (siehe Kasten Seite 96).
      Ganz dreist sind Angebote wie ein neues Produkt der Dortmunder Alpha Finance. Zu Beginn kassieren die Initiatoren vom Anleger im Minimum gut 25 Prozent ab (siehe Tabelle unten). Erreicht der Fonds nur ein Volumen von 38,5 Millionen Euro, sieht die Investitionsrechnung sogar Abzüge von knapp über 50 Prozent vor. Bei schwachen Renditen wie im vergangenen Jahr sähen Investoren selbst nach zehn Jahren ihr eingesetztes Kapital nicht annähernd wieder.
      2004 schlossen viele Hedgefonds im Minus ab. Die acht in Euro notierten Future-Fonds des größten europäischen Anbieters, der Londoner Man Investments, liegen bis auf eine Ausnahme jeweils rund ein Prozent unter Wasser. Der Fonds Hedge-Invest Dynamik der Deutschen-Bank-Tochter DWS verlor seit dem Start im April drei Prozent, der Unico AI Multi-Hedge Strategy R lag mit einem Minus von zwei Prozent in den vergangenen zwölf Monaten kaum besser. Der world-of-fonds.com GmbH & Co II Eupherie Handelssystem KG vernichtete ein Drittel der Einlagen – da stört die jährliche Gebühr von 6,1 Prozent kaum noch.
      Aber selbst wenn man für die kommenden Jahren mit 8,5 Prozent eine hohe Rendite auf Ebene der Zielfonds unterstellt, bliebe davon bei einem typischen Dachfonds nicht einmal ein Drittel beim Anleger hängen (siehe Tabelle Seite 96). Haas: „Die Produkte nutzen vor allem dem Vertrieb und den Produzenten, die kräftig abkassieren.“
      Die Erfahrung fehlt. Einer der Gründe der Misere, den Experten aber lieber hinter vorgehaltener Hand nennen: „Viele Hedgefondsmanager haben bis vor kurzem noch etwas völlig anderes gemacht. Zum Beispiel simple Aktienfonds geführt“, so ein Hedgefondsvertriebsmanager aus Frankfurt.
      Dennoch ist die Branche optimistisch, in den kommenden Jahren auch in Deutschland endlich die erhofften Kapitalströme anzulocken. Im Durchschnitt erwartet die Branche bis 2008 ein Volumen von 47 Milliarden Euro. Da müssen natürlich neue Produkte her.
      Merrill Lynch hat im Dezember ein neues Zertifikat aufgelegt. Merck Finck hat schon 20 Millionen Euro für den DB Platinum II eingesammelt, die Dresdner Bank hat vor drei Wochen ein neues Hedge-Index-Produkt auf den Markt geworfen, die Hamburger Hansainvest will einen Dachfonds auflegen, die schwedische SEB plant eine eigene Dachsammelstelle für Hedgefonds einzurichten. Die Kölner Sauren Fonds-Reserach zieht durch die Lande, um Anleger mit 10 000 Euro Mindesteinsatz in ihren „Global Hedgefonds“ zu locken. Bei der BNP Paribas können zwei neue Zertifikate bis zum 18. Februar gezeichnet werden, und Konkurrent Société Générale schickte kurz vor Weihnachten sein jüngstes Produkt an den Start. Die von der deutschen Aufsicht verbotenen Produkte der umstrittenen österreichischen Quadriga schlüpfen unter den Mantel des Kölner Bankhauses Sal. Oppenheim und werden bald wieder deutschen Anlegern offeriert.
      Auch die Commerzbank trommelt munter weiter. Seit vergangener Woche unterbreitet sie ein laut Werbung in Deutschland „einmaliges Angebot“. Die beiden neuen „Top-in-one-class”-Produkte sind aber für Unternehmenskunden und institutionelle Anleger reserviert. Das ist nun wirklich zum Weinen.
      CHECKLISTE - Hürden einbauen
      Offensichtliche Kosten und versteckte Gebühren – die Prospekte der Hedgefonds sind schwierig zu lesen. Das Aufgeld (Agio) auf die Nominaleinlage liegt in der Regel bei fünf Prozent, ist aber bei einigen Anbietern verhandelbar. Mehr als drei Prozent sollten Anleger nicht zahlen. Weitere anfängliche Kosten sollten zwei Prozent nicht übersteigen. Die in den Folgejahren anfallenden jährlichen Gebühren sollten maximal ein Prozent betragen.
      Die Erfolgsgebühr für das Dachfondsmanagement sollte als Anteil an der erwirtschafteten Rendite zehn Prozent nicht übersteigen. Dabei sollte eine Erfolgshürde eingebaut sein, mindestens sieben Prozent. Beispiel: Schafft ein Hedgefonds 9,0 Prozent nach Kosten, aber vor Erfolgsgebühr, blieben beim Anleger 8,1 Prozent (9,0 Prozent abzüglich ein Zehntel) Rendite hängen. Schafft der Anbieter nur sechs Prozent, gehen auch sechs Prozent an den Anleger, weil die Erfolgshürde nicht übersprungen wurde. Bei Dachhedgefonds ist regelmäßig nicht erkennbar, wie viel Gebühren die Manager der Unterfonds zusätzlich abgreifen. Hier sollte die Erfolgsbeteiligung maximal zehn Prozent betragen und die jährliche Gebühr ein Prozent. Zudem sollte die Erfolgshürde bei wenigstens elf Prozent liegen. Anleger sollten sich vom Dachhedgefondsmanager schriftlich zusichern lassen, wie hoch die Kosten der Unterfonds sind. Ansonsten: Finger weg. Zudem sollte klar sein, ob – und wenn ja wie – Investoren ihre Anteile zurückgeben können. Die Fonds sollten in Deutschland zugelassen sein. Cs
      ZU VIELVERSPROCHEN Warum Hedgefonds wenig Rendite bringen(1)
      (in Prozent)
      Durchschnittliche Anfangsrendite2 8,56
      Aufgeld (5 Prozent auf 10 Jahre verteilt) -0,5
      Vorabkosten (3 Prozent auf 10 Jahre verteilt) -0,30
      ----------------------------------------------------------------------------------------------------------
      Zwischensumme: 7,76
      Erfolgsbeteiligung der im Dachfonds enthaltenen Fonds (20 Prozent) -1,55
      Managementgebühr der enthaltenen Fonds (1,5 Prozentpunkte) -1,50
      ----------------------------------------------------------------------------------------------------------
      Zwischensumme: 4,71
      Erfolgsbeteiligung Dachfonds (10 Prozent) -0,47
      Managementgebühr Dachfonds (1,5 Prozentpunkte) -1,50
      ----------------------------------------------------------------------------------------------------------
      Rendite des Anlegers 2,74
      ============================================================
      1) Exemplarische vereinfachte Rechnung eines Dachhedgefonds, Gebühren und Erfolgsbeteiligung variieren je nach Anbieter;
      2) jährliche Rendite von 12,3 Prozent im Index CSFB/Tremont Hedge Fund seit 31.12.1994 korrigiert um Darstellungsfehler laut Princeton-Studie; Quelle. eigene Berechnungen

      http://www.wiwo.de/pswiwo/fn/ww2/sfn/buildww/id/617/id/94208…
      Avatar
      schrieb am 17.02.05 20:37:30
      Beitrag Nr. 284 ()
      Kolumne: Staatsbankrott! Trotzdem gibt es eine Rally!
      -> www.tradecentre.de

      Liebe Leser,

      Das Vermächtnis von Einstein war eine relative Betrachtung von Raum und Zeit. Die einzige absolute Größe ist die Lichtgeschwindigkeit. Alles ist relativ. Das gilt besonders für die Wahrnehmung wirtschaftlicher Zustände. Während die spezielle Relativitätstheorie noch relativ einfach zu verstehen ist, wird es deutlich komplizierter menschliche Verhaltensweisen zu beurteilen. Zufriedenheit und eine optimistische Lagebeurteilung entstehen nicht aus absoluten Größen wie einem hohen Wohlstand, sondern fast ausschließlich aus der jüngsten Veränderung der persönlichen Situation. Ein Bettler, der sich von der Straße hocharbeitet und sich dann endlich wieder eine Wohnung leisten kann, wird im Normalfall glücklicher sein als ein Millionär, der sein Vermögen von 10 Millionen Euro halbiert hat. Menschliche Wahrnehmungen sind in hohem Maße durch relative Zustandsänderungen geprägt. Ich möchte Ihnen heute erneut eine positive Sichtweise der wirtschaftlichen Situation vermitteln, die sich zwangsläufig ergibt, wenn man die wirtschaftliche Entwicklung aus der Vogelperspektive betrachtet, wohl wissend, dass mein Blick für die Schieflagen im globalen Finanzsystem getrübt ist. Letztendlich ist aber kalkulierter Optimismus das wichtigste für Erfolge an den Aktienmärkten. Wer negativ denkt, sieht nicht die zahlreichen Chancen. Die moderne Wirtschaftswissenschaft beschäftigt sich im Übrigen immer stärker mit menschlichen Anreizsystemen. Keine makroökonomischen Variablen sind Auslöser für Wirtschaftswachstum, sondern fast ausschließlich die Erwartungshaltung einzelner Individuen in einer Volkswirtschaft.

      Die Weltwirtschaft wuchs 2004 in einer Größenordnung von vier Prozent - so schnell wie seit dreißig Jahren nicht mehr. So viele Menschen wie noch nie in der Geschichte der Menschheit leben in Wohlstand. Allein in China werden in diesem Jahrzehnt 300 Millionen Menschen ein westliches Wohlstandsniveau erreichen. In Europa sind neue bewaffnete Konflikte in weite Ferne gerückt. Der kalte Krieg ist vorbei. Nahezu jeder deutsche Bürger kann sich Wohnung, Auto, Handy, Kleidung und Freizeitaktivitäten leisten. Schauen Sie in die Geschichtsbücher welche Zustände vor 50 Jahren geherrscht haben. Informieren Sie sich über die Weltuntergangsszenarien währen der Ölkrise. Es wird schnell offensichtlich, dass ganz objektiv eine unglaublich hohe Verbesserung der Lebensqualität stattgefunden hat. Eine negative Haltung gegenüber dem zukünftigen Wirtschaftswachstum einzunehmen, ist allein schon aus historischer Sicht unvernünftig. Bislang konnte die Menschheit aus jeder Krise einen Ausweg finden. Die Lebensverhältnisse haben sich im Laufe der Zeit zwar unter Schwankungen, aber dennoch stetig verbessert. b]Die Einschätzung vieler Pessimisten, dass sich dies genau im Jahr 2005 ändern sollte, ist abwegig. Häufig genannte Problemfelder sind die Staatsverschuldung und die Handelsbilanz. Darauf möchte ich eingehen.

      Die Überschuldung eines Staates hat auf das langfristige Produktionspotential einer Volkswirtschaft keinen Einfluss. Diese These scheint auf den ersten Blick gewagt, wird aber plausibler, wenn man nach dem Wesen des Geldes fragt. Was ist Geld? Alan Greenspan antwortet darauf: “Wir wissen noch nicht einmal was Geld ist!” Man kann Geld als eine Art Verteilungsschlüssel betrachten, der realen materiellen Dingen einen Besitzer zuordnet. Die Produktionsmöglichkeiten eines Landes setzen sich aus Sach- und Humankapital zusammen. In den Fabriken stehen Maschinen, die von klugen Köpfen entwickelt und von Arbeitern bedient werden. Ich möchte darauf hinaus, dass die Staatsverschuldung in der realen Welt nicht vorkommt. Geld ordnet die Verhältnisse und steuert Machtansprüche und Egoismus einzelner Individuen. Stellen Sie sich vor der Staat macht Konkurs und keiner merkt es. Die Maschinen stehen weiterhin in den Fabrikhallen und die Menschen verlieren deswegen auch nicht ihre Fähigkeiten Güter herzustellen und innovativ zu denken. Ein Staatskonkurs stellt im langfristigen wirtschaftlichen Prozess also lediglich eine Vermögensumverteilung dar, die Innovation und damit Wachstum allenfalls kurzfristig verlangsamt.

