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[posting]21264565[/posting]44.
Sie nahm mir gegenüber Platz. Ich konnte mich nicht erinnern, sie jemals so gut gelaunt und entspannt gesehen zu haben.
Vielleicht hatte sie einen neuen Freund.
Sie sah mich an.
Offensichtlich erwartete sie, dass ich etwas sagte.
Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Ich wusste allerdings, dass sie schnell enttäuscht oder beleidigt war. Vor langer Zeit hatte ich mich von ihrem Temperament und ihrer unverfälschten Emotionalität unwiderstehlich angezogen gefühlt. Aber was aus der Ferne aufregend war, konnte aus unmittelbarer Nähe mehr als das, nämlich erschreckend werden.
Am besten sagte ich gar nichts.
Ich betrachtete sie nur. Sie war schlank wie immer und ihre Haare waren jetzt sehr kurz. Sie besaß nach wie vor dieses perfekte Gesicht.
Sie sah aus dem Fenster und lächelte.
Typisch weiblich.
Mir fiel noch etwas auf.
“Heute so patriotisch?”, fragte ich.
“Warum?”
Ich zeigte nacheinander auf ihre schwarze Hose, ihre rote Bluse und ihre blonden Haare.
“Schwarz, rot und Gold.”
Sie sah mich fragend an.
“Die deutschen Nationalfarben!”
Sie wurde knallrot.
Es erstaunte mich immer wieder, dass selbst die coolsten Blondinen so reagierten, wenn man das zu ihnen sagte.
Ich musste grinsen.
Jetzt fühlte ich mich wohler.
“Das war unbewusst”, sagte sie.
Jetzt verteidigte sie sich sogar schon.
“Okay.”
“Wohin bist du unterwegs?”
“Zu einem Schachturnier.”
“Das hätte ich mir denken können.”
“Ja.”
“Manche Dinge ändern sich nie”, sagte sie.
Ich dachte an Melanie und daran, dass ich jedesmal völlig unzurechnungsfähig wurde, wenn ich ihr in die Augen sah. Es war egal, wie oft ich mir einredete, dass ich sie hasste. Es war auch egal, dass ich manchmal dachte, dass es mir gelang, mich darüber selbst anzulügen.
“Ja”, sagte ich.
Jetzt sah ich aus dem Fenster.
Wir schwiegen.
“Und wohin bist du unterwegs?”, fragte ich dann.
“Babysitten.”
“Aha.”
Ich wollte, dass das Gespräch so oberflächlich blieb. So konnten wir uns nett unterhalten und würden uns nicht streiten. Sie würde keinen Anlass sehen, mich zu beschimpfen und ich würde nicht wieder darüber nachdenken, ob es einen Grund dafür geben konnte, eine erwachsene Frau...
“Hast du eine neue Freundin?”, fragte sie dann.
“Wer?”
“Du!”
“Nein, wer das sein soll!”
Ich überlegte, ob ich in letzter Zeit besoffen gewesen war und wieder irgendwas nicht mitbekommen hatte, was außer mir jeder wusste.
“Ich meine diese Schönheit mit den langen schwarzen Haaren, mit der du unterwegs warst.”
“Die habe ich nur zufällig wiedergesehen.”
Ich dachte an Lisa. Immer wenn jemand von Schönheit sprach, dachte ich zuerst an Lisa.
“Dafür habt ihr euch aber lange unterhalten.”
“Das ist doch schon wieder ein paar Monate her.”
“Quatsch, ich habe euch doch erst diese Woche gesehen.”
Ich machte ein dummes Gesicht.
Sie lachte.
Sie meinte Melanie.
Ich hatte das erst gar nicht kapiert, denn wenn ich an meine frühen Jahre dachte, dominierte immer entweder die Erinnerung an Melanie oder die an Heike. Die jeweils andere war immer weitestgehend ausgeblendet.
“Ach, das war nichts”, sagte ich.
“So sah das aber nicht aus!”
“Ich mochte sie mal, aber das ist so lange her, das ist schon nicht mehr wahr.”
“Das war nicht zufällig deine erste Liebe?”
“Nein.”
“Nein?”
“Das warst du. Weil du so natürlich, offen und spontan warst. Also genau das Gegenteil von ihr, denn sie war schon immer nur auf ihre Wirkung bedacht, berechnend, manipulativ und enttäuschend.”
“Es ist nicht nett, so zu reden.”
“Es ist nicht nett, so zu sein.”
Der Zug hielt.
Sie erhob sich, ging grußlos, blieb dan aber stehen, drehte sich um und sagte: “Ach ja, ich treffe hier übrigens auch meine beste Freundin!”
Dann verließ sie den Zug.
Ich sah ihr nach.
Sie und Melanie umarmten sich.
Ich fuhr weiter.
Ich hatte das sichere Gefühl, dass es das Beste und Sinnvollste war, mir die Futterluke zunähen zu lassen.
Und nie wieder zurück zu kommen.


Fortsetzung folgt
 
aus der Diskussion: Die Leiden eines Kochs
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (12.07.06 10:10:21)
Beitrag: 57 von 74 (ID:22537865)
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