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Große Blockbuster und kleine Kinojuwelen buhlen um die Gunst von Publikum, Kritik und bald auch Oscar-Jury. Die wichtigsten US-Kritiker haben ihre Favoriten des Jahres 2003 jetzt schon gefunden. Was ist dran an den auserkorenen Top-Filmen?

Alle Jahre wieder, kurz vor Weihnachten, beschert das American Film Institute den Kinofans die ultimativen Top Ten des Jahres. Dabei geben nicht Besucherzahlen den Ausschlag, regieren nicht vorgeplante Blockbuster und aufgeblähte Marketing-Maschinerien oder wie bei den Oscars Sympathien und fernsehwirksame Inszenierung - hier geht`s einfach nur um gute Filme.

Eine Rangfolge wird allerdings bewusst nicht erstellt: "Wir werten die Filme nicht untereinander, weil es uns nicht darum geht zu entscheiden, welches der beste oder der fünftbeste Film ist", sagt Jean Picker Firstenberg, der Vorsitzende des AFI. "Viel wichtiger ist uns, die Zusammenarbeit vor und hinter der Kamera zu würdigen, die bei allen Kandidaten gleichermaßen zu einem sehr sehenswerten Ergebnis geführt hat."

Land unter

Mit dem charmanten Tiefseespaß "Findet Nemo" hat es diesmal auch ein Animationsfilm in die AFI-Top 10 geschafft - kein Wunder, gilt doch der Oscar für den Besten animierten Spielfilm schon als sicher. Selbst für den wichtigsten Goldjungen, den für den Besten Film, werden dem Geniestreich aus dem Hause Pixar Chancen eingeräumt.

Ebenfalls ins kühle Nass hat sich Russell Crowe als "Master and Commander" mit seiner Crew der H.M.S. Surprise gewagt. Die abenteuerliche Jagd nach einer französischen Fregatte um die halbe Welt, meisterhaft inszeniert von Regie-Ass Peter Weir, fand ebenfalls die Gunst der Juroren. Dazu gilt Paul Bettany als Geheimtipp für den Oscar als bester Nebendarsteller. Er spielte schon in "A Beautiful Mind" Crowes imaginären Uni-Kumpel, in "Master and Commander" brilliert er als rebellischer Schiffsarzt mit Vorlieben für Selbstoperationen und Galapagos-Kaimane.

Der Rest ist Schweigen

In "Mystic River" hat das dunkle Blau der Fluten dagegen nur symbolische Funktion. Tod, Chaos, Gewalt, Schuld, Sühne, Rache - über all das breitet der Charles River in Boston seine Wellen des Vergessens. Exzellente Darsteller, allen voran Tim Robbins als lebenslanges Pädophilenopfer, aber auch Sean Penn, Kevin Bacon und Marcia Gay Harden brennen sich dem Kinobesucher unauslöschlich ins Gedächtnis. Und Hollywood-Ikone Clint Eastwood könnte das bedeutungsschwer inszenierte Drama nach "Erbarmungslos" den zweiten Oscar für die beste Regie einbringen.

Tränen in Mittelerde und Manhattan

Auf den darf sich aber auch Peter Jackson berechtigte Hoffnungen machen. "Die Rückkehr des Königs" beendet die "Herr der Ringe"-Trilogie wahrlich mit einem Paukenschlag. Dem AFI war`s eine Aufnahme in die Jahres-Top Ten wert und auch der Oscar-Zeremonie stünde eine abschließende Ehrung für die filmische Tour de Force des Neuseeländers bestens zu Gesicht.

Ein kleiner Film, der aber ebenso großes Kino bietet, ist Jim Sheridans halb-autobiografisches Melodram "In America". Die teilweise fast märchenhafte Geschichte einer irischen Familie, die kurz nach dem Tod des zweijährigen Sohnes nach Manhattan übersiedelt, rührte selbst hartgesottenste Kino-Profis zu Tränen. Sheridan schrieb das Drehbuch mit seinen beiden Töchtern und fand in dem völlig unbekannten Paddy Considine und Geheimtipp Samantha Morton, bekannt als Orakel von Tom Cruise in "Minority Report", zwei außergewöhnlich gefühlsstarke Hauptdarsteller.

Der Weg des Schwerts

Cruise selbst errang mit seinem Schwert-Epos "Last Samurai" (in Deutschland ab 8. Januar im Kino) die Gunst der Kritiker. Zwar zeigt Regisseur Edward Zwick viel des erwarteten Schlachtenpathos, doch der Film blickt auch erstaunlich tief in die japanische Kultur in einer Zeit des Umbruchs, schlägt überraschend deutliche Kritik am Werteimperialismus der USA an und erlaubt sich nachgerade philosophische Betrachtungen in den stillen Momenten vor der Kulisse japanischer Tempel. Passend dazu: Knisternde Erotik, wenn Tom Cruise von einer mandeläugigen Schönheit nicht aus-, sondern angezogen wird - eine Szene mit Klassikerpotenzial.