      Auf das Staatsdefizit der USA wird in der Presse immer gerne eingeprügelt. Eigentlich merkwürdig. Mit knapp unter 70 Prozent des BIP liegt es auf dem gleichen Niveau wie das in Deutschland. Jedoch ist das Wachstumstempo des Quotienten Staatsverschuldung zum BIP geringer. Vergessen wir nicht, dass sich die USA in Kriegszeiten befinden. Die Militärausgaben lasten auf dem Haushalt. Vor dem zweiten Weltkrieg sah die Lage weit dramatischer aus. Der Schuldenberg belief sich auf fast 120 Prozent des BIP. Damals haben es die Amerikaner mit einem Zusammenspiel von Fiskal- und Geldpolitik geschafft, den Haushalt wieder zu konsolidieren. Das gleiche Meisterstück haben Bill Clinton und Alan Greenspan Mitte der 90er Jahre ebenfalls vollführt. Das Budget-Defizit belief sich 1992 auf 4,5 Prozent des BIP. 1998 war das Defizit komplett verschwunden und voller Stolz konnte Bill Clinton einen Budgetüberschuss von 0,8 Prozent ausweisen. Das wird George W. Bush ebenfalls gelingen. Er betreibt die richtige Finanzpolitik. Die Steuern werden massiv gesenkt, um die Sparquote zu erhöhen. Die Menschen sollen damit ihre Altersvorsorge und soziale Absicherung weitgehend selbst in die Hand nehmen, um den Staat in der Zukunft von hohen Sozialausgaben zu befreien. Das ist der richtige Weg. Eine hohe Sparquote ist eine wichtige Variable für langfristiges Wirtschaftswachstum. Die Steuersenkungen ermöglichen es den amerikanischen Bürgern weiter stark zu konsumieren und gleichzeitig mehr Geld auf die Seite zu legen. Die FED unterstützt die Sparabsichten mit höheren Zinsen. Durch die Verlagerung der Steuern, weg von Vermögen hin zu Konsum, wird das Steueraufkommen nach einigen Jahren der Zwischenfinanzierung, in denen wir uns gerade befinden, wieder steigen. Gleichzeitig sinken die jährlichen Militärausgaben, wenn die US-Armee ihre Präsenz im Irak und in Afghanistan in einigen Jahren reduzieren kann. In vier Jahren fällt das Defizit auf 2 Prozent, das nominale Wirtschaftswachstum (nicht inflationsbereinigt) dürfte bei etwa 4 Prozent liegen und der Quotient Verschuldung zu BIP sinkt wieder. Das ist die Perspektive und Sie sehen: Die Welt ist in Ordnung.

      Immer wenn ich über das amerikanische Handelsbilanzdefizit lese, meinen die Verfasser der Artikel, dieses Defizit müsste finanziert werden. Diese Aussage hat die gleiche Bedeutung wie etwa die Erkenntnis, dass wenn die Sonne scheint, Sonnenstrahlen auf die Erde treffen. Das Handelsbilanzdefizit kann nur existieren, weil es finanziert wird. Würde es nicht finanziert werden, würde es erst gar nicht vorhanden sein. Und solange die asiatischen Notenbanken weiterhin Dollarbestände in Milliardenhöhe aufkaufen müssen, um die eigenen Währungen niedrig zu halten, besteht weltwirtschaftlich in dem Bilanzdefizit kein Problem. Es ist lediglich unangenehm für die Amerikaner, die dadurch Vermögenswerte an Ausländer verteilen. Die Europäer leiden tendenziell unter dem Preisdruck auf den US-Dollar, der den Euro nach oben treibt und Exporte erschwert. Die andere Seite der Münze sind günstige Importe aus dem Dollarraum und die Möglichkeit dort zu guten Preisen auf Einkaufstour gehen zu können, um Obligationen, Firmen, Immobilien, Aktien und andere Dinge zu kaufen. Letztendlich hat es die Europäische Zentralbank selbst in der Hand wie weit sie den Euro aufwerten lässt. Eine dauerhafte Intervention wäre ohne weiteres durchführbar, da der kaum vorhandene Inflationsdruck eine Geldmengenausweitung ohne Probleme zulassen würde. Die EZB muss nur ankündigen zu einem bestimmten Kurs, sagen wir 1.40, beliebig viele Euro gegen Dollar zu verkaufen. Der Anstieg hätte dann sofort sein Ende gefunden.

      Fazit: Kaufen Sie Aktien guter Unternehmen zu günstigen Preisen und zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Weltwirtschaft. Bei erstem Punkt können wir Ihnen helfen!

      Viele Grüße
      Simon Betschinger
      www.tradecentre.de
      Avatar
      schrieb am 18.02.05 18:36:22
      Beitrag Nr. 285 ()
      Die Überlegenheit des US-Wirtschaftsmodells

      Die ultimative Provokation

      Was ist die größte Provokation, die man heutzutage überhaupt begehen kann? Gibt es aktuell überhaupt noch einen Weg, so richtig zu provozieren? Lange Haare, Glatzenschnitt, Death Metal Musik, Brustimplantate – alles langweiliges Zeug. Gähn, haben wir gehabt, war schon gewesen. Es scheint nur noch eine echte Provokation zu geben – und dass ist, für die gegenwärtige US-Regierung zu sein und das augenblickliche Wirtschaftsverhalten in den USA zu loben. Doch muss eine gute Provokation natürlich fachlich solide untermauert sein.

      Also los:

      Die Sparquote in den USA ist auf 1 Prozent abgesunken, lautet der Kanon aller „Wirtschaftsexperten“ hierzulande. Die USA sparen nicht mehr, sondern konsumieren nur noch und leben unsäglich über ihre Verhältnisse. Lange kann das nicht gut gehen.

      Das klingt zwar plausibel, ist jedoch völlig falsch. Denn die wirklichen Ersparnisse in den USA liegen gegenwärtig bei 18 % des BIP. Sie setzen sich nur anders zusammen als in unserem Lande, wo sie ebenfalls bei 18 % liegen. In den USA betragen die privaten Ersparnisse tatsächlich bei nur etwa 1 % des BIP, wohingegen wir etwa 10 % ausweisen. Doch daraus eine Überlegenheit des Deutschen Modells zu folgern, könnte falscher nicht sein.

      Dazu folgende Überschlagsrechnung: Die Ersparnisse in jeder Volkswirtschaft müssen immer der Höhe der Investitionen entsprechen und setzen sich aus den Ersparnissen der privaten Haushalte, der Unternehmen, des Staates und (in Höhe des Außenbeitrages) des Auslandes zusammen.

      In den USA ergibt sich dabei: Haushalt + 1%, Staat – 4%, Ausland +4%. Daraus folgt, dass in etwa 17 % des BIP im Unternehmenssektor gespart werden, hauptsächlich durch Lagerinvestitionen und nicht ausgeschüttete Gewinne, Rückstellungen und sonstige Eigenkapitalaufstockungen.

      In Deutschland sparen die privaten Haushalte ungefähr 10 %, der Staat entspart 4 % und in das Ausland werden netto etwa 4 % exportiert, so dass auf das Unternehmenslager etwa 8 % entfallen.

      In der Quintessenz bedeutet das: Während hierzulande die Unternehmen für ihre Investitionen etwa die Hälfte ihrer Mittel als Fremdmittel einwerben müssen, stehen den US-Unternehmen praktisch die gesamten Finanzierungsmittel als Eigenmittel zur Verfügung. Die Investitionen in den USA können daher viel unproblematischer durchgeführt werden als bei uns, wo alle Investmittel erst aufwändig und problembehaftet über Bankkredite und Ähnliches beschafft werden müssen.

      Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung zeigt eine niedrige Sparquote der privaten Haushalte in Verbindung mit einer hohen Gewinnquote der Unternehmen also keine Schwäche, sondern die Stärke einer Volkswirtschaft an. Die Unternehmen müssen viel verdienen; nicht die Haushalte müssen viel sparen. Dann flutscht es auch in der Wirtschaft. Ginge es nach unseren deutschen Vorstellungen, dann wären die Amis bald ebenso lahme Enten wie wir. Doch glücklicherweise geht es danach ja nicht.

      berndniquet@t-online.de
      Avatar
      schrieb am 18.02.05 19:59:47
      Beitrag Nr. 286 ()
      Ich erspare mir inhaltlich jeglichen Kommentar, verweise aber auf Posting #256 von thomtrader :D
      Avatar
      schrieb am 23.02.05 11:20:24
      Beitrag Nr. 287 ()
      Was macht glücklich?


      Jeder Mensch habe ein "genetisch festgelegtes Glücksniveau" auf das er langfristig immer wieder zurückkehrt - egal wie viel Schokolade er isst. "Das Glücksempfinden ist zu weniger als 50 Prozent durch äußere Faktoren zu beeinflussen", so Lykkens überraschende These.

      Lykkens Erkenntnisse zählen zu den großen Revolutionen in der Glücksforschung, die seit kurzem einen Boom erlebt und einige ökonomische Glaubenssätze durcheinander wirbelt. Die Vermutung des Psychologen könnte erklären, warum ANZEIGE

      hohes Einkommen und steigender Konsum in einer Volkswirtschaft nicht unbedingt zu höherem Glück führen. "Das Einkommen macht nur zwei bis drei Prozent des menschlichen Glücksempfinden aus", sagt Lykken.

      Das Streben nach materiellen Dingen beeinflusst unsere Lebensfrekude nur vorübergehend, schreibt auch der renommierte britische Ökonom Richard Layard in seinem jetzt erschienenen Buch "Happiness". So gehe der Kauf eines Autos zwar mit einem höheren Glücksgefühl einher, nach kurzer Zeit sei aber wieder das Ausgangsniveau erreicht.

      Hoher Glücksverlust bei Arbeitslosigkeit

      Den Forschern zufolge gibt es nur wenige Dinge, die Menschen dauerhaft aus ihrer Glücksbahn werfen. Dazu zählt Lykken etwa die Arbeitslosigkeit oder den Verlust des Partners. Auf einer Skala von 10 bis 100 Punkten führe der Verlust des Arbeitsplatzes zu einem Glücksverlust von sechs Punkten. Schon die Tatsache, dass viele andere im Land arbeitslos seien, beeinträchtige das persönliche Wohlbefinden spürbar. Ähnlich schlimm ist eine schwere Erkrankung. Oder die Trennung vom Partner.

      Dauerhaft glücklich würden Menschen nur, wenn sie aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, so Layard. Deshalb nimmt die Arbeit eine große Rolle in unserem Gefühlsleben ein. "Der Mensch braucht einen positiven Sinn im Alltäglichen, das vermittelt ihm Glück", sagt Bruno Frey, Ökonom an der Universität Zürich. "Die Möglichkeit, erlernte Fähigkeiten nützlich in einem beruflichen Projekt oder einem Hobby einzusetzen, bestimmt unser Glücklichsein erheblich", so Lykken.

      Dazu kommt: "Menschen mit einer funktionierenden sozialen Umgebung erreichen ihr natürliches Glücksniveau nach persönlichen Rückschlägen viel schneller als andere." Auch hat sich gezeigt, dass Menschen glücklich sind, die in einer Gesellschaft leben, der sie vertrauen und wo sie sich sicher fühlen. Zum Beispiel die Schweden, die zu den weltweit glücklichsten Menschen zählen.

      Entsprechend glücklich sind Menschen, die frisch verheiratet sind. Laut der Forscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) steigt die Lebensfreude bereits im Jahr vor der Hochzeit und findet ihren Höhepunkt im Jahr der Eheschließung. Zwar setzt nach diesem Jahr die Ernüchterung ein, aber im Schnitt sind verheiratete Menschen glücklicher als unverheiratete.

