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Augenzeugenbericht aus Falludscha/Irak, 13.4.
von kh. (Übersetzung) - 15.04.2004 01:22

Bericht einer Mitarbeiterin von Occupation Watch von den Kriegsgreueln in Falludscha: ihr Krankenwagen wurde wiederholt gezielt beschossen, das städtische Hauptkrankenhaus durch Bomben zerstört, überall Scharfschützen, die auch auf unbewaffnete Zivilisten schießen. Viele Menschen sind in ihren Häusern eingeschlossen, Tote liegen auf den Straßen, die niemand zu bestatten wagt. Das Gemetzel geht wieder einmal unter Ausschluß der Weltöffentlichkeit und der Medien vor sich.


US-Scharfschützen in Falludscha schießen unbewaffneten Männern in den Rücken, schießen auf eine alte Frau mit einer weißen Fahne, auf Kinder, die aus ihren Häusern fliehen, schießen auf die Ambulanz, mit der wir fuhren, um eine Frau zu holen, die in Frühgeburtswehen lag.

von Jo Wilding, 13. April 2004
http://www.occupationwatch.org/article.php?id=4105

Lkws, Tankwagen, Panzer brennen auf der Fernstraße östlich von Falludscha. Eine Menge von Jungen und Männern läuft hin und zurück zu einem Lastwagen, der nicht verbrannt ist, und räumt ihn leer. Wir biegen in Nebenstraßen ab, über Abu Ghraib, Nuha und Ahrar,... vorbei an mit Menschen und ein paar Besitztümern vollbeladenen Fahrzeugen, die in umgekehrter Richtung fahren, vorbei an improvisierten Erfrischungsständen entlang der Straße, wo Jungen uns und den Leuten im Bus durch die Fenster Essen zuwerfen ....

Der Bus folgt einem Auto mit dem Neffen des örtlichen Scheichs und einem Führer, der Kontakte mit den Mujahedin hat und das mit ihnen klargemacht hat. Der Grund, warum ich in dem Bus sitze: ein Journalist, den ich kenne, stand etwa 11 Uhr nachts vor meiner Tür und sagte mir, daß die Lage in Falludscha verzweifelt sei, er hatte Kinder herausgebracht, deren Gliedmaßen weggeschossen worden waren; die US-Soldaten würden herumgehen und den Leuten sagen, sie sollten bis zum Einbruch der Dunkelheit aus der Stadt heraus oder sie würden getötet. Aber als die Menschen flohen, mit allem, was sie nur mit sich nehmen konnten, wurden sie am Kontrollpunkt des US-Militärs am Stadtrand angehalten und nicht hinausgelassen, sie waren in der Falle, sahen, wie die Sonne unterging.

Er sagte, Hilfsfahrzeuge und die Medien würden abgewiesen. Er meinte, etwas an ärztlicher Hilfe müsse hineingelangen, und mit Ausländern, Leuten aus dem Westen, hätte man eine bessere Chance, durch die amerikanischen Kontrollpunkte zu kommen. Der Rest der Strecke war von den bewaffneten Gruppen gesichert, die die Straßen kontrollieren, auf denen wir fahren würden. Wir würden die medizinischen Güter einladen, sehen, was wir sonst tun könnten, um zu helfen und dann den Bus dazu verwenden, Menschen herauszubringen, die die Stadt verlassen mußten.

Ich will euch den ganzen Entscheidungsprozeß ersparen, all die Fragen, die wir uns selbst und uns gegenseitig stellten, und ihr könnt mir die Vorwürfe ersparen, wie verrückt das alles war. Aber worauf alles hinauslief: Wenn ich es nicht tue, wer dann? Irgendwie sind wir heil angekommen.

Wir stapeln die Sachen im Korridor auf, die Pakete werden sofort aufgerissen, die Decken sind höchst willkommen. Es ist überhaupt kein Krankenhaus, sondern eine Klinik, die Privatpraxis eines Arztes, der Menschen kostenlos behandelt, seitdem Luftschläge das Hauptkrankenhaus der Stadt zerstört haben. Eine weitere ist in einer Autogarage improvisiert worden. Es gibt keine Schmerzbetäubung. Die Blutbeutel sind in einem Getränke-Kühlschrank; die Ärzte erwärmen sie unter einem Wasserhahn mit heißem Wasser in einer unhygienischen Toilette.

