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Solidarität mit ewigem Lächeln wiederholt: Ulla Schmidt

Es gibt Worte, die Ulla Schmidt nicht gerne hört. Staatsmedizin zum Beispiel - das ist so eine der Vokabeln, bei der sie gespielt arglos die Schultern zuckt. „Ich weiß gar nicht, was das ist“, wirft sie ihren Kritikern dann entgegen. „Im Lexikon habe ich diesen Begriff nicht gefunden.“ Auch ihre Kollegen aus der Ministerriege bekommen so etwas zu hören - wie immer freilich mit einem Lächeln.

Allem Lächeln zum Trotz: Die sozialdemokratische Gesundheitsministerin steht derzeit unter Druck. Das ist für sie grundsätzlich nichts Neues. Denn Ulla Schmidt ist Gegenwind gewohnt.

Doch diesmal bläst er besonders heftig. Denn unlängst hat ihr Ministerium Einzelheiten zur Gesundheitsreform öffentlich lanciert und damit den Anpfiff zu einer scharfen öffentlichen Debatte gegeben.

Ein Tor, wer dächte, sie wüßte es nicht

Jetzt laufen alle Sturm gegen Ulla Schmidt. Nicht nur die üblichen Verdächtigen in den Lobbyverbänden, denen noch nie gefallen hat, wenn die Ministerin das Sparen predigte.

Von der Pharmaindustrie bis hin zu den großen Krankenkassen, von der Wirtschaft über die Gewerkschaften führen plötzlich alle jenen Begriff im Mund, den Ulla Schmidt angeblich nicht versteht: „Staatsmedizin“. Doch wäre ein Tor, wer dächte, sie wüßte selbst nicht, worauf hinausläuft, was sie seit Jahren plant und umsetzt.

Die Union tobt, die Kanzlerin hat sich distanziert. Mehr noch: 80 Prozent der Bevölkerung lehnen die Pläne der SPD-Ministerin ab. In einer Forsa-Umfrage wurde das ermittelt. So viel Ablehnung war nie in ihrer schon langen politischen Karriere.

Schmidt sagt in Zukunft, was die Grippe kosten darf

Die Ministerin indes hat einen klaren, radikalen Plan. Sie will, daß der Staat im Gesundheitswesen endlich alles regelt. Der Beleg: Ein Gesundheitsfonds soll künftig alle Beiträge der gesetzlich Versicherten einziehen und den Krankenkassen zuteilen. Der Beitragssatz wird einheitlich.

All das wird das Gesundheitsministerium organisieren und damit am Ende Ulla Schmidt. Punkt zwei: Die Ärzte werden pauschal bezahlt. Grippe ist Grippe, und Ulla Schmidt sagt in Zukunft, was sie kosten darf. Punkt drei: Die Krankenkassenverbände werden in einen Einheitsverband gezwungen. Nur noch ein Bundesverband handelt dann die Verträge mit den Ärzten aus.

Die Preise für Medikamente vorschreiben lassen

Schmidt weiß genau, daß sich ein einziger Verband viel leichter dominieren läßt, vor allem, wenn sie ihm die Einnahmen vorgibt. Punkt vier: Was Patienten künftig von den Kassen noch erstattet bekommen, wird von einem Bundesausschuß festgelegt, in dem zwar die Interessengruppen sitzen, in dem aber die Ministerin das letzte Wort hat.

Punkt fünf: Die Pharmaindustrie muß sich die Preise für ihre Medikamente vorschreiben lassen, und zwar nach einer Bewertung des Nutzens. Was wieviel nützt und wieviel kosten darf, sagt Ulla Schmidt.

Und schließlich, Punkt sechs, drohen die privaten Krankenversicherungen, die den medizinischen Fortschritt zu einem Großteil finanzieren, unter dem Dirigismus der Ministerin zur leeren Hülse degradiert zu werden. Als vermeintliches Privileg der Reichen waren sie der Sozialdemokratin stets suspekt.

