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INTERVIEW ZUR US-JOBKRISE

"So schlimm wie nie seit der Depression"

Die Rezession in den USA ist seit zwei Jahren überwunden,
doch die Arbeitslosenquote will und will nicht fallen -
ein großes Problem für Präsident Bush.


SPIEGEL ONLINE sprach mit Mark Zandi, Chefvolkswirt von Economy.com,
über Job-Daten, Wahlkampf und die Abwanderung der Industrie nach Asien.

SPIEGEL ONLINE: Herr Zandi, seit einschließlich Februar sind in der US-Wirtschaft Monat für Monat mehr Arbeitsplätze vernichtet als geschaffen worden. Im September aber entstanden laut Daten vom Freitag wieder neue Jobs, immerhin 57.000. War das schon die Trendwende?

Mark Zandi: Es gibt Anlass für vorsichtigen Optimismus, die Lage wird zumindest nicht schlimmer. Einen nachhaltigen Aufschwung haben wir aber nicht. In einem gesunden Arbeitsmarkt würden pro Monat 100.000 bis 150.000 neue Stellen entstehen.

SPIEGEL ONLINE: Zumindest die Wall Street feiert die September-Zahlen, der Dow Jones stieg am Freitag um 85 Punkte. Dann ist dieser Jubel verfrüht?

Zandi: An den Finanzmärkten gab es die Sorge, dass wir erneut richtig, richtig schlechte Daten sehen würden. Nun atmen alle auf. Aber die Arbeitslosenquote ist noch immer sehr hoch, sie bleibt unverändert bei 6,1 Prozent.

SPIEGEL ONLINE: Verglichen mit deutschen Werten scheinbar nicht viel - aber als George W. Bush Präsident wurde, lag die US-Quote nur knapp über vier Prozent.

Zandi: Außerdem enthält der September-Bericht noch viele weitaus weniger erfreuliche Daten. Der Prozentsatz der Amerikaner, die arbeiten oder Arbeit suchen, ist erneut gefallen. Der Anteil der Teilzeit-Jobs ist erheblich gestiegen. Der durchschnittliche Stundenlohn ist gesunken.

SPIEGEL ONLINE: Und das alles, obwohl die Rezession offiziell seit November 2001 vorbei ist und das Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal womöglich um mehr als fünf Prozent wuchs. Hat es solch einen Boom ohne Jobs in der US-Geschichte schon mal gegeben?

Zandi: Die Lage ist so schlimm wie nie seit der Großen Depression. Prozentual gesehen war der Stellenverlust in den frühen achtziger Jahren zwar größer. Aber eine Arbeitsmarktkrise mit dieser Tiefe und Dauer haben wir seit den Dreißigern nicht gehabt.

SPIEGEL ONLINE: Den härtesten Einbruch hat die klassische Industrie erlebt, seit Mitte 2000 sind hier erstaunliche 16 Prozent aller Stellen weg gefallen. Kommen diese Jobs irgendwann zurück?

Zandi: Nein, sie sind für immer verloren. Die meisten werden nach China verlagert, in andere Gegenden Ostasiens und nach Mexiko. China und Indien profitieren nicht nur von ihren niedrigen Lohnkosten, sondern auch davon, dass ihre Währungen stark unterbewertet sind.

SPIEGEL ONLINE: Schadet dieser Export von Arbeitstellen noch anderen Sektoren außer der Industrie?

Zandi: Er erfasst zunehmend auch die Informationstechnologie und andere Branchen. Von den drei Millionen Arbeitsplätzen, die die US-Wirtschaft seit dem Gipfel des Tech-Booms eingebüßt hat, ist ungefähr eine Million ins Ausland gewandert. Die restlichen zwei Millionen sind wegen schwacher Nachfrage und sehr starker Steigerungen der Produktivität verloren gegangen.

SPIEGEL ONLINE: Werden die Arbeitslosenzahlen 2004, dem Jahr der Präsidentschaftswahlen, wieder besser aussehen?

Zandi: Der Markt wird sich vermutlich erholen, aber nur sehr langsam, selbst im bestmöglichen Szenario. Wahrscheinlich bleibt die Arbeitslosenquote im gesamten Jahr über sechs Prozent.

SPIEGEL ONLINE: Das klingt nach schlechten Nachrichten für den Präsidenten. Kann er irgendetwas tun, um das Job-Problem zu lindern?

Zandi: Er kann nichts mehr machen, das am Wahltag im November schon messbare Auswirkungen hätte. Das einzige, das helfen könnte, wäre dass die Chinesen eine Aufwertung des Yuan zulassen. Aber wahrscheinlich bleiben sie stur, obwohl die Bush-Regierung sie laut und hart kritisiert. Der Arbeitsmarkt wird Bush auf keinen Fall helfen. Die Frage ist nur: Wie sehr wird er ihm schaden?

SPIEGEL ONLINE: Bush sagt, die Arbeitslosigkeit wäre ohne seine gigantischem Steuersenkungen noch höher. Hat er Recht?

Zandi: Ja. Die Regierung hat eine riesige Menge Ressourcen in die Wirtschaft gepumpt, und auf kurze Sicht stützt das den Konsum. Das ist aber eher ein Nebenprodukt der Steuersenkungen. Sie sind nicht umgesetzt worden, um der Wirtschaft zu helfen, sondern aus ganz anderen Gründen. Auf lange Sicht richten sie großen Schaden an, indem sie das Defizit im Bundeshaushalt vergrößern.

SPIEGEL ONLINE: Die Job-Misere könnte den Demokraten helfen, Bush zu schlagen. Haben deren möglichen Kandidaten denn wirtschaftspolitisch sinnvolle Ideen?

Zandi: Ich stimme ihnen zu, wenn sie die Steuersenkungen zu einem späteren Zeitpunkt im Konjunkturzyklus zurückzudrehen wollen. Einige Kandidaten aber fordern neue Handelsbeschränkungen oder gar eine Neuverhandlung der Nafta-Freihandelsverträge mit Mexiko. Das wäre ein folgenschwerer Fehler.
SPIEGEL ONLINE: Können Volkswirtschaften wie Deutschland oder Frankreich Lehren aus der Job-Krise in Amerika ziehen?

Zandi: Unsere Wirtschaft hat zwar zu kämpfen, aber angesichts jüngster großer Schocks schlägt sie sich doch ganz gut, weil sie stark liberalisiert ist. Die Industrie-Jobs, die wir jetzt verlieren, wären langfristig ohnehin nicht zu retten. Man könnte den Übergang höchstens abmildern, indem man in Umschulung von Arbeitern investiert statt in Steuersenkungen. Die Deutschen und Franzosen würden gewinnen, wenn sie ihre Finanz- und Arbeitsmärkte ähnlich flexibel machten wie wir. Wenn man den Wandel bekämpft, verlängert das nur die Schmerzen.

Das Interview führte Matthias Streitz, New York
 
aus der Diskussion: The Market-Watch oder die Mär vom starken Bullen !
Autor (Datum des Eintrages): herr.motzki  (06.10.03 11:11:24)
Beitrag: 2,570 von 2,849 (ID:10934947)
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