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[posting]22106052[/posting]30.

Als ich gerade in eine andere Richtung gucken wollte, um mich nach einem Spaten umzusehen, mit dem ich mich eingraben konnte, bemerkte ich die Wirkung meiner Frage.
Es war unglaublich.
Niemand konnte größere Augen als Lisa haben.
Hatte ich gedacht.
Falsch.
Jemand konnte.
Sie selbst.
Nur sie selbst konnte sich diesbezüglich übertreffen und sie tat genau das.
„Daher kenne ich dich!“, rief sie.
Ich war ihr aufgefallen.
Unglaublich.
Das war mehr, als ich bei realistischer Betrachtung von meinem Leben erwartet hatte. Wenn mich jetzt ein Blitz traf und auslöschte, war es durchaus gerecht.
Aber was auch immer mich gerade traf, es löschte mich nicht aus, sondern fuhr nur durch mein Rückgrat und gab mir das Gefühl, dass meine Wirbel plötzlich allesamt ein grelles Licht beherbergten.
„Spielst du noch Schach?“, fragte sie.
„Ich bin gesperrt“, antwortete ich.
„Warum?“
„Ich war für eine Bezirksmeisterschaft angemeldet und dann ergab sich die Möglichkeit, eine Ausbildung in der Gastronomie zu machen. Da musste ich gleich zwei Wochenenden hintereinander arbeiten.“
Jetzt sah sie wieder ganz gefasst aus. Sie wirkte interessiert. Das haute mich fast um. Sie war bei vollem Verstand und trotzdem irgendwie interessiert an mir. Ich will damit nicht den Eindruck erwecken, dass ich unter übermäßiger Bescheidenheit litt, aber objektiv betrachtet war die Möglichkeit, dass sich das hier alles tatsächlich ereignete, etwa so wahrscheinlich, als wenn sich eine fliegende Taube in einen Backstein verwandelte. Oder vice versa.
„Hast du dich nicht abgemeldet?“, fragte sie.
„Ich habe es dem Vorsitzenden gesagt, der auch am Turnier teilnahm, aber er hat es wohl nicht weitergegeben.“
„Schade. Aber die Hauptsache ist natürlich, dass du einen Ausbildungsplatz hast“, sagte sie nachdenklich.
Ich verzichtete darauf, sie auf die Feinheit hinzuweisen, dass das eigentlich erst beim nächsten Anlauf geklappt hatte. Der Restaurantinhaber, der mich zwei Wochen lang zwei krank geschriebene Hauswirtschafterinnen hatte ersetzen lassen, war pünktlich zu deren Rückkehr zu der Meinung gelangt, dass ich doch nicht für den Beruf geeignet war und mit hundert Mark für ein „Praktikum“ zufrieden sein sollte. Aber jetzt wurde ich schließlich doch noch Koch und damit waren meine Wochenenden futsch.
„Ja“, sagte ich.
„Wolltest du nicht studieren?“, fragte sie.
Offensichtlich hatte sie noch nie von meinem Vater gehört.
„Ich wollte schon so vieles“, sagte ich. „Früher wollte ich auch Stadtmeister im Schach werden. Was ist mit dir? Spielst du noch?“
„Nein. Bei meiner letzten Turnierpartie habe ich noch richtig gekämpft, aber nach 35 Zügen musste ich aufgeben.“
„Kann passieren“, sagte ich.
„Ja, das war auch nicht der Punkt. Doch nach der Partie verriet mir mein Gegner, dass er bei keinem seiner Züge wirklich nachgedacht hatte.“
„Ein Naturtalent.“
„Nein, er kannte die Partie vorher schon!“
„Ein Hellseher?“
„Nein, es gab dazu eine Partie von zwei Großmeistern, die er auswendig gelernt hatte. Schon nach dem fünfzehnten Zug war ich verloren gewesen. Er konnte mir nicht erklären, warum dieser Zug falsch war, außer dass damit vor ein paar Jahren ein Großmeister verloren hatte.“
