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39.

In den ersten Urlaubstagen las ich noch einmal „Es muss nicht immer Kaviar sein“ von Johannes Mario Simmel. Ich versuchte mich zu erinnern, wie dieser großartige Roman über einen begnadeten Hobby-Koch mich auf die Idee gebracht hatte, ausgerechnet das Gegenteil davon, nämlich professioneller Koch, zu werden. Mittlerweile gefiel mir das Buch sogar noch viel besser als früher, aber ich fragte mich, wo ich da gelesen haben konnte, das jemand wie ich sein Glück in der Küche eines Restaurants suchen sollte. Ich hatte doch auch Dutzende oder sogar Hunderte von Wildwest-Streifen gesehen, ohne jemals ein Pferd zu erklimmen.
Manchmal radelte ich in den Park oder in die nahe gelegene Heide und benutzte die alten „Trimm Dich“-Pfade. Das machte ich aber immer erst nachmittags, wenn ich davon ausging, dass die Chefin an diesem Tag nicht mehr anrufen würde.
Am liebsten wäre ich natürlich in Urlaub gefahren und hätte ein paar Tage irgendwo im Ausland verbracht, aber dafür hatte ich sowieso kein Geld. Von meinen Eltern bekam ich nichts mehr. Meine Mutter hatte gerade genug, um die Miete zu bezahlen und die anderen laufenden Kosten zu begleichen und mein Vater sparte alles, was er nicht in der Kneipe vertrinken konnte, für ein neues Motorrad. Wenn es einen charakterfesten Menschen gab, dann meinen Vater. Schon als ich noch zum Kindergarten gegangen war, hatte er beharrlich jede Diskussion abgelehnt, wenn es um die Tatsache ging, dass neue Reifen für sein Motorrad wichtiger als Schuhe für mich waren. Er liebte mich eben auf seine Weise. Er hatte einfach nur seine Prioritäten. Der Beweis, dass er mich mehr als seine Motorräder liebte, war offensichtlich. Seine Motorräder fuhr oder bastelte er meistens kaputt. Für mich gab er zwar weniger Geld aus, aber dafür tat er mir auch keine solchen Dinge an.
Am Donnerstag ging ich aus reiner Langeweile zum Schachklub. Die Psychoanalytiker unter meinen Lesern werden jetzt sofort „Aha!“ rufen und das als Eingeständnis und Beweis dafür sehen, dass angeblich alle Schachspieler von einem „Ödipus-Komplex“ angetrieben werden und mit der Schachspielerei ihrem Papa Böses wollen. Ich habe das nie verstanden, da Freud nie etwas Derartiges ausgesagt und selbst Schach gespielt hat, aber abgesehen davon ging ich einfach dorthin, weil es billig war. Als Schachspieler konnte man sich stundenlang in einer Kneipe aufhalten, ohne mehr als maximal ein Getränk zu sich nehmen zu müssen. Um zu trainieren, brauchte man nur ein Schachbrett und vielleicht noch ein oder mehrere Bücher zu Hause zu haben. Schachsets bekam man auf jedem Flohmarkt für ein paar Mark praktisch nachgeworfen und Bücher konnte man sich ganz umsonst in der Stadtbücherei ausleihen. Das war unvergleichlich billiger als ein Rennrad oder eine Ausrüstung für Fechten oder Eishockey und auch für alles andere, womit ich als Kind meinen Vater beim Basteln an seinen Motorrädern gestört hatte.
An diesem Donnerstag war der Gang zum Schachklub besonders billig, denn die Kneipe hatte Betriebsferien. Außer mir stand noch ein Student vor der Tür und ärgerte sich über das Schild. Ich kannte ihn schon lange. Inzwischen war er ungefähr Mitte dreißig und schob den Abschluss seines Mathematik-Studiums schon seit vielen, vielen Jahren vor sich her. Er war witzig, wenngleich man seine Witze nicht immer verstand, da er sie meistens sich selbst erzählte und ihm das auch zunehmend zur Hauptsache wurde. Man kann ihn am einfachsten beschreiben, indem man sagt, dass er so war, wie laut meinem Vater einfach alle Studenten waren.
Während ich mich mit dem Studenten und er sich überwiegend mit sich selbst unterhielt, kam ein hübsches Mädchen vorbei.
Melanie.
Ich hatte sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen.
Jetzt bedauerte ich das nachträglich.
Sie winkte.
Ich verschenkte keine Zeit mit Zurückwinken oder so.
Ein Sprung und ich war an ihrer Seite. Das, die Augenbrauen hochzuziehen und „Hi!“ zu schreien, war eine einzige Geste.
„Bonsoir“, sagte im Weitergehen.
Na also, sie liebte mich noch immer.
Jetzt muss ich erst einmal überlegen, ob ich im nächsten Kapitel zum ersten Mal die Wahrheit über diese Begegnung erzählen soll.

Fortsetzung folgt
 
aus der Diskussion: Die Leiden eines Kochs
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (01.07.06 22:06:29)
Beitrag: 52 von 74 (ID:22374124)
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