      Trennung schlimmer als Gehaltskürzung

      Nach Berechnung von John Helliwell von der University of British Columbia führt die Trennung vom Partner zu einem Glücksverlust von acht Punkten - viermal so viel wie eine Einkommenskürzung um 30 Prozent. Wenig Einfluss auf das Glücksempfinden haben Ausbildung, Intelligenz oder Aussehen. Auch die Jugend ist keineswegs der Schlüssel zum Glück. Im Gegenteil: Menschen zwischen 65 und 74 Jahren sind im Schnitt glücklicher.

      Unglücklich macht Fernsehen, vor allem bei Leuten, die mehr als drei Stunden täglich Soap-Operas gucken. Weit unten liegen laut Richard Layard auch die Pendelei zur Arbeit, die Hausarbeit oder die Arbeit am Computer. Die Freude der Eltern an den eigenen Kindern lasse nach zwei Jahren nach.

      http://de.biz.yahoo.com/050220/345/4fbgv.html
      Avatar
      schrieb am 05.03.05 02:02:46
      Beitrag Nr. 288 ()
      Hallo
      das brandeins-Archiv ist wieder geöffnet. ich glaube, das wurde zwischendurch mal geschlossen
      http://www.brandeins.de/home/inhalt_detail.asp?id=1593&MenuI…
      Avatar
      schrieb am 08.03.05 21:42:26
      Beitrag Nr. 289 ()
      Ein wenig Philosophie:

      Geld, der Sinn des Lebens?

      von Bill Bonner

      Dienstag, 3. Juni 2003

      Habe ich Ihnen es nicht gesagt, liebe(r) Leser(in)?

      Ich meine, dass alles Unsinn und Müll ist?

      Hier beim Investor`s Daily geht es um Geld, und wie man mehr davon bekommt. Mir ist oft vorgeworfen worden, dass ich ein Skeptiker sei. Aber ich wehre mich gegen diese Anklage. Ein Skeptiker ist jemand, der akzeptierte Doktrinen bezweifelt und der Ansicht ist, dass das, was "jeder weiß", nichts wert ist. Ein Skeptiker vertraut nur seiner eigenen Einschätzung, Vernunft, Wahrnehmung. Ich bin von Natur aus mißtrauisch, das stimmt ... aber ich bin gegenüber nichts so mißtrauisch wie gegenüber meiner eigenen Fähigkeit, die Dinge zu begründen.

      Ich bin sogar gegenüber meinem Beruf mißtrauisch. Ich versuche, den Leuten zu helfen, mehr Geld zu machen, aber in der modernen Welt hat ohnehin fast jeder genug Geld. Man kann bereits mit ein paar Stunden Arbeit pro Woche genug Geld verdienen, so dass man nicht mehr verhungern muss ... oder erfrieren muss. Mit einem Büchereiausweis und einem kleinen Garten irgendwo auf dem Land, wo es relativ günstig ist, könnte ein Paar sehr gut leben. Vielleicht könnten sie sich keinen großformatigen Fernseher und kein tolles Auto leisten ... aber vielleicht würde es ihnen ohne auch besser gehen. Sie könnten die Schönheit der Natur genießen und gut essen ... und sich abends an einem Kaminfeuer wärmen. Was könnte man mehr wollen?

      Nein, man braucht nicht viel Geld, um zu leben ... und sogar um gut zu leben. Der Rest ist Eitelkeit.

      Die Leute wollen mehr Geld, damit sie sich jemandem, der weniger hat, überlegen fühlen können. Derjenige mit weniger Geld muss ein Idiot sein, sagen sie sich. Und deshalb ist es ihr Ziel, immer größere und bessere Dinge kaufen zu können und ihr Leben danach ausrichten. Und dann, an einem sonnigen Tag, normalerweise an einem Tag in der Nähe ihres Lebensendes, sehen sie sich um und sehen sich an, was sie alles gekauft haben ... und plötzlich überkommt sie ein überwältigender Gedanke – so wie eine Bombe in ein irakisches Restaurant. In einem Augenblick explodiert der Sinn ihres Lebens. Sie realisieren, dass auch sie Idioten sind – vielleicht die größten Idioten von allen, denn sie haben ihr Leben dem Streben nach etwas, das überhaupt nicht wirklich wichtig ist, untergeordnet. Bei den meisten Leuten dauert dieser Gedanke nur wenige Augenblicke, kaum genug, um dauernden Schaden anzurichten. Er verschwindet schnell wieder, so dass sie fähig sind, am nächsten Tag wieder zur Arbeit zu gehen – um sich Stress zu machen, zu schwitzen und zu hasten um mehr Geld zu machen.


      Und Gott sei Dank. Jeden Tag stehe ich um 5 Uhr morgens auf, um meine Beiträge für den Investor`s Daily zu schreiben – aus Gründen der puren Eitelkeit. Es wäre schade, wenn niemand es lesen würde.

      http://www.investor-verlag.de/
      Avatar
      schrieb am 16.03.05 20:26:29
      Beitrag Nr. 290 ()
      Momentan wieder topaktuell:

      Mangelnde Sorgfalt
      Bilanzen: Misstrauen Mangelware
      Auch in Deutschland machen es die Wirtschaftsprüfer Firmen wie Enron oder Parmalat immer noch zu leicht. Deshalb wollen jetzt Bundesregierung und EU die Branche härter an die Kandare nehmen.
      Selbst plumpe Fälschungen bleiben oft unentdeckt.

      Es war so einfach. Ausgerüstet mit Schere und Klebstift machte sich Buchhalter Gianfranco Bocchi an die Arbeit. Schnipselte aus einem Briefbogen der Bank of America erst das Logo des Finanzinstituts aus, dann aus einem zweiten die Unterschrift der Bankangestellten Agnes Belgrave. Bocchi bastelte daraus einen Brief, der die Existenz eines Kontos der auf den Cayman Islands angesiedelten Parmalat-Tochter Bonlat bestätigte. Mit einem Guthaben in Höhe von 3,95 Milliarden Euro.

      Der Brief ging als E-Mail ans Mailänder Büro des Parmalat-Prüfers Grant Thornton. Dass Belgrave als Sachbearbeiterin überhaupt nicht autorisiert war, einen solchen Vorgang abzuzeichnen – den Prüfern war’s egal. Herkunft der hohen Einlage? Unwichtig. Verdacht auf Fälschung? Fehlanzeige. Dabei hätte ein Anruf bei der Bank geklärt, was diese am 19. Dezember 2003 öffentlich machte: Das Konto hat nie existiert.

      Insgesamt, so die Staatsanwaltschaft, beträgt der Schuldenberg mit 13 Milliarden Euro mehr als doppelt so viel wie in der Bilanz vom 30. September angegeben. Und von den Wirtschaftsprüfern als korrekt testiert. „Hier ist offenbar was schief gelaufen“, sagt David McDonnell, Chef von Grant Thornton International. „Hier hat jemand betrogen, das hätte nicht passieren dürfen.“

      Eklatante Folgen

      Tut es aber, immer wieder. Die Krise um den italienischen Lebensmittelriesen ist noch nicht ausgestanden, da erschüttert der nächste Schock die Finanzwelt: Nachdem Adecco, das weltweit größte Zeitarbeitsunternehmen, Probleme im internen Kontrollsystem eingeräumt hatte, fürchten Investoren den nächsten Bilanzskandal. Vermutet werden Unstimmigkeiten bei der Abschreibung akquirierter Unternehmen.

      Ob Balsam oder Flowtex, Ahold oder Parmalat: In immer kürzeren Abständen erschüttern gigantische Bilanzskandale die Finanzmärkte. Die Fälle ähneln sich: Weil die Unternehmensergebnisse den stetig steigenden Erwartungen des Kapitalmarkts nicht mehr standhalten, sind Manager immer öfter versucht, zu manipulieren. Sie erfinden Aufträge, verstecken Verluste, blähen Gewinne auf. Sie kaschieren Schieflagen, frisieren Bilanzen. Und erhalten dennoch fast immer grünes Licht von ihren Prüfern. Selbst plumpe Fälschungen mittels Schere, Kleber, Faxgerät bleiben von den Prüfern unentdeckt.

      Die Folgen sind eklatant: Gläubiger bleiben auf Forderungen sitzen, Anleger müssen Investments abschreiben. „Die Bedeutung des Testats für den Kapitalmarkt ist enorm gestiegen“, sagt der Münchner Wirtschaftsprofessor Manuel Theisen. „Die Sensibilität der Wirtschaftsprüfer nicht.“

      Statt Transaktionen auf Plausibilität zu prüfen, kriminelle Machenschaften in Erwägung zu ziehen und bei Verdacht die Reißleine zu ziehen, beschränken sie sich darauf, einzelne Bilanzposten darauf abzuklopfen, ob sie technisch richtig verbucht sind. „Wir brauchen einen Paradigmenwechsel“, sagt Klaus Henselmann, Professor für Wirtschaftsprüfung an der TU Chemnitz. „Bei börsennotierten Unternehmen erwartet die Öffentlichkeit zu Recht eine verstärkte Prüfung in Richtung Bilanzdelikte.“

      Davon sind die Prüfer in Deutschland weit entfernt. Auch aus Kostengründen. Die Honorare sinken, Unternehmen lassen Prüfer, ähnlich wie Werbeagenturen, zum Pitch antreten. Gearbeitet wird mit billigen, unerfahrenen Prüfern. „Bei allen großen Prüfgesellschaften werden einige wenige erfahrene Leute an die Spitze gestellt“, sagt ein Ex-KPMG-Prüfer. „Ansonsten heißt das Motto: Jugend forscht.“ Da sei es „leicht möglich“, sagt auch Dorothee Grubert, Ex-Arthur-Andersen-Forensikerin und heute tätig bei Kroll, einem Spezialisten für Risiko- und Krisenmanagement, „dass der sich mit der gefälschten Kopie einer Saldenbestätigung abspeisen lässt, die bei einem erfahrenen Prüfer sofort Misstrauen geweckt hätte“.

      Dass sich Deloitte & Touche Deutschland mit dem Partner Michael Niehues einen Zuständigen für Unabhängigkeitsfragen leistet, der weltweit jedes neue Mandat auf Vereinbarkeit mit anderen Deloitte-Aktivitäten abklopfen lässt, ist eher die Ausnahme. Er tritt bei Interessenkonflikten schon mal auf die Bremse – woran sich die Kollegen noch gewöhnen müssen. „Ich habe im Haus manchmal das Image eines bösen Buben.“

      Mangelnde Sorgfalt

      Ein Konkurrent verstärkte seine Forensikabteilung – die aber wird nur auf expliziten Prüferwunsch hinzugezogen. „Wir können nicht jedem Verdacht hinterherrennen“, heißt es. „Das wäre viel zu aufwendig.“

      Dabei ist genau diese mangelnde Sorgfalt Hauptgrund der Bilanzskandale der vergangenen Jahre. Der Sportbodenhersteller Balsam konnte seine Bilanzen nur deswegen mit gefälschten Aufträgen aufblasen, weil die Prüfer von Price Waterhouse und FMG die angeblich errichteteten Anlagen nicht vor Ort in Augenschein nahmen. Die Prüfer von KPMG testierten die Bilanz des einstigen Börsenlieblings Comroad, obwohl der damalige Vorstandschef Bodo Schnabel bis zu 96,4 Prozent des Umsatzes erfunden hatte – mithilfe einer Hongkonger Phantomfirma, deren Existenz von den Prüfern nie in Zweifel gezogen wurde.

      Ebenso wenig wie die angeblich 3187 Bohrsysteme, mit denen die Flowtex-Chefs Manfred Schmider und Klaus Kleiser laut der von KPMG testierten Bilanz mehr als eine Milliarde Mark umsetzten. Dass nur 280 Bohrsysteme wirklich existierten, merkten die Prüfer nicht. Beschränkten sie sich doch bei ihren Stichproben auf Deutschland und das benachbarte Ausland, „da die Distanz zu den Standorten in Übersee zu groß war“.

