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18.

„Warum rufen wir die Leute überhaupt an?“, fragte Jean Paul. „Wenn ich Lotto spielen will, brauche ich doch einfach nur zu nächsten Annahmestelle in meiner Stadt zu gehen. Davon gibt es selbst in unserem Kaff zwei und beide kenne ich sowieso, weil die auch die beste Auswahl an Zeitschriften besitzen. Dort muss ich doch nur ein Wort zu sagen.“
„Schön und gut“, sagte der Teamleiter. „Aber nicht jeder hat eine Annahmestelle in der Nähe und kennt obendrein den Inhaber. Manche Leute haben Schwellenangst, wollen nicht erst weit fahren und dann vielleicht auch noch Schlange stehen und dabei öffentlich gesehen werden. Mit uns können sie sich bequem und diskret bei sich zu Hause im Wohnzimmer beraten lassen und beliebig viele Fragen stellen, ohne dass jemand hinter ihnen steht und drängelt.“
„Hoppla“, sagte die Schülerin. „Da hat mich gerade einer angebrüllt, dass ich mir eine richtige Arbeit suchen soll, anstatt Leute zu betrügen...“
„Mach einfach weiter“, sagte der Teamleiter.
„Weiß der nicht, wie schwierig es ist, heutzutage einen Job zu finden? Wo soll ich denn hin?“
„Telefoniere einfach weiter“, sagte der Teamleiter.
Das war das einzige, was er zu solchen Geschichten sagen konnte. Entweder denselben Menschen noch einmal anrufen oder auf der Liste weitergehen. Mehr gab es nicht zu entscheiden.
Jean Paul blätterte in dem Prospekt.
„Haben die Kunden den auch?“, fragte er.
„Die kriegen nur ein Anschreiben und eine Zusammenfassung“, antwortete der Teamleiter.
„Kann ich davon ein Muster haben?“
Der Teamleiter winkte ab.
„Das lesen die sowieso nicht. Die meisten schmeißen alles an Werbung gleich ungeöffnet in den Müll. Und wenn es doch einer vorher liest, hat er es schon längst wieder vergessen, wenn wir anrufen.“
„Aber wenn jemand behauptet, er hat keine vorbereitende Post von uns gekriegt und wir sollen ihm ein schriftliches Angebot schicken?“, fragte Jean Paul weiter.
„Dann musst du davon ausgehen, dass er die Unwahrheit sagt und dich in Wirklichkeit nur abwimmeln will. Die meisten Leute lügen am Telefon!“, sagte der Teamleiter.
Jean Paul vergaß, was er weiter fragen wollte, als der Stuhl neben ihm plötzlich nicht mehr nur wackelte, sondern umkippte. Die Schülerin, die ihm schräg gegenüber saß, bekam unter ihrer knackigen Bräune kurzfristig noch etwas mehr Farbe. „Entschuldigung“, sagte sie.
Er stand auf und stellte den Stuhl wieder unter den Tisch.
„Moment“, sagte sie. „Kann ich meine Füße da drauf legen? Das versuche ich schon die ganze Zeit!“
Er war ihr behilflich und sie bedankte sich.
Alle Telefon-Agenten waren nett. Danach wurden sie ausgesucht. Das war auch darum wichtig, weil ein Telefon-Agent während seiner Schicht manchmal keine einzige freundliche Stimme außer der seiner Kolleginnen oder Kollegen hört.
„Wieder ein Kontospringer“, seufzte der Teamleiter.
Die Kollegin, die Jean Paul gegenüber saß, bemerkte seinen fragenden Blick und erklärte: „Das ist einer, der erst ohne Ende Fragen hat und sich ausgiebig beraten lässt und dann auch will, aber sofort wieder einen Rückzieher macht, wenn er seine Kontoverbindung sagen soll.“
„Seit Hartz IV hat es enorm zugenommen, dass die Leute an dieser Stelle abspringen“, sagte der Teamleiter.
Jean Paul hörte ihm zu, während er von seiner jungen Kollegin abgelenkt wurde, die neben ihm mit den Zehen wackelte und der er dabei irgendwie immer wieder zumindest aus den Augenwinkeln zusehen musste.
Jetzt lachte die Frau in der Ecke.
Der Teamleiter guckte etwas ärgerlich, bis er den Grund erfuhr:
„Da hat mich gerade eine andere Frau angeschrien, dass ich sie beim Sex gestört hätte!“
„Und wenn es gut war, warum geht sie dann ans Telefon?“, fragte der Teamleiter.
Auf manche Fragen wusste selbst ein Teamleiter keine Antworten!

Fortsetzung folgt

Vorschau:
Jean Paul telefoniert endlich selbst. Aber er stört niemanden beim Sex und hat keine Schuld daran, dass die Deutschen aussterben.
 
aus der Diskussion: Telefon-Agent: Die Abenteuer des
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (08.09.06 11:24:18)
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