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Kaffeemarkt: Neuer Schwung im "Coffee-to-go"-Jahrzehnt

Handelsblatt Nr. 049 vom 11.03.2010 Seite 30 Ingo Reich Hamburg -- Kein Jahrzehnt zuvor hat den Kaffeemarkt in Deutschland derart verändert wie das zurückliegende. "Gab es noch vor zehn Jahren zu Hause und unterwegs ausschließlich Filterkaffee, so kann man heute aus einer Vielzahl von Kaffeegetränken aussuchen, die vor wenigen Jahren kaum einer kannte", sagt Holger Preibisch, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Kaffeeverbandes.
Auch die Kaffeegastronomie mit den vielen verschiedenen Coffeeshops hat sich deutlich geändert. Vom "Coffee-to-go-Jahrzehnt" spricht Preibisch. Als Symbol einer mobilen Gesellschaft haben sich Kaffeespezialitäten zum Mitnehmen, umgangssprachlich "to go", etabliert. Vor allem junge Großstädter haben diesen Trend geprägt. Rund 1.600 Coffeeshops haben in den letzten zehn Jahren die Innenstädte und Einkaufszentren Deutschlands erobert.
Dabei spielt die Expansion der US-Kaffeehauskette Starbucks eine Schlüsselrolle. Aber die Starbucks-Story zeigt auch die Grenzen des Wachstums auf: Der Filialist war insbesondere in den Ballungszentren der USA wie im Großraum New York so stark gewachsen, dass die einzelnen Läden begannen, sich gegenseitig die Kunden wegzuschnappen. Daraufhin verordnete der reaktivierte Starbucks-Gründer Howard Schultz dem Kaffeekonzern kurzerhand eine Schrumpfkur. Schultz senkte Kosten, schloss mehr als 900 unrentable Filialen - vor allem in den USA - und expandierte weiter in den Wachstumsmärkten China und in Europa.
Neben der Neugründung zahlreicher Kaffeeketten nach Starbucks-Vorbild haben die letzten zehn Jahre auch noch weitere Kaffeetrends hervorgebracht.
Kaffee auf Knopfdruck.
Heute sind Espresso, Cappuccino und Latte Macchiato groß im Trend. "Wir schätzen, dass allein im Jahr 2009 mehr Espressobohnen abgesetzt wurden als in den gesamten Neunziger Jahren", erklärt Preibisch.
Zuhause kann der Konsument heute auf Knopfdruck schnell und einfach seine Lieblingskaffeespezialität kreieren. Das Segment der Kapsel- und Padmaschinen wies im letzten Jahrzehnt durchschnittliche jährliche Wachstumsraten von über 25 Prozent auf. Allein von 2007 auf 2008 stieg der Verbrauch von Kaffee in Einzelportionen hierzulande um 5.000 auf 26.000 Tonnen.
An dieser Entwicklung partizipieren Branchengrößen wie der US-Konsumgüterkonzern Sara Lee (Senseo) aber auch Familienunternehmen wie Dallmayr oder Tchibo. Der Schweizer Nahrungsmittelmulti Nestlé schickt sogar zwei Kaffee-Systeme ins Rennen: Neben der erfolgreichen Luxus-Marke Nespresso führte er für den gehobenen Massenmarkt auch das Kapselsystem "Nescafé Dolce Gusto" ein.
Außerdem kauft der Konsument seinen Kaffee zunehmend bewusst ein und will bestimmte Standards in Anbau und Handel durch Siegel und Zertifikate bestätigt wissen. Heute gibt es fast überall zertifizierte und dazu noch fair gehandelte Bio-Kaffees zu kaufen, im Discount-Laden genauso wie im Feinkostgeschäft.
Kaffee war auch im vergangenen Jahrzehnt das mit fast 150 Litern pro-Kopf und Jahr meist getrunkene Getränk in Deutschland. Erst auf Rang zwei und drei folgen Mineralwasser und Bier.
Margenträchtige Innovationen.
Zur Freude aller im Kaffeemarkt tätigen Unternehmen, sind fast alle Innovationen äußerst margenträchtig. 20 bis 30 Euro pro Kilo kann ein Fachhändler für seine qualitativ hochwertigen Bohnen immerhin verlangen. Da machen diesen Anbietern auch die derzeit stark steigenden Preise für Rohkaffee wenig aus.
Das Massengeschäft hingegen gilt weiterhin als hart umkämpft und wenig profitabel. Offenbar verleitet es auch zu unlauteren Methoden, wie das Bundeskartellamt jüngst aufdeckte. Kurz vor Weihnachten verhängte die Behörde wegen unerlaubter Preisabsprachen hohe Bußgelder gegen ein Kaffee-Kartell. Die großen Kaffee-Anbieter Tchibo, Melitta und Dallmayr haben nach Ansicht der Wettbewerbshüter jahrelang ihre Preise auf Kosten der Verbraucher künstlich hoch gehalten.
GRAFIK: Espresso und Caffè Crema in Deutschland - Verkauf in Tonnen zwischen 1990 - 2008


