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Aktuell Gesellschaft Hintergründe
Krawall, Randale, Gewalt

Der Wrangelkiez - die Banlieue von Berlin?

Von Christian Schwägerl und Leonie Wild, Berlin





Schüler der Kreuzberger Eberhard-Klein-Oberschule
20. November 2006
Ein zuckender blauer Schein liegt auf den Gesichtern der Jugendlichen, die an diesem Abend in Berlin an der Kreuzung von Wrangelstraße und Oppelner Straße stehen. Noch ist nicht klar, ob sich die Türen der Einsatzfahrzeuge gleich öffnen werden. Die Hundertschaft der Polizei bleibt mit Schlagstöcken in Bereitschaft. Den Einsatzbefehl muß ein schmächtiger, mit dicken Schutzpolstern ausstaffierter Mann geben, der die Nummer 224 auf dem Rücken trägt. Wütende Jugendliche umringen ihn. Sie reden auf ihn ein, beschimpfen ihn als Rassisten und fotografieren ihn mit ihren Handys. Der Einsatzleiter atmet schnell und tief, um die Kontrolle über sich zu bewahren.


Es ist der Abend des vierten Tages, an dem einige Ecken der Berliner Innenstadtbezirke Moabit und Kreuzberg nicht zur Ruhe kommen. Erst irritiert, dann schockiert hat Berlin auf diese Quartiere geschaut nach den jüngsten dramatischen Schlagzeilen. (Siehe auch: Berlin außer Rand und Band)


Liegen mitten in Berlin die potentiellen Bürgerkriegszonen, die sich in Paris am Stadtrand befinden, in sicherem Abstand zu den bürgerlichen Wohnvierteln? Mit dem ritualisierten Krawall am 1. Mai hat die Stadt leben gelernt, aber „Zusammenrottungen mit Migrationshintergrund“, von denen der Chef der Polizeigewerkschaft spricht, stellen das heikle Selbstbild der Vielvölkermetropole in Frage.


Zufällige Eskalation?


Anfangs, nach den ersten Zwischenfällen, wollten Politiker und Leitartikler denn auch vorzugsweise von einer zufälligen Eskalation sprechen, von Einzelfällen ohne inneren Zusammenhang. Aber mit jeder unruhigen Nacht verschärfte sich die Sprache. „Krieg in Kreuzberg“ titelte die türkische Tageszeitung „Hürriyet“ am Donnerstag. Am Samstag sprach Innensenator Körting (SPD) unverhohlen vom „Mob“, dem man die Straßen nicht überlassen werde. Er nahm damit ein Stichwort aus den Klassenkämpfen des neunzehnten Jahrhunderts auf, mit dem der gutbürgerliche West-Berliner „Tagesspiegel“ die Stimmung angeheizt hatte. Man muß in dieser Terminologie wohl ein Signal der Abstiegsangst sehen, die in den restbürgerlichen Schichten um sich greift.


Zuerst sah sich die Polizei am Dienstag abend in der Wrangelstraße achtzig wütenden Jugendlichen gegenüber, als zwei Zwölfjährige wegen versuchten Straßenraubs verhaftet werden sollten. Am nächsten Tag kam es in einer Tempelhofer Schule zu einer Massenschlägerei zwischen verfeindeten Jugendlichen. In Moabit blockierte eine aufgebrachte Menschenmenge den Rettungswagen von Sanitätern, die einen angefahrenen Fünfjährigen ins Krankenhaus bringen wollten. Am Donnerstag überfielen maskierte Jugendliche eine Physikklasse und verletzten einen der Schüler mit einem Messer. Als Motiv werden Rivalitäten zwischen türkisch- und arabischstämmigen Migranten vermutet. Hier schließt sich der Kreis: Die Eberhard-Klein-Oberschule liegt im Wrangelviertel.


Die Schule war vor zwei Jahren in die Schlagzeilen geraten, als die Lehrer nach den Sommerferien feststellen mußten, daß ihnen der letzte „Restdeutsche“ abhanden gekommen war. So heißen hier Kinder, deren Eltern nicht nach Deutschland eingewandert sind. Immer mehr schicken deshalb ihre Sprößlinge auf Privatschulen oder ziehen aus dem Viertel fort. Die Gesamtschule durchlaufen seither nur „n.d.H.-Kinder“, Schüler „nichtdeutscher Herkunft“. Bernd Böttig, der Schulleiter der Eberhard-Klein-Oberschule, versuchte das Beste aus der neuen Lage zu machen. Er bot mehr Deutschkurse an, mobilisierte Studenten, die seither Nachhilfeunterricht erteilen.