      Eine Einstellung, die man in Berlin nicht mehr akzeptiert. Um Bilanzfälschern das Handwerk zu legen, plant die Bundesregierung eine „Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung“. Diese vorzugsweise privat organisierte Enforcement-Stelle soll die Bilanzen gegenprüfen. Stößt sie auf Widerstand von Mandanten oder Prüfern, kann sie die Bundesfinanzaufsicht zur Hilfe rufen, die Bußgelder verhängen kann und Einblick erhalten muss.

      EU-Kommissar Frits Bolkestein will den federführenden Leiter einer Bilanzprüfung künftig gar persönlich haftbar machen „für alle Aspekte der Rechnungslegung“. Ein von den Bilanzspezialisten Jörg Baetge und Marcus Lutter geleiteter Expertenkreis empfahl Bundesjustizministerin Brigitte Zypries außerdem, Wirtschaftsprüfer bei grober Fahrlässigkeit nicht nur gegenüber ihren Mandanten, sondern Aktionären oder Insolvenzgläubigern haftbar zu machen.

      Im Dezember hatte Zypries den Entwurf eines Bilanzrechtsreformgesetzes vorgelegt. Vorbild ist der amerikanische Sarbanes-Oxley Act, der in Reaktion auf die Bilanzskandale um Enron, Tyco oder WorldCom die Arbeitsbedingungen für Wirtschaftsprüfer im Sommer 2002 deutlich verschärft hat. Jetzt will auch Zypries, dass Prüfungsgesellschaften und ihre Mandanten ab 2005 schärfer als bisher zwischen Abschlussprüfungs- und Beratungstätigkeit trennen. Noch kontrollieren viele Prüfungsgesellschaften die Bilanzen ihrer Kunden und beraten sie zugleich, meist in rechtlichen oder bei Steuerfragen. Damit, so Zypries, soll Schluss sein. Ihr Credo: Wer prüft, soll nicht beraten.

      Nichts gelernt

      Ein „Armutszeugnis“ für den ganzen Berufsstand sei das Gesetzesvorhaben, sagt der mittelständische Wirtschaftsprüfer Georg Wengert. Er erklagte Ende 2002 als Kleinaktionär ein Urteil des Bundesgerichtshofs, das die Bestellung der Prüfungsgesellschaften KPMG und BDO für das Geschäftsjahr 1999 der HypoVereinsbank für nichtig erklärte. „Beschämend für die Prüferzunft, dass der Gesetzgeber vorgeben muss, was Unabhängikeit bedeutet.“ Jahrelang habe die Branche vergessen, als Organ der Rechtspflege und in öffentlichem Auftrag tätig zu sein und nur noch auf den Umsatz gesehen.

      So ist es üblich, dass Prüfer beim Wechsel des Arbeitgebers Mandate mitnehmen. Und somit die Idee, durch Rotation einen neuen, kritischen Blick auf die Unternehmenszahlen zu ermöglichen, unterlaufen. So übertrug Parmalat seinen Prüfauftrag 1999 zwar von Grant Thornton auf Deloitte & Touche. Gleichzeitig wechselte aber auch der langjährige Parmalat-Prüfer zur Konkurrenz. Auch bei Adecco wurden die Pferde nur scheinbar gewechselt, als das Prüfmandat 2001 von Arthur Andersen auf Ernst & Young überging. Denn Mike Sills, bis dato bei Andersen Hauptverantwortlicher für das Testat, wechselte gleich mit. „Es scheint“, sagt Professor Bernhard Pellens, Bilanzexperte an der Uni Bochum. „als hätten die Prüfer aus den vergangenen Skandalen nichts gelernt.“

      Auch in Deutschland nicht. „90 Prozent unserer Mitglieder“, hört man beim Institut der Wirtschaftsprüfer, „sperren sich gegen Reformen.“ Das treibt erste Mandanten in die Offensive – um Interessenkonflikte ihrer Prüfer nicht ausbaden zu müssen.

      Der kanadische Aluminiumhersteller Alcan etwa trennt Beratung und Prüfung wie Nitro und Glyzerin. Mit der Bilanzprüfung beauftragt er PricewaterhouseCoopers, Steuerberatungsjobs und die Schulung von 700 Controllern übertrug er Ernst & Young. „Das wird bei uns nie PwC oder ein damit verbundenes Unternehmen machen, solange PwC unsere Bilanzen prüft“, sagt Josef Bruns, Leiter des Rechnungswesens bei der deutschen Tochter Alcan Packaging. Die Folge: „Wir müssen ständig neue Teams beider Prüfungs- und Beratungsgesellschaften einarbeiten und alles doppelt erklären.“

      Das kommt auch auf die Prüfer zu. Deloitte hat seine Risikoprävention aufgestockt, darunter die Budgets des „Global Independence Office“ und des „Global Ethics Office“. Spezialisten prüfen jeden Auftrag auf mögliche Interessenkonflikte – „ein Wahnsinnsaufwand an Datenpflege und Konsultationen“, sagt Partner Niehues.

      Ob das ausreicht, prüft im Falle Parmalat inzwischen die Staatsanwaltschaft. Klagen US-Aktionäre doch bereits wegen Betrugs in Milliardenhöhe. Und zwar nicht nur gegen den Milchriesen, sondern auch dessen Prüfer Grant Thornton und Deloitte. „Das Parmalat-Management hat nicht allein gehandelt“, sagt ein Anwalt der Kläger. „Ohne die Beteiligung von Parmalat-Finanzberatern, Wirtschaftsprüfern und Rechtsanwälten gäbe es keinen Betrug.“
      MANFRED ENGESER, THOMAS KATZENSTEINER, CHRISTIAN SCHAUDWET
      13.01.2004
      Eine Story aus der WirtschaftsWoche 4/04


      http://www.wiwo.de/pswiwo/fn/ww2/sfn/buildww/id/126/id/45293…
      Avatar
      schrieb am 27.04.05 18:17:49
      Beitrag Nr. 291 ()
      Verteidigung eines Außenseiters
      Kein Manager wird so heftig beschimpft wie Josef Ackermann. Helfen könnte ihm und der Deutschen Bank nur noch, Deutschland den Rücken zu kehren
      von Matthias Wulff


      Josef Ackermann täte gut daran, das Land zu verlassen. Er sollte seine Bank gleich mitnehmen. Die Deutsche Bank und das deutsche Volk passen nicht mehr zueinander. Das Institut will Gewinne machen, das Land bevorzugt den schleichenden, wenn auch sozial ausgewogenen Niedergang. Die Bank akzeptiert die Regeln der Globalisierung, die Deutschen sehen in ihr lediglich eine Gefahr.


      Wenn es nicht mehr zufriedenstellend weitergeht, hat der Ökonom Albert O. Hirschman geschrieben, gibt es nur zwei Möglichkeiten: "Voice" oder "Exit". Auf Ackermann angewandt bedeutet das: Die Stimme zu erheben, um für seine Ansicht zu werben, ist gegen eine feste öffentliche Meinung ein chancenloses Unterfangen. Daher bleibt nur noch der Rückzug aus dem Land, deren Repräsentanten ihm wie dem Außenseiter in der Schule zu verstehen geben: Du wirst nie einer von uns.


      Ackermann besetzt in diesem öffentlichen Schmierenstück die Planstelle des gewissenlosen Kapitalisten. Denn dieser eine Mann raubt inzwischen das Vertrauen in die Demokratie (SPD-Chef Franz Müntefering), ist ein verantwortungsloser Manager ohne soziales Gewissen (IG-Metall-Vorsitzender Jürgen Peters) und zieht eine Blutspur von 20 000 vernichteten Arbeitsplätzen hinter sich her (Bayerns SPD-Chef Ludwig Stiegler).


      Eine Regierung, die durch eine verkorkste Arbeitsmarktpolitik die Konjunktur abwürgt und die Beschäftigungslosigkeit fördert, hat in ihm den idealen Sündenbock gefunden. Als Großbanker - der ja nicht produziert, was in Deutschland per se einen höheren Stellenwert genießt - eignet er sich wie kein zweiter zur Fratze des Kapitalismus. Seine Argumente können nur noch einer defensiven Rechtfertigung gleichkommen, er kann sich die Kommunikation mit der Öffentlichkeit auch gleich sparen.


      So ging die Ankündigung des Instituts vergangene Woche, in diesem Jahr 750 neue Mitarbeiter im Privatkundengeschäft einzustellen, vollkommen unter. Sie paßte nicht zum Zerr- und Feindbild. Auch daß es sich bei dem in der Bilanzpressekonferenz im Februar angekündigten Stellenabbau vor allem um Mitarbeiter aus dem Investmentbanking im Ausland handelt, die Müntefering sonst nur als Mensch gewordene "Heuschrecken" verachtet, war Politik und Verbänden egal. 1,1 Milliarden Euro stellt die Bank für 6400 Angestellte zurück, 171 000 Euro pro Mitarbeiter.


      Ackermanns Isolierung verdeutlich, wie geschlossen das deutsche Wirtschaftssystem weiterhin ist. Wer sich nicht an die informellen Regeln der Deutschland AG, dem Geflecht aus Managern, Gewerkschaftlern und Politikern, hält, wird ausgesperrt. So verlangt es inzwischen der gute Ton, daß Arbeitsplätze nur noch in hochdramatischen Beschäftigungspakten abgebaut werden. Erst dann ist das Schauspiel perfekt, und die Beteiligten sehen nach nächtelangen Verhandlungsrunden mit ihren Augenringen und leicht verschobenen Schlipsen auch kämpferischer aus als Ackermann bei der kühlen Mitteilung der Stellenstreichungen. Dadurch werden Krisen zwar nicht gelöst, wie die unzureichenden Ertragslagen bei Volkswagen und Mercedes zeigen, sondern nur verschoben. Aber durch die Bewahrung der Rituale sichern sich die wahren Jobvernichter durch Managementfehler wie Jürgen Schrempp bei Daimler-Chrysler ihren Posten im Unternehmen und ihre öffentliche Reputation.

      Auch daß Profite und Eigenkapitalrendite eine amoralische Kategorie sein sollen, will Ackermann nicht akzeptieren. Dafür muß er büßen: So einer soll auch nicht Honorarprofessor an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt werden. Dort lehrt Ackermann seit 2002 in einem zweitägigen Blockseminar pro Semester Bankstrategien. Doch nach Protesten des linken Studentenverbandes Asta ("Herr Ackermann ist sicherlich kein Vorbild") vertagte die Leitung der Hochschule die Entscheidung über eine Professur.


      Durch Ackermanns Verweigerung, Teil des politisch-wirtschaftlichen Establishments zu sein, offenbart sich das mangelnde ökonomische Verständnis der deutschen Eliten. Es sind ja nicht nur linke Politiker, die sich gegen ihn wenden. Selbst der oberste Lobbyist der Industrie, Jürgen Thumann, geht beim Thema Stellenabbau trotz Milliardengewinn zu ihm auf Distanz. Die Frage, ob in Deutschland erst Mitarbeiter entlassen werden dürfen, wenn Unternehmen wie Karstadt oder Opel an die Wand gefahren sind, stellt sich nicht einmal für einen BDI-Chef. Wenn Unternehmen wie Dell, Intel und IBM auf Ertragseinbrüche - wohlgemerkt nicht Verluste - in den neunziger Jahren nicht mit sofortigen Massenentlassungen reagiert hätten, würden sie heute nicht mehr an der Spitze stehen.


      Dieses Vorgehen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit kennt Ackermann, weil es international üblich ist. Das deutsche Regelwerk hingegen will er nicht akzeptieren. Nie hat er begreifen wollen, daß die Deutschen mit seiner Bank eine Haßliebe verbindet. Sie ist ein Mythos der Macht. Lange Zeit galt sie als Schaltzentrale der deutschen Wirtschaft, und der Vorstand war das kapitalistische Zentralkomitee.


