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"Defekt Service": Abenteuer Lkw-Maut

Warum Deutschland auf ein Autobahn-Chaos zusteuert

Geplant war sie als Lizenz zum Gelddrucken. Doch die Lkw-Maut kostet die Regierung bis jetzt nur Geld, und die Betreiber blamieren sich bis auf die Knochen. Ein Tag auf einer deutschen Autobahn offenbart ein großflächiges Versagen.

Von Sönke Iwersen

Eben ging"s doch noch. Der Fernfahrer Jürgen Müller sitzt in seinem Mercedes Actros und starrt auf den kleinen schwarzen Kasten direkt über ihm. Gerade hat er seine erste Ladung für heute abgeliefert, jetzt will Müller sein nächstes Ziel in das Mautgerät eingeben. Heute Morgen um fünf bei seiner Spedition Diez in Dettingen/Teck hat"s noch funktioniert. Jetzt ist es zehn im rheinland-pfälzischen Kirchheimbolanden, und das Gerät stellt sich störrisch. Müller seufzt, schaltet den Motor wieder aus und wartet. Noch mal von vorn. Motor an, Augen nach oben. Und? "Hab ich mir doch gedacht", sagt Müller und liest laut vor, was jetzt auf der Gerätanzeige steht: "Defekt Service."

Die beiden Worte sollte man sich merken. Kein Fernfahrer glaubt mehr daran, und selbst Verkehrsminister Manfred Stolpe schätzt die Chancen bestenfalls auf 50 Prozent ein. Aber sollte der Wahnsinn weiter- gehen, sollten sich die Sturköpfe durchsetzen und sollte am 2. November tatsächlich das Mautsystem scharf geschaltet werden, dann erlebt die Bundesrepublik in sechs Wochen dank "Defekt Service" das größte Chaos, das man je auf ihren Autobahnen gesehen hat.

Der Grund steht auf Seite 14. "Fehler- und Sperrmeldungen führen zu einer Deaktivierung des Gerätes", ist dort in der Betriebsanleitung des Mautgeräts zu lesen. Und weiter: "Manuelle Buchung an Zahlstellenterminals erforderlich."

Jürgen Müller legt den ersten Gang ein und lenkt seinen 40-Tonnen-Laster in Richtung Autobahn. "Manuelle Buchung! Die spinnen doch!" sagt der 31-Jährige und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Vom strahlend blauen Himmel brennt die Sonne, und die letzten beiden Stunden hat Müller damit verbracht, um seinen Laster herumzuturnen und die neun Tonnen schwere Drehmaschine beim Kunden abzuladen, mit der er vor fünf Stunden im stockfinsteren Dettingen losgefahren ist. Doch jetzt ist Müller nicht müde, sondern wütend. "Manuelle Buchung! Wissen Sie, was das heißt? Jetzt müsste ich erst mal zur nächsten Raststätte, auf der eine Mautstation steht. Dabei wartet doch mein nächster Kunde schon. Manuelle Buchung! Mein Chef wird mir was husten. Wir arbeiten hier schließlich auf Termin."

Müller blickt nach vorn. Scheinbar endlos streckt sich die Autobahn in die Landschaft, genauso unüberschaubar scheint die Zahl der Lastwagen, die Kilometer um Kilometer über den Beton donnern. Aber natürlich gibt es Zahlen. Deutschland ist Transitland Nummer eins in Europa, und auf den 12 000 Autobahnkilometern der Bundesrepublik drängeln sich laut Verkehrsministerium allein 900 000 deutsche Lastwagen, die mehr als zwölf Tonnen wiegen und damit mautpflichtig sind. Hinzu kommen rund 500 000 ausländische Fahrzeuge. In der Vergangenheit musste für jedes von ihnen eine Vignette von acht Euro pro Tag bezahlt werden, pro Jahr kamen auf diese Weise 500 Millionen Euro zusammen - nicht zu verachten für eine ständig klamme Staatskasse, aber nur ein Taschengeld verglichen mit dem, was jetzt geplant ist.