Frauen kommen schreiend herein, beten, schlagen sich auf die Brust, ins Gesicht. ‚Ummi, meine Mutter‘, schreit eine. Ich halte sie, bis Maki, ein Facharzt und der amtierende Leiter der Klinik, mich an ein Bett führt, in dem ein Kind von etwa zehn Jahren mit einer Schußverletzung am Kopf liegt. Im danebenstehenden Bett wird ein kleineres Kind wegen einer ähnlichen Verletzung behandelt. Ein US-Scharfschütze hat sie und ihre Großmutter getroffen, als sie ihr Haus verließen, um aus Falludscha zu fliehen.

Das Licht geht aus, der Ventilator bleibt stehen, und in der plötzlichen Stille hält jemand die Flamme eines Zigarettenanzünders hoch, damit der Arzt weiter operieren kann. Die Elektrizitätsversorgung der Stadt ist tagelang unterbrochen worden, und wenn der Generator kein Benzin mehr hat, müssen sie eben so klarkommen, bis der Strom wiederkommt. Dave reicht schnell seine Taschenlampe. Die Kinder werden nicht am Leben bleiben.

‚Kommen Sie‘, sagt Maki, und führt mich allein in einen Raum, in dem einer alte Frau gerade eine Schußwunde am Unterleib genäht worden ist. Eine andere wird am Bein verbunden, die Stelle im Bett unter ihrem Fuß ist blutdurchtränkt, ihre Hand umklammert noch immer eine weiße Flagge - wieder dieselbe Geschichte: ‚Ich war dabei, mein Haus zu verlassen, um nach Baghdad zu fahren, als ich von einem US-Scharfschützen getroffen wurde.‘ Ein Teil der Stadt ist von US Marines besetzt, andere Stadtteile von den örtlichen Kämpfern. Ihre Wohnungen [die der Verletzten; d. Ü.) befinden sich in der von US-Amerikanern kontrollierten Zone, und sie sind sich sicher, daß die Heckenschützen US Marines waren.

Die Heckenschützen verursachen nicht nur ein Gemetzel, sondern auch die Lähmung der Ambulanz- und Evakuierungsdienste. Nachdem das Hauptkrankenhaus der Stadt bombardiert wurde, befindet sich das größte nun auf US-besetztem Territorium und ist durch Scharfschützen von der Klinik abgeschnitten. Der Krankenwagen ist nach Schaden durch Beschuß viermal repariert worden. Leichen liegen in den Straßen, weil niemand hingehen kann, um sie wegzubringen, ohne erschossen zu werden.

Manche sagen, wir seien verrückt, nach Irak zu kommen. Ziemlich viele sagten, wir seien total wahnsinnig, nach Falludscha zu kommen, und jetzt gibt es Leute, die zu mir sagen, in den Rücksitz des Kleintransporters (Pickup) zu steigen um an den Scharfschützen vorbeizufahren und Kranke und Verletzte zu holen, sei das Verrückteste, was sie jemals gesehen hätten. Aber ich weiß, daß niemand es tun wird, wenn nicht wir.

Er hält eine weiße Fahne mit einem roten Halbmond darauf; ich kenne seinen Namen nicht. Die Männer, die wir passieren, winken uns durch, wenn der Fahrer erklärt, wo wir hinfahren. Die Stille ist grausam im Niemandsland zwischen dem Pick-up am Rande des Mujaheddin-Territoriums, der gerade um die letzte Ecke aus unserem Blickfeld verschwunden ist. Die Linie der Marines ist jenseits der nächsten Mauer; keine Vögel, keine Musik, kein Anzeichen, daß hier noch irgendjemand lebt, bis sich gegenüber ein Tor öffnet und eine Frau herauskommt, auf etwas deutet.

Wir bewegen uns weiter zu dem Loch in der Mauer, wo wir das Auto sehen können, um welches verbrauchte Mörsergranaten herumliegen. Die Füße sind zu sehen, über Kreuz, im Rinnstein. Ich glaube, er ist schon tot. Auch die Scharfschützen sind zu sehen, zwei von ihnen, an der Ecke des Gebäudes. Da ich annehme, daß sie uns nicht sehen können, müssen wir sie darauf aufmerksam machen, daß wir hier sind.

„Hallo“, brülle ich aus vollen Kräften. „Können Sie mich hören?“ Sie müssen. Sie sind etwa 30 Meter von uns entfernt, vielleicht weniger, aber es ist so still, daß man auf fünfzig Schritt die Fliegen summen hören könnte. Ich wiederhole das ein paarmal - immer noch keine Antwort, also beschließe ich, mich etwas näher zu erklären.

