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Der wankende Staat

Deutschland hat die Wahl: Entweder wird der Sozialstaat abgebaut oder stärker über Steuern finanziert. Doch weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb wollen sich entscheiden

Von Kolja Rudzio und Wolfgang Uchatius





Illustration: Niels Schröder für DIE ZEIT

In den Konzernzentralen wächst die Rendite, in den Hochhaussiedlungen steigt die Arbeitslosigkeit, in den staatlichen Schulen bröckeln die Wände. Die Regierung hat kein Geld. So beschreibt es der Wirtschaftswissenschaftler John Kenneth Galbraith. Er beklagt einen Gegensatz zwischen »öffentlicher Armut und privatem Reichtum« und löst eine heftige Diskussion über die Rolle des Staates aus. In den USA, Ende der fünfziger Jahre.

In den Konzernzentralen wächst die Rendite, in den Hochhaussiedlungen steigt die Arbeitslosigkeit, in den staatlichen Schulen bröckeln die Wände. Die Regierung hat kein Geld. So beschreibt es der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering. Er beklagt die wachsende Macht des Kapitals und löst eine heftige Debatte über die Rolle des Staates aus. In Deutschland, im Jahr 2005.
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Es ist eine Debatte, die in diesen Tagen eine ganz neue Dynamik erhält.

Ob Gerhard Schröder oder Angela Merkel – wer die vorgezogenen Neuwahlen zum Bundestag gewinnt, wird die Aufgaben des Staates neu definieren müssen. Vor allem wird die künftige Regierung nicht um die Antwort auf die entscheidende Frage herumkommen, an der die Kapitalismusdebatte bisher vorbeiging: die Frage nach dem Geld.

»Damals bei Galbraith ging es darum, ob der Staat stärker werden will«, sagt Fritz Scharpf, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. »Heute geht es darum, ob er stärker werden kann.« Denn ein starker Staat ist heute in erster Linie ein finanzstarker Staat. Nur eine Regierung, die Geld hat, kann Schulen und Straßen bauen und Sozialleistungen auszahlen. Der deutsche Finanzminister Hans Eichel aber wankt von Haushaltsloch zu Haushaltsloch. Die Bundesregierung kürzt, wo sie nur kürzen kann, ob beim Arbeitslosengeld, bei den Beamtengehältern, dem Straßenbau oder den Zuschüssen zur Rentenkasse. Die Städte kürzen die Mittel für Altenzentren und Büchereien und verkaufen mitunter sogar ihre Straßenlaternen. Die Länder senken die Leistungen für Asylbewerber, kappen das Blindengeld, reduzieren Zuschüsse für Museen und Theater, und fast jede Landesregierung schiebt die Sanierung von Schulen auf und streicht Lehrerstellen – Pisa hin oder her.

Was bleibt ihnen auch übrig? Theoretisch könnten neue Steuern und Sozialabgaben neues Geld einbringen, aber in der Praxis? Höhere Sozialabgaben machen Arbeitsplätze teurer, dann streichen die Betriebe noch mehr Jobs. Höhere Unternehmensteuern belasten den Standort, dann gehen noch mehr Firmen ins Ausland. Höhere Einkommensteuern sorgen dafür, dass den Bürgern weniger Geld bleibt, dann bricht die Binnennachfrage noch weiter ein. Kurz: »Wir brauchten eigentlich mehr Umverteilung, um die Verlierer der Globalisierung zu entschädigen, aber es wird immer schwieriger, dafür die Mittel aufzubringen«, so Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner ifo-Instituts.

Wie also kann sich der Staat in Zeiten weltweiter Konkurrenz noch finanzieren, ohne der Volkswirtschaft zu schaden? Wie kann er zu alter Stärke finden, ohne neue Armut zu schaffen?