      Ackermann hat an dieser nationalen Folklore kein Interesse. In gewisser Weise sei die Bank das "Baby" aller Deutschen, hatte er vor einigen Wochen in einem Gespräch mit der "Welt am Sonntag" gesagt. Vielleicht hätte er ehrlicherweise einräumen sollen, daß er an Adoption nicht interessiert ist.


      Artikel erschienen am 24. April 2005

      http://www.wams.de/data/2005/04/24/709115.html?s=1
      Avatar
      schrieb am 27.04.05 18:19:36
      Beitrag Nr. 292 ()
      Der exzessive Konsum von E-Mails und SMS macht blöd. Dies ist das Ergebnis einer von HP in Auftrag gegebenen Studie des King´s College.

      Die ständige Überflutung durch Mails senkt den IQ vorübergehend um 10 Punkte! Zum Vergleich: Kiffen macht sich mit 4 Punkten deutlich weniger bemerkbar!

      Bei Männern haut die elektronische Überflutung mit 15 Punkten überproportional ins Kontor, Frauen kommen mit 5 Zählern IQ-Verlust glimpflich davon. Die Auswirkungen von Mails auf eine von Männern dominierte Branche, bei der das schnelle Checken von Nachrichten für Erfolg praktisch unumgänglich ist, kann eigentlich nur verheerend sein. Was muss etwa im Wertpapierhandel abgehen, fragen wir uns.

      Vielleicht beantwortet die Studie die Frage, warum zuletzt so oft auch günstige Unternehmensdaten mit fallenden Aktienkursen korrelieren, vermuten Spötter. Im Ernst: Wer kurzfristige Indexbewegungen mit Fundamentaldaten erklären will, setzt falsch an. Und mit menschlichem Können und Handeln haben aktuelle Indexsprünge auch immer weniger zu tun.

      Denn der Einfluss von computergesteuerten Handelssystemen nimmt stetig zu. Je liquider die Märkte, desto mehr setzen Hedge Funds und andere Schwergewichte auf "Kollege Computer", der technische Signale objektiver, schneller und effizienter auswertet.

      Ob die Computerisierung eine Bedrohung oder (wegen ihrer Berechenbarkeit) sogar eine Chance für menschliche Börsianer wird, darüber lässt sich streiten. Einfacher, das steht wohl fest, ist die Welt nicht geworden. Immerhin: Wem es dabei zu wild wird, der kann sich mit Spam-Mails günstig "zudröhnen".

      Quelle: Platow Börse

      :laugh::laugh:
      Avatar
      schrieb am 30.04.05 14:57:21
      Beitrag Nr. 293 ()
      Angenehm in die Jahre kommen
      22.04.2005 Die Zahl der 100-Jährigen in Deutschland hat sich in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt. 1994 feierten genau 2164 Menschen diesen runden Geburtstag, 2004 waren es bereits 4122. Und die Gruppe der Superalten wird immer größer: Schätzungen zufolge steigt momentan die Lebenserwartung pro Jahr um etwa drei Monate. Weltmeister im Altwerden sind dabei die Italiener und die Japaner - genauer gesagt, die Menschen auf Sardinien und die auf Okinawa, denn dort leben überdurchschnittlich viele über 100-Jährige. Für diese Altersgruppe interessieren sich jedoch nicht nur Statistiker, sondern zunehmend auch Mediziner und Biowissenschaftler: Sie wollen mithilfe der Superalten herausfinden, wie man gesund alt wird, berichtet das Wissenschaftsmagazin "bild der wissenschaft".


      Nach den bisherigen Ergebnissen der Altersforscher bleibt etwa ein Drittel der Superalten bis ins hohe Alter körperlich und geistig fit. Diese Menschen haben oft ähnliche Biografien: Viele haben ihr Leben lang körperlich gearbeitet, pflegen vielfältige soziale Kontakte, sind im Allgemeinen mit ihrem Leben zufrieden und haben sich immer gesund ernährt - mit viel Gemüse und Fisch. Diese klassische Lebensweise empfehlen auch Ärzte zur Vorbeugung von Alterskrankheiten.

      Doch es gibt noch eine andere Besonderheit im Leben vieler Superalter: Sie waren einen Großteil ihres Lebens leicht unterernährt. Auch wenn dies normalerweise eher mit schlechter Gesundheit als mit einem langen Leben assoziiert wird, halten Wissenschaftler genau diesen Faktor für entscheidend für die Langlebigkeit. Ein solcher Zusammenhang ist nämlich bereits aus dem Tierreich und von Einzellern bekannt. Werden beispielsweise Taufliegen, Würmer, Ratten oder Hefezellen auf eine Extremdiät gesetzt, bei der sie so gerade eben nicht verhungern, steigt ihre Lebenserwartung um bis zu 70 Prozent an. Wie die verringerte Kalorienzufuhr das Leben verlängert, wissen die Forscher allerdings noch nicht.

      Möglicherweise sind schlanke und aktive Menschen einfach weniger anfällig für Krankheiten, lautet eine der Theorien. Verbreiteter ist jedoch die Annahme, dass dank des gebremsten Stoffwechsels bei einer geringeren Nahrungszufuhr weniger so genannte freie Radikale entstehen. Diese aggressiven Zwischenprodukte, die bei der Verbrennung von Fetten und Kohlenhydraten gebildet werden, beschleunigen den Materialverschleiß im Körper während des Alterns, indem sie Strukturen innerhalb und außerhalb der Körperzellen zerstören. Doch Versuche mit Rhesusaffen zeigen, dass die extreme Kalorienreduktion auch negative Auswirkungen hat: Die Tiere bekommen mit der Zeit brüchige Knochen, frieren ständig und haben Probleme mit ihrer Libido.

      Wissenschaftler wie David Sinclair von der Harvard-Universität in Boston bezweifeln dagegen, dass der lebensverlängernde Effekt der Diät tatsächlich auf das Fehlen der freien Radikale zurückzuführen ist. Seiner Ansicht nach löst das Hungern vielmehr einen Notruf in den Zellen aus, der sie vor den Folgen des Alterns schützt. Würde es gelingen, dieses Alarmsignal zu identifizieren, könnte man auch die positiven Effekte des Hungerns simulieren, hofft Sinclair.

      Doch es gibt auch Menschen, deren Körper offenbar einen eingebauten Schutzmechanismus besitzen, der das Altern verlangsamt: Sie halten sich überhaupt nicht an die Ratschläge zur gesunden Lebensweise, rauchen, trinken, bewegen sich praktisch überhaupt nicht - und werden trotzdem über 100 Jahre alt. Bei ihnen verläuft beispielsweise die so genannte Eiweißverzuckerung langsamer ab als bei anderen Menschen. Bei diesem Nebeneffekt des Stoffwechsels werden Zuckeranteile an Eiweißmoleküle gekoppelt, die dadurch ihre Funktion verlieren. Auch das Entzündungssystem vieler Superalter läuft sozusagen auf Sparflamme. Folge: Die Körperzellen sind auf molekularer Ebene weniger Stress ausgesetzt und dadurch besser geschützt.

      Bei diesen Schutzeffekten scheinen die Gene ein entscheidenderes Wörtchen mitzureden, als Wissenschaftler bislang angenommen haben, schreibt "bild der wissenschaft". Die bisherigen Hinweise deuten darauf hin, dass besonders Steuergene eine wichtige Rolle spielen, die die Aktivität anderer Gene oder des Stoffwechsels herunterfahren. Auch Gene für körpereigene Antioxidantien oder antimikrobielle Proteine können die Langlebigkeit verbessern, zeigen Studien an Fadenwürmern.

      Beim Menschen hängt die Lebenserwartung jedoch mit ziemlicher Sicherheit nicht von einigen wenigen Genen ab. Vielmehr scheint es extrem komplexe Zusammenspiele zwischen Umwelt und Genen zu geben. So gibt es beispielsweise Gene, die je nach Lebensabschnitt das Risiko für Krankheiten erhöhen oder Schutzfaktoren vor dem Altern sein können. Welche Gene ein Mensch mitbekommt, kann er sich zumindest bislang noch nicht aussuchen. Doch auch ohne Langlebigkeitsgene sind die Chancen, ein hohes Alter zu erreichen, sehr gut - besonders, wenn man einige einfache Regeln befolgt: Nicht rauchen, ein körperlich und geistig aktives Leben führen, soziale Kontakte pflegen, abwechslungsreich essen, Maßhalten und das Leben genießen

      http://www.libertaria.de/tinc?key=x5TrdBv7&id=937158
      Avatar
      schrieb am 24.05.05 19:27:46
      Beitrag Nr. 294 ()
      STANDORT D

      Rekorde? Welche Rekorde?

      Von Hermann Simon


      Die Gewinne steigen. Bravo! Aber es bleibt noch viel zu tun, denn ausländische Konzerne erwirtschaften bessere Renditen. Woran liegt es, dass unsere Unternehmen so schlecht abschneiden? Berater Hermann Simon wagt eine provokante These.


      Deutsche Unternehmen melden Rekordgewinne. Höchst erfreulich! Dennoch bleibt Bodenhaftung angezeigt. So steigerte ThyssenKrupp seine Umsatzrendite vor Steuern von 2,2 Prozent auf 4 Prozent, aber Hauptkonkurrent Arcelor ! liegt mit 7,6 Prozent um Längen voraus.


      Siemens verbesserte die Vorsteuerrendite von 4,5 auf 5,6 Prozent, doch General Electric meldet 13,9 Prozent. DaimlerChrysler krebst bei 2,38 Prozent herum, Volkswagen bei 2,6 Prozent. Und was berichten Toyota oder Nissan? Beide liegen vor Steuern bei 10 Prozent. Ich könnte fortfahren: MAN 3 Prozent, Infineon 3,5 Prozent ...

      Selbst der angebliche Rekordgewinn der Deutschen Bank verblasst im internationalen Vergleich. Die Bank hat ihre Eigenkapitalrendite nach Steuern von 5,2 Prozent 2003 auf 9,4 Prozent massiv verbessert - bravo! Doch im Vergleich zu den 19,3 Prozent der Citigroup , den 21,6 Prozent der Schweizer UBS oder den 27,3 Prozent der niederländischen ABN Amro bleibt das Ergebnis mager.


      Die Richtung stimmt, aber die Rekorde sind unvollendet. Es bleibt viel zu tun. Die Folgen der Gewinnschwäche sind klar: niedrige Börsenbewertung, billige Beute für Übernehmer, geringe Investitionsfähigkeit, Wachstumsschwäche, Überschuldung, ungünstige Kapitalstrukturen.

      Natürlich heben sich einzelne Unternehmen wie Altana , BMW , Continental oder Henkel positiv ab, aber es gibt zu viele, denen das Wasser nach wie vor bis zur Unterlippe steht.

      Woran liegt es, dass deutsche Firmen im internationalen Vergleich so schlecht abschneiden? Selbst in Frankreich oder Schweden mit ähnlichen Lohn- und Staatsbelastungen werden signifikant höhere Renditen gemeldet.

      Ich wage eine provokante These: Es fehlt bei uns am Gewinnwillen. Oder wie interpretieren Sie durchaus typische Beobachtungen wie die folgenden?


      Ein Autovorstand sagt mir: "Natürlich ist Gewinn unser erklärtes Ziel. In Wirklichkeit rollen bei uns aber die Köpfe, wenn wir 0,1 Prozent Marktanteil verlieren. Bricht hingegen der Gewinn um 20 Prozent ein, interessiert das keinen."


      Vom Chef eines Anlagenbauers, technisch hochkompetent und Weltmarktführer, aber seit Jahren unprofitabel, höre ich: "In unserer Branche kann man kein Geld verdienen. Es gibt immer einen Wahnsinnigen, der den Auftrag braucht und zu Selbstmordpreisen anbietet. Manchmal sind wir selbst dieser Wahnsinnige. Wer überleben will, muss mithalten."


      Ein Autozulieferer klagt: "Die Autohersteller verlangen von uns detaillierten Einblick in die Kosten. Jede Kostensenkung wird sofort verfrühstückt, uns bleibt immer nur ein winziger Rest."