„Wir sind ein medizinisches Team. Wir wollen diesen verletzten Mann wegbringen. Ist es ok für uns, herauszukommen und ihn aufzunehmen? Können Sie uns ein Signal geben, daß es ok ist?“

Ich bin sicher, daß sie mich hören können, aber sie antworten noch immer nicht. Vielleicht haben sie nicht alles verstanden, also sage ich dasselbe noch einmal. Dave schreit ebenfalls, in seinem US-Akzent. Ich schreie noch einmal. Schließlich glaube ich, einen Zurückruf zu hören. Nicht sicher, rufe ich noch einmal.

„Hallo.“ - „Ja.“
Dürfen wir aussteigen und ihn holen?“ - „Ja.“

Langsam, mit erhobenen Händen, steigen wir aus. Die schwarze Wolke, die zu unserer Begrüßung aufsteigt, birgt einen scharfen, sauren Geruch. Seine erstarrten Beine sind schwer. Ich überlasse sie Rana und Dave, während unser Führer seine Hüfte anhebt. Die Kalashnikow ist durch geronnenes Blut an seinem Haar und seiner Hand festgeklebt. Wir wollen sie nicht bei uns haben, deshalb setze ich meinen Fuß darauf, während ich seine Schulter hochhebe, sein Blut rinnt durch das Loch in seinem Rücken. Wir heben ihn so gut wir können in den Pick-up und versuchen, schneller zu sein als die Fliegen.

Ich nehme an, er hat Sandalen getragen, weil er jetzt barfuß ist, nicht älter als 20 Jahre, in Hosen von Nike-Imitation und ein blau-schwarz-gestreiftes Fußballhemd mit einer großen ‚28‘ auf dem Rücken. Als die Krankenträger von der Klinik den jungen Kämpfer aus dem Pick-up ziehen, strömt gelbe Flüssigkeit aus seinem Mund und sie drehen ihn um, das Gesicht nach oben, sie bahnen sich den Weg in die Klinik vor ihnen, direkt hinauf auf die Rampe in den behelfsmäßigen Leichenraum.

Wir waschen uns das Blut von den Händen ab und steigen in den Krankenwagen. Menschen sind in dem anderen Krankenhaus gestrandet, die nach Baghdad fahren müssen. Mit heulender Sirene und Blinklicht, kauern wir uns auf den Boden des Krankenwagens, Pässe und Ausweise werden aus dem Fenster gehalten. Wir packen ihn mit Menschen voll, einen mit verbundenem Oberkörper und einem Tropf, einen anderen auf einer Trage, mit heftig zuckenden Beinen, so daß ich sie niederhalten muß, während wir ihn hinausrollen und über Stufen heben.

Das Krankenhaus ist eher imstande sie zu behandeln als die Klinik, aber es fehlt an allem, um sie ordentlich zu versorgen und unser Bus ist die einzige Möglichkeit, sie nach Baghdad zu bringen. Das bedeutet, daß sie in die Klinik müssen. Wir haben uns auf dem Boden des Krankenwagens zusammengedrängt, für den Fall, daß auf ihn geschossen wird. Nisareen, eine Ärztin ungefähr in meinem Alter, kann ein paar Tränen nicht zurückhalten, nachdem wir durch sind.

Der Arzt stürzt heraus, um mit mir zu sprechen. „Können Sie eine Frau holen, sie ist schwanger und sie wird sehr bald ein Baby zur Welt bringen?“

Azzam fährt, Ahmed in der Mitte weist ihm den Weg, ich am Fenster, die sichtbare Ausländerin, der Paß. Etwas saust über meinen Kopf hinweg, gleichzeitig das Krachen einer Kugel, die den Krankenwagen durchschlägt, irgendein losgelöstes Plastikteil fliegt durch das Fenster.

Wir halten an, stellen die Sirene ab, lassen das Blaulicht blinken, warten, die Augen auf die Silhouetten von Männern in Uniformen der US-Marine an den Ecken der Gebäude gerichtet. Einige Schüsse kommen. Wir ducken uns, halten uns so niedrig wie möglich, und ich kann winzige rote Lichter am Fenster, an meinem Kopf, vorübersausen sehen. Einige, es ist schwer zu beschreiben, treffen den Krankenwagen. Ich fange an zu singen. Was sonst kannst du machen, wenn jemand auf dich schießt? Ein Reifen platzt mit ungeheurem Knall und einem plötzlichen Ruck des Fahrzeugs.

Ich bin außer mir. Wir versuchen, zu einer Frau zu gelangen, die ohne medizinische Behandlung ein Kind zur Welt bringt, ohne Strom, in einer Stadt unter Belagerung, in einem klar gekennzeichneten Krankenwagen, und ihr schießt auf uns. Wie könnt ihr es wagen?

