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Schöner spekulieren mit dem Voodoo-Indikator

Von Thomas Hillenbrand, New York



Viele Marktstrategen sind derzeit ratlos, wie sich die US-Börsen in den kommenden Wochen entwickeln werden. Herkömmliche Wirtschaftsindikatoren geben keine Antwort - darum ist es an der Zeit für alternative Prognosemethoden wie den Prä-Harmonischen Leibniz-Oszillator.



New York - Superbilliges Geld war gestern: Am 30. Juni wird die US-Notenbank aller Voraussicht nach die Leitzinsen um 0,5 Prozentpunkte anheben und damit Kredite aller Art deutlich teurer machen. Üble Sache, sagen einige Kommentatoren. Wenn Chefbanker Alan Greenspan der Wirtschaft die "Punschbowle mit dem Ecstasy" ("Wall Street Journal") wegnehme, brächen die Aktienmärkte zusammen. Unsinn, sagen andere: Die Märkte seien auf höhere Zinsen vorbereitet und die US-Wirtschaft entwickle sich so fabelhaft, dass die Börse noch locker um 10 bis 15 Prozent steigen könne.

Ja, was denn nun? Dass zehn Börsenkommentatoren mindestens zwanzig verschiedene Meinungen haben, ist nichts Neues, aber auch vermeintlich objektive Finanzindikatoren sagen dem verzweifelten Anleger derzeit nicht, wo es langgeht. Alles eine Frage der Interpretation: Der Dow Jones Industrials Index weist zurzeit ein Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 24 auf. Barton Biggs von Morgan Stanley folgert daraus, der Markt sei "überverkauft", sprich billig. Fred Hickey vom "High Tech Strategist" kommt auf Grund der gleichen Zahlen zum gegenteiligen Ergebnis. Der Dow habe in den vergangenen 14 Monaten satte 2700 Punkte zugelegt, jetzt gebe es keine Luft mehr nach oben. Bei anderen Kennzahlen wie Jobwachstum oder Inflation gehen die Meinungen ähnlich auseinander.



Kaffeesatz-Gewinn-Verhältnis

In Phasen großer Unsicherheit suchen Investoren seit jeher verzweifelt jemanden, der ihnen den Weg weist. Jeder, der von sich behauptet, etwas zu wissen, hat derzeit gute Chancen auf einen großen Auftritt. Auf Börsensendern wie CNBC oder in Finanzpublikationen wie "Barron`s" werden wieder einmal die Voodoo-Künstler der Branche befragt. Zum Beispiel Henry Weingarten vom Astrologer`s Fund, der befürchtet, dass der Markt im Laufe des Monats Juni über den Deister gehen wird. Der Mann hat gewichtige Argumente: Der seit jeher an der Börse viel beachtete Stand von Pluto und Mars muss jedem Investor Sorgen bereiten. Noch bedenklicher ist der Transit der Venus. Der fand zuletzt in der ersten Jahreshälfte 1882 statt - darauf folgte eine zweijährige Talfahrt der Börse.

Mangels verlässlicher Informationen werden zudem verstärkt halbseidene Indikatoren aus dem Feld der so genannten technischen Analyse bemüht, etwa Bollinger-Bänder oder MACD-Indizes. Deren Aussagekraft geht zwar gegen null, aber sie können trotzdem ein nützliches Werkzeug sein. Denn wer ein paar technische Indikatoren kennt, kann mit ihnen neunmalkluge Mitinvestoren zur Verzweiflung treiben. Das geht ganz einfach und macht einen Heidenspaß. Ein Beispiel:

Investor A: "Vor zwei Wochen habe ich Nokia zu elf Euro gekauft. Ein todsicheres Ding. Ich will mich ja nicht selbst loben, aber ich hab`s einfach drauf."

Investor B: "So so. Ich hätte da meine Zweifel."

Investor A (irritiert): Aber der Kurs ist auf einem Zwölfmonatstief. Das KGV liegt unter dem Branchendurchschnitt. Die Wachstumsaussichten für den Handysektor sind exzellent und ..."

Investor B: "... ja, stimmt alles. Aber die Fourrier-Transformation sieht dramatisch aus. Von den Gann-Winkeln will ich gar nicht erst anfangen."

