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Rückkehr


In der Schusslinie




Wegen Morddrohungen hat die Berliner Anwältin Seyran Ates ihren Beruf aufgegeben. Ihr Rückzug löste eine bundesweite Debatte aus: Ates bekam daraufhin so viel Unterstützung, dass sie ihr Mandat bald wieder aufnimmt. Doch die Angst bleibt.


Von Freia Peters

Rückzug vom Rückzug: Die Rechtsanwältin Seyran Ates



Zehn Jahre lang hat sich Seyran Ates als Anwältin in Berlin für muslimische Frauen und Mädchen eingesetzt. Zehn Jahre hat sie sie vor Gericht in Scheidungsfällen vertreten und Schutz geboten bei Gewalt in der Familie. Zehn Jahre hat sie in Zeitungen und im Fernsehen Ehrenmord und Zwangsheirat angeprangert, Dinge also, die in manchen muslimischen Familien an der Tagesordnung sind. Zehn Jahre lang ist sie für ihr Engagement beschimpft und bedrängt worden. Zuletzt erhielt sie anonyme Morddrohungen und musste mit ansehen, wie ihre türkische Mandantin nach einem Scheidungstermin brutal zusammengeschlagen wurde.

Der deutsche Staatsbürgerinnen-Verband kürte Ates zur Frau des Jahres 2005, im selben Jahr gehörte sie zur Gruppe von 1000 Frauen, die gemeinsam für den Friedensnobelpreis nominiert wurden. Nicht jeder war erfreut über ihr Engagement, denn Ates prangerte damit die Rechtlosigkeit muslimischer Frauen an. Die türkische Zeitung "Hürriyet" bezeichnete sie als Nestbeschmutzerin und titelte: "Diese Anwältin ist verrückt geworden."

Im August zog die 43-jährige Anwältin die Konsequenzen und gab ihre Anwaltszulassung zurück. Ates' Rückzug lenkte schlagartig den Blick der Öffentlichkeit auf die Schicksale muslimischer Frauen in Deutschland, die von Unterdrückung und Gewalt betroffen sind.

Aischa* ist so ein Fall. Die 23-jährige Afghanin, die vor fünf Jahren nach Deutschland kam, wird von Seyran Ates vertreten. 13 000 Dollar bezahlte Aischa dem Schleuser, der während des Fluges neben ihr saß und sie am Flughafen Frankfurt stehen ließ. Aischa war auf sich allein gestellt, aber trotzdem fest entschlossen, Deutschland zu ihrer neuen Heimat zu machen. In Afghanistan war sie mit 13 zwangsverheiratet worden und musste im Haus ihrer Schwiegereltern wohnen. Ein Jahr lang durfte sie es nicht verlassen.

Von Frankfurt schlug sich Aischa durch in eine andere deutsche Großstadt, wo sie ein Zimmer im Asylantenheim bezog. Einige Monate nach ihrer Flucht stand ihr Mann vor der Tür. Über den Schlepper hatte er ihre Fährte aufgenommen. Er schlug sie und kroch bei ihr unter.


Sie freundete sich mit deutschen Mädchen an und konvertierte zum Christentum. Ihr Mann erwischte sie mit einem Foto ihrer Taufe und schlug sie wieder. Auf dieselbe Weise erzwang er sich auch sein "Recht" auf seine Ehefrau und erinnerte sie daran, dass in Afghanistan die Scharia gilt. Das muslimische Recht sieht für zum Christentum Konvertierte die Todesstrafe vor. Seitdem versucht Aischa nachts nicht mehr zu schlafen. Sie hat Angst davor, dass ihr Gatte sie im Schlaf übermannt.

Aischa möchte Arzthelferin werden und hat eine Praxis gefunden, die sie ausbilden würde. Doch solange Aischa keine Arbeitserlaubnis bekommt, darf sie den Job nicht annehmen. Sie ist jetzt 23 Jahre alt. Wenn sie nachts wach liegt, muss sie an Hatun Sürücü, denken, eine Deutsche kurdischer Herkunft, die 2005 von ihrem Bruder erschossen wurde. Sie hatte der Polizei gesagt, sie schwebe in Lebensgefahr. Doch die hatte sie nicht geschützt. Sürücü musste mit ihrem Leben bezahlen, dass sie ihren Mann verließ.