Vorläufig 12,4 Cent pro Autobahnkilometer will der Bund in Zukunft kassieren. Ein durchschnittlicher Lkw bringt es im nationalen Verkehr auf 150 000 Kilometer pro Jahr - davon nach Berechnungen aus der Branche rund 84 Prozent auf Autobahnen. So ergibt sich eine durchschnittliche Jahresmaut von 15 000 Euro pro Lkw. Das Bundesverkehrsministerium hat schon genau ausgerechnet, wie viel an Einnahmen da zusammenkommt: 163 Millionen Euro pro Monat, rund zwei Milliarden Euro pro Jahr. Noch allerdings fließt kein Cent. Drei Wochen hätte die Maut jetzt schon funktionieren sollen - und die ersten 100 Millionen längst in den ausgestreckten Händen von Finanzminister Hans Eichel. Doch durch dessen Rechnung zog sein Kollege, der Verkehrsminister Manfred Stolpe, einen hässlichen Strich. Weil kaum etwas funktionierte, verordnete er dem Betreiberkonsortium Toll Collect vom 31. August an statt dem Mautstart einen zweimonatigen Testbetrieb. Ausfall für die Staatskasse: 326 Millionen Euro. Eichel muss sich gleich doppelt ärgern. Weder fließen die Einnahmen aus dem neuen Mautsystem, noch kann er auf die Gelder aus dem herkömmlichen Abrechnungsverfahren zurückgreifen. "Wir sind gerade dabei, die Reste des Systems abzuwickeln", sagt Werner Potschin, Geschäftsführer des Konsortiums Ages, das die Eurovignette installierte und abrechnete. "5000 Mautstellen sind schon aufgelöst, alle zwischenstaatlichen Verträge sind längst gekündigt. Das System kann man nicht mal eben so wieder aktivieren."



Mehr sagt Potschin nicht. Was er denkt, kann man leicht erraten.
Im August 2001 schloss das Bundesverkehrsministerium sein Konsortium Ages aus dem Rennen um die Lkw-Maut aus. Ein Grund: Ages hielt den Starttermin 31. August 2003 für die Einführung der Lkw-Maut für nicht haltbar.:laugh: Dabei heißt es selbst aus dem Umfeld von Toll Collect inzwischen, eine Testphase von vier bis sechs Monaten sei das absolute Minimum bei einem Projekt dieser Größenordnung. Doch Toll Collect sagte den Termin zu und wird in diesen Tagen für die Nichteinhaltung der Absprachen auch noch belohnt. Weil auch den beteiligten Unternehmen Daimler-Chrysler, der Deutschen Telekom und dem französischen Autobahnbetreiber Cofiroute Einnahmen entgehen, zahlt der Bund an die Konzerne für September und Oktober ein Ausfallhonorar. Der Daimler-Vorstand Klaus Mangold sagte dazu im August in der Stuttgarter Zeitung: "Wir werden eine Kompensation für das erhalten, was wir an Aufwand haben." Geschätzte Kosten für den Steuerzahler: 80 Millionen Euro.

Und es wird noch teurer für die Bürger. Nicht nur Daimler-Chrysler und die Deutsche Telekom hatten sich auf den Start der Lkw-Maut zum 31. August eingerichtet. Auch das Bundesamt für Güterverkehr in Köln stockte in Erwartung des zusätzlichen Arbeitsaufwandes durch die Lkw-Maut ordentlich Personal auf. "Wir haben im Rahmen der Vorbereitungen 500 bis 700 Stellen geschaffen", sagt ein Sprecher des Amtes. Und was machen die alle seit dem 31. August? "Also, die Kollegen stehen jedenfalls Gewehr bei Fuß."

