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EU steht für Europäisches Unbehagen
Die Verfassung ist vorerst gescheitert, die Stimmung auf dem Nullpunkt. Doch Europa hat schon viele Krisen überstanden. Mit einer Lösung ihres Streits um die Finanzen wollen die Staats- und Regierungschefs nun den Anfang dazu machen
von Miriam Hollstein, Berlin und Katja Ridderbusch, Brüssel


Was wird aus Europa nach dem Nein?
Foto: rtr
Gerhard Schröder und Jacques Chirac essen gern zusammen. Der Bundeskanzler und Staatspräsident schätzen gutes Essen und auch einen guten Tropfen. Gestern aber mußte Schröder seinem Gast aus Paris schwere Kost servieren. Denn beim Tête-à-tête im Bundeskanzleramt ging es um einen Ausweg aus der Krise Europas und eine Inspektion seines deutsch-französischen Motors.


Nicht nur in den Hauptstädten Berlin und Paris herrscht Ratlosigkeit. Das doppelte Nein der Bürger Frankreichs und der Niederlande zur EU-Verfassung hat eines deutlich gemacht: Zwischen dem Europa der Institutionen und seinen Bürgern tut sich eine tiefe Kluft auf. Das Kürzel EU steht für "Europäisches Unbehagen".


Die Folge ist eine Krise, die mehr und mehr die gesamte EU erfaßt. Diskutiert werden längst nicht mehr nur die alten Streitfragen Verfassungsvertrag und Türkei-Beitritt. Unter Beschuß stehen auch die EU-Finanzen und sogar der Euro. Die Gemeinschaftswährung, so tönt es im Vorwahlkampf, sei schuld am wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands.


"Absurd" finden viele Europa-Befürworter diese Debatte. Die Ministeriellen im Hause Hans Eichels sehen sie dennoch mit Sorge. Weder Finanzministerium noch Bundesbank denken ernsthaft über ein Ende des Euro oder einen Ausstieg aus der Währungsunion nach. In einer internen Aufstellung haben Beamte der Europa-Abteilung sich zwar mit der Währungsunion beschäftigt, die Vorteile (keine Wechselkurs-Schwankungen) und die Nachteile (höhere Realzinsen) notiert, eine Schlußfolgerung lassen sie aber offen.


Während der Sturm um den Euro vorbeigehen wird, ist die Ursache der Krise Europas nicht so leicht zu beheben. Europas Spitzenpolitiker haben es versäumt, die wichtigste Lehre aus dem Streit um den Vertrag von Nizza zu ziehen, einen der Vorläufer der EU-Verfassung: Die EU kann nur dann funktionieren, wenn die Bürger von ihrem Sinn überzeugt sind. Die Vorteile der EU aber wollen angesichts steigender Arbeitslosenzahlen und wachsender Inflation immer weniger Menschen einleuchten. Weil sie Europa nicht abwählen können, nutzten nun viele die Gelegenheit der Volksabstimmungen für einen Denkzettel.


In die Bredouille geraten auch Regierungen, die die EU-Verfassung bereits ratifiziert haben. So schwächt das lädierte Image Chiracs auch Bundeskanzler Schröder. Hatte dieser doch versucht, im Team mit Frankreich die Europäische Union zu dominieren.


Gemeinsam mit Rußlands Präsident Wladimir Putin schmiedeten sie eine Achse Paris-Berlin-Moskau, versuchten während des Irak-Konflikts erfolglos, die EU zu einer Gegenmacht zu den USA aufzubauen oder machten Front gegen die Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte.


Mit der Krise in Frankreich und den bevorstehenden Neuwahlen in Deutschland verliert der deutsch-französische Motor nun seine Zugkraft. Vor diesem Hintergrund wirkt die Vorstellung, eine Kerngruppe besonders europafreundlicher Länder könne die angeschlagene EU retten, abwegig. "Wie soll das funktionieren, wenn die Schwäche im Kern selbst zu verorten ist?" fragt Europakenner Werner Weidenfeld, Leiter des Centrums für angewandte Politikforschung (CAP) in München.


Eine Wunderheilung versprechen sich die Regierungschefs nun ausgerechnet vom schwierigsten Feld der europäischen Politik, der Finanzplanung für die Jahre 2007 bis 2013. Bislang gab es zwei unversöhnliche Forderungen: Die Kommission verlangt für die erweiterte Union eine Erhöhung ihres Budgets von einem auf 1,14 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung. Dagegen wollen die sechs Nettozahler der EU, allen voran Deutschland, die Zahlungen bei ein Prozent einfrieren.



Knapp zwei Wochen vor dem EU-Gipfel am 16. und 17. Juni in Brüssel hat Ratspräsident Jean-Claude Juncker einen neuen Vorschlag vorgelegt: Auf 1,06 Prozent sollen die Ausgaben begrenzt werden - das sind rund 875 Milliarden Euro. Damit kommt er den Nettozahlern entgegen. Schröder ist verhandlungsbereit, auch wenn Deutschland dann immer noch 60 Millionen Euro mehr zahlen müßte als bei der alten Obergrenze von ein Prozent. Um fast jeden Preis, so scheint es, wollen Europas Führer jetzt ihre Handlungsfähigkeit beweisen.


Eine Schlüsselrolle soll dabei der britische Premier Tony Blair spielen: Von ihm wird das größte Zugeständnis erwartet, der Verzicht auf einen Teil des "Briten-Rabatts". Seit Margaret Thatcher ihre berühmte Forderung "I want my money back" durchsetzte, erhält das Land zwei Drittel seiner Zahlungen an den EU-Haushalt zurück, jährlich rund 4,6 Milliarden Euro. Juncker schlägt nun vor, den Rabatt zunächst auf vier Milliarden Euro zu senken. Die Regierungschefs der großen Länder wollen Blair auf dem EU-Gipfel in die Zange nehmen.


Keine Frage, Europa steckt in der Krise. Aber die Union hat schon viele Krisen überlebt. Das Scheitern großer Initiativen löste oft sogar neue Dynamik aus. So führte der mißlungene Versuch, 1954 eine Verteidigungsgemeinschaft zu schaffen, dazu, daß nur drei Jahre später mit den Römischen Verträgen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft entstand.


Sorgen müssen sich sehr wohl aber die Politiker machen. Am Ende könnte die Verfassungskrise zu einem Austausch des Spitzenpersonals führen: Das Ansehen Chiracs ist im freiem Fall, Schröder nur noch geschäftsführend im Amt. Blair könnte zwischen nationalen und europäischen Interessen zerrieben werden. Und selbst Super-Europäer Juncker ist müde: Stimmen die Luxemburger am 10. Juli mit Nein, will er als Ministerpräsident zurücktreten.


Artikel erschienen am 5. Juni 2005
 
aus der Diskussion: Eric Clapton - keiner kann es besser
Autor (Datum des Eintrages): nocherts  (05.06.05 08:26:21)
Beitrag: 60 von 211 (ID:16804432)
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