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13.

„Was willst du damit?“, fragte er bange.
Sie grinste nur noch breiter.
„Sprich!“
„Damit verhaue ich dich!“
Er räusperte sich und bekam einen roten Kopf. Seine Muskeln begannen zu zucken und machten sich warm. Der Alarmzustand seines Körpers und die damit verbundene erhöhte Anspannung ließen auf seiner Stirn ein erstes Schweißtröpfchen entstehen.
Sie lachte schallend.
„Nein, Quatsch!“ Ihr Lachen verwandelte sich in ein manisches Kichern. „Ich bin noch für alles offen!“
Er überlegte fieberhaft. Zum Glück hatte er sein altes Handy in der Hosentasche. Da musste man nicht erst ins Menü gehen und die Lautstärke per Software einzustellen, um ein Klingeln zu erzeugen. Wenn er geschwind danach griff und gleichzeitig auf den Regler für die Lautstärkeeinstellung drückte, konnte er einen dringenden Anruf vortäuschen.
Es bedurfte nur der Schnelligkeit und Kaltblütigkeit eines Revolverhelden.
„Was ist jetzt?“, fragte sie ungeduldig.
„Ich habe Migräne“, sagte er und wischte sich zwei Schweißtröpfchen von der Stirn.
Ihr Kätzchen, von dem sie ihm so oft am Telefon erzählt hatte, kam zu ihr geschlichen und miaute. Sie kraulte es mit ihren Zehen am Kopf. Jean Paul bemerkte, dass das Kätzchen kleiner als der Fuß war und trotzdem keine Angst hatte.
„Oh nein!“, kreischte sie, als es an der Tür klingelte. Sie sah dem fliehenden Kätzchen nach, versteckte die Gerte wieder unter dem Sofa und ging zur Tür.
„Was willst du denn hier? Ich dachte, du bist im Krankenhaus!“, hörte er sie schreien.
„Die Operation ist verschoben worden“, antwortete eine sensibel klingende Männerstimme.
„Dann komm rein“, sagte sie. „Kriegst einen Kaffee. Ich habe gerade Besuch, aber wahrscheinlich ist das auch egal. Vielleicht ist das eher was für dich.“
Sie kam aus dem Flur in die Wohnung zurück und marschierte schweigend in die Küche.
Ein sehr schlanker Mann mit blond gefärbten Stoppelhaaren und angemalten Augenbrauen kam ihr nach und setzte sich in eines der beiden freien Sofas.
„Weg!“, schrie sie.
Er zuckte hoch und verließ das Sofa, in dem sie soeben selbst gesessen hatte. Einen Moment guckte er auf das Sofa, in dem Jean Paul saß, aber der rückte zur Mitte und knurrte. Zögernd bezog der andere Mann den dritten Sitzplatz.
„Howdy“, sagte Jean Paul.
Gegenüber Männern, bei denen er nicht sicher war, ob sie nicht vielleicht schwul sein konnten, hatte er immer den unwiderstehlichen Drang, sich wie ein Cowboy aufzuführen. Hoffentlich war das normal!
„Ich will nichts von dir“, sagte der Fremde, „ich gucke nur so, weil ich sehr krank bin.“
„Ich dachte, das sieht man heutzutage nicht mehr als Krankheit, sondern als alternative Lebensform“, sagte Jean Paul, der in einem Appartment lebte und zwei bekennende Schwule als direkte Nachbarn hatte und von deren krawalligen Diskussionen, Prügeleien und anderen, noch lauteren Zweisamkeiten des öfteren mitten in der Nacht aus den schönsten Träumen und zurück in die Männerwelt gerissen wurde.
„Ja, aber ich bin wirklich krank.“
Jean Paul hasste es, wenn Leute ihm gleich bei der ersten Begegnung von allen ihren Krankheiten erzählten. Dann schwor er sich jedesmal, dass er niemals einem Seniorenheim enden würde, was zum Glück für einen deutschen Autofahrer, der regelmäßig deutsche Autobahnen benutzen musste, sowieso sehr unwahrscheinlich war.
„Ich wünsche dir gute Besserung.“
Kaum hatte er es ausgesprochen, da fiel ihm auf, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er konnte einen Schwulen nicht einfach duzen. Das konnte man ihm als Diskriminierung von Minderheiten auslegen.
„Das reicht nicht. Ich habe Darmkrebs. Ich bin zu spät zum Arzt gegangen. Der Tumor ist schon sehr, sehr groß und nach Schätzungen der Ärzte ungefähr drei Pfund schwer.“
Jean Paul sah zum Fenster.
Sein Auto stand direkt darunter.
Wahrscheinlich würde er auf dem Dach landen. Da waren sowieso schon Beulen drin.
„Drei Pfund! Oder noch mehr! Das muss man sich mal vorstellen!“
Sie kam mit drei Tassen Kaffe in den Fäusten aus der Küche und verteilte zwei davon an ihre beiden Besucher. Dann setzte sie sich.
„Drei Pfund? Hattest du nicht vier Pfund gesagt?“
„Nein, dreieinhalb“, sagte der Fremde.
„Und?“ fragte sie mit weit geöffneten, neugierigen Augen.
„Was, und?“
Jean Paul trank schweigend seinen Kaffee.
„Hast du schon entbunden?“, fragte sie mit staunendem Blick.
Jean Paul versprühte den Kaffee quer über den Tisch.
Das Fenster war verschlossen.
Er nahm den längeren Weg durch die Tür.
 
aus der Diskussion: Telefon-Agent: Die Abenteuer des
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (05.09.06 10:41:56)
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