Vor vielen Jahren „meine Utopie“

Ulla Schmidt hatte mal ein Anliegen. Ein ernsthaftes. Wenn Arm und Krank gegen Reich und Gesund stand, dann war sie auf der Seite der Schwachen, der Kranken und der Armen. Soziale Ungerechtigkeit war ihr ein Dorn im Auge, etwas, was sie nicht ertragen konnte.

Solidarität mußte sein, nicht nur auf der persönlichen Ebene. Solidarität galt es im großen Stil zu organisieren. In der Gesellschaft sollte es partnerschaftlich zugehen. Das hat Ulla Schmidt einmal vor vielen Jahren „meine Utopie“ genannt. Und viel von ihrem Lebensweg spricht dafür, daß sie bereit war, für diese Utopie zu kämpfen und einiges zu opfern.

„Für Freiheit und Gerechtigkeit ins Gefängnis“

Vielleicht, weil sie selbst nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens aufgewachsen ist: als Scheidungskind einer Fabrikarbeiterin, das seine Nachmittage auf der Straße verbringen und sein Abitur auf dem Aufbaugymnasium machen mußte.

Mitte der siebziger Jahre engagierte sie sich im Kommunistischen Bund Westdeutschlands und stritt für eine bessere Welt; sie riskierte sogar ein Berufsverbot als Lehrerin, forderte es geradezu heraus. Und sagte dazu unlängst leicht verklärend: „Für Freiheit und Gerechtigkeit wäre ich ins Gefängnis gegangen.“

Sie hat sich Respekt verschafft

Bis 1990 arbeitete sie als Sonderschulpädagogin mit Lernbehinderten. Angekommen in einem System, das sie als Kommunistin vehement bekämpfte, versuchte sie, den Benachteiligten zu helfen. Für die SPD gelangte sie 1990 in den Bundestag.

Und auch dort: Wieder machte sie sich für die Schwachen stark. Sie hat sich in Frauenhäusern umgeschaut und dafür gesorgt, daß Vergewaltigung in der Ehe ebenso als Straftat angesehen wird. Sie hat eine Frauenverfassungskonferenz organisiert, die sich für die Neufassung des Artikels 3 im Grundgesetz stark machte - und hatte Erfolg.

Der Staat wurde darin verpflichtet, die tatsächliche Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau zu fördern. Beliebt hat sie sich bei Männern in ihrer Fraktion, die das Sagen hatten, mit alldem nicht gemacht. Aber sie hat sich Respekt verschafft. Gegen ihre Anliegen war schwerlich etwas zu sagen.

Solidarität als Totschlagargument

Kommunikatives Talent kam hinzu, ein außergewöhnliches sogar, das auch die Parteigenossen über die Jahre schätzenlernten. Die Rentenreform, die Walter Riester allein nicht stemmen konnte, brachte sie als stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende zum Erfolg.

Von Solidarität ist bei ihr auch heute noch die Rede, vor allem dann, wenn es um Reformen im Gesundheitswesen geht. Doch was bedeutet ihr das noch? Als Schlagwort, als Totschlagargument dient „Solidarität“ vorzüglich, vor allem, wenn sie es mit ihrem ewigen Lächeln ständig wiederholt und ihre Gegner damit diskreditiert, als ob diese genau das nicht wollten.

„Vergeßt sie nicht“

Ihr Anliegen sei immer noch da, konstatiert selbst der eine oder andere dieser Gegner. Die Aufrichtigkeit, mit der sie sich zeit ihres Lebens für diejenigen eingesetzt habe, die in der Gesellschaft nicht unbedingt auf der Siegerseite stehen, treibe sie immer noch an.

