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Sozialabbau und Massenarbeitslosigkeit in den Niederlanden

Von Jörg Victor
19. September 2003


Seit dem Beschluss der niederländischen Regierung unter Ministerpräsident Jan-Peter Balkenende (CDA), drastische Kürzungen im sozialen Sicherungssystem vorzunehmen, ist noch kein halbes Jahr vergangen, da verkündet sie bereits die Notwendigkeit weiterer Einschnitte. "Fast alle Bürger werden im nächsten Jahr über weniger Kaufkraft verfügen", erklärte die niederländische Königin Beatrix in ihrer von der Regierung verfassten Thronrede vor dem Parlament in Den Haag am Dienstag.

Die Regierung reagiert so auf die anhaltende Krise der Wirtschaft, die weiterhin in der Rezession steckt. Im zweiten Quartal des Jahres schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt zum vierten Mal in Folge um 0,5 Prozent. Laut Schätzungen der niederländischen Zentralbank soll es in diesem Jahr um insgesamt 0,4 Prozent sinken. Einen solchen Rückgang über ein komplettes Jahr gab es zuletzt 1982. Die Reaktion der Koalitionsregierung aus Christdemokraten (CDA), Rechtsliberalen (VVD) und Demokraten (D66) sowie der Wirtschaftsverantwortlichen hat für die Bevölkerung des stark auf den Handel innerhalb der EU ausgerichteten Landes katastrophale Auswirkungen.

Das Sparprogramm der Regierung soll noch einmal ausgeweitet werden, allein im kommenden Jahr um zusätzlich 5,7 Milliarden Euro. Zusammen mit den Sparmaßnahmen in Höhe von 5,2 Mrd. Euro, die bereits von der Vorgängerregierung unter Beteiligung der rechten Liste Pim Fortuyn beschlossen wurden, fallen dann 2004 elf Milliarden Euro an staatlichen Sozialausgaben dem Rotstift zum Opfer.

Die Balkenende-Regierung hatte geplant, das Haushaltsdefizit bis 2007 auf 0,75 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu senken, und eine schnelle Erholung der wirtschaftlichen Situation zu Grunde gelegt. Da diese ausbleibt, will die Regierung jetzt die Steuern auf Tabakprodukte und Alkoholika erhöhen und die Gehälter im öffentlichen Dienst sowie die Leistungen der Sozialversicherungen für zwei Jahre auf dem derzeitigen Niveau einfrieren. Bei der Arbeitslosenversicherung will sie über ihr derzeitiges Sparprogramm hinaus eine weitere Milliarde Euro einsparen.

Auch das Budget des Gesundheitswesens soll um weitere 1,5 Milliarden Euro gekürzt werden, indem beispielsweise Zahnbehandlungen oder die Anti-Baby-Pille aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen gestrichen werden. Außerdem sollen die gesetzlich Versicherten ein Kopfgeld in Höhe von 200 Euro entrichten und pro Rezept 1,50 Euro bezahlen.

Krise des Gesundheitssektors

Dabei steckt der Gesundheitssektor der Niederlande bereits jetzt schon in einer tiefen Krise. Die eingeführte Konkurrenz zwischen privaten Kliniken und Ambulanzdiensten auf der einen Seite sowie den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen auf der anderen Seite sollte angeblich zur Verbesserung der medizinischen Versorgung und zu mehr Arbeitsplätzen führen. Das Gegenteil ist der Fall: Die niedrigeren Löhne der privaten Anbieter bedeuten mehr Druck auf die Arbeitsverhältnisse in den staatlichen Einrichtungen. Hier wie dort wuchs die Zahl der Teilzeitjobs, und die Löhne stagnierten oder sanken, weil die Lohnerhöhungen mit der Inflation nicht Schritt hielten. Die medizinische Versorgung der Bevölkerung litt unter dem enormen Konkurrenzdruck und lässt sich heute nur noch mit den Zuständen in Großbritannien vergleichen.

So hat jeder Kranke einen festen Hausarzt, den er auch für Überweisungen an Fachärzte aufsuchen muss. Eine freie Arztwahl, wie etwa in Deutschland, existiert nicht. Jeder niedergelassene Hausarzt erhält ein festes Budget von 76 Euro pro Bewohner des ihm zugewiesenen Einzuggebiets - unabhängig davon, ob dieser einmal, mehrmals oder überhaupt nicht zu ihm kommt. Ergo: Je weniger ein Hausarzt für die Behandlung der ihm anvertrauten Einwohner ausgibt, umso höher sein Einkommen. Das hat zur Folge, dass kostenintensive Behandlungen und Untersuchungen möglichst vermieden werden. Patienten mit Bluthochdruck - eine Erkrankung, die in bestimmten Fällen bei ausbleibender medikamentöser Behandlung durchaus tödlich verlaufen kann - wurden bereits mit dem ärztlichen Rat nach Hause geschickt, mehr Sport zu treiben.