Makellos

Bei uns erst ab 18. Dezember zu sehen, aber in den USA bereits Kritikerliebling ist "Der menschliche Makel" mit Sir Anthony Hopkins und Nicole Kidman.

Erstaunlich nicht nur, wie ästhetisch Sex zwischen einem 66-Jährigen und einer 35-Jährigen sein kann, sondern wie weit eine einfach gute Story auch heute noch trägt. Oscar-Preisträger Robert Benton ("Kramer gegen Kramer") inszeniert konventionell aber gerade deswegen perfekt im Dienste des hochintelligenten Romans von Philip Roth.

Bleib nicht zum Frühstück!

Hauptdarsteller Hopkins spielt in "Der menschliche Makel" den ehemaligen Uni-Dekan Coleman Silk, der zeitlebens seine afroamerikanischen Wurzeln verleugnet: faszinierend in seiner Virtuosität des sich selbst und andere Belügens, verletzlich in seiner Schwäche und ungemein sympathisch in seiner Liebe zur gestrandeten Faunia Farley, seiner letzten Liebe. Die wird gewohnt facettenreich von Nicole Kidman - und hier passt der Ausdruck - verkörpert. Ihr zynischer Ausspruch "Männer bezahlen Frauen nicht für den Sex, sondern dafür, dass sie danach wieder gehen", dürfte den Weg ins Archiv der großen Filmzitate finden.


Abräumer

Frauenpower der anderen Art gibt es in den USA ab dem zweiten Weihnachtsfeiertag zu sehen. In "Monster" spielt Charlize Theron die Rolle der siebenfachen Mörderin Aileen Wuornos, die Ende 2002 in Florida hingerichtet wurde. 15 Kilo nahm Theron für die Rolle der wehrhaften Prostituierten zu, stieg mit Christina Ricci im Evasgewand in die Kissen und erspielte sich mit einer gewaltigen Method-Performance Vorschusslorbeeren ohne Ende: Sie gilt als DIE Favoritin für den Oscar für die beste weilbliche Hauptrolle. Wermutstropfen aus deutscher Sicht: Hierzulande hat sich noch kein Filmverleiher an das heiße Eisen gewagt.

Comic-Collage

So ergeht es auch dem schrägen Filmexperiment "American Splendor", das in einem irren Mix aus Drama, Animation und Doku die Lebensgeschichte des Comic-Autors Harvey Pekar erzählt. Der klassische Nerd und Anti-Held - Pekar ist Aktenschubser in einem Krankenhaus - erweist sich als findiger Kommentator der amerikanischen Gesellschaft. Die realen Menschen aus seinem Leben wechseln mit Schauspielern ab, ein Besuch bei David Letterman und animierte Szenen aus Pekars Comics fügen sich zu einem Cocktail zusammen, der ebenso abgefahren ist wie die Werke des Künstlers.

Gemeinsam einsam

Vom Geheimtipp in Venedig zum absoluten Lieblingsfilm der US-Kritiker hat sich schließlich Sofia Coppolas "Lost in Translation" (8.1.) gemausert, ihr zweiter Film nach "The Virgin Suicides". Wunderbar, wie Bill Murray als alternder Schauspieler den Abgesang auf sein eigenes Rollenklischee des Clowns aus "Ghostbusters" oder "Und täglich grüßt das Murmeltier" auf die Leinwand zaubert - und sich nebenbei als feinfühliger Melodramatiker neu erfindet. An seiner Seite die bezaubernde Scarlett Johansson, zusammen in der Ödnis einer japanischen Hotelbar ein unmögliches Traumpaar voller unausgesprochener Romantik. "Zum Weinen schön", konstatierten deutsche Journalisten einstimmig, "der beste Film des Jahres" stellte kürzlich eine Gruppe von Filmkritikern aus San Francisco fest und Kollegen aus Boston prophezeiten gar Oscars für Regisseurin, Hauptdarsteller und Hauptdarstellerin.


Trend-Barometer

Mit der Liste dieser zehn Filme hat das AFI ihrem Katalog der "Must sees" ein weiteres Kapitel hinzugefügt. "Wir versuchen mit dieser Ehrung über die Jahre eine Art Almanach zu erstellen", erklärte Firstenberg abschließend. "So kann später jeder Filmfreund sehen, was beispielsweise im Jahr 2003 als herausragendes Kino angesehen wurde."

Bleibt nur zu hoffen, dass auch wirklich alle Highlights den Weg in die deutschen Kinos finden.

Los Angeles, 18.12.2003



kino.de
 
aus der Diskussion: EMS 521280 - Nach Golden Globe jetzt Oscar?
Autor (Datum des Eintrages): HolgiNils  (28.01.04 14:21:29)
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