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09.11.09

Unverdauter Schock

Nach dem Fall der Mauer überkam das frisch vereinte Land ein großes patriotisches Gefühl. Doch nüchtern betrachtet ginge es uns heute ohne die überhastete Einheit um einiges besser - in West wie Ost.

Die Deutschen feiern den Mauerfall - und manche gleich auch die anschließende Vereinigung. Da werden gern "die Schulzes aus Grimma" präsentiert, die "in der Einheit ihr Glück fanden". Das Erste ist höchst angemessen. Das Zweite wirkt etwas bemüht, nicht nur terminlich. Wenn man das große patriotische Gefühl einen Moment zurückstellt, könnte man auch die Frage stellen, ob nicht das, was auf den Mauerfall so schwergewichtig folgte, viel mehr dauerhafte und gravierende wirtschaftliche Schäden mit sich gebracht hat als Nutzen.

Und ob es dem Land nicht ohne diese Einheit heute sogar besser ginge - im Westen wie im Osten. Immerhin scheint manches andere ost- und mitteleuropäische Land den großen Umbruch ökonomisch besser bewältigt zu haben, ohne Milliarden-Brüder und -Schwestern im Westen, die dafür die ein oder andere Krise abbekamen.

Natürlich gab es nach 1990 nirgends so schnell neue Straßenbeläge, hübsche Rathausvorplätze und nagelneue Schienen wie im Osten Deutschlands. Natürlich würde jeder Rentner in Osteuropa sofort tauschen. Nur macht eine schöne Straße allein nicht glücklich. Und auch die Rente muss irgendwer zahlen, auch das belegt also noch keine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Entscheidend ist, wie viel wirtschaftliche Kraft sich entwickelt. Und hier liegt bei allem Fortschritt ein wirkliches Drama.

Nettotransfer von über 1000 Mrd. Euro

Allein zwischen 1991 und 2005 sind nach gängigen Schätzungen mehr als 1000 Mrd. Euro Nettotransfers zugunsten Ostdeutschlands und seiner Wirtschaft gezahlt worden. Umso ernüchternder ist die Bilanz, vor allem verglichen mit den Staaten, die höchstens - mickrig wirkende - EU-Hilfen abbekommen haben.

Seit 1991 ist das ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) um gut 80 Prozent gestiegen. Klingt viel. Nur hat sich die Wirtschaftsleistung in Polen und der Slowakei zeitgleich mehr als verdreifacht, in Tschechien, Ungarn und Slowenien mehr als verdoppelt. Seit 1996 gab es nur ein Jahr, in dem die ostdeutsche Wirtschaft schneller wuchs als im Schnitt die Mitteleuropäer. Mittlerweile haben die Slowenen trotz schlechterer Ausgangslage ein höheres Pro-Kopf-Einkommen als die Ostdeutschen, wie Schätzungen des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) ergeben. Und: Rechnet man dann noch heraus, dass nach Schätzungen von IWH-Experte Udo Ludwig ein Drittel des ostdeutschen BIP mehr oder weniger direkt transfergestützt ist (etwa über Sozialsysteme), liegt die selbst erwirtschaftete Leistung wahrscheinlich auch niedriger als in Tschechien, Ungarn und der Slowakei. Erschütternd.

In keinem der mitteleuropäischen Länder ist der demografische Absturz so erschreckend wie in Ostdeutschland. Seit 1990 ist ein Zehntel der Bevölkerung verschwunden. In Tschechien, Polen und der Slowakei leben heute mehr Menschen als damals. Auch nicht unbedingt ein Erfolgsmerkmal. Man kann nicht einmal sagen, dass die Einführung westdeutscher Standards per se zu deutlich besserer Lebensqualität geführt hat als anderswo. In Ostdeutschland ist die Lebenserwartung von Männern seit der Wende um 5,8 Jahre gestiegen - in Polen um 5,4 Jahre.

Wie Verhaltensökonomen herausgefunden haben, entscheidet über Zufriedenheit und Depression von Menschen ohnehin am ehesten, ob jemand Arbeit hat. Und: Im Schnitt gab es seit der Einheit im Osten Deutschlands 1,4 Millionen Arbeitslose. Macht eine Quote von 16,5 Prozent über 20 Jahre. So ein Drama hat kein anderes osteuropäisches Land erlebt. Tschechien kommt im Schnitt auf 5,8, Ungarn auf 8,1 Prozent (siehe Grafiken).