      In einer Diskussion mit einem innovativen Elektronikunternehmen, das eine mickrige Rendite von 2 Prozent einfährt, stellt sich heraus, dass an Preiserhöhungen kein Weg vorbeiführt. Doch da blockt der Chef ab: "Dann verlieren wir Marktanteil. Undenkbar, kommt nicht in Frage."
      Überall das Gleiche: Es mangelt am Willen zum Gewinn.

      Sorgen Sie für klare Verhältnisse! Bringen Sie Ihre gesamte Mannschaft hinter das Gewinnziel! Akzeptieren Sie nicht länger falsche Unternehmensziele! Marge kommt vor Menge! Sie werden staunen, wozu eine solche Willensbildung führt.

      Ein erster Effekt besteht in einer Weitung der Perspektive. Der oben zitierte Anlagenbauer hatte Recht. Solange es Überkapazitäten in seiner Branche gibt, wird er keine Gewinne einfahren. Seine immer neuen Kostensenkungsprogramme bringen nichts: Egal, wie weit er die Kosten senkt - die anderen tun es auch.


      Das Problem ist im eigenen Unternehmen nicht lösbar. Man muss eine Branchenlösung finden. Aus Erfahrung weiß ich, dass dies in etwa der Hälfte der "hoffnungslosen" Fälle der einzig wirksame Weg zur Besserung ist. Erkennt man diese Tatsache, geht man ganz anders an die Lösung heran. Die Stahlindustrie und andere Commodity-Branchen haben in den letzten Jahren vorgemacht, dass es funktionieren kann.

      Der Widerspruch zwischen erklärten und praktizierten Zielen, oben deutlich geworden an dem Auto- und dem Elektronikfall, bringt jede Firma in die Bredouille. Wenn das Wertesystem eines Unternehmens traditionell auf Marktanteil oder Beschäftigungserhalt getrimmt ist, leiden die Gewinne. Da hilft nur ein radikaler Kulturwandel.


      Manchmal ist die Lösung einfach, wie im Fall des Autozulieferers, erfordert aber Mut in der Durchsetzung. Den Autoherstellern wurde fortan der Einblick in die Kosten verweigert. Das führte zwar kurzfristig zu erheblichem Ärger, aber seit dieser ausgestanden ist, kann der Zulieferer zumindest einen Teil seiner Kosteneinsparungen als Gewinn einstreichen.

      Die Richtung der Gewinnentwicklung stimmt. Doch der Gewinnwille muss viel stärker werden. Gewinne sind nichts anderes als "Kosten des Überlebens". Gewinnwille ist Überlebenswille.

      http://www.manager-magazin.de/magazin/artikel/0,2828,346789,…
      Avatar
      schrieb am 29.05.05 12:21:29
      Beitrag Nr. 295 ()
      LEBENSVEREINFACHUNG

      "Ballast abwerfen, Leichtigkeit gewinnen"

      Von Karsten Langer

      Werner Tiki Küstenmacher ist studierter evangelischer Pfarrer und Journalist. Seit 1990 arbeitet er als freiberuflicher Karikaturist, Autor und Kolumnist. Bekannt wurde Küstenmacher mit dem Bestseller "Simplify your Life".

      Wer sein Leben entrümpeln will, sollte mit dem eigenen Schreibtisch anfangen, sagt Werner Tiki Küstenmacher. Der Bestsellerautor erklärt im Interview mit manager-magazin.de, wie man Wichtiges von Unwichtigem trennt und sich auf das Wesentliche konzentriert.


      mm.de: Herr Küstenmacher, eigentlich sind Sie Pfarrer. Wie kam es dazu, dass Sie sich der Lebensvereinfachung gewidmet haben?


      Küstenmacher: Bei der Simplify-Idee geht es darum, dass man sich klar macht, was wirklich wichtig im Leben ist. Es geht dabei nicht darum, sich von allem Weltlichen zu verabschieden, sondern darum, auf den Kern des eigenen Lebens zu stoßen.

      Die Frage ist: Was ist das Wichtige? Was zählt wirklich? Da hilft es - so absurd es klingt - wenn die materiellen Verhältnisse erst einmal schlechter werden. Erst wenn die Kurve nach unten zeigt, überlegt man sich, was der Sinn des Lebens ist, was man weglassen kann, was wichtig ist.

      mm.de: Ist das eine theoretische Einsicht oder eine persönliche Erfahrung?

      Küstenmacher: Beides. Ich hatte in meinem Leben mehrfach Schwellen, die ich überschreiten musste. Das war nicht immer leicht. Eine dieser Schwellen war, als ich mich selbstständig gemacht habe. In diesen Situationen musste ich etwas Vertrautes zurücklassen und darauf vertrauen, dass ich meinem Ziel ein Stück näher komme.

      mm.de: Sie haben in der Vergangenheit über 50 Bücher publiziert und sind, glaube ich, in Arbeit ertrunken. War das Simplify-Buch für Sie eine Art Katharsis?


      Küstenmacher: Die Arbeit am Buch hatte durchaus einen selbsttherapeutischen Ansatz. Das Blöde ist nur: Seitdem das Buch so erfolgreich ist, ist der wieder ziemlich zunichte gemacht.

      mm.de: Haben Sie keine Sekretärin?

      Küstenmacher: Mittlerweile schon. Trotzdem bleibt viel an einem selbst hängen.

      mm.de: Auch weil Sie zu Hause arbeiten und dort mit Ihnen Frau und drei Kinder leben?

      Küstenmacher: Sicher. Aber man wächst ja an seinen Aufgaben.

      mm.de: Sie betonen immer wieder, dass eine äußere Ordnung wichtig ist. Warum?

      Küstenmacher: Weil sie immer was zu tun hat mit unserer inneren Ordnung. Eine aufgeräumte Wohnung oder ein aufgeräumter Schreibtisch verändern etwas im Menschen selbst. Viele Menschen leiden unter dem Zeug, das sich rings um sie herum auftürmt. Sie wünschen sich Ordnung, wissen aber nicht, wo sie anfangen sollen. Sie fühlen sich dann auch innerlich zugerümpelt.



      Häufig denkt man, dass man erst einmal ein besserer Mensch werden muss, bevor man sich ans Aufräumen macht. Tatsächlich kann man aber mit dem Schreibtisch anfangen. Eine äußere Ordnung zieht eine innere nach sich.

      mm.de: Denken Sie, dass das auch auf per se chaotische Menschen, also Künstler oder Kreative zutrifft?

      Küstenmacher: Meiner Erfahrung nach sind Künstler wesentlich disziplinierter als die meisten denken. Gerade Literaten schreiben meistens nach einem sehr gut durchorganisierten Zeitplan. Eigentlich ist jeder kreative Vorgang Ordnen. Kreative tun ja nichts anders, als aus einer Unzahl von Möglichkeiten die Töne oder Farben oder Wörter oder Thesen auszuwählen, die sie zu neuen Inhalten zusammenfügen.

      mm.de: Also ist es ein romantischer Trugschluss zu glauben, die Inspiration fiele vom Himmel?

      Küstenmacher: Generell ist das so. Es gibt allerdings kreative Spielräume, die man einem Menschen nicht nehmen sollte. Es gibt Unternehmen, die vorschreiben, wie ein Schreibtisch auszusehen hat. Das kann Menschen unglücklich machen.

      Auf der anderen Seite kenne ich auch Menschen, die so genanntes Büro-Kaizen machen, also sehr strukturiertes Entrümpeln, und die dadurch einen Produktivitätsschub ungeahnten Ausmaßes erleben. Gerade in mittelständischen Unternehmen gibt es das häufig.


      mm.de: In Bezug auf Ordnung sind Sie sehr streng. So sollte ein Aktenordner nur zu 75 Prozent gefüllt sein. Weshalb diese Pedanterie?

      Küstenmacher: Wenn man den Menschen einen übertrieben konkreten Auftrag gibt, können sie damit mehr anfangen, als wenn man schwammig bleibt. Ein konkreter Auftrag zieht klare Vorstellungen nach sich. Ich denke, es ist besser, handfest und eindeutig zu sein.

      mm.de: Sie sagen, dass Geld die Verbindung zur Wirklichkeit herstellt. Wie bringen Sie diese Haltung mit Ihrem christlichen Hintergrund in Einklang?

      Küstenmacher: Jesus war erstaunlich konkret in Sachen Geld. So sagt er: "Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon". Das ist ein knallharter Tipp, denn das bedeutet: Nutzt die Möglichkeit des Materiellen, um damit etwas Immaterielles, nämlich Freunde zu bekommen.


      Außerdem hat Geld völlig unterschiedliche Qualitäten. So fließt durch Glück gewonnenes Geld den meisten Menschen durch die Finger wie Wasser. Geld in Partnerschaften ist ein Beziehungssymbol, man gibt Geld, und das bedeutet Liebe. Geld bedeutet aber immer auch Abhängigkeit - von anderen Menschen, vom Arbeitgeber, von der Bank.

      mm.de: Finanzielle Freiheit bedeutet auch Unabhängigkeit.

      Küstenmacher: Nicht reiche Menschen werden glücklich, aber glückliche Menschen werden reich. Ich kenne viele Reiche, die unglücklich sind. Finanzielle Freiheit muss nicht bedeuten, dass man reich ist. Einer Emnid-Umfrage zufolge wünschen sich die meisten Menschen ein überschaubares Einkommen zwischen 2500 und 3000 Euro.

      mm.de: Einerseits ist Geld in europäischen Kulturkreisen verpönt, andererseits wünschen sich die meisten Menschen nichts sehnlicher als mehr Geld. Das ist doch bigott.

      Küstenmacher: Die Ambivalenz von Geld findet sich wieder in dem jüdischen Sprichwort "Es ist nicht so gut mit Geld wie es schlecht ist ohne". Ich kenne viele unglückliche Menschen, die Schulden haben. Schulden ziehen die Menschen runter - wie das Gerümpel, von dem man sich nicht trennen kann. Also müssen erst einmal die Schulden weg. Schulden auf dem Girokonto sind völlig überflüssig.


      Außerdem muss man sich fragen, auf wie viel man in der Gegenwart verzichten will, um eine vermeintlich gute Zukunft zu haben. Die Ansprüche sinken mit dem Alter. Was will man da mit einem Riesenhaus, in dem man sich einsam fühlt? Cleverer wäre es, sich im Alter zu verkleinern. Außerdem gibt es keine Garantien für hohe Renten. Sowohl mein Großvater als auch mein Vater, die sehr sparsam waren, haben ihre komplette Altersversorgung im Zuge der Weltkriege verloren.

      mm.de: Also mehr in der Gegenwart leben?

      Küstenmacher: Man sollte die Balance halten. Dem kollektiven Bewusstsein zufolge geht es uns schon heute schlecht, weil wir denken, morgen könnte es noch schlechter sein. Also sollte man dafür sorgen, dass es uns heute besser geht.

      mm.de: Thema Zeit: Die meisten Menschen haben das Gefühl, die Zeit rinnt ihnen durch die Finger. Was würden Sie diesen Menschen empfehlen?

      Küstenmacher: Die Zeit ist etwas, was dem Menschen gehört. Man sollte sich verabschieden von Begriffen wie "ich stehe unter Zeitdruck" oder "jemand stiehlt mir die Zeit". Wichtig ist, innezuhalten und sich - und sei es nur für ein paar Stunden - aus dem Alltag zu verabschieden.

      mm.de: Wie kann ein Manager im Spannungsfeld Karriere, Konkurrenz und Leistungsanspruch einen ruhigen Pool finden?

      Küstenmacher: Man muss sich wirklich Zeit dafür freihalten. Häufig ist es sinnvoller, die Dinge aus der Vogelperspektive zu betrachten, als sie immer und immer wieder im Detail zu analysieren. Außerdem sind solche Momente geeignet, sich einen Plan für den Tag zu machen. Wer das nicht tut, verfällt leicht in die übliche operative Hektik des Tagesgeschäftes.

      mm.de: Wie würden Sie konkret einen Arbeitstag beginnen?