Wie könnt ihr es wagen?

Azzam packt die Gangschaltung und bringt den Krankenwagen in den Rückwärtsgang, ein weiterer Reifen platzt, als wir über den Wulst auf der Straßenmitte fahren. Die Schüsse kommen immer noch, während wir um die Ecke flüchten. Ich singe weiter. Die Räder scharren, geplatzter Gummi brennt auf der Straße.

Die Männer laufen nach einer Tragbahre, als wir ankommen, aber ich schüttle mit dem Kopf. Sie entdecken die neuen Einschußlöcher und laufen herbei, um zu sehen, ob wir ok sind. Gibt es irgendeinen anderen Weg, zu ihr zu kommen, will ich wissen. La, maaku tarieq. Es gibt keinen anderen Weg. Sie sagen, wir hätten das einzig Richtige getan. Sie sagen, sie hätten den Krankenwagen schon viermal repariert und sie würden ihn wieder reparieren, aber der Kühler ist hin und die Räder sind verzogen. Und sie ist immer noch zu Hause in der Dunkelheit und ist bei der Geburt allein. Ich lasse sie im Stich.

Wir können nicht wieder ausfahren. Zum einen gibt es keinen Krankenwagen und außerdem ist es jetzt dunkel und das bedeutet, daß unsere ausländischen Gesichter den Leuten, die mit uns fahren, oder denen, die wir holen, keinen Schutz bieten können. Maki ist der amtierende Leiter der Einrichtung. Er sagt, er habe Saddam gehaßt, aber jetzt hasse er die Amerikaner mehr.

Wir ziehen die blauen Kleider aus, als der Himmel irgendwo jenseits des gegenüberliegenden Gebäudes explodiert. Minuten später kommt ein Auto zur Klinik gebraust. Ich kann ihn schreien hören, bevor ich sehen kann, daß keine Haut mehr an seinem Körper ist. Er ist von Kopf bis Fuß verbrannt. Mit Sicherheit können sie da nichts mehr machen. Er wird binnen weniger Tage an Dehydration sterben.

Ein weiterer Mann wird aus dem Auto gezogen und auf eine Trage gelegt. ‚Streubomben‘, sagen sie, aber es ist nicht klar, ob sie nur den einen oder alle beide meinen. Wir machen uns auf den Weg zu Mr. Yassers Haus, wobei wir an jeder Straßenecke warten, bis jemand die Straße überprüft hat, bevor wir sie überqueren. Ein Feuerball fällt aus einem Flugzeug, zersplittert in kleinere grell-weiße Lichtbälle. Ich denke, daß das Streubomben sind, denn Streubomben habe ich zuvorderst in meinem Kopf, aber sie verschwinden, es sind bloß Magnesium-Leuchtkugeln, unglaublich grell, aber kurzlebig, die wohl von oben eine Blitzlichtaufnahme der Stadt erzeugen.

Yasser bittet uns alle, sich vorzustellen. Ich sage ihm, daß ich in der Ausbildung als Rechtsanwältin bin. Einer der anderen Männer fragt, ob ich mich im Völkerrecht auskennen würde. Sie wollen etwas über die Bestimmungen über Kriegsverbrechen wissen und was ein Kriegsverbrechen ist. Ich sage ihnen etwas über die Genfer Konvention, daß ich einige Information mitbringen würde, wenn ich das nächste Mal komme und wir jemand kriegen, der es auf arabisch erklären kann.

Wir bringen die Sache mit Nayoko [eine der bedrohten japanischen Geiseln; d. Ü.] zur Sprache. Diese Gruppe von Kämpfern hier hat nichts mit denen zu tun, die die japanischen Geiseln gefangenhalten, aber während sie sich bei uns dafür bedanken, was wir an diesem Abend gemacht haben, sprechen wir darüber, was Nayoko für die Straßenkinder getan hat, wie sehr sie sie geliebt hätten. Sie können nichts versprechen, nur daß sie versuchen würden herauszufinden, wo sie ist und die Gruppe zu überzeugen versuchen, sie und die anderen laufen zu lassen. Ich glaube aber nicht, daß das irgendetwas bringt. Sie sind voll damit beschäftigt, in Falludscha Krieg zu führen. Sie haben keine Verbindung zu der anderen Gruppe. Aber es kann nicht schaden, es zu versuchen.

