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Der Wecker klingelt. Noch leicht verklebt schielt mein linkes Auge auf das giftgrüne Ziffernblatt. Dabei könnte ich mir den Blick dorthin sparen. Schließlich reißt mich das verdammte Ding jeden morgen um die gleiche Zeit aus meinem Schönheitsschlaf. Und den brauch` ich, seit ich mir vorgenommen habe, mit Aktien reich zu werden, heute mehr denn je. Ein defizitäres äußeres Erscheinungsbild läßt sich ja bekanntlich bis zu einem gewissen Grad mit Kohle kompensieren, je kleiner und hässlicher du bist, desto höher sollte der Geldhaufen sein, auf dem du sitzt. Wenn mein Haufen wie in den letzten Wochen weiter so zusammenschmilzt, muss ich bald so auszusehen wie Brad Pitt in seinen besten Jahren, mindestens. Früher, ja früher, da konnte ich mir es leisten, so auszusehen wie die Natur mich geschaffen hat. Der Geldsack war prall gefüllt, ich war von den Mädels umschwärmt wie ein Kuhfladen von Fliegen. Aber die Zeiten sind erst mal vorbei. Welches Datum haben wir heute? Du mein Gott, richtig, heute werden die Zahlen von Intel veröffentlicht. Ich wusste doch, dass irgendwas übles ansteht. Noch schlaftrunken richte ich mich auf, mache einen langen Arm und verpasse meinem PC die Initialzündung. Meine erste alltägliche Handlung. Ein Kontrollblick auf Bloomberg`s "After hours trading" verheißt nichts gutes. Seit Tagen stelle ich mir jeden Tag die gleiche Frage: Bleib ich drin oder geh` ich raus. Ich hasse es, Verluste zu realisieren, deshalb sitze ich auf einem immer größer werdenden Berg. Irgendwann werde ich wahrscheinlich von einer Schlammlawine überrollt. Das war`s dann, zack, aus, vorbei. Aber noch ist es nicht soweit. Der letzte Funken Hoffnung ist noch nicht verglüht. Was runter kommt, steigt auch wieder, das ist ein Universalgesetz. Daran ändert kein Analyst der Welt etwas. Und deshalb bin ich auch noch drin. Lust auf einen ordentlichen Schluck schwarzen Kaffee treibt mich aus dem Bett. Während die Maschine läuft, verschaff` ich mir einen Überblick über die Markt- und Meinungslage. Die Börsenforen quillen momentan über vor Heulsusen, Panikmachern und anderen Irren. Das ist gut. Denn dies soll ein untrügliches Zeichen für die Trendwende sein. Die ersten Kurse sprechen das Gegenteil. Soll ich in den sauren Apfel beißen und verkaufen? Jeden Morgen die gleiche Frage. Mein Hirn arbeitet wie wild, während ich alle einschlägigen Adressen durchforste, um ein Gegenargument zu finden. Ich finde keins. Nein, ich will aber nicht. Ich kann doch nicht so einfach mir nichts dir nichts einen Kleinwagen verzocken. In einem halben Jahr sieht die Welt bestimmt anders aus und ich kann mir einen SLK leisten. Ich brauch` eine Denkpause und gieße mir eine Tasse Kaffee ein. Und ich entscheide mich wie jeden Morgen, noch einen Tag zu warten. Denn es gibt keinen größeren Albtraum als den von steigenden Kursen just nach meinem Ausstieg, Und wieder werde ich abends mit weniger Kröten dasteh`n, wie schon all die Tage zuvor. Und wieder wird das gleiche Ringen am nächsten Morgen beginnen, entweder bis ich pleite bin oder bis die Kurse steigen. Ich hoffe auf das letztere.
 
aus der Diskussion: Schicksal des Aktionärs
Autor (Datum des Eintrages): plasticfantastic  (14.11.00 17:24:35)
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