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32.

Nadine zeigte Lisa ihre Armbanduhr.
„Ich weiß“, sagte Lisa.
Irgendwie schien sie mich für psychologisch interessant zu halten. Sie sah mich genauso an, wie sie früher auf das Schachbrett gesehen hatte. Jetzt erinnerte ich mich wieder, dass wir sogar einmal offiziell gegeneinander gespielt hatte, kurz nachdem ich alle Hoffnungen aufgegeben und frustriert in meinen alten Klub zurückgekehrt war.
Ich dachte, dass ich ohne die Anwesenheit von Nadine vielleicht eine Chance gehabt hätte, aber eine perfekte Frau wie Lisa hatte natürlich auch die für sie perfekten Frende, auf die sie sich in so einer Grenzsituation perfekt verlassen konnte.
„Ich bin jeden Abend hier“, sagte ich.
Ein Versprechen, das ich anschließend fast drei Monate lang hielt.
„Wenn du sowieso jeden Abend hier bist, kann man dich ja leicht finden“, sagte Nadine.
Ich nahm einen Schluck Bier.
„Bis demnächst“, sagte Lisa und gab mir die Hand.
„Mach’s gut“, sagte ich. „Es war schön, dich wiederzusehen. Eine unglaubliche Überraschung.“
„Überraschungen gibt es immer wieder“, sagte Nadine.
Ich verabschiedete mich auch von Nadine.
„Hast du eigentlich eine Telefonnummer, Lisa?“, fragte ich.
„Hat sie“, sagte Nadine und zog sie am Arm. „Die gibt sie dir nächstesmal.“
Ich sah den beiden nach.
Als ich wieder nach vor sah, stand plötzlich ein großer bärtiger Mann vor mir, der anscheinend gerade die Tanzfläche überquert hatte. Er besaß einen Blick, vor dem ich zurückging. Das war mir schon lange nicht mehr passiert. Sehr lange. Genau seit den Tagen, als ich Lisa zum ersten Mal gesehen hatte. Er war der Mann, mit dem sie immer zusammen gesessen hatte und mit dem sie immer fortgegangen war. Es schmerzte mich, dass es jemand war, der mir so überhaupt nicht ähnelte.
„Wir sind nur gute Freunde“, sagte ich.
„Wir sind Freunde?“, fragte er.
„Wir nicht“, stellte ich klar. „Ich rede von Lisa.“
Plötzlich wirkte er etwas verwirrt.
„Wer... Lisa ist hier?“
„Nicht mehr“, sagte ich. „Ich habe sie gerade gehen lassen. Sie hat morgen eine Vorlesung. Wie schon gesagt...“
Jetzt guckte er mich wieder so an, wie ich es kannte.
So, dass man annehmen konnte, er hätte mich mit ihr reden sehen und würde sich gerade für mich eine angemessene Todesart überlegen.
Dann zwängte er sich ohne weitere Worte durch die Leute neben mir und ging zum Ausgang.
Ich begegnete ihm nie wieder.
Lisa auch nicht.
Ich ging drei Monate lang jeden Abend um diese Zeit in diese Disco, wenn ich pünktlich genug Feierabend oder einen freien Tag hatte, aber ich sah sie nie wieder.
Jedenfalls nicht in der Realität.
Umso häufiger ich darüber nachdachte, desto mehr schmerzte es mich. Ich versuchte mein altbewährtes Heilmittel gegen Herzschmerz und ging wieder in den Puff, was ich sowieso immer tat, wenn ich keine Freundin hatte, aber das machte es diesmal nur schlimmer. Noch eine überraschende Wendung.
Nach drei oder vier Monaten entdeckte ich dann eines Nachmittags, dass Perfektion ganz unterschiedlich aussehen konnte.
Ich fuhr mit dem Rad durch die Stadt und als ich anhalten musste, weil ich nicht mehr geradeaus oder auch nur ungefähr in Fahrtrichtung gucken konnte, stellte ich fest, dass es auch an mir etwas gab, was perfekt war.