Wir fahren wieder, Dave, Rana und ich, diesmal in einem Kleintransporter (Pick-up). Es gibt einige Kranke in der Nähe der Stellung der Marines, die evakuiert werden müsssen. Niemand wagt, aus seinem Haus zu treten, weil die Marines auf den Gebäudedächern sind und auf alles schießen, was sich bewegt. Saad nimmt eine weiße Fahne und sagt uns, wir sollten uns keine Sorgen machen, er habe die Straße überprüft und gesichert, kein Mujaheddin würde auf uns feuern, Friede sei mit uns – dieses elfjährige Kind, sein Gesicht ist außer seinen hellbraunen Augen mit einer Keffiyeh bedeckt, seine AK47 fast so groß, wie er selbst.

Wir rufen wieder die Soldaten an, halten die Flagge mit dem daraufgesprühten roten Halbmond hoch. Zwei kommen vom Gebäude herunter, decken diese Seite und Rana murmelt: „Allahu akbar.“ Bitte, daß niemand auf sie schießt.“

Die Flugzeuge sind die ganze Nacht über uns, so daß ich im Halbschlaf vergesse, daß ich woanders bin, als auf einem Langstreckenflug: der konstante Baßton einer unbemannten Aufklärungsdrohne, überlagert vom hektischen Rasen von Düsenjägern und dem dumpfen Takt von Hubschraubern, unterbrochen von Explosionen.

Am Morgen mache ich Hunde-, Giraffen- und Elefanten-Ballons für den Kleinen, Abdullah Aboudi, der sichtlich niedergedrückt von dem Lärm der Flugzeuge und den Explosionen ist. Ich mache Seifenblasen, die er mit seinen Augen verfolgt. Endlich, endlich erhasche ich ein Lächeln. Die Zwillinge, dreizehn Jahre alt, lachen auch, einer von ihnen ist Fahrer eines Krankenwagens. Beide sagen, sie könnten gut mit einer Kalashnikow umgehen.

Die Ärzte sehen an diesem Morgen abgespannt aus. Keine(r) von ihnen hat eine Woche lang mehr als ein paar Stunden geschlafen. Einer hat in den letzten sieben Tagen nur acht Stunden Schlaf gehabt und hat nicht am Begräbnis seines Bruders und seiner Tante teilnehmen können, weil er im Hospital gebraucht wurde.
„Den Toten können wir nicht helfen“, sagte Jassim. „Ich muß mich um die Verletzten kümmern.“

Wir springen herunter und sagen ihnen, wir müßten einige Kranke aus den Häusern holen, und sie wollen, daß Rana geht und die Familien aus dem Haus herausholt, auf deren Dach sie postiert sind. Dreizehn Frauen und Kinder sind noch drin, in einem Raum, ohne Nahrung und Wasser in den letzten 24 Stunden.

„Wir werden gleich durchgehen und die Häuser säubern,“ sagt der Ältere.
„Was bedeutet das, die Häuser säubern?“
„In jedes Haus hineingehen und nach Waffen suchen.“ Er sieht nach seiner Uhr, kann mir natürlich nicht sagen, was wann beginnen wird, aber es werde Luftschläge zur Unterstützung geben. „Wenn Sie das tun wollen, müssen Sie es gleich tun.“

Zuerst gehen wir die Straße entlang, zu der wir geschickt wurden. Da liegt ein Mann mit dem Gesicht nach unten, in einer weißen Dishdasha, mit einem kleinen roten Fleck auf seinem Rücken. Wir laufen zu ihm. Wieder waren die Fliegen früher da. Dave ist bei seinen Schultern, ich bei seinen Knien, und als wir anfassen, um ihn auf die Trage zu rollen, fährt Daves Hand durch seine Brust, durch die Höhlung, die von der Kugel zurückgelassen wurde, die so glatt seinen Rücken durchschlug und sein Herz mit fortriß.

In seiner Hand ist keine Waffe. Erst als wir ankommen, kommen seine Söhne heraus, weinend, schreiend. Er war unbewaffnet, schreien sie. Er war unbewaffnet. Er ist nur zum Tor hinausgegangen und sie haben ihn erschossen. Niemand hat mehr gewagt, hinzugehen und seine Leiche zu holen, entsetzt, verängstigt, gezwungen, die Tradition zu verletzen, eine Leiche sofort zu versorgen. Sie konnten nicht wissen, daß wir kommen würden, es ist also unvorstellbar, daß jemand herausgekommen wäre und eine etwaige Waffe an sich genommen, die Leiche jedoch liegengelassen hätte.

Er war unbewaffnet, 55 Jahre alt, in den Rücken geschossen.