Aggression prägt den Alltag


Am Tag nach dem Überfall steht Böttig am Rand eines Nervenzusammenbruchs. Journalisten bestürmen seine Schule, Schüler posieren auf dem Hof als Hip-Hop-Gangster, stellen sich auf die Nachfrage der Medien ein, bieten Interviews für zwanzig Euro an und nennen als Berufswunsch „Mafiaboss“ oder „Pornoregisseur“. Ihre zielstrebigeren Klassenkameraden können von Glück sagen, daß sich „Eberhard-Klein-Oberschule“ nicht so gut als Schlagwort eignet wie „Rütli“. Zu Fuß braucht man von der „Eberhard-Klein“ zur Neuköllner Rütli-Schule, die im Frühjahr durch einen Hilferuf der Lehrerschaft bundesweit in die Schlagzeilen kam, nur eine Viertelstunde. Zwischendrin liegt als Keil aus einer anderen Stadt das Maybach-Ufer, wo Spitzenmieten für Lofts erzielt werden, von denen nur wenige ein Kinderzimmer haben.


Der Wrangelkiez taucht nicht zum erstenmal auf der Landkarte städtischer Krisenherde auf. Das Viertel hat in den vergangenen Jahrzehnten, in denen Industriearbeiter arbeitslos wurden, Hausbesetzer kamen und Einwandererfamilien hierherzogen, schon manchen Niedergang und Neuanfang erlebt. Längst gibt es eine Vielzahl fürsorglicher Initiativen, „Quartiersmanagement“, Ladenbesitzervereine oder das „Wrangelnetz“. Zuletzt ließ sich sogar manch Gutes hören. Entnervt vom glatten Schick der neuen Mitte, kamen Designer, Musiker und andere Kreative zurück auf diese Seite der Spree. Kreuzberg, nach dem Mauerfall immer wieder totgesagt, blühte zaghaft wieder auf.


Die Designerin Claudia Weiler etwa hat vor fünf Jahren einen der ersten Szeneläden auf der Wrangelstraße eröffnet. Mittlerweile aber ist sie in eine Straße gezogen, in der sie nicht den Gemüsehändler bitten muß, herumlungernde Kinder zur Ordnung zu rufen. Fällt der Begriff „Integration“, schnaubt sie abfällig. Aggression präge den Alltag: „Wer nicht pariert, hat schon mal eine Fensterscheibe zu beklagen.“ Im Café „Cream“ nebenan sagt die Bedienung, sie lebe in Reinickendorf: „Fünf Prozent Ausländeranteil, keine Gewalt.“ Ausländerfeindlichkeit kann man der jungen Frau schon wegen ihres dunklen Teints kaum unterstellen.


Reise von Schuldzuweisung zu Schuldzuweisung


Was läuft falsch in einem Viertel, auf dessen Straßen pubertierende Einwandererknaben mit Machogesten den Ton angeben, Jungs, denen ein besorgter türkischer Anwohner „doppelte Halbsprachigkeit“ attestiert, was heißt, daß sie sich in keiner von zwei Sprachen richtig ausdrücken können? Im Lauf eines Tages kann man im Wrangelviertel eine Reise von Schuldzuweisung zu Schuldzuweisung machen. Die Politik helfe nicht, erklärt der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde. Die Gesellschaft verweigere den Migranten das Heimatgefühl, sagt eine Sozialarbeiterin. Die Wirtschaft biete keine Ausbildungsplätze, klagt ein Gemüsehändler. Die Eltern müßten sich um ihre Kinder kümmern, sagt ein Lehrer. Die Kinder müßten sich endlich um sich selbst kümmern, sagt ein türkischer Unternehmer. Was nur, wenn alles stimmt?


