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INTERVIEW ZU GEWALT IM OSTEN

"Es gab schon in den Achtzigern Verrohungstendenzen"

Die Säuglingstötungen von Brandenburg erschüttern die Republik. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE erklärt Bernd Wagner, ehemaliger Oberstleutnant der DDR-Kripo, wie sich die Gewalt im Osten schon zu DDR-Zeiten ausprägte und Studienergebnisse unter Verschluss gehalten wurden.

SPIEGEL ONLINE: Herr Wagner, welchen Einfluss hatten die SED-Herrschaft und die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR auf die Gewaltkriminalität und wirkt dieser Einfluss möglicherweise bis heute fort?

Wagner: Die Studien zu rechtsradikaler Gewalt, die ich erstmalig 1988 für das Innenministerium der DDR koordiniert habe, zeigen, dass es in den achtziger Jahren eindeutig Verrohungstendenzen gab, vor allem im Bereich der Jugendkriminalität und der rechtsradikalen Gewalt. Die Gewalt bekam eine neue Qualität, bestimmte Dinge galten nicht mehr so wie vorher. Während es beispielsweise früher Konsens war, dass bei einer körperlichen Auseinandersetzung nicht auf einen am Boden liegenden Gegner eingetreten wird, häuften sich solche Fälle Ende der Achtziger. Das grausame Verbrechen von Frankfurt/Oder in direkten Zusammenhang mit der Herrschaft des SED-Regimes zu bringen, halte ich allerdings für sehr gewagt. Die Äußerungen von Herrn Schönbohm sind ideologisch gefärbt und nicht sehr differenziert.

SPIEGEL ONLINE: Was haben Sie in Ihren Studien noch herausgefunden?

Wagner: Es gab im Bereich der Gewaltkriminalität regionale Unterschiede. Wir konnten ein Nord-Süd-Gefälle feststellen. Es gab schon damals mehr Gewalt im Norden, aber auch Brandenburg gehörte noch dazu, vor allem in der Fläche, im ländlichen Bereich. Es gab damals schon Regionen, in denen sich die Menschen nicht besonders umeinander gekümmert haben. Allerdings findet man dieses Phänomen nicht nur in Ostdeutschland.

SPIEGEL ONLINE: Woran hat es gelegen, dass sich diese Situation in der DDR in den Achtzigern verschärft hat?

Wagner: Politisch gab es eine große Diskrepanz zwischen Wort und Tat. Außerdem war die Versorgungslage nicht besonders, vor allem in den ländlichen Regionen. Das hat zu Frustration geführt. Es gibt unzweifelhaft auch Elemente heutiger Gewalt, die ihre Ursache in der DDR haben - vor allem, wenn ich mir die Gewalt von Skinheads oder anderer rechtsextremer Milieus ansehe. Da gibt es Vorläufer in der DDR. Es gibt Mentalitätsstrukturen, die in der DDR existierten und zu mehr Gewalt führten und führen, vor allem im ländlichen Bereich.

SPIEGEL ONLINE: Welche Strukturen sind das?

Wagner: In der DDR hat die Konservierung völkischer Denkelemente sehr stark zu Buche geschlagen, vor allem in den achtziger Jahren. Das war eine Mischung zwischen Kollektivismus und Sozialdarwinismus. Die Gewalt richtete sich schon damals stark gegen Ausländer, obwohl es kaum welche gab.

SPIEGEL ONLINE: Welche Rolle spielt die Verödung gewisser Landstriche im Osten für die Gewaltkriminalität heute?

Wagner: Die so genannte Anomie, also der Zustand geringer sozialer Ordnung, nach der Wende ist natürlich ein Problem. Leistungsträger sind abgewandert, und Jugendliche mit Chancen auf dem Arbeitsmarkt gehen auch. Einerseits nach Süddeutschland und Österreich, aber auch in skandinavische Länder. Das verändert das Klima in diesen Regionen. Es macht sich eine perspektivlose Jugendszene breit, zum Teil sind dies rechtsradikale Gruppierungen.

SPIEGEL ONLINE: Wie definieren sich diese Gruppen?

Wagner: Vorrangig über den Verlust an Perspektive. Es gibt natürlich auch Leute, die sich antiwestlich gerieren, zumindest was das System betrifft, es geht also weniger um den Westler an sich. Der Kapitalismus und eine vermeintliche Ausländerschwemme werden häufig als Ursache dieser Perspektivlosigkeit betrachtet. Dies wird dann häufig als Legitimation für einen völkischen Nationalismus genommen.

SPIEGEL ONLINE: Der aber weniger politisch definiert ist, sondern in den Lebensumständen begründet liegt?

Wagner:{b Bei den intellektuell etwas kärglicher ausgestatteten Gruppen ist das sicher so. Bei den rechtsradikalen Kameradschaften kommt natürlich ein Schuss Ideologie hinzu.[/b]

SPIEGEL ONLINE: Aber wo liegen die Ursachen für Gewaltexzesse wie die Folterung und Ermordung eines Jugendlichen in Potzlow vor drei Jahren; in der DDR-Geschichte oder den Umbrüchen nach der Wende?

Wagner: Mit Sicherheit spielt beides eine Rolle. Man darf das nicht pauschal beurteilen, wir müssen jeden Fall einzeln betrachten.

SPIEGEL ONLINE: Wurden die Studien des DDR-Innenministeriums damals veröffentlicht?

Wagner: Nein, die waren geheim. Intern gab es allerdings großen Ärger. Nach dem zweiten Forschungsbericht musste ich meinen Posten als Koordinator der Studien räumen, die Ergebnisse waren einfach politisch unangenehm.

SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?

Wagner: [red}Schon die reguläre Kriminalstatistik war problematisch, vor allem wegen der Selbstmorde. Da gab es in der DDR im internationalen Vergleich erhöhte Zahlen. Und dann kam auch noch unsere Studie hinzu - da war natürlich niemand im Innenministerium begeistert.[/red]

SPIEGEL ONLINE: Was hat das für Sie persönlich bedeutet?

Wagner: Intern gab es Repressionen für mich. Ergebnisse der Studien sind in den Westen gelangt und man hat mir Geheimnisverrat vorgeworfen. Sagen wir mal so: Es war für mich gut, dass die Wende kam.

Das Interview führte Jens Todt

http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,370243,00.html




Dann wählt mal wieder die SED. Ihr scheint es ja zu brauchen.
 
aus der Diskussion: Schönbohm: DDR-Politik für Gewalt mitverantwortlich
Autor (Datum des Eintrages): Zaharoff  (18.08.05 12:22:37)
Beitrag: 39 von 39 (ID:17598121)
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