Viele Patienten reisen für Operationen ins benachbarte Ausland, weil die Kapazitäten der Krankenhäuser in den Niederlanden nicht ausreichen. Auch die privaten Kliniken konnten die Unterversorgung an Operationssälen und OP-Personal nicht lindern. Im Gegenteil: Laut einer Untersuchung der Aufsichtsbehörde für das Gesundheitswesen stellen die Privatkliniken für die Patienten sogar ein Gesundheitsrisiko dar. Die 101 Privatkliniken des Landes führen mehrheitlich schönheitschirurgische Operationen durch, einige bieten jedoch das gesamte Spektrum der spezialisierten Krankenhausmedizin an, bis hin zur Notfallmedizin.

Bei dieser Untersuchung wurden zwanzig Privatkliniken kontrolliert, die Ergebnisse nun veröffentlicht: In Fachbereichen tätige Ärzte hatten nicht die erforderliche Ausbildung, sondern waren Allgemeinmediziner. Mehrere Kliniken beschäftigten unausgebildetes Personal im Pflegebereich. Laut niederländischem Gesetz darf die Grundversorgung der Patienten nur von examiniertem Pflegepersonal durchgeführt werden. In neun Kliniken wurden vor Operationen keine Voruntersuchungen zum allgemeinen Gesundheitszustand des Patienten durchgeführt. Maßnahmen, um postoperative Infektionen vorzubeugen, existierten nicht. Es gab außerdem kein ausgebildetes Personal für die Desinfektion der Instrumente, und in einer Klinik wurden alle Instrumente (auch die für die chirurgischen Eingriffe) einfach nur in Wasser gekocht.

Während die Bevölkerung mit historisch einmaligen Kürzungen für die wirtschaftliche Krise bezahlt, füllen sich die Taschen der Reichen. Königin Beatrix, die im nächsten Jahr 727.000 Euro als persönliches Einkommen überwiesen bekommt, ist da ein vergleichsweise kleiner Fisch.

Der Ölgigant Royal Dutch Shell vermeldete in seiner Bilanz für das Geschäftsjahr 2002/03 einen Gewinn von rund 1,2 Milliarden Euro. Die Vorsteuersumme ist laut den vom Konzern vorgelegten Zahlen dabei quasi identisch mit der Nachsteuersumme, denn gerade einmal acht Millionen Euro Steuern oder 0,66 Prozent führte Shell an den niederländischen Staat ab. Die Grundgehälter der Shell-Manager liegen dabei zwischen einer und zweieinhalb Millionen Euro jährlich (zuzüglich der nicht aufgeführten Boni, Prämien und sonstigen Optionen).

Noch fürstlicher lässt sich der Vorstandsvorsitzende der Einzelhandelskette Ahold Anders Moberg bezahlen. Jährlich kassiert er Summa summarum rund 10 Millionen Euro als Vorsitzender eines Konzerns, dessen US-amerikanische Niederlassung gerade der Buchfälschung überführt wurde; die amerikanische Tochter hatte nicht-existierende Gewinne von 465 Millionen Euro bilanziert.

Moberg wurde im Mai an die Spitze des Konzerns berufen, nachdem der vorherige Vorstandsvorsitzende nach der Veröffentlichung der Praktiken der amerikanischen Ahold-Tochter zurückgetreten war. Seine Aufgabe besteht nun darin, den Konzern in der wirtschaftlichen Krise profitabler zu machen und die Arbeiter die Zeche zahlen zu lassen. Dementsprechend gab die zum Ahold-Konzern gehörende niederländische Supermarktkette Albert Heijn bekannt, 440 Arbeitsplätze abzubauen, da der Marktanteil um rund einen Prozentpunkt gesunken sei.

Drastischer Anstieg der Arbeitslosigkeit

Die meisten niederländischen Unternehmen entscheiden sich für das gleiche Verfahren, so dass immer mehr Menschen arbeitslos werden. Laut einer Umfrage gehen rund ein Drittel aller Unternehmen des Landes davon aus, dass sie in diesem Jahr umfangreiche Entlassungen durchführen und Lohnzusatzleistungen (Prämiensparen, Dienstwagen, etc.) kürzen werden.

Nach Angaben des staatlichen statistischen Planungsbüros (CPB) steigt die Zahl der registrierten Menschen ohne Arbeit derzeit um 14.000 Menschen monatlich. Sie betrug im zweiten Quartal durchschnittlich 403.000 - ein Anstieg im Jahresvergleich um 40 Prozent. Damit wird in naher Zukunft mehr als eine halbe Million Menschen offiziell ohne Arbeit sein - soviel wie seit über einem Jahrzehnt nicht mehr. Die Zahl der Arbeitssuchenden hat diese Marke bereits überschritten und beträgt nach Angaben des Zentrums für Arbeit und Einkommen (CWI) derzeit 547.000. Ende nächsten Jahres soll diese Zahl, nach Untersuchungen des Instituts, auf 735.000 Menschen oder 10 Prozent der Werktätigen ansteigen.

