Fenster schließen  |  Fenster drucken

3. Dezember 2009, 18:16, NZZ Online

Enorme Lust auf direkte Demokratie
Deutsche, Italiener, Franzosen wollen über Minarette abstimmen

Die Abstimmung über die Minarettinitiative hat in den Nachbarländern den Ruf nach direkter Demokratie verstärkt. Insbesondere wollen viele über Minarette abstimmen. Andere warnen vor Gefahren für den Rechtsstaat.

Andres Wysling / NZZ online

Nach dem schweizerischen Volksentscheid für das Minarettverbot hat sich in den Nachbarländern die Diskussion über Vorzüge und Nachteile der direkten Demokratie verstärkt. Diese findet nicht zuletzt in den Diskussionsforen der Online-Medien und in politischen Blogs statt. Zu Wort melden sich Politiker, Politologen und vor allem auch in grosser Zahl die Leser. Viele von diesen äussern den Wunsch nach Volksabstimmungen über den Bau von Minaretten – offenkundig in der Hoffnung, solche Bauten zu verhindern.

Auf dem Portal des deutschen Fernsehsenders n-tv zum Beispiel füllen die Leserkommentare zu einem Beitrag unter dem Titel «Direkte Demokratie hat Grenzen» 70 Seiten. Die Forderung nach vermehrter direktdemokratischer Entscheidfindung hat in Deutschland auch schon die politische Ebene erreicht. Noch in der laufenden Legislaturperiode will die SPD aus der Opposition heraus Volksentscheide und Volksbegehren auch auf Bundesebene durchsetzen. Unterstützung findet sie bei den Grünen.

Populisten wollen Plebiszite
In Frankreich wird immer wieder über einen Ausbau solcher Instrumente diskutiert. Das französische Magazin «Le Point» fasst die Lesermeinungen zusammen unter dem Titel: «Die Franzosen haben enorme Lust auf direkte Demokratie». Ein Leser schreibt: «Die repräsentative Demokratie, in der wir leben, funktioniert schlecht und hält ihre Versprechen nicht» – es ist das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber dem politischen Apparat.

«Das Referendum stört die Politiker», meint auch ein Blogger in Italien – und offensichtlich hat er grosse Lust, die Politiker zu stören. Es gibt aber auch Politiker, die ein Referendum wünschen. Am Tag nach dem schweizerischen Referendum der «Vereinfachungsminister» Roberto Calderoli von der Rechtspartei Lega Nord gefordert, die Minarettfrage ebenfalls dem Volk zur Abstimmung vorzulegen. Ihm geht es aber, in übler populistischer Manier, nur um ein Plebiszit zu dieser einen bestimmten Frage, nicht um die systematische Verstärkung der Volksrechte.

Skepsis gegenüber dem Volk
In Deutschland ist die Diskussion wohl am meisten fortgeschritten und vertieft. Hier sind Befürworter wie Gegner der direkten Demokratie der Ansicht, die Schweizer hätten mit dem Minarettverbot die Glaubensfreiheit verletzt. Es war ein Fehlentscheid – das ist jedenfalls die vorwiegende Meinung der Berufskommentatoren, also von Politikern, Politologen, Journalisten. Historisch bedingt, ist die deutsche Demokratiediskussion geprägt durch grosse Skepsis gegenüber der Weisheit des Volkes. Dass eine Grundregel des liberalen Rechtsstaats einfach per Volksentscheid ausgeschaltet werden kann, erfüllt mit Sorge.

Das schweizerische Minarettverbot kommt den deutschen Gegnern der direkten Demokratie gelegen. Sie halten sie für instabil und unberechenbar, weil wichtige Entscheide zu stark von momentanen Stimmungen und Ängsten in der Bevölkerung abhingen. Das parlamentarische System führe zu fundierteren Entscheiden, und es schütze Minderheiten besser, meinen sie. Der Integrationsminister von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet (CDU), spricht sich angesichts des Schweizer Volksentscheids zumindest gegen Abstimmungen über Religionsfragen aus. Die Mehrheiten in Deutschland wären seiner Ansicht nach «gleichermassen erschreckend».

«Den Bürgern mehr zutrauen»
Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, findet hingegen: «Die Politik muss den Bürgern mehr zutrauen. Vor solchen Entscheidungen muss jeder für seine Überzeugung kämpfen und besser argumentieren.» Dies im Bewusstsein: «Demokratie ist riskant. Das Volk kann sich ja auch irren.» Andere weisen darauf hin, dass die Grundrechte in der deutschen Verfassung ohnehin unveränderlich festgeschrieben sind. Ein Kommentator in der «Zeit» weist auf die Wächterrolle des Verfassungsgerichts hin: «Natürlich muss das Volk akzeptieren, dass seine Beschlüsse durch ein Verfassungsgericht kassiert werden können. Die Gewaltenteilung gilt auch für die direkte Demokratie.»
 
aus der Diskussion: Türkei - Erdogan bezeichnet Schweizer Minarett-Verbot als "faschistisch"
Autor (Datum des Eintrages): Caravest  (03.12.09 18:38:18)
Beitrag: 108 von 274 (ID:38504575)
Alle Angaben ohne Gewähr © wallstreetONLINE