Womöglich gar nicht. Womöglich wird der künftigen Bundesregierung nichts anderes übrig bleiben, als weitere Teile der Gesellschaft dem Markt zu überlassen. Das jedenfalls ist der erste Eindruck beim Blick auf die Zahlen. In angelsächsischen Erfolgsländern wie Irland, Kanada oder den USA kassiert der Staat im Durchschnitt nicht einmal 30 Cent von jedem erwirtschafteten Euro oder Dollar. Nun ist die Ökonomie gerade in diesen Ländern in den vergangenen Jahren kräftig gewachsen, die Arbeitslosigkeit ist niedrig. In der Mitte Europas dagegen, in Deutschland, Frankreich oder Italien, liegt die Steuer- und Abgabenquote bei rund 40 Prozent. Dort wächst die Wirtschaft langsam, die Arbeitslosigkeit ist hoch.

Ist also nur ein kleiner Staat für großen Wohlstand gut? Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass der Zusammenhang so einfach nicht ist. In den skandinavischen Ländern Dänemark oder Schweden beansprucht der Staat sogar rund die Hälfte der Wirtschaftsleistung für sich. Trotzdem sind dort die Wachstumsraten hoch. Kaum jemand ist längere Zeit ohne Job. »Es gibt keine klare Korrelation zwischen der gesamten Steuer- oder Abgabenlast in einem Land und seiner allgemeinen Wettbewerbsfähigkeit oder der Wachstumsrate«, sagt Stéphane Garelli, Professor an der Managementschule IMD in Lausanne. Wichtiger sei, über welche Art von Steuern sich ein Staat zu finanzieren versuche.

Tatsächlich unterscheiden Fachleute seit längerem drei Modelle des Sozialstaats:

lDas angelsächsische Modell, in dem der Staat große Bereiche der Gesellschaft wie Bildung und Gesundheit privat organisiert und soziale Sicherung auf den Schutz vor Armut beschränkt.

lDas kontinentaleuropäische Modell, in dem ein Großteil der staatlichen Sicherung nicht über Steuern, sondern über Sozialabgaben finanziert wird, die von den Arbeitgebern und ihren fest angestellten Beschäftigten bezahlt werden.

lDas skandinavische Modell, in dem sich der Wohlfahrtsstaat in erster Linie über Steuern finanziert und auch Selbstständige und Geringbeschäftigte Anspruch auf umfassende Sozialleistungen haben.

Lange sah es so aus, als seien alle drei Varianten gleichermaßen geeignet, das Staatswesen zu organisieren, ohne die Wirtschaft zu schwächen. Dann rutschte Deutschland von einer Konjunkturkrise in die nächste, die Arbeitslosigkeit stieg, die Wiedervereinigung verursachte zusätzliche Kosten. Um den Aufbau Ost finanzieren und weiterhin ausreichend Renten und Arbeitslosengeld zahlen zu können, erhöhte schon die Regierung Kohl die Sozialabgaben. So wurde eine Entwicklung beschleunigt, bei der die Lohnnebenkosten stiegen und stiegen, reguläre Jobs immer teurer wurden – und deshalb auch immer seltener. Die dadurch wachsende Arbeitslosigkeit riss neue Löcher in die Sozialkassen, was Jobs weiter verteuerte. Ein Teufelskreis, aus dem es nach Meinung vieler Experten keinen systemkonformen Ausweg mehr gibt. »Das kontinentaleuropäische Modell, wie es in Deutschland oder Frankreich praktiziert wird, ist gescheitert«, sagt Stefan Collignon, Ökonomieprofessor in Harvard.

Weshalb sich all jene, die dem Kapitalismus weiterhin misstrauen, eine neue Frage stellen: Warum können sich Schweden oder Dänen immer noch den üppigen Sozialstaat leisten, der hierzulande unfinanzierbar erscheint?