Die staatliche Luftfahrtgesellschaft KLM will beispielsweise in diesem Jahr rund 3.000 Stellen abbauen. Das Unternehmen, das noch 34.000 Menschen beschäftigt, hat im vergangenen Geschäftsjahr einen Rekordverlust von 416 Millionen Euro verbucht. Das Management will über die Vernichtung von Arbeitsplätzen, weitere Restrukturierungsmaßnahmen und eine aggressivere Konzernpolitik 650 Millionen Euro einsparen.

Auch die KLM-Tochter Transavia erklärte, Stellen abbauen zu wollen. Das Unternehmen, welches neben der Linienverbindung von Amsterdam nach London auch Charterflüge anbietet, mache zwar keinen Verlust, doch die Profite des ersten Quartals dieses Jahres hätten nicht den Erwartungen entsprochen. Die Betreiber des Flughafens Schiphol reagierten auf rückgehende Passagierzahlen mit einem Einstellungsstop, und der Magistrat der Stadt Amsterdam erwartet, dass die in der Stadt ansässigen Zulieferer ebenfalls Stellen streichen werden.

Der weltweit größte Hersteller von Maschinen zur Halbleiterproduktion, ASML aus Veldhoven, will ebenfalls 550 von 5.200 Arbeitsplätzen abbauen. Der Konzern hatte bereits letztes Jahr die Belegschaft um 1.450 Stellen verkleinert. Nach dem letztjährigen Abbau von Stellen hatte das Unternehmen 9,5 Millionen Euro Gewinn gemacht. Es hofft, durch die neuerliche Vernichtung von Arbeitsplätzen den bisherigen Verlust von 63,5 Millionen Euro aus dem zweiten Quartal abschwächen zu können. Nach Angaben des Managements scheuen Chiphersteller neue Investitionen, was zu einer Halbierung der Verkaufserlöse von 608 Millionen Euro geführt habe.

Der Elektronik-Gigant Philips konnte ein weiteres Jahr in den roten Zahlen nur vermeiden, indem er Anteile an ASML und Vivendi in Höhe von 78 Millionen Euro verkaufte. So schloss er das Geschäftjahr mit einem Gewinn von 42 Millionen Euro ab. Letztes Jahr machte der Konzern Verluste in Höhe von 1,3 Milliarden Euro und leitete ein Restrukturierungsprogramm ein, das ebenfalls Tausende Arbeitsplätze kostet. Dieses Programm soll nächstes Jahr abgeschlossen sein und Philips eine Milliarde Euro Einsparungen bringen. Doch das Management wies bereits darauf hin, dass der Umsatz von 8 auf 6,5 Milliarden Euro und die Verkaufszahlen um 18 Prozent gefallen seien. Angesichts der anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten müsse das Einsparziel erreicht werden, könne sich jedoch als unzureichend heraus stellen.

Ebenso plant der belgisch-niederländische Bank- und Versicherungskonzern Fortis 750 der 5.100 Stellen abzubauen. Durch den Verkauf der Theodoor Gilissen-Bank an die Kreditbank Luxembourg stehen die 230 Beschäftigten dort ebenfalls vor einer ungewissen Zukunft. Fortis, das in den vergangenen beiden Jahren noch Gewinne von 2,6 Milliarden Euro, bzw. 532 Millionen Euro auswies, verlor im ersten Quartal des aufenden Jahres 453 Millionen Euro. Laut Management sind die Risiken für das laufende Geschäftsjahr aufgrund der schwachen Börsen, fauler Kredite und schlechter Wirtschaftsprognosen so hoch, dass ein Restrukturierungsprogramm zu Lasten der Beschäftigten notwendig sei.

Auch der Einzelhandel streicht auf breiter Front Stellen. Die Kaufhauskette Vroom and Dressmann gab vor wenigen Tagen die Absicht bekannt, 1.800 der 8.000 Arbeitsplätze zu vernichten und zwölf Filialen zu schließen.

Es gibt kaum einen Sektor der niederländischen Wirtschaft, der von der Wirtschaftskrise nicht direkt betroffen ist und darauf mit Entlassungen reagiert. In nur einem Jahr werden die Niederlande die Arbeitslosenzahlen übertreffen, die sie letztmals Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre erreichten. Die Sparmaßnahmen der Regierung werden die Armut zusätzlich verschärfen.
 
aus der Diskussion: SPD : Deutschland voll an die Wand gefahren !!!
Autor (Datum des Eintrages): CheapThrill  (19.09.03 09:59:03)
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