„Tja“, sagte ich, „die Theorie des Schachspiels entwickelt sich eben immer weiter und die Praxis bringt immer wieder neue Überraschungen. Um wirklich Erfolg zu haben, muss man jeden Tag ein paar Stunden die neuesten Entwicklungen studieren.“
„Und dazu hatte ich keine Zeit“, sagte sie. „Erst recht nicht als Studentin.“
Damit machte sie meinen Vater zum Lügner. So weit ich zurückdenken konnte, hatte mein Vater mir gepredigt, alle Studenten seien faul und würden sich nur vor der Arbeit drücken, um ihr ganzes Leben lang ihren Eltern zur Last zu fallen und unbekümmert ihren Hobbys nachzugehen. Darum hatte er mir auch schon an der Grundschule ständig damit gedroht, dass er mich sofort vom Gymnasium nehmen würde, wenn ich nur das geringste Zeichen von Faulheit erkennen lassen würde, wie zum Beispiel den Wunsch zu studieren. Darum hatte er mich auch nach zwei Jahren zur Hauptschule geschickt. Vielleicht war es auch kein Zufall, dass die Schlägertypen, die mir dort das Leben zur Hölle gemacht hatten, die jüngeren Brüder seiner Saufbrüder gewesen waren und mir wie er ständig vorgeworfen hatten, ich hielte mich für „was Besseres“ und sie müssten mich deshalb zur Räson bringen.
„Was studierst du?“, fragte ich.
Sie sah mich an. Sie hatte wirklich die Augen eines Engels, aber ansonsten eigentlich mehr das Gesicht einer Madonna. Ich meine, Engel sind doch meistens etwas pummelig und pausbäckig. Und Madonnen haben ihren Blick meistens gesenkt. Während ich versuchte, damit klarzukommen, schossen unzählige Gemälde italienischer Meister an meinem Inneren Auge vorbei.
„Kunstgeschichte?“, fragte ich weiter, ehe sie antworten konnte.
„Woher weißt du da?“
Sie staunte.
„Und warum guckst du so komisch? Ist dir schwindelig?“
„Nein“, log ich. „Ich bin nur geblendet.“
Sie sah sich um und blickte mir dann wieder in die Augen.
„Diese Strahler sind nicht ungefährlich. Du darfst nicht direkt hineinsehen. Augenärzte warnen davor.“
„Du bist so klug...“
... wie du schön bist.
„Du machst dich über mich lustig!“
Sie wurde rot.
Das war endgültig zuviel für mich.
Ich konnte nicht mehr denken.
Vielleicht konnte ich wenigstens noch so tun. Das war jedenfalls meine letzte, vage Hoffnung.
„Äh, spielst du immer noch die Züricher Variante des Capablanca-Systems in der Nimzo-Indischen Verteidigung?“, fragte ich.
Es gab Strip-Poker. Vielleicht ging das auch mit Schach.
Wo waren meine Hände? Vielleicht sollte ich sie jetzt sicherheitshalber in die Hosentaschen stecken, ehe ich mich ohne Sinn und Verstand an ihr vergriff.
Nein, nur nicht in die Hosentaschen.
Raus damit.
„Hallo!“, rief eine andere Frau.
Sie gab Lisa einen Drink.
Warum war ich darauf nicht gekommen?
„Lisa, wer ist das?“, fragte die andere Frau.
Wahrscheinlich gehörte zu dieser Stimme auch ein Körper.
„Ein alter Freund“, sagte sie.
Der Klang ihrer Stimme erinnerte mich daran, dass ich die Hände aus den Hosentaschen nehmen wollte. Aber das ging nur mit einer Hand. Die andere klemmte irgendwie.
„Ich bin... Koch“, sagte ich zu der Störerin.
„Lecker“, sagte sie.



Fortsetzung folgt
 
aus der Diskussion: Die Leiden eines Kochs
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (19.06.06 19:04:22)
Beitrag: 41 von 74 (ID:22174620)
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