Die Erklärung wirkt zunächst ziemlich kapitalistisch: Die Nordeuropäer holen sich das Geld vom Verbraucher und vom normalen Steuerzahler – während sie Unternehmen weitgehend schonen. Dazu dienen vor allem zwei Hebel. Einer besteht in einer hohen Mehrwertsteuer. Wenn sich zum Beispiel eine dänische Familie für 1000 Euro einen neuen Kleiderschrank kauft, werden dabei 250 Euro Mehrwertsteuer fällig. Mit diesem Geld bezuschusst der dänische Staat Kindergärten, staatliche Renten oder auch die Arbeitslosenversicherung, die zu rund 80 Prozent über Steuern finanziert wird. Der Vorteil: Die Sozialkosten benachteiligen die Produzenten in Dänemark nicht mehr gegenüber Konkurrenzländern mit billigen Löhnen. Die Jobs werden nicht mit Abgaben belastet, und beim Kauf eines in Polen oder Tschechien produzierten Kleiderschranks wird die gleiche Mehrwertsteuer fällig.

Der zweite Hebel, den die Skandinavier nutzen, ist die duale Einkommensteuer. Sie besteuert Arbeitslöhne hoch, während Einkünfte aus Kapital – etwa Unternehmensgewinne, Zinsen und Dividenden – kaum belastet werden. So haben Finnland, Norwegen und Schweden in den vergangenen 15 Jahren ihre Steuersätze für Kapitaleinkommen halbiert. Statt bisher maximal 72 Prozent verlangen sie nur noch 28 bis 30 Prozent. Diese Sätze gehören zu den niedrigsten aller Industrieländer. Dafür ist die Steuerbelastung für Arbeitnehmer in Skandinavien, trotz leichter Entlastungen, immer noch sehr hoch. Allerdings trifft es vor allem die Besserverdiener. Die Spitzensteuersätze liegen bei 52 bis 56 Prozent. Weshalb der Kölner Sozialforscher Fritz Scharpf das skandinavische System auch als »Sozialismus innerhalb einer Klasse« bezeichnet. Die Umverteilung findet nicht mehr zwischen Kapital und Arbeit statt, sondern nur noch zwischen besser und schlechter verdienenden Arbeitern und Angestellten, dort allerdings umso deutlicher.

Anders als die Deutschen schaffen es die Skandinavier auf diese Weise, ihren großzügigen Sozialstaat zu erhalten, ohne Investoren abzuschrecken – und gleichzeitig für sozialen Ausgleich zu sorgen. Nirgendwo sonst in Europa liegen Reich und Arm so nah beieinander wie in Skandinavien.

Ein Weg, der nach Ansicht von Wirtschaftsforschern auch hierzulande gangbar wäre. Würde die künftige Bundesregierung das Sozialsystem stärker über Steuern statt über Abgaben auf die Löhne finanzieren, brächte das neuen Schwung in den Arbeitsmarkt. Die Lohnnebenkosten sänken, zusätzliche Jobs würden wieder rentabel.

Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) brächte es weit mehr als 500000 neue Jobs, wenn wenigstens jener Teil des Sozialsystems über Steuern finanziert würde, der sowieso nicht in die Sozialversicherung gehöre: die so genannten versicherungsfremden Leistungen. Etwa das Mutterschaftsgeld, Frührenten oder von der Bundesagentur für Arbeit bezahlte Weiterbildungskurse. Das alles seien Aufgaben, so das DIW, für die eigentlich nicht nur die Beitragszahler, sondern die Allgemeinheit, also alle Steuerzahler aufkommen sollten.

Zusammen mit den Kosten, die den Sozialversicherungen im Rahmen der Wiedervereinigung aufgebürdet worden seien, gehe es um rund 84Milliarden Euro. Würde man dieses Geld künftig über Steuern statt über Abgaben aufbringen, dann würden vor allem »Fehlentwicklungen des letzten Jahrzehnts korrigiert«, schreiben die Experten des DIW.

Welche Steuern im Gegenzug erhöht werden sollten, dazu gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Die DIW-Forscher empfehlen eine Kombination aus Mehrwert-, Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer und eventuell ergänzend auch noch die Wiederauflage einer Vermögensteuer. Fachleute am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg, die ähnliche Berechnungen angestellt haben, betonen, man könne zur Gegenfinanzierung die Mehrwertsteuer auch zeitversetzt erhöhen, also etwa ein Jahr nach der Senkung der Lohnnebenkosten. Dadurch soll verhindert werden, dass die Konsumnachfrage absackt.

