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35.

Als ich im Vertrag der Schule eine Klausel fand, wonach man im Falle unanständigen Verhaltens vom Besuch der Schule ausgeschlossen werden konnte, zögerte ich mit dem Unterschreiben.
„Kriegt jeder diesen Vertrag?“, fragte ich.
„Das ist immer derselbe Vertrag“, versicherte sie mir.
Ich sah ihr in die Augen.
„Aber die Gedanken sind frei, oder?“
„Wie bitte?“, fragte sie.
„Das war nur ein Scherz.“
„Vielleicht solltest du dir das noch einmal in Ruhe zu Hause durchlesen, ehe du unterschreibst“, sagte sie.
„Das war nur ein Scherz“, wiederholte ich.
„Steh auf.“
Ich hatte es vergeigt. Es wurde ihr zu dumm. Sie warf mich raus. Kein Zweifel.
Ich erhob mich seufzend.
„Jetzt gucke ich mal, wie groß der Anzug für dich sein muss.“
Was?
„Muss ich den auch anprobieren?“
„Nein, die Anzüge sind alle weit geschnitten. Aber die Länge der Hosen sollte schon ungefähr stimmen.“
„Okay.“
„Und einen Gürtel brauchst du auch.“
Sie holte aus einer Schublade einen weißen Gürtel.
„Sind keine grünen Gürtel da?“, fragte ich.
„Dafür musst du erst die Prüfungen bestehen.“
„Habe ich doch.“
„Ich dachte, du bist Karate-Anfänger?“
„Ich habe vorher schon Kung Fu gemacht. Shaolin-Kempo. Wird das nicht anerkannt?“
Sie räusperte sich.
„Dann wird dir das Lernen leichter fallen und du wirst bestimmt schnell Fortschritte machen. Aber zuerst musst du mit den Anfängern trainieren.“
„Und du? Trainierst du auch?“, fragte ich.
„Ja.“
„Bei den Anfängern oder schon mit den Fortgeschrittenen?“
„Anfänger.“
„Dann werden wir uns da wohl treffen!“, rief ich begeistert.
Und wenn ich erst meinen grünen Gürtel tragen durfte, war ich wahrscheinlich ihr Held.
„Möglich.“
Mir fiel wieder auf, dass sie auf meine Ausbrüche von Begeisterung jedesmal mit leichtem Befremden reagierte. Ihre Reaktionen waren immer erkennbar, aber dezent. Umso begeisterter ich war, desto mehr dieser feinen Reaktionen zeigte sie und desto schneller vervielfachte sich meine Begeisterung, bis ich irgendwann total euphorisch war und in ihrem Blick eine gewisse Sorge auftauchte, die möglicherweise auf Zweifel an meiner geistigen Gesundheit schließen ließ.
„Kann ich schon morgen zum Training kommen?“
„Sicher.“
„Bist du dann auch da?“
„Wahrscheinlich. Und sonst ist jemand anderes da.“
„Wer weiß, vielleicht kannst du mir ein paar neue Tricks beibringen!“
„Das kann man probieren.“
Ich sah auf meine Armbanduhr. Ich musste wieder zur Arbeit. Das rettete mich davor, sie noch ewig zu belagern und vor Begeisterung zu platzen.
Zunächst kehrte ich ins Restaurant zurück, wo meine Chefin aus irgendeinem Grund in einem Kleid herum spazierte. Sie trug die dicksten Schulterpolster, die ich jemals bei irgendwem gesehen hatte.
Als Ozzy mich starren sah, erklärte er: „Breitere Schultern lassen angeblich die Taille schlanker wirken.“
„Welche Taille?“, fragte ich.
„Das ist nur eine Theorie und in der Theorie könnte jeder sowas einmal gehabt haben.“
Ich fand, dass die Chefin mit diesen extrem breiten Schultern nur noch bulliger aussah. Von hinten betrachtet hatte sie jetzt ein Kreuz wie ein Catcher. Eigentlich passte das zu der Art, wie sie sich durchsetzte und über ihre Stimme Authorität vermittelte. Sicherlich gab es in diesem Zusammenhang auch einen Sinn, dass sie von anderen rabiaten Weibern und von tuntigen Männern vergöttert wurde.
Am nächsten Tag hatte ich frei. Ruhetag. Keine Schule. Ich schlief aus, versuchte durch stundenlanges Einweichen in der Badewanne vollends den Geruch von altem Fett loszuwerden, der mir manchmal vorauseilte, seit ich fast jeden Tag an einer Friteuse arbeiten musste und radelte dann zum Training.
Mein erstes Training.
Ich kam pünktlich in der Schule an.
Sie saß hinter dem Schreibtisch.
Ich zog mich um, ging zu ihr und zeigte auf die Uhr.
„Das Training fängt gleich an“, sagte ich.
„Du kannst schon reingehen und dich aufwärmen“, sagte sie.
„Willst du dich nicht umziehen?“, fragte ich.
Jetzt, da wir uns schon besser kannten, konnte ich eigentlich schon etwas forscher werden, oder?
„Das tue ich gleich.“
„Ich dachte nur, es wäre doch schade, wenn das Training ohne dich anfängt.“
Die fortgeschrittenen Schüler sahen mich auf eine rätselhafte Weise an.
„Das glaube ich nicht“, sagte sie.
Jetzt guckte sie genauso seltsam.
„Aber es ist schon drei Minuten über die Zeit.“
„Das macht nichts“, sagte sie.
„Also, ich gehe jetzt rein“, erklärte ich.
„Nur zu“, sagte sie.
Ich betrat die Trainingshalle und stellte mich zu den anderen fünf Weißgurten.
„Die Blonde kommt gleich auch“, sagte ich. „Übrigens, ich glaube, dass sie sehr beeindruckt davon ist, dass ich in Shaolin-Kempo schon bis zum grünen Gürtel gekommen bin.“
Niemand antwortete.
Es ist schön, wenn die Leute Respekt vor dir haben, aber es kann auch ganz schön einsam machen.
Endlich kam sie im Trainingsanzug durch die Tür.
Meine Mitschüler stellten sich in einer Reihe auf und nahmen Haltung an.
Sie zupfte ihren schwarzen Gürtel zurecht.

Fortsetzung folgt
 
aus der Diskussion: Die Leiden eines Kochs
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (25.06.06 00:12:57)
Beitrag: 48 von 74 (ID:22261495)
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