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34.

Der nächste Tag begann eigentlich ganz normal, außer dass ich die ganze Zeit über meine Begegnung mit Anna nachdachte. Die Karate-Schule musste sehr gut laufen, wenn der Inhaber sich eine eigene Sekretärin leisten konnte. Aber vielleicht machte sie das auch ehrenamtlich, weil sie sowieso immer dort war, um einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester abzuholen. Vielleicht war sie auch dort gelandet, weil sie früher mit einem Trainer befreundet gewesen war.
Meine Fantasie überschlug sich, wenn ich an sie dachte.
Also die ganze Zeit.
Zum Glück war an diesem Mittag nicht viel los. Die Chefin ließ sich nicht blicken. Ulf nutzte das, um sich in Szene zu setzen und vor meinen Augen ein Soufflé zuzubereiten.
„Jetzt siehst du einmal ein richtiges Dessert.“
„Ich habe schon eher Dessert gesehen“, sagte ich.
„Blödsinn, du kennst die Eistruhe und das war es.“
„Meinetwegen.“
Wenn er so drauf war, konnte ihn nichts aufhalten. Worte schon gar nicht.
Ich guckte mir das Ganze an.
Anna aß bestimmt nie Dessert. So schlank wie sie war.
Das Soufflé ging gut auf. Es kam richtig hoch. Ulf wurde irgendwie auch immer größer, während er mich immer wieder darauf hinwies, wie gut das Soufflé aufging.
Zwischendurch brachte er ein paar leere Töpfe zur Spüle.
Als er hinter der Trennwand verschwand, kam die Juniorchefin durch den Hintereingang in die Küche geschlichen.
„Miami Vice!“, rief sie.
Das war ihre Lieblingsserie. Vielleicht trug das dazu bei, dass Ulf sich immer wie der Held dieser TV-Show kleidete und alles andere verachtete.
Ich guckte sie an.
Sie tat so, als hielt sie eine Handfeuerwaffe in der Hand und posierte tatsächlich wie Don Johnson vor ungefähr jeder zweiten Werbepause.
Wie kindlich. Mir war es im Nachhinein peinlich, dass ich ihr Alter so völlig falsch eingeschätzt hatte, als wir uns zum ersten Mal gesehen hatten.
„Schon schulfrei? Was soll das überhaupt darstellen?“, fragte ich genervt. „Charlies Engel?“
Meine Frage wurde von einem atemberaubenden Geschepper übertönt. Ulf hatte vor Schreck seine Töpfe fallen lassen und war gestolpert. Oder umgekehrt. Wie auch immer, das Ergebnis war ein bestialischer Lärm, in den sich Unmutsäußerungen mischten, die sich selbst bei wohlwollendster Rezeption lediglich als vage menschenähnlich einordnen ließen.
„Mama?“, fragte sie.
„Das ist bloß Ulf, der sich heute etwas verausgabt hat“, sagte ich.
„Du bist witzig“, sagte sie.
„Ich kann mich nicht erinnern, dass ich einen Witz gemacht hätte.“
„Ich habe nicht gesagt, dass du etwas dafür kannst.“
„Hörmal, ich will dich nicht anmachen“, stellte ich klar. „Dafür bist du noch zu jung.“
„Du und mich anmachen? Ich bin zwar jung, aber nicht blöd.“
„Was?“
„Oder blind.“
„Wie bitte?“
„Rasier dich mal“, sagte sie.
„Also...“
Ulf kam wieder hinter der Trennwand hervor. Er grinste wieder. Dafür hatte er also so lange gebraucht
„Soll ich dir mal was zeigen?“, fragte er sie.
„Bist du betrunken?“, fragte sie.
„Warum?“
„Weil es noch nicht dunkel oder Abend ist.“
„Darum darf ich dir doch trotzdem mal was Schönes zeigen?“
„Warum sollte ich es sehen wollen?“, fragte sie.
„Um mal zu gucken, wie groß so ein Teil werden kann? Bei jemandem wie mir?“
Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger.
„Ich habe dich gewarnt. Diesmal sage ich es meiner Mutter!“
„Ich rede doch nur vom Soufflé.“
„Soufflé?“
Ich schaute auf die Uhr, beschloß die beiden sich selbst zu überlassen und ging in die Mittagspause. Nachdem ich mich umgezogen hatte und mit Meggie eine kleine Runde gelaufen war, setzte ich mich auf mein Rad und fuhr zum nächsten Geldautomaten. Dort hob ich ab, was ich brachte, um die Aufnahmegebühr, den ersten Monatsbeitrag und einen neuen Karate-Anzug zu kaufen. Anschließend radelte ich zur Karate-Schule und wartete am Eingang auf Anna. Ihr Haar flatterte wieder im Wind, als sie auf mich zukam.
Es gab Dinge zwischen Himmel und Erde, da halfen kein Karate und kein Kung Fu und auch keine Abseitsfalle.
Da war man ohne Abwehr ausgeliefert.


Fortsetzung folgt
 
aus der Diskussion: Die Leiden eines Kochs
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (23.06.06 23:54:10)
Beitrag: 47 von 74 (ID:22254302)
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