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Schutz der Intimsphäre setzt der Kunstfreiheit Grenzen

Im Jahr 2003 erschien im Verlag der Beschwerdeführerin der
Roman "Esra"
von Maxim Biller. Er erzählt bis in intimste Details die
Liebesbeziehung zwischen Esra und dem Ich-Erzähler, dem
Schriftsteller
Adam. Der Liebesbeziehung stellen sich Umstände aller Art in
den Weg:
Esras Familie, insbesondere ihre herrschsüchtige Mutter Lale,
Esras
Tochter aus der ersten, gescheiterten Ehe, und vor allem Esras
passiver
schicksalsergebener Charakter.

Auf Klage der ehemaligen Freundin des Autors und deren Mutter, die
sich
in den Romanfiguren Esra und Lale wieder erkennen und geltend
machten,
das Buch stelle eine Biographie ohne wesentliche Abweichung von der
Wirklichkeit dar, untersagten die Zivilgerichte dem Verlag die
Veröffentlichung und Verbreitung des Romans. Der
Bundesgerichtshof
bestätigte das Verbot. Die hiergegen gerichtete
Verfassungsbeschwerde
des Verlages war teilweise erfolgreich. Der Erste Senat des
Bundesverfassungsgerichts stellte fest, dass die angegriffenen
Entscheidungen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf
Kunstfreiheit verletzen, soweit sie der Klägerin zu 2 (Mutter)
einen
Unterlassungsanspruch zusprechen. Soweit die Entscheidungen der
Klägerin zu 1 (ehemalige Freundin) einen Unterlassungsanspruch
in Form
eines Gesamtverbotes des Romans zubilligen, sind sie hingegen
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Die Richterin Hohmann-Dennhardt und der Richter Gaier sowie der
Richter
Hoffmann-Riem haben der Entscheidung eine abweichende Meinung
angefügt.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu
Grunde:


1. Der Roman "Esra" stellt ein Kunstwerk dar. Auch wenn
wesentlicher
Gegenstand des Rechtsstreits das Ausmaß ist, in dem der
Autor in
seinem Werk wirklich existierende Personen schildert, ist
jedenfalls
der Anspruch des Autors deutlich, diese Wirklichkeit
künstlerisch zu
gestalten. Die Kunstfreiheit ist aber nicht schrankenlos
gewährleistet, sondern findet ihre Grenzen unmittelbar in
anderen
Bestimmungen der Verfassung, die ein in der Verfassungsordnung
des
Grundgesetzes ebenfalls wesentliches Rechtsgut schützen.
Als
Schranke für künstlerische Darstellungen kommt
insbesondere das
allgemeine Persönlichkeitsrecht der Person, an die ein
Roman
anknüpft, in Betracht. Um die Grenzen im konkreten Fall zu
bestimmen, genügt es nicht, ohne Berücksichtigung der
Kunstfreiheit
eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts
festzustellen. Es
bedarf vielmehr der Klärung, ob diese Beeinträchtigung
derart
schwerwiegend ist, dass die Freiheit der Kunst
zurückzutreten hat.

Um die Schwere der Beeinträchtigung des allgemeinen
Persönlichkeitsrechts bewerten zu können, ist eine
kunstspezifische
Betrachtung zur Bestimmung des durch den Roman im jeweiligen
Handlungszusammenhang dem Leser nahe gelegten
Wirklichkeitsbezugs
erforderlich. Dabei ist ein literarisches Werk, das sich als
Roman
ausweist, zunächst einmal als Fiktion anzusehen, das keinen
Faktizitätsanspruch erhebt. Diese Vermutung gilt auch dann,
wenn
hinter den Romanfiguren reale Personen als Urbilder erkennbar
sind.
Die Kunstfreiheit schließt das Recht zur Verwendung von
Vorbildern
aus der Lebenswirklichkeit ein. Allerdings besteht zwischen dem
Maß,
in dem der Autor eine von der Wirklichkeit abgelöste
ästhetische
Realität schafft, und der Intensität der Verletzung
des
Persönlichkeitsrechts eine Wechselbeziehung. Je
stärker Abbild und
Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die
Beeinträchtigung des
Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische
Darstellung die
besonders geschützten Dimensionen des
Persönlichkeitsrechts berührt,
desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine
Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen.