Wir bedecken sein Gesicht, tragen ihn zum Kleintransporter. Es gibt nichts, mit dem man seinen Körper bedecken kann. Die kranke Frau wird aus dem Haus geleitet, die kleinen Mädchen um sie herum drücken Stoffbeutel an sich, flüstern: „Baba, Baba“ – Vater. Zitternd lassen sie uns vorangehen, mit emporgehobenen Händen, um die Ecke herum, dann führen wir sie zum Führersitz des Pickup, ihre Köpfe abschirmend, so daß sie ihn nicht sehen können, den dicken Mann, der mit steifem Rücken daliegt.

Die Menschen scheinen jetzt aus den Häusern zu strömen, in der Hoffnung, daß wir sie sicher aus der Feuerlinie eskortieren können, Kinder, Frauen, auch Männer, die uns besorgt fragen, ob sie alle gehen könnten, oder nur die Frauen und Kinder. Wir gehen hin, um zu fragen. Der junge Soldat der Marines sagt uns, daß Männer im Kampfesalter nicht weg dürfen. Was ist Kampfesalter, will ich wissen. Er denkt nach. Alles unter 45. Nicht darunter.

Es erschreckt mich, daß alle diese Männer in einer Stadt in der Falle sitzen werden, die dabei ist, zerstört zu werden. Nicht alle von ihnen sind Kämpfer, nicht alle sind bewaffnet. Es wird abseits der Weltöffentlichkeit vor sich gehen, abseits der Medien, weil die meisten Medien in Falludscha bei den Marines „eingebettet“ sind oder in den Außenbezirken abgewiesen werden. Bevor wir die Nachricht weitergeben können, zerstreuen zwei Explosionen die Menge in der Seitenstraße, treiben sie zurück in ihre Häuser.

Rana evakuiert zusammen mit den Marines die Familie aus dem Haus, das sie besetzt halten. Der Kleintransporter ist noch nicht zurück. Die Familien verstecken sich hinter ihren Mauern. Wir warten, weil wir sonst nichts tun können. Wir warten im Niemandsland. Die Marines zumindest beobachten uns durch Ferngläser; vielleicht tun das auch die lokalen Kämpfer.

Ich habe ein ... Taschentuch in der Tasche, so lasse ich, während ich dasitze wie bestellt und nicht abgeholt [like a lemon] und nirgendwo hingehen kann, Geschützfeuer und Explosionen ringsherum in Hülle und Fülle, so lasse ich das Taschentuch verschwinden, hole es wieder hervor, lasse es wieder verschwinden. Es ist immer besser, denke ich, vollkommen harmlos und unbeteiligt zu erscheinen, dann wird niemand sich allzuviel Mühe machen, auf dich zu schießen. Wir können jedoch nicht zu lange warten. Rana ist schon eine Ewigkeit weg. Wir müssen fahren und sie dazu bewegen, daß sie sich beeilt. Zu der Gruppe gehört ein junger Mann. Sie hat sie dazu überredet, ihn auch mitfahren zu lassen.

Ein Mann will seinen Polizeiwagen benutzen, um einige Leute zu transportieren, ein paar Ältere, die nicht so weit gehen können, und die kleinsten Kinder. ... Wer weiß, ob es wirklich ein Polizeiwagen, oder das Auto angeeignet und dort nur abgestellt war? Es spielte keine Rolle, wenn damit mehr Leute schneller herausgeholt werden konnten. Sie schleichen aus ihren Häusern, drücken sich an die Mauer, folgen uns ins Freie mit erhobenen Händen und gehen die Straße hoch, umklammern Babys und Taschen, klammern sich aneinander.

Der Kleintransporter kommt zurück und wir laden soviele hinein wie wir nur können, als ein Krankenwagen von irgendwoher ankommt. Ein junger Mann winkt aus einem Torweg oder dem, was von einem Haus übriggeblieben ist, mit bloßem Oberkörper, einen blutgetränkten Verband um seinen Arm gewickelt. Möglicherweise ein Kämpfer, aber das tut nichts zur Sache, sobald jemand verwundet und unbewaffnet ist. Die Toten zu holen ist nicht so wichtig. Wie der Arzt sagte: die Toten brauchen keine Hilfe, aber wenn es einigermaßen leicht ist, dann tun wir es. Da wir schon mit den Soldaten klar sind und der Krankenwagen hier steht, fahren wir hinunter, um sie m einzuladen. Im Islam ist es wichtig, eine Leiche sofort zu bestatten.

