Juncker hat Angst um Europa
"Die alten Dämonen der nationalistischen Ressentiments sind zurück!"
Die dramatische Nacht von Brüssel steckt Jean-Claude Juncker noch sichtlich in den Knochen. Mehr als eine Woche ist es her, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs nach einem 17-stündigen Marathon-Gipfel doch noch eine Einigung im griechischen Schuldenstreit erzielen konnten. Nun gewährt der EU-Kommissionspräsident Einblick in seine Gefühlswelt und offenbart: Ich habe Angst um Europa.
So sei die Angst auch die treibende Kraft bei den nächtlichen Verhandlungen gewesen, verrät Juncker im Interview mit der„Welt“. „Wir haben das Schlimmste verhindert, und zwar nicht, weil wir so unglaublich klug wären, sondern weil wir schlicht Angst hatten.“ Das Abkommen mit Griechenland, so Juncker, sei auf Basis von Angst entstanden. Insofern überwiege jetzt erst einmal die Erleichterung. Aber ist es denn auch ein gutes Abkommen? Ja, meint der EU-Kommissionspräsident, „einfach weil es zustande gekommen ist.“
Die Angst vor dem „endgültigen Bruch“
Trotzdem hat Juncker seine Angst noch nicht überwunden. Im Gegenteil, die letzten Wochen und Monate scheinen ihn nachdenklich gemacht zu haben. Und zwischen den Zeilen meint man immer wieder auch leise Zweifel zu erkennen. Etwa, wenn er davon spricht, dass der Marathon-Gipfel zu einem „faktischen Bruch in Bezug auf die solidarischen Beziehungen in Europa“ geführt habe. Oder wenn es heißt, die Reaktionen auf das Abkommen, insbesondere die „antigriechische Stimmung“ betrübe ihn und er sei „sehr beunruhigt, was die Zukunft angeht.“
So hätte er in den letzten Wochen am meisten Angst vor einem endgültigen Bruch gehabt, gesteht Juncker. „Ich habe mir während der letzten Monate und der letzten Stunden gesagt, wenn die Euro-Zone auseinanderfällt, dann kann alles auseinanderfallen. Wenn die elementarste Verbindung, das Wichtigste zerbricht, dann kann plötzlich alles infrage gestellt werden.“
Die Rückkehr der nationalistischen Dämonen
Ihm sei immer klar gewesen, wie zerbrechlich die europäische Konstruktion nach wie vor ist. Doch wie fragil genau, das habe die Griechenland-Krise schonungslos offenbart, so der EU-Politiker und konstatiert: „Die alten Dämonen der nationalistischen Ressentiments sind zurück.“
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Er bemerke in einer ganzen Reihe von Ländern eine „antigriechische Stimmung, die auf innenpolitische Gründen beruht und sich auf rein wirtschaftliche Aspekte beschränke.“ Das Ergebnis, so Juncker, sei „eine Entwicklung des Sichabwendens vom anderen.“ Der EU-Kommissionspräsident führt dies darauf zurück, dass sich viele Länder darauf konzentriert hätten, wie sie Entscheidungen nach innen rechtfertigen – statt sich auf die tatsächliche Lösung zu konzentrieren.
„Europa ist zu einem Projekt der Eliten geworden“
Dieses Sichabwenden, wie Juncker es nennt, betreffe aber nicht nur die EU-Staaten untereinander. Auch die Bürger würden sich mehr und mehr von Europa entfernen. Juncker meint den Grund zu kennen: „Europa ist zu einem Projekt der Eliten geworden.“ Und irgendwie auch zu einem deutschen, würden viele an dieser Stelle ergänzen (Lesen Sie hierzu: "Wir leben in einem Europa, in dem alle die Befehle Deutschlands befolgen"). Doch diese Lesart gefällt dem Euro-Liebhaber ganz und gar nicht. „In Deutschland herrscht der Eindruck, dass man die erste Macht in Europa ist, und die deutsche Regierung widerspricht dem nicht. Doch es ist falsch, zu sagen – vor allem in Bezug auf den Euro – dass Deutschland allein Entscheidungen herbeiführt“, erklärt er.
Und wie geht es nun weiter mit Europa? Fast hat man den Eindruck, als würde Juncker im letzten Moment bewusst werden, welch negatives Europa-Bild er da gerade zeichnet. Also steuert er, ganz der EU-Kommissionspräsident, schnell dagegen. In der Geschichte der Europäischen Union habe es schon immer Krisen gegeben, so Juncker. „Wir werden auch diese überstehen.“