2. Nach diesen Maßstäben werden die angegriffenen
Entscheidungen
hinsichtlich der Klägerin zu 2 (Mutter) der gebotenen
kunstspezifischen Betrachtung nicht in jeder Hinsicht gerecht
und
verstoßen damit gegen die Kunstfreiheitsgarantie. Die
Gerichte haben
zwar in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise
festgestellt, dass die Klägerin zu 2 anhand einer ganzen
Reihe
biographischer Merkmale als Vorbild der Romanfigur erkennbar
gemacht
ist. Allerdings begnügen sich die Gerichte damit
festzustellen, dass
die Romanfigur Lale sehr negativ gezeichnet ist, und sehen darin
eine Persönlichkeitsrechtsverletzung. Die Gerichte
berücksichtigen
damit nicht hinreichend, dass der Roman im Ausgangspunkt als
Fiktion
anzusehen ist. Die Annahme einer Fiktion wird auch dadurch
gestützt,
dass der Autor Lale überwiegend nicht aus eigenem Erleben,
sondern
in Wiedergabe fremder Erzählungen, Gerüchte und
Eindrücke schildert.
Für ein literarisches Werk, das an die Wirklichkeit
anknüpft, ist es
gerade kennzeichnend, dass es tatsächliche und fiktive
Schilderungen
vermengt. Unter diesen Umständen verfehlt es den
Grundrechtsschutz
solcher Literatur, wenn man die Persönlichkeitsverletzung
bereits in
der Erkennbarkeit als Vorbild einerseits und in den negativen
Zügen
der Romanfigur andererseits sieht. Nötig wäre vielmehr
jedenfalls
der Nachweis, dass dem Leser vom Autor nahe gelegt wird,
bestimmte
Teile der Schilderung als tatsächlich geschehen anzusehen,
und dass
gerade diese Teile eine Persönlichkeitsrechtsverletzung
darstellen,
entweder weil sie ehrenrührige falsche
Tatsachenbehauptungen
aufstellen oder wegen der Berührung des Kernbereichs der
Persönlichkeit überhaupt nicht in die
Öffentlichkeit gehören. Ein
solcher Nachweis ergibt sich aus den angegriffenen
Entscheidungen
nicht.

3. Im Gegensatz dazu sind die angegriffenen Entscheidungen, soweit
sie
der Klägerin zu 1 (ehemalige Freundin) einen
Unterlassungsanspruch
zugesprochen haben, im Ergebnis verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden. Anders als im Fall der Mutter haben die Gerichte
hier
nicht nur deren Erkennbarkeit, sondern auch in bestimmten
Schilderungen des Romans konkrete schwere
Persönlichkeitsrechtsverletzungen festgestellt. Die
Klägerin zu 1
ist nicht nur in der Romanfigur Esra erkennbar dargestellt. Ihre
Rolle betrifft auch zentrale Ereignisse, die unmittelbar
zwischen
ihr und dem Ich-Erzähler, der seinerseits unschwer als der
Autor zu
erkennen ist, und während deren Beziehung stattgefunden
haben.
Gerade durch die aus vom Autor unmittelbar Erlebtem stammende,
realistische und detaillierte Erzählung der Geschehnisse
wird das
Persönlichkeitsrecht der Klägerin zu 1 besonders
schwer betroffen.
Dies geschieht insbesondere durch die genaue Schilderung
intimster
Details einer Frau, die deutlich als tatsächliche
Intimpartnerin des
Autors erkennbar ist. Hierin liegt eine Verletzung ihrer
Intimsphäre
und damit eines Bereichs des Persönlichkeitsrechts, der zu
dessen
Menschenwürdekern gehört. Die eindeutig als Esra
erkennbar gemachte
Klägerin zu 1 muss aufgrund des überragend bedeutenden
Schutzes der
Intimsphäre nicht hinnehmen, dass sich Leser die durch den
Roman
nahe gelegte Frage stellen, ob sich die dort berichteten
Geschehnisse auch in der Realität zugetragen haben. Daher
fällt die
Abwägung zwischen der Kunstfreiheit des Verlags und des
Persönlichkeitsrechts der Klägerin zu 1 zu deren
Gunsten aus.
Dasselbe gilt für die Schilderung der lebensbedrohlichen
Krankheit
ihrer Tochter. Angesichts des besonderen Schutzes von Kindern
und
der Mutter-Kind-Beziehung hat die Darstellung der Krankheit und
der
dadurch gekennzeichneten Beziehung von Mutter und Kind bei zwei
eindeutig identifizierbaren Personen in der Öffentlichkeit
nichts zu
suchen.