Eigentlich möchte Annette Spieler, die seit fünfzehn Jahren die Fichtelgebirgs-Grundschule leitet, nur von den vielen guten Initiativen und manchen ermutigenden Zeichen berichten. Sie erzählt, daß sich viele türkischstämmige Eltern in den Schulen engagieren, daß der Islamlehrer mit dem evangelischen Religionslehrer im Unterricht Gemeinsamkeiten behandelt, daß sich elfjährige „Konfliktlotsen“ auf dem Schulhof mühen, Gewalt im Keim zu ersticken. Aber dabei beläßt es Frau Spieler nicht, obwohl sie Angst hat vor einem „neuen Negativimage“ ihres Quartiers. Sie erzählt auch von Müttern und Vätern, die sich nicht zum Elternabend trauen, weil sie kaum Deutsch sprechen, von Streitigkeiten unter Kindern, bei denen immer häufiger Schimpfworte wie „Christ“ und „Schweinefresser“ fallen. Die Direktorin berichtet von verzweifelnden Lehrern, die aus ihren Schülern nicht mehr als die Vokabeln „Ding“ und „machen“ herausbringen. Und von Kindern, bei denen vor lauter Koransuren die Hausaufgaben zu kurz kommen. Nach den jüngsten Vorfällen im Viertel setzten sich die Lehrer der Fichtelgebirgsschule wieder einmal zusammen. „Wir machen doch schon so viel“, sagt Frau Spieler: „Aber wie sähe es aus, wenn es nur ein bißchen weniger wäre?“


Eine Straßenecke weiter, bei Nihat Sorgeç, landen die Gestrandeten, die eine letzte Chance bekommen, bevor sie in der Onkelwirtschaft im Eckladen verschwinden oder als Ungelernte von Arbeitslosengeld und Schwarzarbeit leben. Sorgeç' „Bildungswerk Kreuzberg“ bietet Ausbildungsgänge für alle, die keine Lehrstelle in einem Betrieb finden können. Hundert Betreuer kümmern sich um achthundert Jugendliche, die Arbeitsagentur fördert das Projekt.


„Energie der Pubertät“ in sinnvolle Bahnen lenken


Der elegant gekleidete Sorgeç zeigt Fotos von Erfolgsgeschichten: arbeitslose Vietnamesen, die er zu Sushi-Köchen ausgebildet hat, türkische Mädchen, die als Modeschneiderinnen abgeschlossen haben. Vielen jungen Männern aus türkischen oder arabischen Familien aber müsse er erst erklären, warum Anstrengung sich lohnen soll. Manchen seiner Wrangel-Jungs sagt er: „Ich schäme mich, daß du mein Landsmann bist.“ Gerade hatte er drei im Büro, die zu spät zum Unterricht kamen, die Arbeit verweigerten und den Lehrer beschimpften. Im Direktorenzimmer bauten sie sich drohend vor ihm auf und schrien auch ihn an. Bis Sorgeç ihnen sagte, daß er ihre Väter informieren werde, und sie fragte, wovon sie in zehn Jahren leben wollten. „Plötzlich“, sagt Sorgeç, „wurden sie kleinlaut.“


Der Leiter des „Bildungswerks Kreuzberg“ sticht dadurch hervor, daß er die Jugendlichen nicht als Opfer behandelt. Er schiebt nicht alles auf die Politik. Die Eltern müßten verstehen, sagt er, daß sie für die Erziehung zuständig seien, nicht allein die Schule. Die Jugendlichen müßten begreifen, daß der Weg zum „Chef“, den viele als Berufswunsch angeben, über „Drecksarbeit“ führe. Sorgeç pendelt zwischen düsteren Prognosen und großen Plänen. Er diagnostiziert Ghettoisierung und Identitätsverlust und schwärmt vom milliardenschweren deutsch-türkischen Handel, der „bikulturelle Kompetenz“ verlange, und davon, „die Energie der Pubertät in sinnvolle Bahnen“ zu lenken.


Bikulturelle Kompetenz müssen auch die Polizisten beweisen, die nach Einbruch der Dunkelheit an der Wrangelstraße Stellung beziehen. Nur hundert von siebzehntausend Berliner Polizisten kommen aus Einwandererfamilien, wegen der Überschuldung der Stadt stellt die Polizei kaum neues Personal ein. Nach einem friedlichen Protestzug gegen angebliche rassistische Äußerungen der Polizei erhitzen sich die Gemüter. Einsatzleiter „224“ hört heraus, daß an diesem Abend die Verzweiflung größer ist als die Wut. Bevor er den Rückzug anordnet, gibt er den Jugendlichen einen gutgemeinten Rat: „Demonstriert doch für mehr Ausbildungsplätze.“

Text: F.A.Z., 20.11.2006
 
aus der Diskussion: Neues aus Multikultistan
Autor (Datum des Eintrages): redbulll  (23.11.06 13:00:37)
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