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43.

Jean Paul sucht vergeblich nach den großen Film-Klassikern. Das Ergebnis hätte deprimierender nicht sein können. Er fand keinen einzigen Teil von "Mad Mission". Damals bei der Bundeswehr hatten seine Kameraden ihn praktisch gezwungen, sich mit ihnen an Bereitschaftsabenden diese unvergänglichen Höhepunkte epischen Kinos und subtiler cineastischer Symbolik zu Gemüte zu führen. Mittlerweile war Hongkong an Rotchina gefallen und anstelle von "Mad Mission" und anderem kulturellem Erbe seiner großen Zeit fand Jean Paul unter "Filmklassiker" in seiner Videothek "Dr. Schiwago" und "Anna Karenina". Wo waren die Jahre geblieben und wie konnte es plötzlich so aussehen, als wenn die Kommunisten irgendwie doch gewonnen hatten und seine 15 Monate als Bollwerk gegen den Kommunismus nicht nur widerwillig, sondern auch vergeblich geleistet worden waren? Und wo waren die guten alten Action-Filme geblieben, in denen die Helden und Bösewichter von ehemaliger Hochleistungssportlern gespielt wurden, die keinerlei sprachlicher oder sonstiger intellektueller Fähigkeiten bedurften, weil da einfach gute Amerikaner gegen Kommunisten gekämpft hatten, was keiner Erklärungen bedurfte? Nicht einmal Filme von Bruce Li, dem besten aller Nachfolger des echten Bruce Lee konnte er finden. Es gab keine festen Werte mehr. Sogar Chuck Norris fehlte in der Videothek. Aber Robert Redford gab es, den Vielredner. Okay, Chuck Norris war mittlerweile jede Woche als "Walker, Texas Ranger" im TV zu sehen, doch inzwischen besaß Jean Paul keinen Fernseher mehr. Er hatte sich davon getrennt, nachdem das Unvorstellbare wahr geworden war, also nachdem er bei einem ihm neuen Film mit Chuck Norris eingeschlafen war. Mehr als eine Viertelstunde hatte Chuck keinen umgehauen und als Jean Paul wieder wach wurde, lief schon der Abspann und entlarvte den Hauptdarsteller als reinen Doppelgänger von Chuck Norris, nämlich bereits erwähnten Roberto Redford. Jetzt besaß Jean Paul keinen Fernseher mehr und bekam regelmäßig Drohschreiben der GEZ und ab und zu auch Besuche von stämmigen Damen, die sich jedesmal weigerten, auf seine Einladung hin in seiner Wohnung nach dem abgeschafften Glotzkasten zu suchen. Filme sah er sich auf seinem Computer an.
Er ging zur Theke.
"Ich suche einen bestimmten Film mit zwei deutschen Hauptdarstellern!"
"Davon haben wir viele", sagte die Bedienung.
"Es ist ein Western!"
"Der Schuh des Manitou?"
"Nein, älter."
"Unsere Kunden wollen immer die neuesten Filme!"
"Ich nicht. Ich bin ein alter Sack und ich schwelge gern in Erinnerungen."
Sie überlegte.
"Können sie mir einen Tipp geben?", fragte sie schließlich.
"Also, einer der beiden deutschen Hauptdarsteller ist Klaus Kinski!"
"Fitzcaraldo?"
"Nein", sagte Jean Paul. "Da ist der andere deutsche Star nicht dabei."
"Leichen pflastern seinen Weg?", fragte sie.
"Ja, das ist er."
"Aber welche andere Hauptrolle ausser der von Kinski ist da deutsch besetzt?", fragte sie neugierig.
"Die Waffe seines Filmgegners Jean-Louis Trintingnant ist eine Luger!"
In allen übrigen Western gab es nichts besseres als Revolver zu sehen.
"Den hatten wir auf Video und haben ihn dann verkauft. Ich weiß nicht, ob der überhaupt schon auf DVD heraus gekommen ist."