4. Die angegriffenen Entscheidungen durften, soweit sie der
Unterlassungsklage der Klägerin zu 1 stattgegeben haben,
ein
Gesamtverbot aussprechen. Es ist nicht Aufgabe der Gerichte,
bestimmte Streichungen oder Abänderungen vorzunehmen, um
die
Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen.

Sondervotum der Richterin Hohmann-Dennhardt und des Richters Gaier

Die Richterin Hohmann-Dennhardt und der Richter Gaier stimmen der
Entscheidung der Senatsmehrheit nicht zu. Sie kritisieren, dass der
Senat zur Bemessung der Schwere einer
Persönlichkeitsbeeinträchtigung
das ihrer Meinung nach untaugliche Kriterium der Erkennbarkeit
angewandt habe, anstatt den von ihm zu Recht reklamierten
kunstspezifischen Maßstab anzulegen. Der Senat werde zudem der
qualitativen Dimension künstlerischer Verarbeitung von
Wirklichkeit
nicht gerecht, wenn er quantitativ fordere, je mehr ein Roman mit
seinen Schilderungen den Intim- und Sexualbereich berühre,
desto mehr
müsse durch Verfremdung eine Verletzung der
Persönlichkeit
ausgeschlossen werden. Dies führe letztlich zu einer der Kunst
verordneten Tabuisierung des Sexuellen. Denn Kunst lebe von
Anlehnungen
an die Wirklichkeit und stehe damit immer in der Gefahr, dass sich
Personen in ihr wieder erkennen und für andere erkennbar
seien. Aus
literaturwissenschaftlicher Sicht komme man übereinstimmend zu
dem
Schluss, dass der Roman Esra weder Erfahrungswelten reproduziere
noch
Autobiographisches darstelle, sondern einer
literaturästhetischen
Programmatik folge und eine narrative Konstruktion sei. Bei einer
kunstspezifischen Betrachtung könne daher eine
Persönlichkeitsverletzung nicht angenommen werden.
Entscheidendes
Kriterium für die Versagung oder Gewährung des
Grundrechtsschutzes sei,
ob der Roman bei einer Gesamtbetrachtung ganz überwiegend das
Ziel
verfolge, bestimmte Personen zu beleidigen, zu verleumden oder
verächtlich herabzuwürdigen. Eine solche Intention des
Autors sei
jedoch nicht erkennbar und werde auch von
literaturwissenschaftlicher
Seite nicht gesehen.

Sondervotum des Richters Hoffmann-Riem

Der Senat habe die zur rechtlichen Bewertung der Wirkungen eines
Kunstwerks entwickelten Grundsätze nur teilweise auf den Fall
angewandt. Wenn Art. 5 Abs. 3 GG gebiete, dass für die
Kunstform des
Romans die Vermutung des Fiktionalen auch bei Erkennbarkeit eines
konkreten Vorbilds spreche, und dies auch für die konkret
geschilderten
Ereignisse, Verhaltensweisen oder Charaktereigenschaften gelte, sei
nicht nachvollziehbar, warum es nicht auch Darstellungen über
den
Sexualbereich umfasse. Ferner drohe die Vielfalt
künstlerischen
Schaffens aus dem Blick zu geraten, wenn der Schutz des
Künstlerischen
auf das Fiktionale begrenzt und ein Kunstwerk rechtlich unter der
Annahme eines Entweder-Oder von Fiktion oder Empirie bewertet
werde.
Damit drohe die Eigenständigkeit des Umgangs mit Beobachtbarem
in der
Kunst - der künstlerischen Konstruktion von Wirklichkeit -
verloren zu
gehen. Dieses Risiko werde auch nicht vermieden, wenn die
Intensität
und Reichweite des Schutzes der Kunstfreiheit - wie es die Mehrheit
befürworte - von dem Grad der Fiktionalisierung abhängig
gemacht werde.
Der Grad der Fiktionalität tauge nicht, die besondere Art der
künstlerischen Verarbeitung eines intersubjektiv beobachtbaren
Geschehens zu berücksichtigen. Die künstlerische
Verarbeitung eines
solchen Geschehens in einer romanhaften Darstellung mache es nicht
notwendig zur Fiktion, wohl aber zum Kunstwerk. Dann müsse
auch
insoweit eine Vermutung zugunsten des Künstlerischen gelten.
Die
Redeweise von der Vermutung der "Fiktionalität" drohe diese
Dimension
des Schutzbedarfs zu verschütten.
 
aus der Diskussion: Ok ok...Wer steckt hinter Billers "Esra"?
Autor (Datum des Eintrages): DerStrohmann  (12.10.07 14:19:49)
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