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[posting]22353250[/posting]45.

Ich starrte aus dem Fenster und glaubte es immer noch nicht. Melanie und Heike waren Freundinnen. Das war doch eigentlich unmöglich. Das kam mir vor, als würde BMW mit Mercedes oder Bayern München mit Schalke 04 fusionieren oder als wenn Batman und Spiderman im selben Comic auftauchen würden. Da trafen zwei Welten aufeinander, da entstand eine neue Naturgewalt. Sowas war nicht nur unmöglich und unvorstellbar, sondern gehörte auch von Rechts wegen verboten. Das verstieß gegen das Kartellgesetz, gegen die Erhaltung der Artenvielfalt, gegen die Genfer Konvention und überhaupt.
Warum hatte ich überhaupt Urlaub?
Warum konnte ich nicht in der Küche bei der Arbeit sein?
Zum ersten Mal erschien mir mein Arbeitsplatz als schöner Ort und nicht nur als notwendige Zwischenstation. Da war alles so durchschaubar und eindeutig. Nicht wie in unserem Dorf, wo mit Melanie und Heike die beiden wohl komplexesten Persönlichkeiten des Universums ihre Kreise zogen, wo sich darum früher oder später jedes Wort als falsch und jeder Gedanke dumm entpuppte und irgendwie immer alles anders war, als ich dachte oder glaubte.
Eigentlich hatte meine Küchenchefin eine gewisse Qualität. Sie war gemein und hasste mich und ließ mir keine andere Wahl, als sie zurück zu hassen, aber da wusste ich wenigstens, woran ich war. Ich brauchte mich nie zu sorgen, Fehler zu machen. Sie verlangte Kadavergehorsam und machte mir das Leben zur Hölle wie sie nur eben konnte, egal was ich tat oder sagte. Sie war so gemein, dass ich mich ihr gegenüber nie schlecht zu fühlen brauchte, egal wie sehr ich sie gerade hasste. Da konnte ich eindeutig zwischen Gut und Böse unterscheiden. Das war es, was ich im Moment am meisten vermisste. Klare Fronten, klare Marschrouten, einfach nur Überleben müssen und die Tage zählen.
Melanie und Heike verschwanden aus meinem Blickfeld. Der Zug beschleunigte. Die Bäume am Rande der Strecke rauschten an mir vorbei. Ich starrte weiter nach draußen. So musste man sich in einer Zeitmaschine fühlen. Das war die einzige Lösung. Am besten reiste ich zurück in die Vergangenheit und löste das Problem, bevor es entstand. Das ging nicht, außer im Film oder im Traum. Würde es denn funktionieren, wenn es möglich wäre?
Plötzlich sah ich mich selbst auf einem Baum.
Wie damals, ungefähr im Jahr 1976.

46.