Selbst wenn sie nicht über Sozialpolitik und da vor allem über die Gesundheit doziere, habe sie die kleinen Leute im Blick, die sozial Schwachen, die Ein-Euro-Jobber, die alleinerziehenden Mütter. Immer nach der Devise: „Über die müßt ihr euch Gedanken machen. Vergeßt sie nicht.“

Hinauf in den höchsten Rang der Exekutive

Wenn das wirklich so wäre, dann hätte ihr Lebensweg eine klare Linie, zeigte in seinem Zickzack und der langen Richtungssuche eine innere Konsequenz.

Von der Kommunistin zur Sonderschullehrerin, zur Lokal- und schließlich führenden Sozialpolitikerin der SPD im Bundestag: das wäre der große Bogen, von der fixen Idee über den Abstieg in die Niederungen des Lebens und wieder hinauf in den höchsten Rang der Exekutive, bis sie endlich im großen Stil gestalten kann.

Durchsetzungsfähigkeit das Etappenziel

Ulla Schmidts Auftreten und Handeln heute läßt sich aber auch ganz anders deuten. Ihr ursprüngliches Anliegen ist längst verblaßt. Der harte Kampf ums Amt, die viele Kritik, die eigene Unbeliebtheit in der Bevölkerung, die zähen Auseinandersetzungen mit den starken Lobbygruppen im Gesundheitswesen - das alles habe sie verändert, sagt so mancher, der sie über Jahre erlebt hat.

Der Kampf ist der Weg, der Beweis der eigenen Durchsetzungsfähigkeit das Etappenziel und die Macht, Deutschland ein ganz neues Gesundheitswesen in ihrem Sinn aufzudrücken, das Endziel.

Alles daransetzen, diese Gruppen zu entmachten

Ein durchaus befriedigendes - aus ihrer Sicht. Im Moment liegt diese Deutung näher als die des weiblichen Robin Hood, der den Reichen nimmt, um den Armen zu geben. Wen wundert's? Wer immer nur auf Widerstände stößt, schafft sich eine harte Schale an.

Wer über Jahre nichts als Kritik erntet, muß kritikunfähig werden, um zu überleben. Wer mit seinen Ideen bei den Krankenkassen, Ärzten und der Pharmaindustrie immer nur auf Granit gebissen hat, wird auf Dauer alles daransetzen, diese Gruppen zu entmachten, um sich endlich Handlungsfreiheit zu verschaffen. Und wer so viele Kämpfe schon gewonnen hat, kommt gar nicht mehr auf die Idee, daß er vielleicht doch irren könnte.

Lösungen bietet der Staat, sonst niemand

Ulla Schmidt hat über den mittlerweile fünf Jahren als Ministerin den Bezug zur Realität verloren. Ihre Reformpläne legen nahe, daß sie ganz allein meint zu wissen, wie es um die Volksgesundheit bestellt sein sollte, wer was braucht und wem was am besten bekommt.

Was sie nicht regelt, kann nicht gut sein. Sie setzt die Norm für Qualität und Quantität im Gesundheitswesen, für Fortschritt und Entwicklung. Das Individuum, um das es ihr am Anfang ihrer beruflichen und politischen Karriere noch gegangen sein mag, scheint für die Ministerin keine Rolle mehr zu spielen.

Jetzt geht es um das Ganze. Lösungen bietet der Staat, sonst niemand. Der Staat in der Gesundheit - das ist sie, mit einem perfekt auf sie abgerichteten Apparat von vielen Hunderten Mitarbeitern und künftig auch noch einem milliardenschweren Gesundheitsfonds, der zuteilt und bestimmt. Ulla Schmidt will Volkskommissarin werden, zuständig für die Volksgesundheit. Nach fünf Jahren Kampf steht sie kurz vorm Ziel.

http://www.faz.net/s/Rub6B15D93102534C72B5CF6E7956148562/Doc…

Armes Deutschland, was sich da mittlerweile für Leute in der Regierung tummeln und breit gemacht haben ist nur noch beschämend und löst ständiges Kopfschütteln aus. :(:cry::mad:
 
aus der Diskussion: Die Volkskommissarin
Autor (Datum des Eintrages): CaptainFutures  (04.09.06 19:24:51)
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