      Küstenmacher: Als Erstes sollte man agieren und nicht reagieren. Also Aufgaben und Projekte vorantreiben und erst dann in den Posteingang schauen. Es ist erstaunlich, wie effizient man sein kann, wenn man sich auf die wichtigen Aufgaben beschränkt. Es reicht, wenn die erste E-Mail um elf Uhr beantwortet wird.

      mm.de: Wie gelingt es, auf der Arbeit Wichtiges von Unwichtigem zu trennen?

      Küstenmacher: Bevor man im Büro ist, sollte man sich klar machen, was man will. Am besten funktioniert das am frühen Morgen, wenn man ungestört ist. Dann sollte man sich ein Tagesziel vornehmen und ernsthaft versuchen, es auch zu erreichen.


      mm.de: Woran liegt es, dass viele Menschen so viel Ballast anhäufen?

      Küstenmacher: Dinge können ein Schutz sein, sie spenden Trost, und es ist sehr beruhigend, Vorräte zu haben. Das ist eine gute menschliche Angewohnheit. Aber manchmal kippt sie um ins Absurde. Dann wird aus den guten Dingen störender Ballast. Die Menschen haben ein ziemlich sicheres Gespür dafür, wann es zu viel ist. Aber sie wissen oft nicht, wie sie mit dem Abwerfen dieses Ballasts anfangen sollen.

      Da ist es gut, wenn man eine Ermutigung und Ermunterung von außen bekommt. Ich denke, das ist die eigentliche Aufgabe und Stärke meines Buchs und des monatlichen Beratungsdienstes, der einem immer wieder den entscheidenden Kick gibt: Ballast abwerfen, materiellen wie geistigen, damit wir die Leichtigkeit gewinnen, für die wir eigentlich geschaffen sind. Vom Raupendasein zum gelassenen Fliegen des Schmetterlings. Das ist simplify.

      http://www.manager-magazin.de/koepfe/artikel/0,2828,357556,0…
      Avatar
      schrieb am 19.10.05 20:28:41
      Beitrag Nr. 296 ()
      Damit der Thread nicht völlig untergeht:
      ____________________________________________

      Anatomie der Seuche
      Aus Menschen werden Wölfe: Der Amerikaner John Barry beschreibt die Grippe-Pandemie von 1918
      von Uwe Schmitt

      Es gab die üblichen Spötteleien unter Reportern der "White House Press", als Ende Juli George W. Bushs Urlaubslektüreliste bekannt gegeben wurde. Der für lebenslange Leseunlust bekannte Präsident gab John Barrys "The Great Influenza" an, ein 550 Seiten starkes Buch über die Pandemie der Spanischen Grippe 1918. Der Gedanke schien manchem befremdlich, Bush werde sein geliebtes Roden und Radfahren auf der Ranch in Texas zugunsten einer deprimierenden Geschichte von Massensterben und staatlichem Versagen unterbrechen. Andere hießen es angesichts der lauernden Vogelgrippe ein gutes Zeichen, daß der Präsident sich rüste für einen Krieg gegen den Terror von H5N1. Den Krieg, der nur zu gewinnen, ja nur zu überleben sein wird, indem man ihn verhindert.


      John Barry verkauft den Schrecken von H1N1 mit großer Geste. Mögen die Schätzungen der Grippetoten 1918 schwanken zwischen 20 und 100 Millionen; jedenfalls waren es "mehr Tote in 24 Wochen als Aids in 24 Jahren, mehr in einem Jahr als der Schwarze Tod in einem Jahrhundert" hinraffte. Über fünf Prozent der damaligen Weltbevölkerung von 1,8 Milliarden Menschen gingen an der Spanischen Grippe zu Grunde. Ein Weltenbrand, der zu seinen Namen kam, weil die Zeitungen im neutralen Spanien berichten durften, was die Zensur der Kriegsmächte verhinderte.


      Fünf Prozent. Das wären, rechnet der Autor fast gierig hoch, nach zeitgenössischer Relation zwischen 73 und 350 Millionen Todesopfer. Über den Zusammenbruch von öffentlicher Ordnung und ganzen Volkswirtschaften kann und sollte man unbedingt spekulieren. Barry überläßt das anderen. George W. Bush hat seinen engsten Beratern die Lektüre von "Influenza" verordnet. Es war ein Bestseller, bevor Hurrikan "Katrina" die Sintflut und die Anarchie über New Orleans brachte und eine Dritte Welt in Amerikas Grenzen entblößte. Daß John Barry schon Jahre zuvor das Buch zum Sturm geliefert hatte, "Rising Tide: The Great Mississippi Flood of 1927" macht seine Paranoia gespenstisch treffsicher.

      "Influenza" beginnt nach fast 100 Seiten medizinhistorischer Studien in Kansas. In Haksell County, wo die Entdeckungen der Pasteur, Virchow, Koch nicht einmal ein Rumor waren, nimmt im späten Januar 1918 das Unheil unerkannt seinen Lauf. Dem Landarzt Loring Miner fällt eine Reihe außergewöhnlich heftiger Grippeerkrankungen mit brutalen Kopfschmerzen, hohem Fieber, trockenem Husten auf, die vor allem kräftige junge Menschen treffen und so plötzlich niederstrecken wie ein Pistolenschuß. Diese Influenza tötet mit Lungenentzündungen, und sie tötet schnell. Der Arzt meldet eine "Influenza schweren Typs" den Gesundheitsbehörden. Er hört nie etwas.


      Loring Miner hat in eine reiche Landbesitzerfamilie geheiratet und sich neben seiner Praxis mit einem Lebensmittelladen und einem Drugstore ein Imperium aufgebaut; er ist Alkoholiker und zitiert im Rausch gerne griechische Klassiker. Aber er ist der beste Arzt im Umkreis hunderter Meilen, hat sich ein Labor eingerichtet und die Impfstoffe gegen Diphterie und Tetanus studiert, er liest die Fachliteratur. Ein betrunkener Loring Miner sei ihnen lieber als jeder nüchterne andere, sagen seine Patienten. Als er von der Welle der Fälle fast überwältigt wird, endet der Ausbruch Mitte März abrupt. Niemand ahnt, daß zwei Soldaten, die ihre an Grippe erkrankten Familien besucht hatten, inzwischen 450 Kilometer westlich im Camp Funston unter 56 000 grünen Jungs hausen.
      Im Camp werden seit Amerikas Kriegseintritt im April 1917 Truppen für die Fronten Europas ausgebildet. Bauernlümmel und Stadtjungen leben zusammengepfercht und, wörtlich, husten einander etwas. Am 4. März meldet sich ein Koch mit Grippesymptomen krank; drei Wochen später sind elfhundert bettlägerig. Mitte April ist der Erreger im französischen Brest, in Sierra Leone und in Boston; Ende Mai in Bombay und Shanghai, im September in Australien. Die Eroberung der Welt erledigen bis Jahresende Amerikas kranke Armeen, zwei Millionen Mann.


      Das Blut, das die Kranken in den Lazaretten vergießen, husten und erbrechen sie, es dringt ihnen aus Nase, Mund, Ohren, Augen. Sie brüllen unter Höllenqualen, brechen Rippen und zerfetzen Muskeln in Hustenanfällen. Ihre verhärteten Lungen gleichen, wie Obduktionen ergeben, jenen von Giftgastoten. Wer blau anläuft, ist todgeweiht. Das sauerstoffarme Blut färbt die Unglücklichen so dunkel, bis sie schwarz werden.


      Robuste, junge Menschen stürzen wie vom Donner gerührt auf dem Gehsteig, fallen vom Pferd. Sie kommen abends mit milden Beschwerden ins Hospital, am Morgen sind sie tot. Niemand ist gefährdeter als Schwangere. In der zweiten Angriffswelle hat sich der in Kansas im Januar noch recht harmlose Virus dem Menschen angepaßt und überflutet seine Opfer. Als erstes fährt die Grippe unparteilich in sämtliche Armeen, dann schlägt sie die letzte Offensive der deutschen Armee nach ersten Erfolgen vernichtend zurück. General Ludendorff beklagt das traurige Geschäft, jeden Morgen dem Verlesen der Krankenlisten im Generalstab beiwohnen zu müssen. Das war nur der Anfang. Jeder 37. US-Soldat im Ersten Weltkrieg wird an der Grippe sterben, fast alle in einer virulenten zehnwöchigen Periode von Mitte September an. Die Spanische Grippe tötete mehr GIs als in Vietnam durch Feindeshand fielen.


      Gewöhnlich glich die Sterbelinie einem "U", die ganz Jungen und die ganz Alten bildeten die Spitzen. 1918/19 verformte sie sich, ähnlich wie Jahrzehnte später durch die jungen Aids-Toten, zu einem "W".


      Es ist schwer, das Grauen dieser Heimatfront des Großen europäischen Krieges in Amerika zu überschätzen. Truppentransporter trugen die Grippe entlang der Ostküste in die südlichen Häfen. Der Westen kam glimpflich davon; als Philadelphia in Totenstille sank, Familien ihre eigenen Gräber aushoben, Särge von Tüchern ersetzt wurden, gab es in Los Angeles sieben Grippefälle, in San Francisco zwei. Es sind Städte wie Philadelphia, die mehr als ihren Teil tun zu Amerikas 675 000 "zusätzlichen" (gegenüber normaler Grippejahren) Toten 1918/19.


      Wiederum versucht John Barry seinen Lesern den Schrecken zu übersetzen: Die Zahl entspräche heute, gemessen an der Einwohnerzahl, etwa 1,75 Millionen Opfern. Was sich September/Oktober in Philadelphia, der "amerikanischsten Stadt" (mit den wenigsten Einwanderern) abspielte, ist die Lehre, die George W. Bush studieren wird. Nach einer aberwitzigen Militärparade für Kriegsanleihen, die den Erreger aussäte, herrschte bald Totenstille. Die Stadt starb ab: Als niemand mehr arbeitete, die Schulen geschlossen blieben, das Versammlungsverbot wirkte, die Leichen auf den Veranden verwesten, die Appelle, Waisen aufzunehmen ungehört verhallten, freiwillige Krankenschwestern nach wenigen Stunden aufgaben, als in einem Kaff in Arizona der Handschlag bei Strafe verboten wurde: Als Panik aus Mitmenschen Wölfe machte, versagte auch alle politische Macht.

      Präsident Woodrow Wilson fand die Epidemie keines Wortes würdig. Die Bundesregierung schwieg, ein Gesundheitsminister namens Blue zeichnete sich durch arrogante Präpotenz aus. Als in Philadelphia in der Woche, die am 16. Oktober endete, 4597 Menschen an der Grippe starben, schwieg das Weiße Haus ebenso wie zehn Tage später, als die Epidemie plötzlich erlosch und Versammlungen und Gottesdienste wieder erlaubt wurden. Manche sagen - John Barry zählt dazu -, daß Wilson in Versailles von einem Grippeanfall geschwächt wurde und die Kujonierung der Deutschen deshalb geschehen ließ. Andere bestehen auf einem Schlaganfall.


      John Barry kommt zu dem Schluß, daß weder Rasse noch Klassen eine Rolle spielten im Albtraum der Spanischen Grippe. Er fragt sich, warum so wenige Dichter die Grippe zu ihrer Muse machten. Dann zitiert er Christopher Isherwood, der 1933 in Berlin über die Machtergreifung notierte: "Die ganze Stadt lag unter einer Epidemie von diskreter, ansteckender Furcht. Ich konnte sie fühlen, wie die Grippe, in meinen Knochen."


