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"Mr. Dausend" und andere Gurus

Am Ende eines enttäuschenden Börsenjahres fragen sich viele Anleger, wessen Rat sie noch trauen dürfen. Was bringt 2001?

Von Marc Brost, Götz Hamann, Marcus Rohwetter, Wolfgang Uchatius


Jeder große Guru braucht eine kleine Marotte. Also verzichtet Hans Achim Bernecker auf vier Buchstaben des zweiten Vornamens - und nennt sich kurz Hans A. Ein richtiger Guru hat erfahren zu sein, und weise. Also wirbt der 62-Jährige Bernecker mit "40 Jahren Börsenerfahrung" und posiert dazu in ganzseitigen Anzeigen: die Arme verschränkt, die hohe Stirn vom Denken zerfurcht, die Augen fest in die Kamera gerichtet. Ein glaubwürdiger Guru muss selbst Erfolg haben, daher besitzt Bernecker die Symbole des Erfolgreichen: die goldene Uhr am Handgelenk, den Bentley in der Garage, die Millionen auf der Bank. Vor allem aber braucht ein Guru eine Botschaft - und eine Bühne, von der er sie verkündet. Also meldet sich Bernecker einmal die Woche. Per Post. "Wer etwas zu sagen hat", so sein Motto, "schreibt einen Börsenbrief."
In der jungen Börsenrepublik Deutschland haben offensichtlich viele sehr viel zu sagen. Immer neue Magazine drängen auf den Zeitschriftenmarkt und erklären, wie man "300 Prozent Gewinn mit der nächsten Technik-Revolution" macht oder besser noch "1000 Prozent mit Optionsscheinen". Der Fernsehsender n-tv lässt Experten vor die Kamera, die beim Blick auf Kursgrafiken von "abschreckenden Double-Tops" orakeln und mit fester Stimme behaupten, dass der Dax wieder steige, wenn nur die "maßgebliche Unterstützungslinie" halte. Wer gern telefoniert, kann bei Börsen-Hotlines anrufen, um sich für 2,42 Mark pro Minute einflüstern zu lassen, wo die nächste "Geld-Dusche" wartet und welche Aktie demnächst zur "Bio-Tech-Rakete" wird. Ob im Sportverein, am Stammtisch oder am Arbeitsplatz: Fast jeder kennt jemanden, der einen Tipp parat hat.
Die Gier nach Geld hat die Kurse im Frühjahr 2000 in ungeahnte Höhen getrieben: Von Januar bis März stieg der Deutsche Aktienindex um ein Viertel, der Neue Markt verdoppelte sich in dieser Zeit sogar. Jetzt liegt die Börse am Boden. Viele Aktien sind nur noch einen Bruchteil ihrer einstigen Höchstkurse wert. Die Anleger fragen sich, ob sie nun aussteigen sollen oder ob gerade jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um wieder einzusteigen. Wird 2001 ein besseres Börsenjahr als 2000? Darf man den Prophezeiungen der Aktiengurus noch glauben? Wem darf man überhaupt trauen, wenn es um die Börse geht?
Von wegen "Aktienkultur": Viele Anleger haben keine Ahnung
Zunächst einmal: Es sind die ahnungslosen Aktionäre selbst, die das Heer der Möchtegernexperten zu Propheten machten. "Weil die Anleger die verschiedenen Einflussfaktoren des Kapitalmarktes nur teilweise durchschauen, folgen sie Vorbildern", sagt der Nürnberger Börsenprofessor Wolfgang Gerke. "Vorbilder, von denen sie annehmen, sie besäßen intimere Kenntnisse über die von ihnen empfohlenen Unternehmen." Dass dem nicht so ist, hat Reinhart Schmidt ermittelt. "Da ist viel Zufall dabei", sagt der Professor für Bankbetriebslehre an der Universität Halle-Wittenberge. "Es werden einfach Vermutungen in die Welt gesetzt, die fundamental überhaupt nicht begründet sind."