Der Krankenwagen folgt uns. Die Soldaten beginnen, uns auf englisch zuzurufen, daß wir anhalten sollen, legen die Gewehre an. Er fährt schnell. Wir brüllen alle, signalisieren ihm, er soll anhalten, aber es scheint eine Ewigkeit, bis der Fahrer uns sieht und hört. Er stoppt. Er stoppt, bevor sie das Feuer eröffnen. Wir zerren sie auf die Tragbahren und rennen, schieben sie hinten in den Wagen hinein. Rana quetscht sich zusammen mit dem verwundeten Mann und Dave auf den Vordersitz und ich hocke mich hinten neben die Leichen nieder. Er [wohl Dave] sagt, er hätte als Kind Allergien gehabt und nicht mehr viel Geruchssinn. Ich wünschte im nachhinein, ich hätte als Kind auch Allergien gehabt, und stecke meinen Kopf aus dem Fenster.

Der Bus wird abfahren und die Verletzten zurück nach Baghdad nehmen, den Mann mit den Verbrennungen, eine der Frauen, der ein Scharfschütze in den Kiefer und in die Schulter geschossen hat, und mehrere andere. Rana sagt, sie würde bleiben, um zu helfen. Dave und ich zögern nicht: Wir bleiben auch. „Wenn ich es nicht mache, wer sonst?“ ist beiläufig zu einem Motto geworden, und mir ist nach dem letzten Streifzug deutlich bewußt, wieviele Menschen, wieviele Frauen und Kinder, immer noch in ihren Häusern sind, entweder weil sie keinen Ort haben, wohin sie gehen können, weil sie sich fürchten, vor die Tür zu gehen, oder weil sie es vorgezogen haben zu bleiben.

Am Anfang wird das akzeptiert, dann sagt Azzam, wir müßten fahren. Er hat nicht zu jeder bewaffneten Gruppe Kontakte, nur mit ein paar. Mit jeder gibt es verschiedene Probleme, die zu lösen sind. Wir müssen diese Leute zurück nach Baghdad bringen so schnell wir können. Wenn wir gekidnappt oder getötet werden, wird das noch mehr Probleme verursachen, also ist es besser, wir steigen in den Bus und fahren ab und kehren so bald wie möglich mit ihm zurück.

Es tut weh, in den Bus zu steigen, wenn der Arzt uns gerade gebeten hat, loszufahren und weitere Leute zu evakuieren. Ich hasse die Tatsache, daß ein qualifizierter Mediziner nicht fahren darf, aber dafür ich, nur weil ich aussehe wie die Schwester des Heckenschützen oder eines seiner Kameraden, aber so ist es eben heute und so war es gestern, und ich fühle mich wegen der Abreise wie eine Verräterin, aber ich sehe keine andere Wahl. Jetzt ist Krieg und wie sehr es mir auch zuwider ist, zu tun, was mir gesagt wurde, diesmal muß ich es.

Jassim ist verängstigt. Er redet ständig auf Mohammed ein, versucht, ihn vom Fahrersitz zu ziehen, während wir aufbrechen. Die Frau mit der Schußwunde ist auf dem Rücksitz, der Mann mit den Verbrennungen ist vor ihr, ihm wird mit einem Stück Pappe von den leeren Schachteln Luft zugefächelt, seine intravenösen Infusionsleitungen schaukeln von der Schiene entlang der Decke des Busses herab. Es ist heiß. Es muß für ihn unerträglich sein.

Saad kommt zum Bus und wünscht uns alles Gute für die Reise. Er schüttelt Dave und mir die Hand. Ich halte die seine in meinen beiden und sage zu ihm: „Dir balak“ – sei vorsichtig. Nichts Dümmeres hätte ich sagen können, zu einem beginnenden Teenager mit einer AK47, die er in der anderen Hand hält. Unsere Augen begegnen sich und bleiben haften, die seinen voll Feuer und Angst.

Kann ich ihn nicht mit fortnehmen? Kann ich ihn nicht irgendwo hinbringen, wo er ein Kind sein darf? Kann ich ihm nicht einen Giraffen-Luftballon machen, ihm ein paar Zeichenstifte geben und ihm sagen, er soll nicht vergessen, sich die Zähne zu putzen? Kann ich nicht die Person auftreiben, die diesem kleinen Jungen das Gewehr in die Hände gedrückt hat? Kann ich nicht jemandem erzählen, was das aus einem Kind macht? Muß ich ihn wirklich hier zurücklassen, wo überall bewaffnete Männer um ihn herum sind und wo viele von ihnen nicht auf seiner Seite stehen, soviele Seiten es in all dem [Schlamassel] gibt? Aber natürlich muß ich. Ich muß ihn zurücklassen, wie die Kindersoldaten überall.

