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15.

Jean Paul sah sich die Arbeitsplätze an. Der lange Tisch war in acht Kabinen unterteilt. An jedem Platz gab es ein normal aussehendes Telefon und ein fest damit verbundenes Headset. Außerdem lagen überall Listen mit Telefonnummern und Formulare. Manche Kabinen waren von innen mit persönlichen Fotos oder Postkarten beklebt. Er suchte sich einen neutralen Arbeitsplatz. Und er fragte sich, wie seine Internet-Bekanntschaft in eine solche Kabine passte. Wahrscheinlich nur schlecht. Das gab ihm einen Hinweis darauf, warum sie immer extrem gereizt war, wenn sie gerade direkt von der Arbeit kam.
Er guckte nach seiner Chefin und sah sie durch die Glaswand.
Sie telefonierte und wirkte hinter dem riesigen Schreibtisch noch zierlicher und -ich zitiere nur die Gedanken von Jean Paul- besonders „knuffig“.
Er war ihr nicht mehr böse, dass sie ihn lediglich als Praktikanten genommen hatte und ihm auch nur drei Tage gab, sich zu bewähren. Am Vortag hatte er sich telefonisch bei seinen Bekannte umgehört und dabei erfahren, dass sie mit den Lohnzahlungen schon mehrere Monate im Rückstand war, kaum noch Geld hatte und dieses Call-Center womöglich ohnehin nur noch drei Tage existierte. Hier konnte er also höchstens Erfahrung gewinnen, aber das brauchte er tatsächlich am dringendsten.
In gewisser Weise besaß er schon Erfahrungen bezüglich Telefonverkauf. Während der Umschulung zum Industriekaufmann hatte er ein Praktikum bei einem Hersteller technischer Teile absolviert und war dort ein halbes Jahr der Spezialist für Internetrecherchen gewesen. In dieser Funktion hatte er auch fleißig Telefonnummern potentieller Abnehmer im Inland und Ausland ermittelt, damit die Vertreter sich Termine beschaffen konnten und der sich bereits im Rentenalter befindliche Experte für Auslandsverkauf auch etwas zum Abtelefonieren kriegte.
Jean Paul wollte nicht auf Dauer in einem Call-Center arbeiten. Er wollte nur eine Bescheinigung, dass man ihn auf Kunden loslassen durfte. Nach seinem Eindruck gab es nämlich bei den Arbeitgebern für Industriekaufleute ein Zwei-Klassen-System. Erstens die reinen „Sachbearbeiter“, die nur innerhalb des Betriebes kommunizieren durften und oft auch nur angelernt waren und zweitens diejenigen, die auch nach draußen kommunizieren, im Namen des Betriebes mit Geschäftspartnern verhandeln und eigene Vor-Ort-Termine vergeben durften. Letztere trugen natürlich viel mehr Verantwortung und konnten sich durch den Aufbau persönlicher Beziehungen unersetzlich machen.
Er sah sich die Listen genauer an. Sie sahen aus, als wären sie mit Excel erstellt worden. Es war immer die gleiche Telefonnummer, nur jedesmal mit einer ganz anderen Vorwahl.
Dann kam der Teamleiter herein. Ein Zwei-Meter-Mann. Bei Jean Paul aktivierte sich reflexartig der Teil des Gehirns, der bei Jungs spätestens nach dem zwölften Lebensjahr voll ausgeprägt ist und für das Überleben auf dem Schulhof sorgt. Der Schulhofrechner in seinem Hinterkopf funkte sofort Daten: Größer als Du, zu lange Arme, damit überlegene Reichweite, nicht boxen, sonst Nase platt, nicht packen lassen, sonst aus, zu schwer zum Werfen, immer in Bewegung bleiben und mit Oberkörper pendeln, Beine einsetzen, Lowkicks möglich, geduckt bleiben und Knie angreifen oder Fußfeger oder nach Hilfsmitteln suchen, Überrumpeln und zu-Fall-Bringen durch "Mad Rush" nur möglich, wenn Hindernisse hinter ihm auftauchen, die ihn beim Zurückweichen zum Stolpern bringen...
Sie gaben sich die Hand.
Jean Pauls Schulhof-Rechner stellte sich wieder in Standby-Modus.
Keine Gefahr.
"Hallo" oder so sagte der Vorgesetzte.
Jean Paul wurde abgelenkt, weil er aus den Augenwinkeln eine sommerlich leicht bekleidete langhaarige Frau vor dem großen Fenster stehenbleiben sah. Diese Fenster waren wirklich mächtig groß. Wahrscheinlich war diese Gebäude am Außenrand der Fußgängerzone ursprünglich ein Kaufhaus gewesen. Hier bekam man die Passanten wie im Kino-Breiwand-Format präsentiert.
Die junge Frau studiert das Plakat, das neben dem Eingang prangte.
Hier stand die Frage, nach der Jean Paul sein Leben lang gesucht hatte.
Die Frage, bei der KEINE Frau "Nein" sagen konnte... !!!

Fortsetzung folgt

Vorschau:
Der Verfasser versucht seinen Bus noch zu kriegen!
 
aus der Diskussion: Telefon-Agent: Die Abenteuer des
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (06.09.06 13:10:35)
Beitrag: 28 von 352 (ID:23788108)
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