Das Perfide daran: Je mehr Leute die empfohlenen Aktien kaufen, desto höher treiben sie die Kurse - und damit treten auch die Weissagungen der Propheten ein. Entziehen die Anleger dem Börsenguru jedoch die Gunst, ist es mit der Herrlichkeit schnell vorbei (siehe Grafik). Das heißt aber auch: Die These von der Aktienkultur in Deutschland ist bloß ein Schlagwort. Viele, die sich aufs Parkett trauen, haben keine Ahnung, auf was sie sich einlassen. Das Ergebnis: Die Börse fährt Achterbahn.
Guru ist freilich nicht gleich Guru, auch das mussten die Anleger im Jahr 2000 lernen. Die einen bewegen Kurse, die anderen vor allem die Gemüter. Egbert Prior war der Erste, der beides konnte. Der Düsseldorfer Exjournalist - Werbespruch: "Setzen Sie Prioritäten" - gilt als einer, der die Mobilcom-Aktie nach oben gebracht hat. Und wieder nach unten. Als Prior die Aktie propagierte, stieg der Wert binnen weniger Monate um über 100 Prozent. Am Nikolaustag 2000 packt Prior dann die Rute aus: Als er in seinem Börsenbrief schreibt, dass dem Unternehmen "ohnehin das Geld an allen Ecken und Enden" fehle, stürzt der Kurs um knapp 20 Prozent. Der Guru mit dem Bubengesicht strotzt vor Selbstbewusstsein, seitdem er sich nicht mehr vom Staatsanwalt verfolgt fühlt. Jetzt greift er am liebsten die Kollegen an - und am allerliebsten Bernd Förtsch.
Der Außenseiter aus dem kleinen Kulmbach hat freilich schon Ärger genug. Kaum ein anderer Börsenguru spaltet die Anlegerschaft so sehr wie der Franke Förtsch. Er hat all jene reich gemacht, die frühzeitig auf Kleinstwerte wie Infomatec und Gigabell setzten - und dann rechtzeitig ausstiegen. Wer zu spät kam oder den Absprung verpasste, sitzt heute dagegen auf einem Haufen fast wertloser Papiere. "Mister Dausend", verspotten ihn seine Gegner, weil Förtsch im Fernsehen mit breitem Akzent das Kursziel der Morphosys-Aktie auf 1000 Euro hochschraubte - und das Papier mittlerweile auf rund 140 Euro abgerutscht ist. Im Internet nennen sie ihn "0190-Förtsch", weil er nebenbei eine teure Hotline betreibt. Vor allem aber wird immer wieder moniert, dass Förtsch auch noch Investmentfonds berät, die pikanterweise in jene Aktien investieren, die der Guru in seiner Zeitschrift empfiehlt. Der Vorwurf seiner Kritiker: Bestimmte Aktien würden nur empfohlen, um die Performance der Fonds zu verbessern.
Für das kommende Jahr hängt alles von der US-Konjunktur ab
Der Boden, auf dem diese Saat aufgeht, wird seit 1997 bestellt: der Neue Markt in Frankfurt, die Wachstumsbörse für junge Unternehmen. Die dort gehandelten Aktien sind allesamt marktenge Werte - also Aktien mit relativ geringer Stückzahl, deren Kurse leicht um zweistellige Prozentzahlen nach oben springen, wenn eine Schar Kleinanleger kauft. Während ein alter Börsenprofi wie Bernecker den Neuen Markt skeptisch sieht, spezialisiert sich manch neuer Prophet gerade auf dieses Risikosegment.