Vermutlich stehen sie in dieser Position direkt neben jenen Kollegen, die sich bis zum 31. August um die Abwicklung der Eurovignette gekümmert haben. Mannschaftsstärke: 400 bis 500 Personen. Auch sie sollen sich eigentlich der Lkw-Maut widmen. Die steht nun seit drei Wochen aus. Auf diese Weise kommen in Köln tagtäglich rund 1000 Männer und Frauen zur Arbeit, deren Hauptaufgaben frühestens am 2. November beginnen. Was das kostet? "Da müssen Sie das Verkehrsministerium in Berlin fragen", sagt ein Amtssprecher. Anruf in Berlin: Wie hoch ist eigentlich der Personaletat in Ihrem Ministerium für die Abwicklung der Lkw-Maut? "Es handelt sich jährlich um einen zweistelligen Millionenbetrag", antwortet ein Sprecher. "Aber die Kollegen haben dafür mehr Zeit, das System ausgiebig zu testen. Das sind jetzt unsere so genannten Friendly User."

Zum Friendly User, zum freundlichen Nutzer, wird der Fernfahrer Jürgen Müller bestimmt nicht mehr. Am Vortag ist sein Mautgerät eingebaut worden, gehalten hat es keine 24 Stunden. Aber vielleicht handelt es sich bei dem Dettinger Spediteur ja um einen Einzelfall. Aus Berlin vermeldet ein Toll-Collect-Sprecher nämlich, dass mit der Lkw-Maut alles zum Besten stehe: "Unser Rechenzentrum zeigt, dass derzeit 80 000 Geräte einwandfrei funktionieren. Die Spediteure sollen mal abwarten. Es gibt überhaupt keinen Grund, sich aufzuregen."

Vom Warten allerdings haben die Spediteure längst genug. Nach einer aktuellen Umfrage des Verbandes des Württembergischen Verkehrsgewerbes wurden erst 32 Prozent der bestellten Mautgeräte eingebaut. Davon wiederum seien 63 Prozent defekt. "Nichts funktioniert", sagt Müller. "Sie sollten mal die Kollegen fragen, was die alles erlebt haben." Gesagt, getan. Müller biegt auf einen Rastplatz ein. 19 Lkw stehen dort Seite an Seite, rund die Hälfte tragen ausländische Kennzeichen. Aber nur zwei deutsche Fahrzeuge sind mit dem Mautgerät ausgestattet. Und? Funktionieren sie? "Meins lässt sich schon seit einer Woche nicht mehr ausschalten", sagt ein Fahrer aus Kassel. Ein paar Wagen weiter feixt ein Kollege aus Düsseldorf: "Vorhin bin ich 20 Kilometer auf der Autobahn gefahren. Und wissen Sie, was das Gerät angezeigt hat? ,Mautfrei." Dann ist es ausgegangen. Die spinnen doch, die von Toll Collect." Auf den nächsten beiden Raststätten sind die Antworten fast wortgleich.

Bleibt die Frage, was am 2. November passiert. 410 000 Mautgeräte sollen an jenem Tag installiert sein, bis zu dieser Woche waren es aber nur 145 000, und davon wiederum funktionieren laut Toll Collect lediglich 80 000. Bei Defekt eines Geräts sind die Spediteure vertraglich verpflichtet, die Buchung über das Internet vorzunehmen oder die auf den Raststätten installierten Mautstationen aufzusuchen. Ein Test der Stuttgarter Zeitung ergibt einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits ist die Einbuchung per Hand leicht zu handhaben und dauert kaum mehr als drei Minuten. Andererseits: die Fahrer müssen im Voraus genau festlegen, auf welcher Route sie zum Ziel fahren. Sollte ein Spediteur einen Stau umfahren wollen oder aus einem anderen Grund die Strecke ändern, muss er zuvor auf eine Raststätte mit Mautstation fahren, die alte Route stornieren und eine neue eingeben. "Das kann doch nur das absolute Chaos geben", sagt der Fernfahrer Müller. "So ein System können nur Leute erfunden haben, die von dem Gewerbe überhaupt keine Ahnung haben."

Aktualisiert: 20.09.2003, 05:05 Uhr
 
aus der Diskussion: Rot-Grüne LKW-Maut-Abzocker haben auf der ganzen Linie versagt!
Autor (Datum des Eintrages): Albatossa  (20.09.03 12:13:10)
Beitrag: 60 von 291 (ID:10792394)
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