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Und hier noch ein hochinteressanter Kommentar aus der Süddeutschen Zeitung von Ludger Schulze:

Gewitter im Hintergrund
Für Bundestrainer Jürgen Klinsmann steht bei der so genannten Mini-WM mehr auf dem Spiel, als das Turnier eigentlich hergibt.


Im Stadion des Lichts waren die Lichter bereits erloschen, nur in den Katakomben der Lissaboner Arena herrschte noch helle Betriebsamkeit. Forschen Schrittes enterte Teamchef Rudi Völler das Podium des Interviewraumes, um zu erklären, was eigentlich unfassbar war: weshalb nämlich der Stolz der Nation, die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, gegen eine tschechische Ersatzbänkler-Mixtur jämmerlich 1:2 verloren hatte und damit unerwartet und viel zu früh aus dem letztjährigen Europameisterschafts-Turnier geschieden war. Völler, der allseits be- und von vielen geliebte „Ruuudi“, hinterließ einige kryptische Satzbrocken, an denen die Journalisten heftig zu kauen hatten. Aber nur bis zum nächsten Morgen: Da verkündete der Teamchef seinen Rücktritt, in aller Deutlichkeit, auf der Stelle und unwiderruflich.
Als Völler seine Ausführungen beendet hatte, ergriff den Deutschen Fußball-Bund (DFB), die Reporter und in der Folge die Fußballnation ein tiefes Gefühl der Ratlosigkeit. Warum ausgerechnet unser Rudi? Wäre es nicht sinnvoller gewesen, die gesamte Mannschaft in die Wüste zu schicken, diesen Verein von Rumpelfüßlern und Fehlpass-Produzenten? Musste Völler wirklich die Schuld auf sich laden, die doch eigentlich sie, die Spieler, trugen? Niemandem war sich in diesen Momenten, da die Stimmung landesweit auf Tiefe des Grundwasserspiegels angekommen war, darüber im Klaren, wie konsequent und logisch Völlers Demissionen war. Er habe durch diese Pleite den Kredit verspielt, sagte Völler; den nationalen Anspruch, zwei Jahre später bei der WM im eigenen Land Weltmeister zu werden, könne er nie und nimmer glaubhaft und unbelastet vertreten.Explosive LadungWie richtig Völler mit dieser Selbsteinschätzung lag, zeigte sich, als Jürgen Klinsmann zu seinem Nachfolger ausgewählt worden war. Ohne dass irgendjemand aus dem Heer von Fußballkennern peinlich berührt gewesen wäre, konnte der neue Mann sein „Projekt 2006“ proklamieren, an dessen Ende der Titel herauskommen soll. Völler hat den Weg frei gemacht für eine Fülle von Reformen, Personalwechseln und Innovationen, mit denen Klinsmann und seine Helfer Joachim Löw und Oliver Bierhoff die Branche und das Publikum überraschten.


Inzwischen ist die atmosphärische Verzweiflung einer Aufbruchstimmung gewichen, die von diversen ermutigenden Testspielen gespeist wurde. Doch im Hintergrund braut sich ein Gewitter zusammen, das aus einer explosiven Ladung von Unverständnis, Erneuerungsangst und vagen Zweifeln besteht.

Am Mittwoch (21 Uhr) beginnt in Frankfurt für die deutsche Mannschaft der Konföderationen-Pokal, kurz Confed-Cup oder Mini-WM, mit dem Vorrundenspiel gegen Australien; und obwohl weder Gegner noch Tradition oder gar der ideelle Wert der Veranstaltung von größerer Bedeutung sind, markiert der Kick-off eine Zäsur: Jetzt beginnt der Ernst des weltmeisterschaftlichen Lebens. „Wer Weltmeister werden will“, wird DFB-Präsident Theo Zwanziger zitiert, „sollte dieses Turnier gewinnen.“

Damit hat der Chef persönlich eine extrem hohe Hürde für seinen leitenden Angestellten aufgebaut. Denn was ist, wenn nicht? Oder schlimmer noch – wenn das Unternehmen schief geht und sich das deutsche Team beispielsweise in der Vorrunde gegen Australien, Tunesien und Argentinien gleich verabschiedet?

Oliver Bierhoff, der Manager, ist sich der zugespitzten Ausgangslage sehr wohl bewusst. „Wenn wir nicht das Halbfinale erreichen, wird große Enttäuschung und Kritik einsetzen.“ Im schlimmsten Fall stünde sogar die berufliche Zukunft von Klinsmann/Löw auf dem Spiel, obwohl sie in der Kürze der Zeit mehr erreicht haben als alle Vorgänger. Denn ein Scheitern wäre der Elefant im Porzellanladen aufkeimender Hoffnung, ein Stimmungskiller erster Ordnung."Ein Sieg zum Start ist enorm wichtig für den Turnierverlauf“, sagt Joachim Löw, wohl wissend, dass dies immer und überall gilt. Doch diesmal legt das Ergebnis den Maßstab für die Befindlichkeit an, in der sich das Team auf die WM zu bewegt.Giftpfeile im RaumGeht alles gut, wird der Betreuerstab in seinen revolutionären Bemühungen bestärkt. Eine Pleite aber zöge ein ganzes Jahr von zerstörerischen Zweifeln nach sich. Das Aufbauwerk Klinsmanns geriete in akute Einsturzgefahr, und jede der erfreulichen Veränderungen fiele mit Wucht als fataler Fehler auf den Urheber zurück. Die leidige Wohnort-Diskussion würde mit Genuss in den Medien breit getreten, die Opfer des personellen Revirements im DFB würden als Zeugen der Anklage auftreten, und Fragen nach dem Sinn ungewöhnlicher Maßnahmen würden wie Giftpfeile durch den öffentlichen Raum schwirren: Was eigentlich haben die amerikanischen Fitness-Gurus gebracht und musste es ein Schweizer sein wie der Chefscout Urs Siegenthaler?
Michael Ballack, Kapitän und einziger Spieler von Weltklasse im Team, hat dem Misserfolg in einem Gespräch mit der Welt vorgegriffen. Auch dann, sagte er, müsse das Modell Klinsmann fortgesetzt werden. Für Jürgen Klinsmann steht jedenfalls mehr auf dem Spiel, als der Confed-Cup eigentlich hergibt. Die Frage, ob er in Anbetracht des erhöhten Risikos sein Ideal vom Erlebnisfußball dem Ergebnisfußball opfere, hat er in aller Deutlichkeit beantwortet: „Wir haben unsere Spielphilosophie klar definiert, und die geht nach vorne. Das werden wir auch hier fortsetzen.“ Das ist schon einmal beruhigend.
 
aus der Diskussion: Wo steht der deutsche Fußball wirklich????
Autor (Datum des Eintrages): Freudenspender  (15.06.05 17:21:30)
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