Fenster schließen  |  Fenster drucken

Anhaltende Unsicherheit an der Wall Street
Hartnäckige Flaute oder Wende zu Jahresendrally?
Die amerikanischen Aktienmärkte scheinen unentwegt von Gewinnwarnungen, erhöhten Erdölpreisen und dem schwachen Euro in Schach gehalten zu werden. Viele Analytiker glauben jedoch, dass diese Faktoren bald an Bedeutung verlieren werden, so dass ein Jahresendrally doch noch Realität werden könnte.
Tz. New York, 27. September
In sarkastischer Anlehnung an die Hexenszene in Shakespeares Drama «Macbeth» hat der Chefökonom von Merrill Lynch, Bruce Steinberg, seinen letzten wöchentlichen Wirtschafts- und Finanzkommentar mit «Double, Double, Oil, and Trouble» überschrieben. Tatsächlich schienen die amerikanischen Aktienmärkte während der letzten Handelstage weiterhin von neuen Gewinnwarnungen, den erhöhten Erdölpreisen und vom schwachen Euro verhext zu werden. Der Handel blieb von hoher Unsicherheit geprägt. Kalte Füsse bekamen in letzter Zeit offenbar auch viele Firmen-Insider. Gemäss der Fachpublikation «Vickers Weekly Insider» erhöhte sich das Verhältnis von Aktienveräusserungen zu Titelkäufen in der letzten Woche massiv, nämlich von 1,74:1 im Durchschnitt der letzten acht Wochen auf 2,65:1.
Einige führende Wall-Street-Auguren versuchen nun aber dieser negativen Grundstimmung doch die Stirn zu bieten und wagen die Prognose eines substanziellen Jahresendrallys. Auf ein rosiges Szenario setzt nicht nur die geradezu legendäre, bei Goldman Sachs aktive Börsenoptimistin Abbey Cohen, sondern auch etwa Peter Camelo, der US-Anlagestratege von Morgan Stanley. Und ein mittelfristig bemerkenswert günstiges Umfeld für Aktienanlagen skizziert ebenso der eingangs zitierte Steinberg. Im Wesentlichen vertreten die zuversichtlich gestimmten Auguren den Standpunkt, dass die Bedeutung von Gewinnwarnungen und der Einfluss der Erdölpreiserhöhungen sowie der Euro-Schwäche stark überschätzt würden. Canello macht einmal geltend, dass die «Beichtsaison» kein ausgewogenes Urteil über die effektive Gewinnentwicklung erlaube und in der Regel zu starke Ängste wecke. Zu bedenken sei, dass seit Ende 1995 regelmässig rund drei Viertel aller Gewinnerwartungsrevisionen, welche die Unternehmen in den Wochen vor der Publikation der effektiven Quartalsdaten bekanntgaben, eine negative Korrektur betrafen. Camelo nimmt an, dass die Gewinne der vom S&P 500 erfassten Konzerne im zweiten Semester zwar weniger als noch im zweiten Quartal (gut 20%) zulegen werden, doch unentwegt stattliche Zuwachsraten von mindestens 17% im dritten und von 15% im Schlussquartal aufweisen werden.
Als eher kurzfristiges Phänomen werden von etlichen Wall-Street-Ökonomen sodann die starken Erdölpreiserhöhungen der letzten Wochen interpretiert. Steinberg führt ins Feld, dass die globale Erdölproduktion gegenwärtig 4% über dem Vorjahresniveau liege, während die Nachfrage bloss um 1% zugenommen habe; so erwartet man bei Merrill Lynch, dass sich der Preis des «schwarzen Goldes» im Schlussquartal wieder stark abschwächen und im kommenden Jahr bloss noch im Durchschnitt bei 25 $ pro Fass notieren wird. Im Weiteren vermutet Steinberg, dass der Euro seine Talsohle (mit oder ohne Interventionen) nun doch erreicht hat. Allerdings erwartet er trotz einer gewissen Konvergenz des Wirtschaftswachstums dies- und jenseits des Atlantiks höchstens eine moderate Erholung des Euro, da Amerika weiterhin als bessere Anlagedestination gelten dürfte und die Europäer an den US-Aktienmärkten noch immer relativ bescheiden engagiert seien.
Am Markt für Aktienerstemissionen (IPO) konnte CoSine Communications Inc. am Dienstag einen bemerkenswerten Erfolg feiern. Trotz dem Schatten, den der Halbleiterkonzern Intel am letzten Freitag mit einer herben Gewinnwarnung auf den Technologiesektor geworfen hatte, stieg der Aktienkurs von CoSine bis zum Schluss des ersten Handelstags auf $ 63.06 und damit um 174% über den Ausgabepreis von 23 $. Damit wies die Gesellschaft bereits eine Kapitalisierung von 6,3 Mrd. $ auf. Das war eine bemerkenswerte Performance für ein Unternehmen, das erst gerade im ersten Quartal mit der Auslieferung seiner Produkte begonnen hatte und für das Semester per Ende Juni bei einem Umsatz von 7,6 Mio. $ noch einen Verlust von fast 60 Mio. $ ausweisen musste. Die Emission von 10 Mio. CoSine-Titeln (10% des Aktienkapitals) erbrachte zum Emissionspreis 230 Mio. $. Damit erreichte das im bisherigen Jahresverlauf von Thomson Financial registrierte Volumen von Aktienerstemissionen 68,77 Mrd. $ und übertraf so bereits den 68,66 Mrd. $ betragenden Ganzjahresrekord von 1999.
Der Erfolg von CoSine und der neue Emissionsrekord sollten jedoch laut IPO-Experten nicht über die empfindliche Abkühlung am Primärmarkt für Aktien hinwegtäuschen. Seit dem Kurseinbruch an der Nasdaq im letzten April mussten viele Emissionen abgeblasen werden. Dies betraf vorab Deals kleiner Startup-Gesellschaften, und Analytiker etikettierten den Grosserfolg von CoSine eher als Ausnahme; die Gesellschaft operiere nämlich im überdurchschnittlich heissen Geschäft mit optoelektronischen Kommunikationsnetzen. Die Dynamik in diesem Sektor wurde am Mittwoch auch von der Nachricht unterstrichen, dass Corning für den Erwerb der 90%igen Pirelli-Tochter Optical Technologies 3,6 Mrd. $ zahlen will (vgl. Bericht im Wirtschaftsteil). Gemäss Thomson Financial fiel die Zahl der Aktienerstemissionen von 543 im letzten Jahr auf 369 im bisherigen Jahresverlauf. Entsprechend stieg die durchschnittliche Grösse der Emissionen um fast 50% auf 186,4 Mio. $. Dabei wurde aber erst noch eine ungewöhnlich grosse Zahl von Deals über 1 Mrd. $ registriert. Stark erhöht wurde das Emissionstotal insbesondere durch den rekordhohe 9 Mrd. $ eintragenden IPO von Tracking-Aktien der AT&T Wireless Group. In einem volatileren Umfeld wurden offenkundig grosse und liquide Deals bevorzugt.
 
aus der Diskussion: Börsenguru`s
Autor (Datum des Eintrages): Defense  (28.09.00 15:10:39)
Beitrag: 54 von 150 (ID:1945696)
Alle Angaben ohne Gewähr © wallstreetONLINE