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Dieses Kapitel widme ich aus doppeltem Grund allen alleinerziehenden Müttern.
:)


47.

Vielleicht war es das Beste, Melanie und Heike zu vergessen und stattdessen meine Kusine Anna als meine erste Liebe betrachten. Anna mochte mich schon lange nicht mehr, aber das war weder ihre noch meine Schuld. Das lag wieder an meinem Vater. Mein Vater hatte als Jugendlicher all sein Geld für Motorräder und Schlampen verpulvert und sich die ganze Zeit von seinen Verwandten, vor allem Annas Eltern, durchfüttern und auch finanziell immer wieder retten lassen. Seit die Verwandtschaft meiner Mutter ihn saniert hatte und meine Mutter von ihrem knappen Haushaltsgeld tapfer seine Restschulden zurückzahlte, war er wieder ordentlich angezogen, gut ernährt und liquide. Das war aber kein Grund für ihn, seine Schulden bei den Verwandten zurück zu zahlen oder meiner Mutter davon zu erzählen. Er gab weiter sein Geld für Motorräder und für Gesocks in Fernfahrer-Kneipen aus. Also erzählte er Annas Eltern immer wieder, es ging ihm schlechter als je zuvor, weil meine Mutter so verschwenderisch sei und nicht wirtschaften könne oder wolle und weil ich so verwöhnt wäre. Meiner Mutter erzählte er, Annas Eltern würden sie nicht verachten, weil sie sich so jung "unter einen Mann geschmissen" hätte, wobei er natürlich seine Lügen verschwieg und deren Wirkung übertrieb, so dass meine Mutter gegenüber Annas Eltern relativ gereizt auftrat, was mein Vater Annas Eltern als Beweis für ihre permanente Unzufriedenheit als Folge ihrer Unersättlichkeit in Bezug auf materielle Dinge andrehte. In dieser Phase behandelte mich Anna schon nicht mehr so nett, wie sie eigentlich war und ich erkannte sie nicht mehr wieder. Ehe alles aufflog, führte mein Vater den totalen Bruch zwischen beiden Familien herbei. So konnte meine Mutter nicht erfahren, dass die Rückenprobleme meines Vaters von seinen Unfällen bei illegalen Motorradrennen statt vom Arbeiten stammtem und Annas Mutter konnte nicht sehen, dass wir ein karges Leben führten. An diesem Punkt hatte ich Anna bereits abgeschrieben.
Nein, das funktionierte nicht.
Heike war zu stark in meinem Bewusstsein verankert. Immer wenn ich vor einer anscheinend unlösbaren Aufgabe stand, dachte ich an sie. Sie hatte mir gezeigt, dass man auch mit eigentlich untauglichen Mitteln Erfolg haben konnte, wenn man nur wirklich wollte. Sie stritt es immer ab, weil es ihr irgendwie peinlich war, aber kurz nach unserer Einschulung hatte sie ein Plastik-Bügeleisen besessen. Eines Tages hatte sie Kalles Schwestern besucht und ihnen gezeigt, dass sie damit tatsächlich bügeln konnte, sogar ohne Dampf oder Strom. Sie kriegte alles einfach durch Schnelligkeit und Ausdauer glatt. Unglaublich. Inzwischen konnte ich immer noch nicht bügeln, aber ich wandte die grundlegende Erkenntnis auf alles im Leben an. Eigentlich konnte ich das Leben nur dadurch ertragen, denn wenn meine Mitschüler irgendetwas von ihren Eltern geschenkt bekamen oder von ihrem Taschengeld kaufen konnten, stand immer fest, dass ich es höchstens in der allerbilligsten, unbrauchbarsten, oft peinlich unterlegenen Form geschenkt oder finanziert bekommen konnte. Trotzdem machte ich immer gute Miene zum bösen Spiel, weil ich bei Heike früh gesehen hatte, dass Wille und Fleiß unglaublich viel kompensieren konnten.
Eigentlich hatte sie gar nichts falsch gemacht. Ich war eine Zeitlang ein ziemlich Spinner gewesen, weil ich alles geglaubt hatte, was mein Vater mir über die Welt erzählt hatte. Nämlich, dass alle Leute Schweine und blöd und nur neidisch auf uns beide waren. Alles natürlich in Anbetracht der Tatsache, dass ich es nicht anders verdient hatte und ich ihm gegenüber auch nicht besser als der Rest der Welt war, während er mir doch alles gönnen würde, was er mir immer wieder dadurch zu beweisen trachtete, dass er mir mit großer Geste einzelne holländische Cent-Stücke schenkte, von denen ich selbst bis zu meiner Volljährigkeit nie genug zusammen hatte, um mir dafür in Holland etwas kaufen zu können.