Das doppelte Drama liegt darin, dass all das die (West-)Deutschen trotzdem eine Menge gekostet hat. Der Vereinigungsschock hat Deutschlands Staatsschulden damals in fünf Jahren von 40 auf 60 Prozent hochschnellen lassen; das war ja nicht die plötzliche Gier deutscher Sozialhilfeempfänger. Es hat 15 Jahre gebraucht, um die einheitsbedingt gestiegene Sozialabgabenquote wieder auf Voreinheitsniveau zu bringen. Oder um die Zahl der Staatsbeschäftigten gesamtdeutsch unter das alte Niveau im Westen herunterzukürzen. Es hat auch ein Jahrzehnt gebraucht, um die einheitsbedingte Blase am deutschen Bau zu verarbeiten. Und Jahre, um wettzumachen, dass im Einheitsrausch Löhne und D-Mark völlig absurd hochgehandelt wurden, weil die Beteiligten an die neue deutsche Wirtschaftskraft glaubten. Es ist kein Zufall, wenn die deutsche Wirtschaft erst 2005, nachdem das Gros dieser Schocks überwunden und Abgabenquoten aus Voreinheitszeiten wieder erreicht waren, einen richtigen Aufschwung erlebte. Dazwischen hat die Wirtschaft 15 Jahre lang Einheitsdesaster ausgebadet.

Der bittere Vergleich mit Polen, Tschechen oder Slowenen lässt erahnen, dass es irgendwie hätte besser ausgehen können - günstiger für den Westen und wohlstandsfördernder für den Osten. Kein Land ist der marktwirtschaftlichen Konkurrenz so brutal und ungeschützt ausgesetzt worden wie die ostdeutsche Wirtschaft nach dem Einheitsexperiment samt teurem Umtauschkurs und nachgereichter Lohnanpassung. Das war ein Schock, von dem sich Arbeitsmarkt und Wirtschaft bis heute nicht erholt haben. Fast alle Osteuropäer sind dagegen mit stark unterbewerteten und billigen Währungen in den Umbruch gestartet. Mit dem Ergebnis, dass sich eine ziemlich schlagkräftige Exportwirtschaft entwickeln und die alten Industrien allmählich modernisieren konnten. Ergebnis: Heute liegt die Exportquote in Ostdeutschland bei gerade 22 Prozent des BIP. In Polen sind es 33, in Tschechien und Ungarn fast 70 Prozent. Und die ostdeutsche Wirtschaft ist von "kleinteiligen" Unternehmen geprägt, die eher "als verlängerte Werkbank ohne strategische Unternehmensfunktion" organisiert seien, so die IWH-Experten.

Das Schlimme ist, dass bei derart geschwächter Basis so auch nicht viel Aussicht auf Besserung besteht. Seit 2003 wird der Rückstand in den Pro-Kopf-Einkommen gegenüber Westdeutschland wieder größer, selbst mitten im Aufschwung. Und an der Aussicht ändert womöglich auch die jüngste Finanzkrise wenig. Zwar sind Tschechen oder Ungarn hart getroffen. Dafür haben ihre Währungen seit Mitte 2008 um 20 (Tschechien) bis 50 Prozent (Polen) abgewertet, was den dortigen Exportindustrien nun einen enormen Schub an Wettbewerbsfähigkeit bringt. Erneut zulasten Ostdeutschlands, das am teuren Euro hängt.

Groteske D-Mark-Fantasien

Bedenkt man, dass diese Einheit verdammt viel gekostet und vergleichsweise wenig an wirtschaftlicher Dynamik gebracht hat, liegt der Verdacht nahe, dass es West wie Ost ohne diese Einheit besser ginge; dass es in den letzten 20 Jahren mehr Wachstum und weniger Arbeitslose gegeben hätte, wenn die Ostdeutschen ebenfalls mehr Zeit bekommen hätten. Wenn also die Einheit erst gekommen wäre, wenn sich die Unternehmen dank billigerer Währung allmählich umgestellt hätten. So wie das alle anderen im Osten Europas auch hingekriegt haben - "aus eigener Kraft", so Peter Havlik, Osteuropaexperte beim Wiener WIIW-Institut.

Vielleicht ist es angesichts der erschreckenden Bilanz mittlerweile auch eine schlechte Ausrede, dass es damals angeblich gar nicht anders ging. Mag sein. Vielleicht hätte man nach dem grandiosen Mauerfall aber nicht so schnell absurde Einheitspläne präsentieren und groteske D-Mark-Fantasien nähren sollen. Der Eifer wäre womöglich kleiner gewesen, so schnell Einheit zu machen.

Und es wäre auch danach noch besser gewesen, das Desaster auszusprechen, statt die Einheit aus falschem Patriotismus jährlich zum nationalen Tabu schönzulächeln. Dann hätten sich die Deutschen eine absurde Zeit sparen können, in der angeblich die Globalisierung oder (west-)deutsches Anspruchsdenken an hohen deutschen Schulden oder Arbeitslosenzahlen schuld waren. Es war die Einheit, Trottel. Und es wäre schlauer gewesen, mehr Energie in die Behebung dieses Desasters zu stecken.

Quelle: FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND
 
aus der Diskussion: .....und Helmut Kohl hatte doch Recht !
Autor (Datum des Eintrages): MFC500  (09.11.09 15:03:04)
Beitrag: 12 von 46 (ID:38348208)
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