Auch Aischa möchte sich gern scheiden lassen. Doch sie weiß, dass ihr Leben dann in großer Gefahr ist. Also bleibt ihr nur ein Ausweg: unterzutauchen und ein Leben zu führen, das Kriminalisten mit dem Schlagwort "U-Boot" benennen: ohne festen Wohnsitz, ohne Freunde, nur selten überhaupt Kontakt zur Außenwelt.

Auf Menschen wie Seyran Ates, die ihr mit Rat und Tat zur Seite stehen, ist Aischa dringend angewiesen, genauso wie die vielen anderen unterdrückten Muslimas in Deutschland. Umso wichtiger ist die Debatte, die der Rückzug der Anwältin ausgelöst hat: Ist es lebensgefährlich, sich in Deutschland für die Rechte muslimischer Frauen einzusetzen?

"Leider muss ich diese Frage mit Ja beantworten", sagt Belma.
Die deutsch-türkische Diplom-Pädagogin kennt das Leben mit der drohenden Gewalt, und daher nennt sie ihren vollen Namen nicht. Belma arbeitet bei Papatya, einer Kriseneinrichtung für Mädchen mit ausländischen Wurzeln. Papatya nimmt junge Frauen auf, die aufgrund von schweren familiären Problemen wie Gewalt oder Zwangsheirat von zu Hause weglaufen. Weil sowohl die Mädchen als auch die Mitarbeiterinnen bedroht werden, wird die Adresse des Heimes streng geheim gehalten.

"Wir müssen immer wieder auf Tauchstation gehen und uns tot stellen", sagt Belma. "Mit einer Klingel können wir direkt Kontakt zur nächstgelegenen Polizeistelle aufnehmen. Wir dürfen sie aber nur betätigen, wenn wirklich jemand bei uns eindringt."

Manchmal bekommen Familienmitglieder der Mädchen die Adresse des Heimes heraus. Brüder, Freunde oder Väter stehen dann vor der Tür und halten Wache, mal bringen sie Hunde mit, sodass niemand das Haus betreten oder verlassen kann. Einer Kollegin wurde auf dem Weg zum Gericht eine Waffe an den Kopf gehalten. "Sie spucken uns an, bedrohen uns, sodass wir uns ins Auto flüchten müssen - damit müssen wir leben", sagt Belma. "Wir tun es schon zu lange, um jetzt aufzugeben."

Gleiches hat sich auch Seyran Ates gedacht. Zu Beginn der Woche kündigte sie an, ihr Mandat zum Jahreswechsel wieder aufzunehmen. Die Polizei soll der Anwältin bei gefährlichen Terminen Personenschutz geben. Ates soll außerdem in eine Anwaltssozietät integriert werden. Diese Art von Solidarität ist nicht alltäglich. Meist weist die Polizei die Hilferufe zurück mit dem Hinweis, sie könne in Familienangelegenheiten nicht intervenieren. Das Bundeskriminalamt registrierte in den vergangenen zehn Jahren 48 Ehrenmorde in Deutschland. 22 weitere Opfer überlebten einen Mordversuch.

Die Debatte hat längst eine europäische Dimension erreicht. "Die effektivste Art, wie europäische Regierungen mit ihren muslimischen Minderheiten umgehen sollten, besteht darin, die muslimischen Frauen zu stärken", sagt Ayan Hirsi Ali. Die niederländische Politikerin, geboren in Somalia, prangerte die Unterdrückung muslimischer Frauen an. Nach mehreren Morddrohungen wanderte sie im Frühjahr in die USA aus. "Europas Politiker haben das Potenzial noch nicht erkannt, das in der Befreiung der muslimischen Frau steckt. Sie vergeuden damit die beste Gelegenheit, die Integration von Muslimen innerhalb einer Generation zum Erfolg zu führen." Moralisch gesehen seien die Regierungen jedoch dazu verpflichtet, Gewalt gegen Frauen einzudämmen.

Aischa aus Afghanistan sagt, sie würde ihre Kinder gern auf ein Leben in einer modernen Gesellschaft vorbereiten: "Ich weiß Arbeit zu schätzen, aber man lässt mich nicht." - "Was für eine Verschwendung ist das?", fragt Ayan Hirsi Ali. In der Hoffnung, dass die Stimme der muslimischen Frauen in Europa lauter wird, kämpfen Hirsi Ali, Seyran Ates und Belma weiter.

* Name von der Redaktion geändert


Artikel erschienen am 17.09.2006
www.welt.de
 
aus der Diskussion: Seyran Ates gibt auf
Autor (Datum des Eintrages): LadyMacbeth  (17.09.06 00:36:35)
Beitrag: 46 von 54 (ID:23982871)
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