Nämlich meine Reflexe.
In ungefähr zehn Metern Entfernung ging eine Frau in ein Büro. Sie war unauffällig gekleidet ließ in keiner Weise erkennen, ob sie sich der Menschen um sie herum bewusst war. Vielleicht wäre sie mir nicht aufgefallen, wenn es nicht so windig gewesen wäre und ihre langen blonden Haare im Wind geflattert hätten.
Das hatte mich unwiderstehlich auf sie aufmerksam gemacht.
Ich liebte dieses Wetter. Auch wegen der heute anscheinend wieder durchlässigen Wolken.
Ich sah ihr hinterher.
Ich guckte, wie sie reinging und die Tür hinter sich schloß und dan guckte ich noch eine ganze Weile, ob sie wieder herauskam.
Und als ich mir sicher war, dass sie in nächster Zeit nicht wieder heraus kommen würde, guckte ich trotzdem noch weiter auf die Tür.
Mein Kopf war total leer.
Schließlich fuhr ich zurück zur Arbeit, assistierte Ulf beim Abendgeschäft, war extrem vorsichtig mit dem Salz, hielt nach Feierabend zum letzten Mal nach Lisa Ausschau, verbrachte eine schlaflose Nacht und war am folgenden Tag zur gleichen Zeit an der gleichen Stelle.
Diesmal brauchte es keinen Wind oder Wink von höherer Stelle, damit ich sie sah. Ihre Bewegungen enthielten irgendeinen versteckten Zauber.
Ich ließ mein Rad stehen und ging ihr nach.
Sie saß hinter einem Schreibtisch und sah mich mit großen Augen aufmerksam an. Ich fühlte mich, als sei ich ein Rockstar auf einer Bühne vor einem Publikum von hunderttausend Leuten, mitten in einem Solo, beleuchtet von einem riesigen Lichtkegel.
Ein Erlebnis, das alle anderen Erstbegegnungen verblassen ließ.
Hatte ich die Tür hinter mir geschlossen?
Ja.
„Was kann ich für dich tun?“, fragte sie schließlich.
„Ich will mitmachen“, sagte ich.
„Hast du dich vorher informiert?“
„Ich habe beim Reinkommen Plakate und Fotos gesehen“, sagte ich.
Ich konnte nicht einmal sagen, wie groß die Plakate gewesen waren.
Oder die Fotos.
Fotos?
„Ja, und jetzt?“, fragte sie.
„Ich will mitmachen“, sagte ich tapfer.
Nur nichts Falsches sagen.
Sie nickte.
„Ich will dabei sein“, sagte ich, nur um etwas Neues zu sagen.
„Hast du vielleicht noch Fragen?“, erkundigte sie sich mit einem halb belustigten, halb besorgten Lächeln.
„Oh ja.“
„Du hast also eine Frage.“
„Du hast ja keine Ahnung!“
„Dann frag doch ruhig.“
„Diese Frage bedeutet sehr viel für mich. Darum bin ich... am Zögern“
„Okay.“
„Also wirklich, ich weiß nicht, ob du das verstehst, warum das...öh...“
„Dann frage doch einfach...“
Sie lächelte wieder. Diesmal lächelte sie wie später die beste Chefin von allen.
„Gut“, stieß ich hervor.
Sie nickte.
Ich atmete tief ein und versuchte mich ganz auf diesen einen Moment zu konzentrieren.
Sie sah mich gespannt an.
„Darf ich näher kommen?“, fragte ich schließlich.
„Bevor du mir diese bange Frage stellen kannst, willst du erst näher kommen?“
„Das war schon die Frage.“

Fortsetzung folgt
 
aus der Diskussion: Die Leiden eines Kochs
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (22.06.06 00:01:50)
Beitrag: 43 von 74 (ID:22216068)
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