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Süddeutsche Zeitund vom 19.08.2003)

Die Bundesrepublik braucht offenbar ein neues Artenschutzabkommen: Naturwissenschaftler und Ingenieure sind vom Aussterben bedroht.

In wenigen Jahrzehnten wird man die letzten Exemplare in Museen und Freizeitparks bestaunen.
Dann wird Deutschland eine blühende Landschaft sein, aus der mit Forschern und Technikern auch die Industrie verschwunden ist.
Diese Vision drängt sich auf angesichts der Zahlen, in denen sich das dramatisch gesunkene Interesse an natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächern widerspiegelt:
1991 wollten 10.000 Abiturienten Physik studieren, sieben Jahre später waren es nur noch 5000.
In diesem Jahr werden 1100 Studenten in Chemie promovieren – ein Viertel weniger als 2002.
In drei Jahren werden es zeitweise nur noch 750 sein.
In den Ingenieurwissenschaften sieht es nicht anders aus: 12.000 bis 14.000 Absolventen der Elektrotechnik werden in den kommenden Jahren fehlen.
Laut einer OECD-Studie aus dem Jahre 2000 kommen in Deutschland auf 100.000 Beschäftigte nur 1040 Graduierte aus den Naturwissenschaften, der Informatik und der Mathematik.
Der OECD-Durchschnitt liegt bei 1500.
In Frankreich und Japan sind es mehr als 5000.
Erinnert man an die PISA-Studie, die den deutschen Schülern neben einem fehlerhaften Textverständnis vor allem mangelnde Kenntnisse in Mathematik und Naturwissenschaften bescheinigte, wird deutlich, wie sehr die Zukunftsfähigkeit Deutschlands in Frage steht.
Die Angst der Intellektuellen vor der Technik

Gibt es aber tatsächlich eine typisch deutsche Technikfeindschaft – und eine tief verwurzelte Wissenschaftsskepsis, die aus den Zeiten des deutschen Idealismus herrühren und im 19. Jahrhundert durch die romantische Naturphilosophie verstärkt wurden?
Das Misstrauen gegenüber der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation galt großen Teilen der deutschen Intelligenz lange Zeit als Anzeichen eines fortschrittlichen Bewusstseins.
Weitgehend ist die Geschichte der deutschen Intellektuellen in ihrer Beziehung zu Naturwissenschaften und Technik eine Geschichte der Unkenntnis, gepflegter Vorurteile und ideologischer Übersteigerungen.
Und dennoch: Die Behauptung einer typisch deutschen Technikfeindschaft und Naturwissenschaftsskepsis ist im Vergleich mit dem übrigen Europa empirisch nicht zu belegen.
Stellt man die aktuellen Studentenzahlen in den Kontext der Arbeitsmarkt-Statistik, ergibt sich zudem ein paradoxes Bild.
Nach Angaben der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit fehlten 2001 in Deutschland 5800 Maschinenbauer – aber 17.500 waren arbeitslos. 4300 Elektroingenieure wurden gebraucht – aber 12.250 suchten eine Anstellung.
650 gesuchten standen 1600 arbeitslose Physiker gegenüber. Im Jahre 2002 gab es 59 Prozent weniger Stellen für Journalisten – aber auch 49 Prozent weniger Positionen für Ingenieure und sogar 60 Prozent weniger für Informatiker.

Schuld an der paradoxen Gleichzeitigkeit von fehlendem Personal und fehlenden Stellen in vielen
naturwissenschaftlichen und technischen Berufen ist eine Haltung, die angesichts des dramatischen demographischen Wandels ausgesprochen kontraproduktiv wirkt.
Diese Haltung könnte man auch „demonstrative Altersskepsis“ nennen.

Arbeitsmarktformel: Kompetenz = Ausbildung - Alter

Der Arbeitsmarkt in den Ingenieur- und Naturwissenschaften ist stark von der Überzeugung beherrscht, ein altersabhängiger Kompetenzverfall sei unvermeidlich und als biologische Konstante nicht korrigierbar.
Wolle man innovationsfähig bleiben, müsse man über 45-jährige Naturwissenschaftler und Ingenieure möglichst schnell durch Jüngere ersetzen.
Die Folgen dieser Haltung sind offenkundig.
In der Elektrotechnik sinkt die Arbeitslosigkeit der unter 35jährigen stetig – bei den über 45jährigen stieg die Arbeitslosigkeit dagegen seit 1985 um 800 Prozent. Ähnliches gilt für die meisten Naturwissenschaften.
Die absurde Strategie der Gewerkschaften zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit wird durch die Altersskepsis in der Wirtschaft entscheidend gestützt.
Die Alternsforschung aber hat gezeigt, dass Menschen ihre Innovationsfähigkeit und geistige Mobilität weit später verlieren als die Praktiken des Arbeitsmarktes es nahe legen.
Das alternde Deutschland nimmt auch hier eine Sonderrolle ein und schickt seine 50jährigen in die Frührente während in den viel jüngeren USA die Pensionsgrenzen längst aufgehoben sind – und auch im Bereich von Forschung und Entwicklung die Älteren länger arbeiten als je zuvor.
In der Bundesrepublik fehlt es an überzeugenden Programmen und Praktiken des lebenslangen Lernens.
Aber selbst wenn diese Praxis sich ändern sollte, bleibt die Tatsache, dass in unserem Land zu wenige junge Menschen sich für Naturwissenschaften und Technik interessieren.
Wie in einem Brennpunkt bündeln sich nun Jahrzehnte alte Versäumnisse der Politik und Gesellschaft.
Deutschland ist ein Einwanderungsland, hat aber kein Einwanderungsgesetz.
Eine Politik für Kinder und Familien, die diesen Namen verdiente, gibt es nicht.
Frauen wird der Zugang zu Wissenschaft und Forschung erschwert.
Alles wird getan, um junge Wissenschaftler ins Ausland zu treiben.
Wir versäumen es, das Innovationspotential der Älteren zu nutzen.
Diese Faktoren sind für den Mangel an Natur- und Ingenieurwissenschaftlern verantwortlich – und nicht eine bei den Deutschen angeblich besonders ausgeprägte Technikfeindschaft und Wissenschaftsskepsis.
 
aus der Diskussion: Märkte (4. Teil) - und die Zukunft der Weltwirtschaft
Autor (Datum des Eintrages): Groupier  (20.08.03 23:24:57)
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