Investor A (stammelt): "Habe ich noch nie von gehört."

Investor B: "Wie bitte? Du hast die Gann-Winkel vorher nicht überprüft? Na, in deiner Haut möchte ich wahrlich nicht stecken."


Jeder ist ein Experte

Die Möglichkeiten sind schier unbegrenzt. Je arkaner der technische Indikator, umso besser. Es steht Ihnen frei, sich Ihre eigenen Maßzahlen auszudenken - schließlich geht es um Börsenprognosen, da ist jede noch so wahnwitzige Methode zulässig. Falls Ihnen dies zu mühsam ist, anbei einige Vorschläge. Einen der aufgeführten Indikatoren gibt es übrigens nicht (versuchen Sie herauszufinden, welchen):


• Gann-Winkel: W. D. Gann (1878-1955) war der festen Überzeugung, dass geometrische Muster in einem Kurs-Chart im Zusammenhang mit bestimmten spitzen Winkeln geeignet seien, zukünftige Kurse vorherzusagen. Gann identifizierte neun verschiedene Winkel (niemand weiß genau wie), mithilfe derer man Prognosen anstellen kann. Alternativ kann man zur Aktienauswahl auch Darts auf einen Kursteil werfen.


• Fibonacci-Retracements: Der italienische Mathematiker Fibonacci (dreizehntes Jahrhundert) fand eine Zahlenfolge, die als Fibonacci-Sequenz bekannt ist. Jede Zahl der Reihen ist etwa 1,618 mal so groß wie die ihr vorhergehende. In vielen Formen der Natur (Astwerk, Wellen) lassen sich die Fibonacci-Relationen wiederfinden. Einige technische Analysten kamen nach einer ausgiebigen Kneipentour auf die Idee, dass auch die Börse irgendwie Natur ist und benutzten Fibonaccis Formeln fortan, um Kurse vorherzusagen.


• Elliottsche Wellentheorie: Ralph Nelson Elliott glaubte, das Auf und Ab an den Finanzmärkten verlaufe in klar bestimmbaren Wellen. Elliott zufolge gibt es immer fünf Hausse-Wellen, gefolgt von drei Korrekturwellen. Diese bilden einen Zyklus. Eine Abfolge von Zyklen bezeichnen Elliott-Jünger als Superzyklus. Nimmt man ihrer mehrere, entsteht ein Großer Superzyklus. Kritiker der Wellentheorie kennen die Summe aller Wellen auch unter dem Begriff Großer Superquatsch.


• Prä-Harmonischer Leibniz-Oszillator: Gottfried Wilhelm von Leibniz (1664-1716) war ein deutscher Moralphilosoph und Mathematiker, der die Existenz spiritueller Atome (Monaden) postulierte. Er befasste sich vor allem mit der Interaktion von Geist und Materie. Durch Kombination seiner komplizierten Philosophie mit einigen - ebenfalls auf Leibniz zurückgehenden - mathematischen Leitsätzen konstruierten russische Physiker in den siebziger Jahren den Prä-Harmonischen Oszillator, der übrigens als einzig konkrete, wenn auch weitgehend nutzlose Anwendung des Leibnizschen Gedankengebäudes gilt.


Auf welches Pferd man setzen soll, sagt einem natürlich keiner dieser Indikatoren, aber wenigstens kann der Kenner so tun, als ob er etwas wüsste. Apropos Pferde: Einen Pferdeindikator gibt es auch. Dem so genannten Triple-Crown-Index zufolge wird ein Börsenjahr immer dann miserabel, wenn ein Vollblutpferd alle drei wichtigen US-Rennen der Saison (Triple Crown) gewinnt - so geschehen 1919, 1930 und 1973. Dieses Jahr ist die Wall Street ganz knapp einer Katastrophe entgangen: Favorit Smarty Jones gewann zwar das Kentucky Derby und das Preakness-Rennen, kam aber bei den Belmont Stakes glücklicherweise nur auf den zweiten Platz.


DER SPIEGEL - 14.06.2004

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aus der Diskussion: Charttechnik für Investoren und solche die es werden wollen
Autor (Datum des Eintrages): konradi  (14.06.04 23:59:53)
Beitrag: 3,525 von 3,858 (ID:13432677)
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