Wenn ich runterguckte, kriegte ich ein komisches Gefühl im Bauch. Aber das konnte auch daran liegen, dass ich erst dreizehn oder dass Heike da unten war.
“Bist du nicht schwindelfrei?”, fragte Kalle.
“Weiß nicht”, antwortete ich, während ich grübelte, ob man sich in solcher Höhe besser fühlen konnte.
“Mädchen sind nicht schwindelfrei.”
“Wirklich?”, fragte ich.
“Klar, ich habe zwei Schwestern und die sind beide noch nie hier oben gewesen.”
“Dieser Baum ist wirklich, wirklich hoch.”
“Bist du ein Mädchen?”, fragte Kalle gereizt.
“Nee.”
“Okay, dann Themawechsel.”
Kalle war ein halbes Jahr jünger als ich, aber wir waren zusammen eingeschult worden. Ich hatte ihn am ersten Schultag kennen gelernt. Dort hatte ich auch Heike zum ersten Mal gesehen. Der Heimweg war immer ein Wettrennen zwischen der damals besten Freundin von Heike auf der einen und Kalle auf der anderen Seite gewesen. Heike und ich waren einfach immer mitgelaufen. Jungs gegen Mädchen, wie das eben in dem Alter so ist. Nach zwei Jahren war ich auf eine andere Schule gewechselt und nach weiteren zwei Jahren war ich für zwei Jahre zum Gymnasium gewechselt. Jetzt waren wir in der derselben Klasse an der Hauptschule. Er war der Nachbar von Heike und ihn zu besuchen, war die einzige Möglichkeit, sie zu sehen, seit ich vom Gymnasium geflogen war.
“Das klappt nie mit dir und Heike”, sagte er.
“Ich weiß nicht, wovon du redest.”
“Die steht nicht auf dich.”
“Auf dich aber auch nicht”, sagte ich gereizt.
“Ich will die auch gar nicht”, entgegnete er.
“Warum nicht? Bist du schwul?”
“Ich schmeiße dich gleich runter!”
Entgegen allen Vorsätzen schaute ich nach unten. Obwohl ich von hier aus tatsächlich Heike im Garten sehen konnte, war der Ausblick keine reine Freude. Ich fragte mich, ob sie es sehen könnte, wenn ich gleich von hier oben runter göbeln würde.
“Es gibt jede Menge Mädchen und die anderen gefallen mir besser als sie”, knurrte er.
“Du brauchst eine neue Brille.”
“Und du beurteilst Mädchen zu sehr nach ihrem Aussehen.”
“Jetzt redest du wie meine Kusine. Die, die in Niedersachsen zurückgeblieben ist.”
“Ich bin kein Mädchen und auch nicht zurück geblieben, aber ich finde andere Mädchen einfach hübscher und außerdem ist Heike ganz anders als du meinst.”
Ich lachte. Ich musste aufpassen, dass ich nicht zu laut oder zu heftig lachte, sonst würde ein bischen Kotze mit hoch kommen, aber ich lachte.
“Und warum sind wir dann beide hier oben auf diesem riesigen Baum und beobachten sie?”
“Du beobachtest sie”, widersprach er. “Ich bin hier nur zum Schachspielen.”
Ich schüttelte den Kopf.
“Wir müssen doch nicht zwanzig Meter klettern, um Schach zu spielen.”
“Doch”, sagte er. “Dafür werde ich bezahlt. Meine Schwester hat wieder Besuch von ihrem Freund und da kann sie sich nur entspannen, wenn sie weiß, dass ich nicht im Zimmer nebenan bin und sie mich vom Fenster in ihrem Zimmer hier oben im Baumhaus sitzen sehen kann.”
Als er “Baumhaus” sagte, musste ich wieder lachen, denn in Wirklichkeit waren hier oben nur ein paar Bretter, auf denen man sitzen und ein Schachbrett platzieren konnte.
“Lach nicht, dafür kriege ich den neuen ASTERIX und das Weiße Album der Beatles.”
“Steht Heike immer noch auf die Bay City Rollers?”, fragte ich.
“Blödsinn”, sagte er, “das hat sie noch nie.”
“Immer wenn du meinst, dass ich über sie lästere, regst du dich auf. Obwohl...”
Er unterbrach mich.
“Ich stehe nicht auf sie und sie steht schon gar nicht auf dich!”
“Schon gut.”
“Und wenn sie dich mögen würde, würde sie es nicht zugeben.”
“Du schließt wohl von dich auf andere.”
“Frag sie doch selbst!”
“Von hier oben?”, fragte ich.
“Mach deinen Zug”, sagte er. “Oder hast du vergessen, warum ich dir Trainingsstunden gebe?”
Hatte ich nicht. Kalle verabredete sich immer mit dem Vater von Heike zum Schachspielen und wenn ich so gut wie er, Kalle, werden würde, dann würde er mich vielleicht einmal mitnehmen.
Ein paar Wochen später ging ich tatsächlich zu ihr. Aber ihr Vater war nicht da und ich spielte mit ihr.

Der Zug hielt an und damit verbundene heftige Ruck riß mich in die Gegenwart zurück. Kalle war kein wirklich guter Freund gewesen. Er hatte mich benutzt, um zu erfahren, wie sie sich dort benahm, wo er nie gewesen war, zum Beispiel am Gymnasium, und um der Vertraute von Heike zu werden, indem er sie mit Nachrichten über ihren abgedrehten Verehrer versorgte. Daraus war ein Eigentor geworden, aber dennoch hatte er weiter mit ihrer besten Freundin intrigiert und alles hintertrieben. Den Casanova, der jeden Monat eine andere Freundin besaß, hatte er nur gespielt, um sie zu beeindrucken und davon zu überzeugen, dass er durchaus reif und erfahren genug für sie war. Während ich meinen Wehrdienst abgeleistet hatte, war er dann endlich bei ihr gelandet, wenn auch nicht für lange, hatte aber weiter behauptet, das sei ganz plötzlich über ihn gekommen.
Ich war auch nicht ehrlicher als er. Ich hatte mit Schach weitergemacht, obwohl es mich meistens langweilte, nur um nicht zugeben zu müssen, dass ich mir nur wegen Heike eine völlig neue Eigenschaft zugelegt und mir das Gehirn zermartert hatte.


Fortsetzung folgt
 
aus der Diskussion: Die Leiden eines Kochs
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (16.07.06 23:54:41)
Beitrag: 60 von 74 (ID:22630133)
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