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43.

Jean Paul versuchte noch mehrmals ohne Erfolg Aphrodite zu erreichen, die er mittlerweile als eine Art große Schwester betrachtete.
Er bekam und beantwortete noch mehrere Mails von seiner neuen Internet-Bekanntschaft. Es beunruhigte ihn, dass er mittlerweile das Gefühl bekam, sie würde sich wirklich mit ihm treffen und könnte ihm gefallen. Das war nämlich die sicherste Voraussetzung, enttäuscht zu werden. Meistens machten die Frauen nämlich kurz vor der Terminvereinbarung einen Rückzieher und redeten nur noch von Gewissensnöten oder anderen Zweifeln oder ließen ohne jede Vorwarnung nicht mehr von sich hören oder waren dann einfach nicht am verabredeten Ort.
Es war einer dieser Abende, an denen er die gute alte Zeit vermisste. Damals hatte es kein Internet gegeben und darum hatte er es auch nicht gebraucht. Um Mädchen kennen zu lernen, war er einfach Zug gefahren. Egal auf welcher Verbindung er sie kennenlernte, sie wohnten duchschnittlich näher als die Frauen, die er jetzt im Internet kennen lernte und die ihm erst verrieten, dass sie in der Schweiz oder in Österreich lebten, wenn sie bereits fest damit rechneten, dass er jedes Wochenende dorthin zu Besuch kommen würde.
Heutzutage klappte es mit dem Kennenlernen im Zug nicht mehr. Nicht, dass er häßlicher geworden wäre. Er war schließlich nie hübsch gewesen. Aber die Mädchen saßen nicht mehr allein mit einem im Abteil und lasen dort Bücher, auf deren Titel er sie ansprechen konnte. Abteile waren abgeschafft. Man saß ohne jede Privatsphäre mit Dutzenden von Leuten wie im Bus zusammen und wenn sich eine Frau zu einem setzte, klappte sie gleich im nächsten Moment ihr winziges Handy auf und widmete sich dem Verschicken von SMS mit derselben Hingabe wie eine Nonne ihren Gebeten.
Schließlich benutzte er das Internet, um sich über das Programm zu informieren, auf das sein neuer Chef baute. Eine Datenbank für Kundenkontakte. Was er dazu im Internet fand, gefiel ihm. Es gab sogar ein eigenes Forum, das er sofort seinen Lesezeichen hinzufügte.
Die Vorfreude machte ihm das Einschlafen aber nicht einfacher. Er ging zur Bank und holte sich einen Kontoauszug. Während der fast zweijährigen Umschulung war sein Einkommen um ein Viertel verringert gewesen. In dieser Zeit hatte er viel Geld für zusätzliche Unterrichtsmaterialien, Kurse und Prüfungen ausgegeben. Allmählich musste er vorsichtig sein. Als Arbeitsloser, auch mit Mini-Job, stand ihm nicht mehr der einst gewohnte Dispositionskredit zur Verfügung. Die Vorstellung, irgendwann am Wochenende am Automaten Geld abheben zu müssen und plötzlich keines mehr zu bekommen, ließ ihn sich schütteln. Im selben Augenblick verwarf er die Idee, wie früher einfach zur Aufmunterung in die Großstadt zu fahren und sich in einer bestimmten Straße mindestens eine eine halbe Stunde anregende Ablenkung zu ersteigern. Das Benzin kostete nun ein Vielfaches von früher. Außerdem hielten sich die professionellen Damen nicht mehr an die abgemachten Preise. Fast immer nahmen sie sich jetzt schon zum Ausziehen so viel Zeit, dass sie angeblich Geld nachfordern mussten, um auf ihre Unkosten zu kommen. Dieser Sittenverfall hatte den Ruf dieser Straße nachhaltig verdorben und so waren die Freier nicht nur geiziger, sondern auch seltener geworden und dies hatte in letzter Konsequenz auch viele dortige Arbeitsplätze gekostet.
Er atmete tief durch.
Heute nacht blieb der Motor seines Autos kalt.
Schade.
Er konnte sein Konto nicht noch weiter überziehen, um viel zu hohe Ausgaben für immer schlechteren Service zu löhnen und hinterher frustrierter als vorher zu sein.
Jean Paul guckte nach, wieviel Geld er noch in seiner Tasche fand und überlegte, wozu das reichte.
Er ging in die Videothek.

Fortsetzung folgt

Vorschau:
Die Leser werden Zeugen von Jean Pauls erstem Arbeitstag in der neuen Firma und das Treffen mit der Neuen rückt näher. Der Held bekommt dort die Aussicht auf einen Arbeitsplatz in Vollzeit und trifft am Wochenende die Frau seiner Träume. Eigentlich ist alles perfekt...
 
aus der Diskussion: Telefon-Agent: Die Abenteuer des
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (14.10.06 22:12:57)
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