      Artikel erschienen am Mo, 17. Oktober 2005

      http://www.welt.de/data/2005/10/17/789954.html?s=1
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      schrieb am 01.11.05 13:50:25
      Beitrag Nr. 297 ()
      "Die Vorteile des Marktes sind nicht sichtbar"
      US-Ökonom und Nobel­preisträger Vernon Smith fordert mehr Freiheit für die Wirtschaft und schlägt vor, weder Unter­nehmensgewinne noch Ersparnisse zu besteuern
      Das Gespräch führte Eric Frey

      STANDARD: In Ihren Experimenten zeigen Sie, dass sich die Menschen unter Laborbedingungen den Gesetzen des Marktes entsprechend verhalten. Aber warum stößt dann der Markt, vor allem der Freihandel, in der öffentlichen Meinung auf so viel Ablehnung?

      Smith: Das liegt daran, dass die Vorteile des freien Marktes für die Menschen nicht sichtbar sind. Sie erreichen Ziele, die sie gar nicht anpeilten. Sie sehen nur, dass sie in ihrem eigenen Vorteil handeln, aber nicht, dass dann die ganze Gruppe besser dran ist. Wenn sie das in der Laborsituation nicht begreifen, wie kann man es dann von den Menschen draußen in der Welt erwarten?

      STANDARD: Aber auch Ihre Überzeugung, dass der Markt persönliche Freiheit mit sich bringt, ist nicht weit verbreitet, zumindest nicht in Europa.

      Smith: Ja, es bewegt sich sogar in die andere Richtung. Dabei muss etwa Deutschland nur in seine eigene Geschichte zurückblicken, zum Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg. Das kam zustande, weil Ludwig Erhard die Befehle der Alliierten ignoriert und keine Lohn- und Preiskontrollen erlassen hat.

      Die Wirtschaft wuchs, die Bürger wurden reicher, aber nach und nach wurde das Wachstum durch eine Politik der Umverteilung verringert. Man muss sich nun fragen, was in Deutschland früher besser funktioniert hat. Es gab mehr Freiheit. Deshalb haben die Länder, die auf dem Freiheitsindex an der Spitze stehen, das höchste Einkommen und die stärkste Innovationskraft.

      STANDARD: Die USA bieten viel individuelle Freiheit, aber hat die katastrophale Reaktion der Behörden auf Hurrikan "Katrina" nicht gezeigt, dass dies nicht ausreicht? Braucht man nicht manchmal mehr Staat?

      Smith: Bei "Rita" wurde bereits früher reagiert, weil man aus "Katrina" gelernt hat. Vor einem solchen Ereignis schauen die Dinge ganz anders aus als danach. Nachher ist man immer klüger. Doch Regierungen sind nicht allwissend.

      STANDARD: Kann Amerika heute von Europa etwas lernen?

      Smith: Vielleicht gibt es Erfolge, doch ich sehe sie nicht.

      STANDARD: Und gibt es etwas in der US-Wirtschaftspolitik, was Ihnen missfällt?

      Smith: Die US-Defizite machen mir Sorgen, vor allem ein Handelsdefizit, bei dem der Dollar um 30 Prozent fallen muss, um wieder ein Gleichgewicht herzustellen. Die US-Wirtschaft ist weniger attraktiv geworden, als sie es vor den großen Budgetdefiziten war.

      STANDARD: Ihre Steuerpläne sind radikaler als alles, was in Europa diskutiert wird: Sie wollen nur den Konsum besteuern. Ist das nicht unsozial?

      Smith: Das Geld, das ein Mensch erspart, bleibt der Wirtschaft erhalten, wird investiert und produziert das Wachstum von morgen. Nur das, was er verbraucht, nimmt er der Gesellschaft weg, denn das kann dann kein anderer konsumieren.

      Ein Mensch, der reich ist, aber nicht viel davon ausgibt, lässt den Rest für dich und mich arbeiten. Er hilft dadurch, die Armut zu bekämpfen. Das mag zwar nicht seine Absicht sein, aber er tut es dennoch. Wir sollten ihm applaudieren und ihn nicht bestrafen.

      STANDARD: Und warum soll man keine Steuern von Unternehmen einheben?

      Smith: Alles, was in das Unternehmen hineinfließt, geht wieder hinaus - an andere Firmen, Mitarbeiter, Gläubiger oder Aktionäre. Alles geht an Individuen. Deshalb soll man nur Individuen besteuern - und nur den Verbrauch.

      STANDARD: Aber das funktioniert nur dann, wenn die Aktionäre im Inland leben. Sonst profitieren ja nur Ausländer.

      Smith: Das mag stimmen, aber niedrige Steuern machen ein Land auch attraktiver für Investitionen, und das führt wieder zu mehr Wachstum. Das zahlt sich aus. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.09.2005)
      http://derstandard.at/?url=/?id=2187805
      Avatar
      schrieb am 06.11.05 09:46:36
      Beitrag Nr. 298 ()
      Frankreich: Manager und Ökonomen stellen Neoliberalismus in Frage

      Auch in Frankreich laufen derzeit Operationen zur Destabilisierung der Regierung - vor allem die seit fast einer Woche andauernden Straßenunruhen in dem Pariser Vorort Clichy sous Bois -, obwohl in anderer Form als in Berlin. Auch in unserem Nachbarland besteht eines der Hauptziele darin, eine durchaus mögliche Rückkehr zu einer klassischen Wirtschaftspolitik (" Wirtschaftspatriotismus" ) zu verhindern. Denn die Anzeichen für einen derartigen Paradigmawandel sind in Paris nicht mehr zu übersehen. Beispielhaft für eine politische Wende weg vom extremen neoliberalen Kapitalismus der letzten 25 Jahre sind drei führende französische Manager und Ökonomen, die übereinstimmend warnen, der Kapitalismus in seiner jetzigen Form sei dabei, sich selbst zu zerstören. Alle drei verurteilten insbesondere die Forderung nach schnellem hohem Gewinn und die Flucht nach vorn in spekulative Blasen.

      Jean Peyrelevade war Vorstandschef französischer Großunternehmen wie Suez, Crédit Lyonnais und UAP. In einem Buch mit dem Titel Der totale Kapitalismus schreibt Peyrelevade, wenn der gegenwärtige Trend sich fortsetze, laufe der Kapitalismus in seinen Ruin. Er greift das Finanzkapital an, insbesondere Renten- und Investmentfonds, die im Gegensatz zum traditionellen " Rheinland-Kapitalismus" - mit einem auf langfristige Strategien gegründeten Bündnis zwischen Bankiers und Industriemanagern - nur auf kurzfristigen Gewinn fixiert seien. Die Lösung liege weder in übertriebener Regulierung noch in " Anti-Globalisierung" , schreibt Peyrelevade. Der Staat müsse zu einer langfristigen Investitionspolitik zurückkehren, die Gewinnspannen wieder mit einer langfristigen Sicht ansetzen, statt Anlegerdividenden Investitionen fördern und die übertrieben hohen Managergehälter senken.

      Patrick Artus, Chefökonom der staatlichen Bank CDC (Caisse des Depôts et Consignations) und Mitglied im Rat für Wirtschaftsanalyse von Ministerpräsident Dominique de Villepin, veröffentlichte ein Buch Der westliche Kapitalismus ist dabei, sich selbst zu zerstören. In einem Interview mit der Zeitschrift Charlie Hebdo erinnert Artus zunächst an große Betrugsfälle der jüngeren Zeit wie Enron, Parmalat und Refco. Er fährt fort, vor 30 Jahren seien 70% der Ersparnisse der Bevölkerung in langfristige Geldanlagen in die Realwirtschaft geflossen, während heute Hedgefonds und andere Renten- und Investmentfonds als Vermittler für die Anlage der Gelder dienten und dabei nur einen einzigen Zweck hätten: sofortigen Profit auf den Finanzmärkten. Hinter sämtlichen Krisen der letzten Zeit hätten " die exorbitanten Gewinnforderungen an das Kapital" gesteckt. Artus wendet sich gegen Alan Greenspan, den er einmal einen " pyromanischen Feuerwehrmann" nannte, weil der erst durch Schaffen spekulativer Blasen Krisen auslöse und " dann darauf reagiert, indem er über die Zentralbanken Kapital auf die Märkte wirft" . Ohne die enorme Überschuldung der Haushalte weltweit gäbe es bereits ein negatives Wachstum der Weltwirtschaft. In der Welt ernsthafter Ökonomen herrsche Einigkeit über diese Analyse, so Artus, und die meisten Manager des (französischen Aktienindex`) CAC 40 seien mit ihm einer Meinung.

      Claude Bebear, Gründer des Versicherungsmultis AXA, wird wegen seiner rücksichtslosen Art des Managements auch " der Pate des französischen Kapitalismus" genannt. Aber selbst Bebear sagte kürzlich bei einem Treffen von Spitzen aus Wirtschaft und Buchprüfung: " Unsere Wirtschaft lebt mit einer Zeitbombe, die Börse ist total spekulativ geworden." Er warnte, die Wirtschaft laufe auf neue Blasen zu, und griff Rentenfonds und Ratingagenturen an.

      Sowohl Artus als auch Bebear wissen, daß nur eine Wende in den USA diesen wirtschaftlich-finanziellen Wahnsinn beenden kann. Das Ende der " Diktatur" von Gewinnspannen von 15% könne nur " aus der angelsächsischen Welt selbst" kommen, sagte Artus. Und Bebear: " Die Veränderung wird aus den Vereinigten Staaten kommen."

      Unterdessen hat Premierminister de Villepin weitere Privatisierungsschritte erst einmal ausgesetzt, wie die Debatte über den Schutz strategisch wichtiger Unternehmen vor " Finanzheuschrecken" , die er selbst im Juni angestoßen hatte, zeigt. Denn da gibt es erste konkrete Ergebnisse: Auf seiner monatlichen Pressekonferenz am 27. Oktober erklärte de Villepin überraschend, die Privatisierung staatlicher Unternehmen werde ausgesetzt. Die Privatisierungspolitik folgt den Vorgaben der Europäischen Union zur " Marktöffnung" und soll dem Staat dringend benötigte Mittel zur Finanzierung des Haushaltsdefizits liefern. Nachdem zuletzt die französischen Autobahnen, das Fährunternehmen SNCM und der Energieerzeuger Electricite de France (EDF) ganz oder teilweise privatisiert wurden, wollte Villepin nun plötzlich kein konkretes Datum für die geplante Privatisierung der Flughäfen nennen und bekräftigte, die Privatisierung der Post und des staatlichen Eisenbahnunternehmens SNCF stünden nicht auf der Tagesordnung. Noch wichtiger ist die Aufgabe der Pläne einer Privatisierung des Nuklearkonzerns Areva, zu dem mit dem Wiederaufbereitungsunternehmen Cogema, dem Kraftwerksbauer Framatome und der Nukleartechnikfirma CEA die Kernstücke der französischen Atomindustrie gehören.

      Laut einem Artikel in der Tageszeitung Le Figaro hat Villepin bei bestimmten öffentlichen Dienstleistungen mit großer Bedeutung für die nationale Unabhängigkeit eine " rote Linie gezogen, die er nicht übertreten will" . Die Entscheidung bedeutet eine weitere Niederlage für den neokonservativen Innenminister Nicolas Sarkozy, der 2004 als Wirtschaftsminister angekündigt hatte, 35-40% des Kapitals von Areva solle privaten Investoren überlassen werden.

      Zur Zeit versucht Sarkozy, der sich gerne mit Napoleon vergleicht, aus den anhaltenden Unruhen in Paris politisches Kapital zu schlagen. Dabei gebärdet er sich derart lautstark als " Mr. Law and Order" , der die Vororte mit einem " Staubsauger" von den randalierenden " Rowdys und Banditen" energisch " säubern" werde, daß in der französichen Presse bereits die Vermutung geäußert wird, Sarkozy wolle auf diese Weise weitere Unruhen provozieren - um sich dann als " starker Mann" Frankreichs aufzuspielen. Am 3. November haben einige Vorstadt-Bürgermeister Sarkozy aufgefordert, diese Provokationen sofort einzustellen und von zuvor vereinbarten Besuchen Abstand zu nehmen.

      Quelle:ERI


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