Der Zulauf der Gurus hat aber noch einen anderen Grund: das Fernsehen. Bei Prior war es die 3satBörse, in der er als Gast auftrat und Mobilcom-Aktien empfahl. "Die Leute haben dem charmanten Prior geglaubt und dann gekauft", sagt Peter Nemec, der Leiter der Sendung. Ein Dilemma: Ohne Gäste mit einem gewissen Günther-Jauch-Appeal lässt sich keine gute Fernsehsendung machen. "Lieber einen Charismatiker als einen professoralen Langweiler, der die Leute nicht für das Thema Aktie begeistern kann", sagt Nemec. Dass Prior freilich die empfohlenen Mobilcom-Aktien zuvor selbst gekauft hatte, spaltete die Investorenschaft. Insidergeschäfte, schimpften die einen, andere wiederum fanden das in Ordnung: Nur wer selbst die Papiere besitze, zu denen er rät, dem könne man trauen. Hauptsache, selbst reich werden. Wenn andere dabei noch reicher werden - was soll`s.
Irgendwann waren alle ärmer. Ein Schuldiger musste her. Viele Zuschauer, sagt Nemec, haben der 3sat-Redaktion dann Briefe geschrieben wie: "Sehr geehrte Damen und Herren. Sie haben in Ihrer Sendung eine Aktie empfohlen, mit der ich 4000 Mark verloren habe. Bitte überweisen Sie den Betrag auf mein Konto." So denken die Menschen eben, seufzt Nemec.
Von neuem steigende Kurse würden sie vermutlich trösten. Tatsächlich sagen die Marktauguren schon den nächsten Boom vorher. "Bis Februar" erwarte er den-Neuen Markt-Index Nemax All Share bei 7000 Punkten, jubelte Prior Mitte November. Hat er diesmal Recht?
Bevor den Anlegern der Rausch der New Economy zu Kopf stieg, hatten Aktien vor allem mit Unternehmensgewinnen zu tun. Jetzt ist das Delirium vorüber, der Blick nüchtern und wieder frei für Zahlen. Und die sind tatsächlich ganz gut, eigentlich. "Wir erwarten ein Wachstum der Unternehmensgewinne von zehn Prozent und darüber", sagt Ulrich Ramm, Chefvolkswirt der Commerzbank.
Zwar gehen die Wirtschaftsforscher davon aus, dass sich das Wachstum in Deutschland leicht abschwächt - von 3,0 auf irgendwo zwischen 2,4 und 2,8 Prozent (siehe ZEIT Nr. 52/00 sowie Forum Seite 25). Doch für die Börse sind auch das keine schlechten Zahlen, im Gegenteil. Ein milderes Wachstum bedeutet geringere Inflationsgefahr. Und wenn keine Inflation droht, wird die Europäische Zentralbank wohl auch die Zinsen nicht erhöhen. Ein Vorteil für die Aktionäre, denn steigende Zinsen erhöhen die Attraktivität von Rentenpapieren, die Investoren schichten um, und die Aktienkurse fallen.
Am Ende solcher Gedankengänge angekommen, könnten Privatanleger zuversichtlich Aktien kaufen, egal, was die Gurus sagen. Wenn, ja wenn da nicht Amerika wäre und diese Flugzeug-Metapher, die Analysten wie Ökonomen in diesen Wochen ständig zitieren. Demnach befindet sich die US-Ökonomie im schnellen Sinkflug wie eine Boeing 747 vor der Landung. Im ersten Quartal lag die Wachstumsrate bei 5,6 Prozent. Vergangene Woche wurde der Wert für das dritte Quartal bekannt: nur noch 2,2 Prozent. Die Frage, die alle beschäftigt, ist nun: Wie wird die Landung - hart oder weich? Aufprall oder Ausrollen? Lange Rezession oder schnelles Durchstarten in den nächsten Aufschwung?
"Wenn die USA in die Rezession geraten, kann man sich leicht Horrorszenarien ausmalen", sagt Thomas Meyer, Chefvolkswirt der amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs. Auf einen Schlag wären auch die positiven Prognosen für Deutschland Makulatur. Die Nachfrage aus Amerika bliebe aus, der Euro stiege schlagartig an, die Exportraten fielen, die Unternehmensgewinne auch. Aus einem guten Aktienjahr würde ein katastrophales.