Die Rückfahrt ist spannungsgeladen, der Bus bleibt fast in einer Vertiefung im Sand stecken, Menschen, die in irgendwelchen Gefährten flüchten, sogar noch auf einem Traktor-Anhänger dichtgedrängt, Schlangen von Autos, Kleinlastern und Bussen, die Menschen in den zweifelhaften Zufluchtsort Baghdad karren, Männer in Fahrzeugen, die Schlangen bilden, um in die Stadt zurückzukehren, nachdem sie ihre Familien in Sicherheit gebracht haben, entweder um zu kämpfen oder um weitere Menschen zu evakuieren. Yassim, der Fahrer, der Vater, ignoriert Azzam und schlägt eine abweichende Route ein, so daß wir plötzlich nicht mehr dem führenden Auto folgen und auf einer Straße sind, die von einer anderen bewaffneten Gruppe kontrolliert wird, nicht von der, die uns kennt.

Eine Ansammlung von Männern winkt mit Gewehren, um den Bus zu stoppen. Irgendwie scheinen sie zu glauben, daß amerikanische Soldaten im Bus sind, als ob die nicht in Panzern oder Hubschraubern säßen. Männer steigen aus ihren Autos, mit Rufen: „Sahafa Amriki“ – amerikanische Journalisten. Die Passagiere rufen aus dem Fenster: „Ana min Falludscha“ – Ich bin aus Falludscha. Bewaffnete rennen zum Bus und sehen, daß es wahr ist, daß Kranke, Verletzte und Alte, Irakis, drin sind, werden dann lockerer und winken uns weiter.

Wir machen in Abu Ghraib halt und tauschen die Sitze, Ausländer vorn, die Iraker weniger auffällig mit abgenommenen Kopftüchern, so daß wir westlicher aussehen. Die amerikanischen Soldaten sind so glücklich, Westler zu sehen, daß sie nicht zu viel Aufhebens wegen der Iraker machen, sie durchsuchen die Männer und den Bus, nicht aber die Frauen, weil keine weiblichen Soldaten da sind, um uns zu durchsuchen. Mohammed fragt mich immer, ob alles in Ordnung gehen wird.
„Al-melaach wiyana“, sage ich zu ihm – die Engel sind mit uns. Er lacht.

Und dann sind wir in Baghdad, liefern sie in die Krankenhäuser ein, Nuha in Tränen, als sie den Mann mit den Verbrennungen stöhnend und wimmernd herausheben. Sie legt ihre Arme um mich und bittet mich, ihre Freundin zu sein. Ich gebe ihr das Gefühl, weniger isoliert zu sein, weniger allein.

Und die Satellitennachrichten sagen, der Waffenstillstand halte und George Bush sagt am Ostersonntag zu den Truppen: „Ich weiß, daß das, was ihr im Irak tut, richtig ist.“ Unbewaffnete Männer vor dem Haus ihrer Familie in den Rücken zu schießen ist also richtig. Großmütter mit weißen Flaggen zu erschießen ist richtig? Frauen und Kinder zu beschießen, die aus ihren Wohnhäusern flüchten, ist richtig? Auf Krankenwagen zu feuern ist richtig?

Gut, George, auch ich weiß jetzt. Ich weiß, wie es aussieht, wenn Sie Menschen so brutal behandeln, daß sie nichts mehr zu verlieren haben. Ich weiß, wie es aussieht, wenn eine Operation ohne Narkose gemacht wird, weil die Krankenhäuser zerstört werden oder von Scharfschützen unter Feuer genommen werden und die Stadt belagert wird und keine richtige Hilfe hineingelangt. Ich weiß auch, wie sich das anhört. Ich weiß, wie es aussieht, wenn Leuchtspurgeschosse an deinem Kopf vorbeisausen, obwohl du in einem Krankenwagen sitzt. Ich weiß, wie es aussieht, wenn der Brustkorb eines Mannes kein Inneres mehr hat und wie das riecht, und weiß, wie das ist, wenn dann seine Frau und seine Kinder aus ihrem Haus herauskommen.

Es ist ein Verbrechen, und es ist eine Schande für uns alle.

http://de.indymedia.org/2004/04/80194.shtml

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aus der Diskussion: US-Scharfschützen in Falludscha schießen unbewaffneten Männern in den Rücken
Autor (Datum des Eintrages): DmComeBack  (16.04.04 09:40:35)
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