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Wochenend-Special:

6.

Jean Paul ließ sich nicht einschüchtern.
„Verstanden habe ich so weit alles, aber gehört habe ich noch nicht alles. Mir fehlen noch Fakten, Fakten, Fakten. Vor allem in Bezug auf Geld und damit meine ich nicht, wie viel man bei der Lotterie gewinnen kann, sondern...“
„Hier“, sagte sie scharf, während sie eine Schublade aufzog, ohne Hingucken ein Blatt Papier herauszog und vor ihm auf den Tisch legte.
Sie starrte ihm direkt in seine geweiteten Pupillen.
„Wir bezahlen leistungsgerecht, also erfolgsabhängig. Wenn sie gut sind, kriegen sie einen Stundenlohn von 16 €. Und wenn sie das bringen, schreibe ich ihnen ein Zeugnis, mit dem sie jeden Job kriegen, denn gute Verkäufer werden immer gesucht. Überall.“
„Sie sind sehr nett“, sagte er.
Jean Paul kam aus einer Kleinstadt und war es gewohnt, dass es niemandem auffiel, wenn er ironisch wurde, also erlaubte er sich das, wann immer es ihm gefiel.
„Sie haben ja keine Ahnung, wie nett ich sein kann.“
Sie beugte sich vor und legte ihre Hand wieder auf das Blatt oder genauer gesagt auf die Hand von Jean Paul, die dort auch noch herumlag .
„Ich bin lernfähig“, sagte er stockend. „Aber nebenbei- ist das, was wir machen, eigentlich legal?“
„Aber natürlich“, sagte sie, wobei sie maliziös lächelnd seine Hand tätschelte.
Während sie sich noch weiter vorbeugte, fiel ihm auf, dass sie unter der weißen Jacke lediglich einen schwarzen BH mit Spitzen trug.
Sie fügte hinzu: „Unter Erwachsenen schon.“
Sie schob seine Hand fort und beförderte das Blatt wieder in die Schublade.
„Und sie bringen mir bei, wie man überzeugt und Abschlüsse macht?“, fragte er
„ Interesse wecken, Kaufsignale erkennen und den Sack zumachen! Das habe ich ihnen doch gerade vorgeführt. Am eigenen Beispiel!“
Während er staunte, erhob sie sich und gab ihm die Hand. Diesmal stand sie rascher auf, so dass er es nicht erneut schaffte, vor dem Händeschütteln weitere Fragen zu stellen.
„Alles klar“, sagte er lächelnd, obwohl er soeben von nur 4€ Grundlohn gelesen hatte.

Spätestens an dieser Stelle muss Jean Paul auf den kritischen Leser naiv wirken, weil er sich so von dieser Frau vorführen lässt. Tatsächlich war er stattdessen total verrückt. Für ihn waren Frauen nämlich wie Aktien.
Manche Frauen waren wie die Aktien von renommierten Schweizer Konzernen, gut und ideal für ein lebenslanges Investment. Man(n) wurde ein Leben lang belohnt und ging keinerlei Risiko ein. Wenn man genug einbrachte, konnte man ihre Entwicklung beeinflussen und Mitglieder der gehobenen Gesellschaft kennenlernen.
Aber dieses Niveau war für Jean Paul reine Theorie.
Ihm blieben lediglich die Frauen, die von der Mehrzahl der anderen Frauen als „Schl...e“ tituliert wurden und wie „Hot Stocks“ waren. Damit kam er seit langem gut klar, denn an der Börse hatte er sich auf „Hot Stocks“ spezialisiert.
"Hot Stocks" waren extrem riskant. Aber eine winzige Chance war besser als überhaupt keine. Hier konnte er mitspielen, Glück haben und weiter davon träumen, sich in der Zukunft seriös zu engagieren. Man durfte nie alles auf eine Karte setzen, denn sonst riskierte man den totalen persönlichen Ruin. Richtige Investitionen waren hier nicht möglich. Man(n) konnte nur kurz- oder maximal mittelfristig zocken, denn langfristig lief es stets auf Pleite und Totalverlust hinaus. Das ganze Risiko, auf Blender zu setzen, lohnte sich höchstens, wenn man(n) das perfekte Timing einhielt, indem man(n) rasch zugriff, so lange sie noch unbekannt und am attraktivsten waren. Bei einer solchen Gelegenheit musste man ohne Zögern seiner Begeisterung nachgeben und sich bei der ersten wirksamen guten Nachricht mit noch weniger Zögern wieder trennen. Wenn man später einstieg, erlebte man nur noch ihren Abstieg und als Folge den eigenen Ruin oder wurde sie dann im schlimmsten Fall überhaupt nicht mehr los. Es war lediglich Rein-Raus und dabei vor allem eine Frage der Schnelligkeit.
Jetzt weißt du, dass Jean Paul verrückt war. Ich wollte es nicht gleich so deutlich sagen, weil ich nicht gehässig wirken möchte, aber nach diesen Erklärungen sollte selbst beim wohlwollendsten Leser jeder Zweifel ausgeräumt sein. Als ich Jean Paul mit dieser Wahrheit konfrontierte, stritt er es auch gar nicht ab, sondern wurde gleich frech: „Ja, ich bin verrückt, aber wenigstens bin ich nicht dumm. Der Unterschied zwischen uns ist also, dass ich wenigstens ab und zu einen hellen Moment habe.“

Fortsetzung folgt

Vorschau:
Zur Abwechslung eine andere Perspektive. Ein Erfolgssystem für Karrierefrauen. Jean Paul erhält eine unerwartete private Einladung.
 
aus der Diskussion: Telefon-Agent: Die Abenteuer des
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (27.08.06 15:15:32)
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