Als ich nicht mehr ganz so seltsam gewesen war, weil mein Vater längere Touren fuhr und seltener nach Hause kam, hatten wir uns ganz gut verstanden. Aber es hatte mich immer gewurmt, dass sie zum Gymnasium ging und ich an die Hauptschule verbannt worden war. Wenn man einen handwerklichen Beruf erlernen wollte, war es okay, zur Hauptschule zu gehen, aber mein Vater hatte mir von klein auf an eingebläut, dass ich handwerklich ein absoluter Idiot und geistig und körperlich zu behindert war, um ihm auch nur zu assistieren. Wenn ich nur daran dachte, ganze Tage in einer Werkstatt so wie mit ihm zu verbringen, wurde ich von Depressionen und Angst überwältigt und wollte mich aufhängen, und das schon seit ich fünf oder sechs war. Darum kam Handwerk für mich auf keinen Fall in Frage. Schon wegen der Horror-Geschichten meines Vaters über seine eigene Lehre nicht. Ein Büro-Job kam auch nicht in Frage, denn wann immer mein Vater von einer Tour heimkam, schimpfte er mindestens die erste halbe Stunde nur über „Bürohengste“, die seiner Meinung nach alle dumm waren und den Sinn ihres Lebens nur darin sahen, ihn zu quälen und von ihrer Blödheit zu überzeugen. Eigentlich blieb nur Studieren. Das hieß, ich musste zurück zum Gymnasium. Nur dann hatte ich eine Zukunft. Dann würde ich auch wieder auf gleicher Augenhöhe mit Heike sein. Das wurde zu meiner fixen Idee. Und damit gab es etwas, was sie nicht tolerierte. Sie lehnte verbohrte Leute ab.
Fast wäre ich dann doch zum Gymnasium zurückgekehrt und hätte mit Heike wieder im selben Klassenraum gesessen. Das wünschte ich mir mehr als alles andere. Als das 10.Schuljahr Typ B begann, war ich bereit, ein Musterschüler zu werden und auch die langweiligsten Hausaufgaben zu machen, um die „Qualifikation“ zu kriegen und wieder zur Penne zu kommen. Nun, vielleicht musste es doch nicht unbedingt ein Studium sein, aber ich wollte zumindest das Abitur machen, um zu beweisen, dass ich es konnte und dass man mich zu Unrecht als zu dumm abgetan und seit meiner späten Ankunft an der Hauptschule als Hochstapler behandelt hatte. Ich musste diesen Schmerz loswerden. Ich wurde dann auch wirklich fleißig, zumal niemand mehr da war, der mich um zwei Köpfe überragte und mich in den Pausen verprügelte, wenn ich vom Lehrer gelobt wurde. Also strengte ich mich immer mehr an. Seltsam nur, dass meine Noten immer schlechter wurden. Und auch meinem Vater ging es immer schlechter. Genau zu Beginn des 10.Schuljahrs, das erklärtermaßen zu meinem Comeback führen sollte, wurden seine Rückenschmerzen plötzlich so schlimm, dass er nicht mehr arbeiten konnte und ein ganzes Jahr krankfeierte. Er verschanzte sich im Wohnzimmer, qualmte es pausenlos mit stinkigsten Zigaretten voll, las einen Western nach dem anderen und ließ sich gelegentlich zum Orthopäden fahren, um Fango-Packungen zu kriegen. Meine Mutter konnte seine Schulden nicht mehr zurückzahlen, ich musste mit sich auflösenden Trainingsschuhen zum Sportunterricht und obendrein erklärten mich meine Lehrer für verrückt, dass ich unter diesen Umständen nicht gefälligst gleich ein Ausbildung beginnen und Geld nach Hause tragen wollte. Letzteres war dann auch der Grund, warum ich die „Qualifikation“ nicht bekam. Und als klar war, dass ich nicht wieder zum Gymnasium gehen und nie studieren würde, ließ mein Vater endlich die angeratene Operation vornehmen und ging wieder arbeiten. Ich war total zerschmettert gewesen, zumal er er mir schließlich die Schuld für sein Rückenleiden gab. Von der Schwere seiner auf Selbstüberschätzung beruhenden Motorradunfälle erfuhr ich erst viel später. So lange er lebte, ließ er mich in dem Glauben, das wäre von all der Arbeit gekommen, die nur er nur meinetwegen geleistet hätte, natürlich unter Verzicht auf seine Karriere als Rennfahrer.
Wenn ich jetzt Heike begegnete, dann tat es mir weh, weil mir mein ganzes Leben verpfuscht vorkam und weil ich mich ihr gegenüber seit meiner misslungenen Rückkehr zur Penne noch mehr als Versager fühlte, als die Jahre zuvor.
Ich hasste es, wenn sie wie so viele andere ehemalige Mitschüler mit diesem „Du hättest es damals schaffen können“ anfing..
Das wusste ich selbst.
Deshalb hatte mein Vater schließlich so harte Maßnahmen vorgenommen.
Und jetzt war ich Koch.
Oder ich wollte es werden.

Fortsetzung folgt


Vorschau auf das nächste Kapitel:
Der Held ist so naiv, unvorbereitet der Empfehlung eines Kollegen zu folgen und besucht eine Madame, auf die er überhaupt nicht vorbereitet ist. Dabei eröffnet sich ihm die volle Bedeutung des Wortes "dominant". LOL
:laugh:
 
aus der Diskussion: Die Leiden eines Kochs
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (24.07.06 12:19:18)
Beitrag: 65 von 74 (ID:23007557)
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