Er seufzte. Die guten alten Videos waren eben unersetzlich. Viele Filme gab es immer noch nicht oder nur verstümmelt auf DVD. Wenn doch, konnte man beim Gucken nicht mal eben einfach eine Pause machen und am nächsten Tag genau dort weitergucken, sondern musste beim nächsten Gucken erst die DVD wieder komplett "laden" und dann nach dem richtigen "Kapitel" suchen und dann hoffen, dass die gesuchte Stelle nicht erst ganz am Ende dieses Kapitels kam. Früher hatte er DVDs trotzdem toll gefunden, weil man sich seine Filme nun auch in Englisch und sogar in Französisch angesehen konnte, aber mittlerweile wurde daran gespart und zur deutschen Synchronisation wurde meistens als Alternative nur noch Hindi oder Mandarin oder Thailändisch angeboten. Sprachen, die er niemals lernen würde, obwohl er Vokabeln ein wenig Sanskrit, Kantonesisch und Koreanisch kannte.
"Und was soll es jetzt sein? Vielleicht ein moderner Action-Film?"
"Pfui Deibel", sagte er.
Die neuen Action-Streifen aus den USA hatten meistens irgendwelche Oscar-Preisträger in der Hauptrolle. Da wurde pausenlos geredet und erklärt und geflennt und wenn es dann endlich zur Sache ging, schienen sich die Kameraleute die laufenden Kamaeras gegenseitig zuzuwerfen, anstatt draufzuhalten. Dann sah man dann maximal eine Hand oder einen Fuß oder eine getrickste Verwundung in Nahaufnahmen und wenn man mal einen kompletten Menschen sah, kam er komplett aus einem Computer-Animationsprogramm. Die Zeiten, in den Action-Helden sich bewegen und sich sogar komplette Bewegungen merken konnten, waren vorbei. Heutige Action-Filmszenen vermittelten einem maximal eine grobe Ahnung davon, was eigentlich los war, indem sie kleinste Filmschnipsel aneinander pappten und dabei so schnell die Perspektiven wechselten, dass man sich beim Zugucken fühlte, als würde man im Suff mit Anlauf auf Inline-Skates eine endlose Steintreppe herunter fallen.
"Oder was Lustiges?"
Schließlich ging er mit einem Dokumetarfilm von Michael Moore nach Hause. Leider kam dort nichts vor, was er nicht schon anderswo gelesen oder gesehen hatte und darum schlief er dabei ein. Es gab eben nichts Besseres zum Einschlafen als Filme, außer Action-Filme.
Als er aufwachte, musste er sich beeilen, rechtzeitig zur Arbeit zu erscheinen. Zum Glück brauchte er nur einige Minuten Fußweg hinter sich zu bringen.
Dei Frau vom Chef öffnete ihm.
"Ludwig kommt in einer halben Stunde dazu", sagte sie.
"Und der Chef?"
"Kommt vorher. Aber er arbeitet nicht hier. Er bleibt bis auf weiteres in seinem alten Büro."
"Was soll ich tun?"
"Steht auf einer Liste, die er da drüben neben das Notebook gelegt hat", erklärte sie. "Wir haben hier leider noch kein Internet. Wir sind noch im Aufbau. Darum stellen wir bis jetzt auch nur Hilfskräfte ein."
"Okay."
Sie verabschiedete sich
Er fuhr den Computer hoch.
Hier konnten die Mitarbeiter tatsächlich mit einer Datenbank arbeiten und interessierten Kunden schriftliche Informationen per Brief oder per Fax zuschicken.
Einzigartig.
Er war schon jetzt, beim zweiten von einem Dutzend Jobs, auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Telefonagent!

Fortsetzung folgt

Vorschau:
Wir kriegen erste Hinweise darauf, dass Jean Paul an seinem neuen Arbeitsplatz vor unlösbare Aufgaben gestellt wird.
 
aus der Diskussion: Telefon-Agent: Die Abenteuer des
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (15.10.06 18:58:21)
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