Auf 20 bis 30 Prozent schätzen Ökonomen die Wahrscheinlichkeit einer harten Landung der amerikanischen Wirtschaft. Wer optimistischer ist, begründet das meist mit einem Namen: Alan Greenspan. Der 73-Jährige ist Präsident der amerikanischen Zentralbank. Er kann der Wirtschaft Geld zuführen oder entziehen, je nachdem, was sie nötiger hat. Er sei der Pilot, sagen die Experten, er steuere das Flugzeug, er wisse am besten, wie es in der Luft liegt. Als er am Dienstag vor Weihnachten die Sorge äußerte, eine Rezession sei womöglich nicht zu vermeiden, stürzten die Aktienkurse in die Tiefe. Obwohl er das Wort Rezession selbst gar nicht in den Mund nahm. Die Fachleute hatten es aus seiner Rede nur herausgelesen. Dieser Einfluss macht Greenspan zum Guru der Gurus. Seine Worte interpretieren die Börsenexperten wie Gläubige die Heilige Schrift. Natürlich interpretiert sie jeder anders. Und jeder hat dabei seine eigenen Interessen. Das gilt für die meisten Börsengurus genauso wie für die Unternehmen, die sich selbst und ihre Aktien mit rosigen Wachstumsversprechen anpreisen. "In diesem Jahr haben am Ende alle, wirklich alle Meinungsbildner falsch gelegen", sagt ein hochrangiger Banker aus Frankfurt. "Und was die Zukunft angeht, fischen wir derzeit alle im Trüben."
Gurus wollen selbst reich werden, Unternehmen ihre eigenen Kurse nach oben treiben. Wem also kann der Privatanleger trauen? Den Analysten? Auch deren Untersuchungen - zu Hunderten im Internet oder in den Medien zu finden - sind durchaus nicht immer unabhängig. Erst recht nicht, wenn die Analysten bei der Bank arbeiten, die das untersuchte Unternehmen an die Börse gebracht hat. Die Banken beraten die Aktiengesellschaft regelmäßig noch ein Jahr nach dem Börsengang. In dieser Zeit ist eine ehrliche Aussage nicht immer zu erwarten.
Statt Beratung wollen die Leute den Tipp fürs schnelle Geld
Aber auch eine noch so objektive Studie birgt Gefahren für Privatleute, sagt Volker Hergert. Er war zehn Jahre lang selbst Analyst, jetzt leitet er die Research-Abteilung der Bankgesellschaft Berlin. "Analysten wenden sich in erster Linie an institutionelle Anleger", sagt er. "Privatanleger als Nichtprofis verstehen nur selten die komplexen Zusammenhänge, die dort beschrieben werden." Das Übersetzen ist Aufgabe der Medien. Aber auch die tun sich schwer damit, sagt Hergert. "Aus dem Zusammenhang gerissene Zitate und inhaltlich falsch wiedergegebene Aussagen führen oft zu Fehlinformationen."
Die Folge ist häufig eine falsche Anlage-Entscheidung. Oder sogar die Pleite. Bei der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz melden sich inzwischen immer mehr Menschen, die Aktien auf Kredit gekauft haben. Ihr Depot diente als Sicherheit. Jetzt, da die Kurse sinken, liquidieren die Banken die Aktien für kleines Geld. "Viele gehen jetzt mit einem ordentlichen Soll-Betrag auf dem Konto nach Hause", sagt Geschäftsführer Carsten Heise. Und geben womöglich allein den Börsengurus die Schuld, auf deren Empfehlung sie hörten. Unbedingt hören wollten.
Selbst einen alten Börsenfuchs wie Hans A. Bernecker lässt die Gier vieler Privatanleger inzwischen zweifeln. "Heute wollen die Leute keine ernsthafte Beratung mehr", klagt er. "Sie wollen nur noch wissen, wo man die nächsten 100 Prozent holt."
(c) DIE ZEIT   01/2001 
 
aus der Diskussion: Börsenguru`s
Autor (Datum des Eintrages): Bischoff  (30.12.00 16:11:36)
Beitrag: 84 von 150 (ID:2605456)
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