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Kommentar

Auf Gedeih oder Verderb

Ein Blick ins Gesetz erleichtert nicht nur die Rechtsfindung, sondern auch die Koalitionsbildung. Der Kanzler, die Kanzlerkandidatin und ihre jeweiligen Anhänger wiederholen bisher in Interviews und Stellungnahmen unermüdlich eine falsche Behauptung, die sich in den Köpfen festgefressen hat: dass die stärkste Fraktion den Kanzler stelle und dass das eine selbstverständliche Regel sei.
Von Heribert Prantl



Deshalb hat die SPD versucht, sich selbst durch rechnerische Zerlegung der CDU/CSU als stärkste Fraktion zu definieren. Stärkste Fraktion stellt automatisch Kanzler? Das ist Unsinn und das widerspricht Verfassung und Rechtslage.

Weder Angela Merkel noch Gerhard Schröder haben einen Anspruch auf die Kanzlerschaft. Die stärkste Fraktion stellt den Bundestagspräsidenten – nur das ist eine parlamentarische Regel. Der Kanzler indes wird nicht von der stärksten Fraktion „gestellt“, wie derzeit ununterbrochen behauptet wird. Kanzler wird vielmehr derjenige, der im Bundestag in geheimer Wahl eine Mehrheit der Stimmen erhält.

Dazu kann im ersten Wahlgang ausschließlich der Bundespräsident einen Vorschlag machen, danach aber nicht etwa nur die stärkste Fraktion, sondern 25 Prozent der Abgeordneten, die nicht einmal der gleichen Fraktion angehören müssen – oder auch eine Fraktion, wenn sie nur mindestens 25 Prozent der Abgeordneten umfasst.

Brandt und Schmidt kamen aus der zweitstärksten Fraktion

Als Willy Brandt 1969 SPD-Kanzler wurde, war die Union die bei weitem stärkste Fraktion. Aber Brandt wurde eben gleichwohl von SPD und FDP mit Mehrheit gewählt. Genauso war es 1976 bis 1983: SPD-Kanzler Helmut Schmidt kam nicht aus der stärksten, sondern aus der zweitstärksten Fraktion. Im Übrigen ist es nicht neu und kein Anlass für Panik, dass Koalitionsverhandlungen lange dauern: Unter Schmidt und Genscher im Jahr 1976 waren das immerhin 71 Tage.

Nun sind nicht alle alten Erfahrungen aus einem Drei-Fraktionen-Parlament übertragbar auf einen Bundestag mit jetzt fünf Fraktionen. Eine Wahrheit aber gilt immer: Koalitionen sind Bündnisse auf Gedeih, nicht auf Verderb. Solange also die CDU/CSU schon zum Beginn von Koalitionsgesprächen, quasi als deren Voraussetzung, das maximale Zugeständnis – den Kopf von Gerhard Schröder – fordert, kann sich Gedeihliches nicht entwickeln.

Fundament jeder Koalition ist ein Verhandlungsfrieden, nicht aber ein Kapitulationsfrieden. Eine Koalition kann keine Societas leonina sein, keine Löwengesellschaft, bei der einer nur danach trachtet, den anderen aufzufressen. Wenn sich eine Koalition dazu entwickelt, wird es Zeit, sie zu beenden. Wenn sie schon so beginnt, kann man sie nicht bilden.


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Es ist daher vernünftig, an den Anfang von Koalitionsgesprächen die Sachfragen und die Überlegungen zu einem potenziellen Regierungsprogramm zu stellen – weil sich ja womöglich Positionen in der Sache entwickeln können, die ein bisheriger Spitzenkandidat gar nicht mittragen kann oder will. Sachfragen können bisweilen Personalfragen entscheiden. Bei aller Bedeutung der Spitzenkandidaten: Es hat am 18. September keine Volkswahl des Bundeskanzlers stattgefunden.

Die Union wäre töricht, wenn sie sich in eine Situation begäbe , in der sie als Gesprächsblockierer dasteht – weil sie damit öffentlichen Unwillen auf sich zieht und der SPD den Boden für andere Optionen bereitet. Erstens: Die bloße Möglichkeit von Neuwahlen wird zumal die FDP in besondere Unruhe versetzen, weil zahlreiche FDP-Abgeordnete fürchten müssen, einem neuen Bundestag nicht mehr anzugehören.

Wie sich die FDP für eine Ampel erwärmen könnte...

Auf diese Weise könnte es doch noch dazu kommen, dass sich die FDP mit einer Ampel-Koalition anfreundet – und dies dann nobel mit übergeordneten staatspolitischen Notwendigkeiten begründet. Je länger die Dinge treiben, um so weniger Verständnis wird es innerhalb und außerhalb der FDP für eine liberale Totalverweigerung geben. Noch konzentriert sich der öffentliche Druck auf die Grünen, sich doch noch in eine Koalition mit Union und FDP zu bewegen.

Eine Unfruchtbarkeit der Gespräche zwischen Union und SPD könnte schließlich auch das Klima dafür schaffen, den im Grundgesetz vorgesehenen dreistufigen Wahlmechanismus in Gang zu setzen – bei dem der SPD-Kandidat, das ergibt sich aus der linken Mehrheit im Bundestag, die größeren Chancen hat. Er könnte dann als gewählter Kanzler mit neuer Autorität einen Koalitionspartner suchen.

Der vorsätzlich forcierte Kanzlerstreit lenkt ab von einem noch viel größeren Problem, dem sich beide Noch-Volksparteien nicht nähern wollen: Es geht um das Selbstverständnis beider Parteien, es geht darum, wie man auf die dramatische Abwendung der Wähler aus der unteren Mittelschicht reagieren soll.

Die Fronten bei den zentralen Fragen der Reform von Arbeitsmarkt und Sozialstaat verlaufen quer durch SPD und Union. In der Union wird die Kritik an einem zu wirtschaftsnahen Kurs lauter, aber zugleich auch der Ruf nach einem Friedrich Merz, der diesen Kurs verkörpert. Der Konflikt zwischen einem eher neoliberalem und einem eher wohlfahrtsstaatlichen Denken kann Union wie SPD zerreißen. Das beidseitige sture Beharren auf der Spitzenpersonalie ist ein Leim, der nicht lange hält.

(SZ vom 06.10.2005)

http://www.xn--sddeutsche-zeitung-m6b.de/,tt1l3/deutschland/…
 
aus der Diskussion: Der wankende Staat...(oder auch: "es ist 5 vor 12...!")
Autor (Datum des Eintrages): DermitdemWolfheult  (06.10.05 21:23:18)
Beitrag: 23 von 25 (ID:18169391)
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