Der Wirtschafts-Sachverständigenrat schließlich hält die in Skandinavien gängige duale Einkommensteuer für eine Reformoption. Über dieses Modell, erklärten die Regierungsberater, könne sich der Staat seine Mittel beschaffen, ohne das zunehmend mobile Kapital zu vertreiben: »Dies führt zu einer Verbesserung der Wachstumsbedingungen und der Chancen der Arbeitnehmer auf höhere Einkommen.«

Bei Reformen nach diesem Muster müsste der Staat nicht schrumpfen, er würde nur anders finanziert. Wirkungsvoller könnte der Staat werden, wenn er zudem das Sozialsystem besser organisierte. »In Deutschland gehen die meisten Steuern und Transfers von der rechten in die linke Tasche«, klagt Dennis Snower, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Statt die wirklich Bedürftigen zu fördern, würden hierzulande vor allem Angehörige der Mittelklasse durch staatliche Leistungen, etwa im Bildungssystem, unterstützt – also jene, die auch hohe Abgaben zahlten und unter dem Strich in etwa so viel bekämen, wie ihnen genommen werde. Wozu also das Ganze?

»Wir müssen den Sozialstaat effizienter gestalten«, verlangt auch ifo-Chef Hans-Werner Sinn. Etwa, indem Arbeitslose mehr Geld als Zuschuss zu eigenen Verdiensten erhielten, statt über das Arbeitslosengeld fürs Nichtstun bezahlt zu werden.

Wie der Esel, der am Ende zwischen zwei Heuhaufen verhungert

Bisher haben Schwarz-Gelb und Rot-Grün weder viel getan, um die öffentlichen Mittel wettbewerbskonform aufzubringen, noch, um das Sozialsystem effizient zu gestalten. Und weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb können derzeit ein Konzept vorzeigen, welches Gesellschaftsmodell das krisengeschüttelte Land anvisieren soll: eher das skandinavische oder doch lieber das angelsächsische?

»Deutschland steht wie Buridans Esel zwischen den beiden Heuhaufen und kann sich nicht entscheiden«, sagt Stephan Leibfried, Professor für Sozialpolitik an der Universität Bremen. Soll heißen, die Regierung hat einerseits in den vergangenen Jahren die Steuern für Unternehmer wie Arbeitnehmer kräftig gesenkt. Inzwischen ist die Steuerquote in Deutschland so niedrig wie in kaum einem anderen Industrieland. Andererseits werden fast nirgendwo so hohe Sozialabgaben erhoben wie hierzulande. Gleichzeitig reduziert der Staat die soziale Sicherung. So schwankt die Regierung zwischen dem angelsächsischen Modell des starken Marktes und dem skandinavischen Modell des starken Staates hin und her, ohne sich zu einem von beiden durchzuringen.

So wie der Esel in den Schriften des französischen Philosophen Jean Buridan. Am Ende ist er verhungert.



http://www.zeit.de/studium/test/Wieviel_Staat?term=Der


ich finde gerade diesen artikel hochinteressant, weil er sich der mehr als ernsten thematik auf eine wohltuend nüchterne und analytische art und weise annähert.

lösungswege müssen wohl ausserhalb parteipolitischer vorlieben angedacht werden...denn beide grosse volksparteien (inklusive der jeweiligen mitverantwortlichen koalitionspartner) haben ihren anteil daran, dass deutschland ökonomisch und strukturell kurz vorm absaufen ist...
 
aus der Diskussion: Der wankende Staat...(oder auch: "es ist 5 vor 12...!")
Autor (Datum des Eintrages): DermitdemWolfheult  (03.06.05 02:06:14)
Beitrag: 1 von 25 (ID:16784682)
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