Habgieriger Turbokapitalismus
Historiker Wehler geißelt wachsende Kluft zwischen Arm und Reich
Der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler, 81, sieht im Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich „einen der dramatischsten Vorgänge der modernen Zeitgeschichte“.
In einem Gespräch mit dem Hamburger Nachrichten-Magazin „Der Spiegel“ warnte er: „Eine sehr kleine deutsche Oberschicht koppelt sich vom Rest völlig ab.“ Wehler weiter: „Ein bisweilen grenzenlos
habgieriger Turbokapitalismus hat jede Relation verloren.“ Er finde es „überraschend, wie geduldig, ja phlegmatisch die Bundesbürger bislang damit umgehen“.
Der Streit um den aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung nennt Wehler dabei „ein schönes Beispiel für die Verlogenheit der Politik. Getäuscht wird am Ende der mündige
Staatsbürger, dem man eine ehrliche Debatte offenbar nicht zumuten möchte“. Zugleich fragt er sich: „Wie lange kann das gutgehen, diese extreme Verzerrung nach oben, ohne dass es politisch
gefährlich wird?“ Ihm wäre es „schon lieb, wenn der Ärger deutlicher artikuliert und debattiert würde“ – auch und gerade von der SPD, der er das Thema soziale Gerechtigkeit als Wahlkampf-Sujet
nahegelegt hat. Wehler hat indes äußerte im „Spiegel“ Zweifel, ob Kanzlerkandidat Peer Steinbrück das Ruder noch rumreißen kann: „Sein Start ist misslungen. Ich fürchte mittlerweile, dass er die
schiere Summe an Fehlern nicht mehr wettmachen kann, auch wenn ihn seine Partei nun trimmen wird auf Menschlichkeit, Gerechtigkeit und so weiter.“ Um in der Gerechtigkeitsdebatte zu punkten, müsse
die SPD höhere Steuern versprechen, „das sind jedenfalls die greif- barsten Instrumente“.
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Für eine noch schwierigere Parallelgesellschaft als die Superreichen hält Wehler die in Deutschland lebenden Türken. Sie seien „hier, um für sich zu bleiben“ und „erstaunlich resistent geblieben
gegen jede Form von Aufstiegsdenken oder Weiterbildungsangeboten ... Ich sag’s mal krass: 95 Prozent der ungesteuert eingewanderten Türken waren anatolische Analphabeten, für die hier auch nur Jobs
bei der Müllabfuhr blieben“. Dafür macht der Historiker im Gespräch mit dem „Spiegel“ vor allem eine verfehlte Einwanderungspolitik der deutschen Regierung verantwortlich: „Der Staat hätte schon
bei der Aufnahme viel selektiver vorgehen müssen. Nun sind sie da, das müssen wir als Staatsbürger akzeptieren. Aber die Türken werden immer extrem unterstützungsbedürftig bleiben. Kanada zum
Beispiel nimmt auch viele Einwanderer auf, lässt sich deren Qualifikation aber vorher belegen.“