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Hätte man vor 5-6 Jahren diesen Artikel aus einer alten Zeitung der 30-er Jahre gelesen,wäre der erste Gedanke gewesen,hoffentlich nie wieder solch schwierige Zeiten.Heute 2005 sind sie Realität für viele Menschen.

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Das totale Chaos

»Hartz IV« funktioniert wie erwartet: Keine Vermittlung und immer noch kein Geld für viele ALG-II-Empfänger. Die Mitarbeiter der Agenturen sind restlos überfordert. Eine Reportage

Damiano Valgolio

Im Stundentakt fahren die Umzugswagen an der Arbeitsagentur in der Gotlindestraße in Berlin-Lichtenberg vor. Schreibtische und ganze Büroeinrichtungen werden aus dem tristen zehnstöckigen Gebäude getragen. Hier ist der Umbau der Arbeitsämter zu Jobcentern nicht nur eine politische Phrase, sondern Knochenarbeit. Zwischen den Möbelpackern steht Diana A. aus Lichtenberg und dreht sich eine Zigarette. Sie weiß nicht mehr weiter. Mitte Januar hat sie immer noch kein Geld auf dem Konto. »Ich habe meinen Antrag auf Arbeitslosengeld II schon im November abgegeben«, versichert die 30jährige. Das war in der Fröbelstraße, aber dort wurde ihr nun gesagt, man sei nicht mehr zuständig. Sie wurde erst zu der Agentur im Prenzlauer Berg geschickt und nun ist sie hier – vergeblich. Gleich fünf Wachmänner stehen im Eingangsbereich der Arbeitsagentur und weisen Diana ab. Freitags wird um 12 Uhr geschlossen. Noch ein Wochenende ohne Geld, »wenigstens kann mir mein Freund aushelfen«, sagt die ehemalige Sozialhilfeempfängerin.

Keine Lust auf Diskussion

Der private Wachschutz mit den Fliegerjacken hat keine Lust auf Diskussionen. Gibt es mehr Ärger, seit »Hartz IV« Anfang Januar in Kraft getreten ist? Kein Kommentar. Aber: »Keine Fotos im Gebäude«. Ist klar, das wären ohnehin ziemlich traurige Bilder.

In den Berliner Arbeitsagenturen ist die Stimmung angespannt. Die Zeitungen in der Hauptstadt berichten von verschwundenen Akten und Auszahlungspannen. Auf den Fluren der Behörden braucht man nicht lange nach Menschen zu suchen, die schon seit zwei Wochen auf Geld warten. Viele freuen sich, wenn sie ihrem Ärger Luft machen können. Die Mitarbeiter der Behörde sind zurückhaltender, ohne Genehmigung der Geschäftsführung darf niemand mit der Presse sprechen. »Hier herrscht totales Chaos«, sagt dennoch eine junge Jobvermittlerin. Sie hat eine Didl-Maus aus Stoff an ihrem Schlüsselbund und sieht nicht aus wie eine, dieArbeitslose schikaniert. Viele Beschäftigte der Arbeitsagenturen fühlen sich von der Politik als Puffer mißbraucht. Sie sind es, die jeden Tag den Ärger derjenigen zu spüren bekommen, die von »Hartz IV« betroffen sind.

»Chaos ist vielleicht etwas übertrieben«, sagt Renate Mohrs, die Vorsitzende des Personalrates der Ostberliner Arbeitsagenturen. Wenig Personal und viele Probleme gebe es. »Der Aufbau der Jobcenter erfolgt während des laufenden Betriebs. Parallel zur normalen Arbeitsbelastung.« Mohrs ist auch Sprecherin der ver.di-Betriebsgruppe. Sie war 2004 mit ihrer Gewerkschaft auf der Straße, etwa im April, als in der Hauptstadt 500 000 Menschen gegen den Sozialabbau protestierten. »Aber als Mitarbeiter der Arbeitsagenturen müssen wir machen, was im Gesetz steht. Der Ermessensspielraum ist beim Arbeitslosengeld II gering.« Die studierte Ökonomin weiß, daß die Hartz-Maßnahmen auch ihren eigenen Kollegen schaden: »Durch die verschärften Zumutbarkeitsregelungen akzeptieren immer mehr Menschen Jobs zu sehr schlechten Bedingungen. Wie soll ver.di da Tarifverträge aushandeln?« Die sogenannten Ein-Euro-Jobs hält Mohrs für »alles andere als motivationsfördernd«.

Druck von oben und unten

Mustafa Aytas, 27, sitzt schon den ganzen Vormittag in der Arbeitsagentur. Angeblich ist sein Antrag nie angekommen. »Das Problem ist, daß die Sachbearbeiter oft auch keine Ahnung haben, wo man hin muß und wie die Regelungen sind«, sagt er. Aytas ist gelernter Gebäudereiniger, drei Jahre hat er für eine Firma gearbeitet, die ihn alle paar Monate entlassen und wieder angestellt hat. Deshalb hatte er nur Anspruch auf Sozialhilfe. Er rechnet mit rund 50 Euro weniger durch »Hartz IV«. »Und dann muß man sich hier auch noch anmachen lassen.«

»Wenn man am Existenzminimum lebt, reagiert man nicht gelassen«, sagt Frank Kirstan, Mitglied des Vorstandes von ver.di Berlin/Brandenburg. Er ist zuständig für den Fachbereich 4, die Sozialversicherungsträger. Bei der aktuellen Lage auf dem Arbeitsmarkt »bedient ›Hartz IV‹ höchstens den Niedriglohnsektor«, so Kirstan. Gerade die Gewerkschaft der Arbeitsamtbeschäftigten müsse sich weiter in die politische Diskussion um »Hartz IV« einbringen.

Ein Mitarbeitervertreter der Arbeitsagentur Berlin-Mitte, der nicht genannt werden will, redet Klartext: »Die Kollegen kriegen Druck von oben und unten. Die Betroffenen sind sauer und die Vorgesetzten erwarten, daß eine bestimmte Zahl von Fällen abgearbeitet wird.« In den neugeschaffenen »Vermittlungsteams« der Jobcenter mache die Gruppe Druck auf den einzelnen Mitarbeiter. »Mobbing ist an der Tagesordnung.« Die befristeten Verträge verstärken den Zwang. Mit den Jobcentern werde die Arbeitsagentur »abgewickelt«, so der Gewerkschafter. »Die Vermittlung ist bald privat, dann haben die Arbeitslosen noch weniger Rechte.«

Quelle: http://www.jungewelt.de/2005/01-21/013.php
 
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Autor (Datum des Eintrages): PINTOGrande  (21.01.05 09:32:31)
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