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Das Camp in Sibirien

Der hessische Ministerpräsident will jugendlichen Schlägern ans Schlafittchen. Ist das gut?

Es vergeht ja praktisch keine Morgenkonferenz der WELT, in der es nicht knallt. Meistens findet das im letzten Drittel statt, und der Aplomb stammt fast immer von meinem Lieblingskollegen Thomas Exner vom Wirtschaftsressort. Sein Witz ist brut, und er klingt wie der Korken an der Zimmerdecke. Der Knaller von gestern war, er hätte nachts einen schwer anregenden Film gesehen. Er lächelte boshaft. Russische Problem-Jugendliche in Sibirien. Sie arbeiten in Camps oder Bauernhöfen. Es habe effektiv ausgesehen, es sei extrem kostengünstig. Wie immer blieb offen, wie viel Ernst dran war. Gibt es irgendeinen Grund, an die Decke zu gehen beim Vorschlag des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, kriminellen Jugendlichen ein Camp anzutun? Nein, den gibt es nicht. Ich war selber in einem.Es ging da ruppig zu - Fahnenappell morgens um fünf mit schikanöser Uniforminspektion, dann steckte der Chef einen Quadratmeter Wiese ab. Sie war mit allem innerhalb des Gevierts als Salat zu verfrühstücken. Geprügelt wurde auch, die ganze Horde baute sich zu einer Reihe auf und schlug dann zu. Wen es traf, der merkte sich genau, wer einen harten Schlag genoss und wer ihn bloß simulierte. Ich empfand Disziplinierungen wie diese (es gab schmerzhaftere) erst als schockierend, aber Jahrzehnte später als die eingebläute Sozialkompetenz schlechthin. Den meisten anderen in meinem Pfadfinder-Rudel waren diese "Runden" egal. Sie kannten Prügel verschärft von zu Hause. Bei den Pfadfindern habe ich riesige Flöße gebaut, ich habe die Spanten eines Fünf-Mann-Reise-Kanus gesägt, lackiert, bespannt, wir haben Flüsse damit befahren. Wir sind zu zwölft in einer kristallklaren Alpen-Nacht dem Fingerzeig eines österreichischen Bergführers gefolgt: "Es ist hier!" - und dann legten wir, erst den Kamin, dann das Dach bis hinunter zu den Fenstern und der Tür, die im Schnee verschwundene Hütte frei.Der Mann, der die Pfadfinder erfand, schrieb das nach der Bibel und dem Koran meistgedruckte Buch der Welt. Er hieß Baden-Powell, ein britischer Generalmajor. Er holte Anfang des 20. Jahrhunderts Tausende kriminelle Jugendliche aus den Londoner Elendsquartieren. Der berühmteste Satz aus Baden-Powells Buch ist "Learning by Doing". Die Scouts führten sich selber, sie waren militärisch organisiert, die Chefs kamen aus den eigenen Reihen, und sie waren deshalb auch alles andere als staatlich anbefohlene Sozialarbeiter.

Der Autor ist Chefreporter der WELT

http://www.welt.de/welt_print/article1516144/Das_Camp_in_Sib…
 
aus der Diskussion: Erziehungscamps müssen her
Autor (Datum des Eintrages): CaptainFutures  (05.01.08 18:44:21)
Beitrag: 43 von 208 (ID:32952082)
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