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Sommerrallye an der Börse in Sicht
Restrukturierungsphantasie und günstige Bewertungen locken Investoren an
von Daniel Eckert und Holger Zschäpitz

Berlin - Da verstehe einer die Börsianer. Sonst können sie nicht schnell genug eine Herbst-, Jahresend- oder Sommerrallye ausrufen. Nur in diesem Jahr kann der Dax eine schöne Hausse aufs Parkett legen, und niemand will das R-Wort in den Mund nehmen. Dabei fühlt sich eine Sommerrallye genau so an. Gestern eroberte das deutsche Kursbarometer nicht nur ein Jahreshoch, sondern den höchsten Stand seit dem 11. Juni 2002. Seit Ende April hat der Index neun Prozent zugelegt.


Die Auslöser für den aktuellen Boom kommen ausnahmsweise einmal nicht aus Übersee, sondern sind weitgehend hausgemacht. Am Dienstag sorgte der Traditionskonzern Siemens für Schlagzeilen. Der Technologieriese verkauft seine defizitäre Handysparte an die taiwanische Elektronikfirma BenQ und fokussiert sich damit stärker auf die profitablen Bereiche. Gleichzeitig kündigte Volkswagen-Vorstand Bernd Pischetsrieder an, den Autobauer einer Roßkur zu unterziehen.


Für die Investoren sind die beiden Beispiele ein Beleg dafür, daß Wirtschaftsdeutschland mit dem Thema Restrukturierung Ernst macht. Und als Katalysator sehen die Finanzmarktakteure die Aussicht auf vorgezogene Neuwahlen. Denn ein Machtwechsel würde den gesetzlichen Spielraum für weitere Umbauten in den Unternehmen erhöhen.


"Eine konservative Regierung käme den Konzernen zugute, weil sie den Arbeitsmarkt flexibilisieren und damit den Unternehmen erlauben würde, die Kostenbasis weiter zu reduzieren", schreibt Gunnar Hamann, Stratege bei Dresdner Kleinwort Wasserstein in Frankfurt. Profitieren könnten davon insbesondere jene Unternehmen, bei denen ein großer Anteil der Lohnkosten in Deutschland anfällt. Nach Berechnungen von Hamann würde ein zweiprozentiger Rückgang bei den Lohnkosten die Gewinne von Infineon um 37 Prozent steigern. Lufthansa dürfte in dem Fall das Ergebnis um 14 Prozent erhöhen, VW um neun Prozent, MAN um sieben Prozent und Deutsche Post um fünf Prozent.


Insbesondere ausländische Investoren beginnen sich für die Restrukturierungsgeschichte Deutschlands zu interessieren. "Deutsche Aktien sind reif für ein Revival", sagt Alain Bokobza, Stratege bei der Société Générale in Paris. Ihn begeistert auch die niedrige Bewertung. "Gemessen an allen maßgeblichen Kriterien, ist der deutsche Markt der günstigste in der westlichen Welt." So belaufe sich das durchschnittliche Kurs-Buchwert-Verhältnis hiesiger Konzerne gerade einmal auf 1,5, während vergleichbare europäische Titel mit dem 2,2fachen und US-Papiere fast mit dem dreifachen ihres Substanzwertes bezahlt werden. Auch im Verhältnis zu den Einnahmen sind hiesige Gesellschaften ein Schnäppchen. Beträgt die Kurs-Cash-flow-Relation in den USA 12,2, ist sie hier nicht einmal halb so hoch.


Ein besonderes Augenmerk haben die Investoren auf Restrukturierungsgeschichten geworfen. Denn hier gibt es noch Nachholpotential. Sämtliche Strategen haben zuletzt auf ihre Kauflisten Siemens, VW, MAN und Daimler-Chrysler genommen. Beispiel Siemens. Die Aktie holt jetzt nach, was der Dax bereits seit Jahresbeginn geschafft hat. Die Analysten der Société Générale sehen Potential für den Siemens-Kurs bis 80 Euro. Das entspricht einem Plus von fast einem Drittel. Die Begründung: Das vom neuen Vorstand durchgesetzte klare Spartendenken führe dazu, daß Verluste in einzelnen Bereichen nicht mehr geduldet sind. Dadurch sei kein Konglomeratsabschlag mehr gerechtfertigt. Für VW sagen die Société-Profis eine Rallye bis 47 Euro voraus. Hier überzeuge das nach Plan laufende Kostensenkungsprogramm.

Als groben Anhaltspunkt dafür, bei welchen Werten die größten Kursgewinne winken, können Anleger die Gewinnanalyse nutzen. Der Anteil der im Inland erzielten Erträge gibt Auskunft darüber, wie groß das mögliche Umbaupotential ist. Nach Berechnungen der UBS verdienen die Konzerne Deutsche Telekom, Deutsche Post, Infineon, Eon, Henkel und MAN, Altana, BMW und Commerzbank besonders viel innerhalb deutscher Grenzen. Hier sei die Reformphantasie besonders groß.


Doch nicht der Hausputz der Unternehmen begünstigt steigende Kurse. Auch saisonale Effekte sprechen dafür. Im vergangenen Jahrzehnt gab es in den Monaten Juni bis September immerhin sechs Mal eine zweistellige Hausse. Nur 1992, 1996 und 2001 fiel die Sommerrallye ins Wasser, doch im darauffolgenden Jahr ging es jeweils an den Börsen besonders heiß zu. Danach könnte es auch in diesem Jahr zur Sache gehen. Im Schnitt erwarten die Börsianer bis zum Jahresende einen Dax-Anstieg auf 4750 bis 4800 Zähler.


Artikel erschienen am Mi, 8. Juni 2005
 
aus der Diskussion: Eric Clapton - keiner kann es besser
Autor (Datum des Eintrages): nocherts  (08.06.05 07:02:01)
Beitrag: 119 von 211 (ID:16832209)
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