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46.

Mireille hatte beim ersten Treffen um größte Diskretion gebeten und immer wieder davon gesprochen, dass ihre piekfeinen Freunde nie von dieser Begegnung erfahren dürften. Also trafen sie sich auf seinen Vorschlag an einem Ort, der leicht zu erreichen war und den Schutz absoluter Anonymität bot. Es handelte sich um eine in der Nähe des Bahnhofs gelegene Schnellfressfiliale von Apple-Dagoberts, jenem super-amerikanischen Unternehmen, dessen Begründer einst mit seinem American Applepie berühmt geworden war und welches heute fast überall auf der Welt schnell warm zu machende Snacks anbot.
Er war fünf Minuten zu früh dort.
Als er sich nach einer Frau in einem schwarzen Kleid umsah, wurde er enttäuscht. Er stellte sich in eine Schlange, um sich einen Kaffee geben zu lassen. Er rechnete damit, versetzt zu werden. Beim Bezahlen überprüfte er darum gleich, ob er genug Geld dabei hatte, um notfalls anschließend noch dorthin zu gehen, wohin er immer ging, wenn er von wieder einer Frau enttäuscht wurde und genug Geld dafür besaß.
Als er einen freien, kleinen Tisch sah, setzte er sich und beobachtete wie nebenbei den Eingang. Er guckte und guckte und guckte noch einmal und dann passierte es. Eine langhaarige Frau seines Alters stolzierte in den Raum. Sie trug ein graues Kleid und eine Sonnenbrille. Die Farbe des Kleides stimmte nicht und sie war nicht so dünn wie auf dem Foto, aber die Zeit stimmte und solche Frauen verirrten sich äußerst selten in diese Art Fressläden. Sie stellte sich ebenfalls in eine Schlange und wartete. Die Weise, wie sie das tat, nämlich ohne sich irgendwie nach vorn mogeln zu wollen, verrriet ihm, dass sie keine Deutsche war, denn auch die ehemaligen Bewohner der einstigen DDR hatten sich diesbezüglich längst den Wessis angepasst. Sie trug flache Schuhe und wäre mit Absätzen mindestens genauso groß oder sogar größer als er gewesen.
„Salut“, sagte sie. „Ich habe sogar extra deinetwegen flache Schuhe angezogen, damit du nicht zu mir hochsehen musst.“
Da guckte man einen Moment nicht hin und schon wurde man überrumpelt.
„Merci“, sagte er.
Sie hielt in jeder Hand einen Becher.
„Willst du Kaffee oder Orangensaft? Zu essen habe ich hier lieber nichts gekauft!“
„Setz dich“, sagte er. „Ich soll doch nicht zu ihr hochsehen müssen, oder?“
„Ich gebe dir den Kaffee. Deiner ist ja schon fast halb leer.“
„Soll ich dir helfen?“, fragte er geduldig.
Aus gutem Grund war er sehr vorsichtig, wenn sich die Frage stellte, ob er einer Frau aus oder in den Mantel helfen oder ihr den Stuhl zurechtrücken sollte. Manche Frauen reagierten darauf sehr aggressiv und beschimpften ihn dafür als Macho. Besonders bei Karrierefrauen und ganz speziell bei nur mäßig oder überhaupt nicht erfolgreichen Vertreterinnen dieser Gattung konnte man(n) besser den Anschein von Unhöflichkeit riskieren.
Sie stellte den Kaffee vor ihn, den anderen Becher vor sich und holte dann ein Taschentuch heraus und wischte damit ein paarmal über die Sitzfläche, ehe sie sich dort zögernd niederließ.
Er sah, dass er mit dem Kaffeetrinken in Rückstand war und widmete sich den Prioritäten.
„Hier bin ich noch nie gewesen“, sagte sie. „Obwohl ich oft mit dem Zug fahre und immer hier vorbei komme.“
Sie sah sich um, wie es Touristen in einem fremden Land tun. Er rechnete jeden Moment damit, dass sie ihr Handy zückte und Fotos für ihre Freunde machte.
„Danke für den Kaffee“, sagte er.
„Ich wusste nicht, was man hier sonst kaufen kann. Ganz ohne Verzehr darf man hier sicher nicht sitzen.“
„Bei dir hätten sie bestimmt eine Ausnahme gemacht“, sagte er aus voller Überzeugung.
„So bist du viel netter als am Telefon“, sagte sie.
„Es ist mein Job, am Telefon nett zu sein.“
„Dann könntest du bei mir aber nichts verdienen.“
„Muss ich auch nicht. Wenn wir telefonieren, habe ich schon Feierabend.“
„Oder du schläfst schon!“
Sie kicherte und nahm endlich die Sonnenbrille ab.
Er stellte fest, dass jeder ihrer Bewegungen eine gewisse Eleganz anhaftete.
„Komm schon, du bist doch ein Mann und dann kannst auch ab und zu eine Nacht ohne Schlaf verkraften!“
Er räusperte sich.
„Andere Männer würden ihre linken Arm dafür geben, einmal von mir angerufen zu werden!“
„Ich brauche aber beide Hände noch“, sagte er. „Zum Arbeiten.“
„Aber dafür bist du am Telefon witziger“, sagte sie. „Sogar wenn man dich aufweckt.“
„Dann kann ich nichts dafür, wenn ich witzig bin.“
„Bist du denn jetzt wenigstens satt?“, fragte sie.
„Ich bin nicht zum Essen hier. Ich bin Koch.“
„Koch?“, wiederholte sie fragend. „Egal. Können wir anderswo hingehen?“
„Können wir? Du hattest doch die Bedenken, dass deine Bekannten dich mit einem Fremden sehen könnten.“
„Hier können wir auch nicht bleiben“, sagte sie mit einem erneuten Rundumblick.
„Wir können auch in ein Hotel gehen und da all die Sachen machen, über die wir schon diskutiert haben“, sagte er ärgerlich.
Sie guckte ihn an.
Ihr Blick drückte Überraschung aus.
„Du hast deinen Kaffee noch nicht aufgetrunken.“
Er trank betont langsam, weil es ihn immer noch ärgerte, dass Aphrodite ihn kürzlich als „notgeil“ tituliert hatte.
Sie setzte ihre Sonnenbrille wieder auf.
„In Belgien trinken wir nicht so viel Kaffee wie ihr hier. Höchstens morgens ein oder zwei Tassen!“
„Ich dachte, du wärst Französin“, sagte er nachdenklich.
„Das ist dasselbe“, fauchte sie. „la même chose!“
„Bof“, sagte er.
„Falls du irgendwann jemandem von mir erzählst, darfst du auf keinen Fall sagen, dass ich Französin bin! Das würde ich dir nie verzeihen!“
„Das würden mir die echten Franzosen in meinem Bekanntenkreis noch weniger verzeihen“, dachte er.
„Der Kaffeebecher ist leer“, sagte er.
Sie sah sich erneut um und stand dann auf.
Er blieb noch einen Moment sitzen und genoss den Anblick.

Fortsetzung folgt

Vorschau:
Es bleibt nicht beim Anblick.
 
aus der Diskussion: Telefon-Agent: Die Abenteuer des
Autor (Datum des Eintrages): Wolfsbane  (18.10.06 10:18:02)
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