Profitabler Muntermacher

Handelsblatt Nr. 049 vom 11.03.2010 Seite 30 Interview2 -- Lange Zeit galt Kaffee als Getränk der Großeltern.Doch dank der Kaffeeketten ist der braune Muntermacher bei den jungen Leuten wieder cool und trendy.
Beim traditionellen Round-Table-Gespräch in Hamburg gab es zahlreiche gegensätzliche Meinungen. Doch in einem waren sich die Teilnehmer einig: Die neuen Kaffeespezialitäten machen den Kaffeemarkt wieder profitabel. Das Gespräch moderierte Handelsblatt-Redakteur Ingo Reich.
Handelsblatt: Kaffeehausketten wie Starbucks, Balzac oder Einstein dominieren heutzutage schon beste Innenstadtlagen. Auch viele Filialbäcker oder Imbissketten wollen sich das Geschäft mit den profitablen italienischen Kaffeespezialitäten nicht entgehen lassen. Befinden wir uns mitten in einer Latte-macchiatoisierung der deutschen Kaffeekultur?
Klaus Rödel: Kaffeespezialitäten wie Latte macchiato, Cappuccino oder Espresso sind nicht von jetzt auf gleich in Mode gekommen. Sie sind auch nicht von Starbucks plötzlich den deutschen Konsumenten eingeflößt worden. Dies ist vielmehr das Ergebnis einer 20- bis30-jährigen Entwicklung, in der die deutschen Verbraucher die Kaffeezubereitung in südlichen Ländern schätzen gelernt haben. Starbucks kam parallel dazu - und dann sind viele auf die sich aufbauende Welle aufgesprungen.
HB: Welche Veränderungen des Marktes beobachtet ein großer Kaffeeröster wie Dallmayr?
Rödel: Durch das verstärkte Angebot an Kaffeespezialitäten und das Aufkommen der schicken Filialketten ist Kaffee für eine junge Verbraucherschicht wieder hoffähig gemacht worden. In meiner Jugendzeit war es schier undenkbar, den Freund oder die Freundin auf eine Tasse Kaffee in einen Coffeeshop einzuladen. Hätten die großen Unternehmen der Branche diesen Trend dann nicht so schnell aufgegriffen, wäre die Entwicklung nicht so rasant wie in den letzten zehn Jahren verlaufen.
HB: Wie wirkt sich die Wirtschaftskrise speziell auf das Kaffeegeschäft in der Gastronomie aus?
Stefan Göring: Das Geschäft mit Kaffeevollautomaten hat im letzten Jahr zum ersten Mal stagniert. Ich bin aber sicher, dass wir Steigerungsraten auch in der Krise erzielen können. Denn die verkaufte Stückzahl der Geräte wächst auch weiterhin. Doch die Maschinen werden immer kleiner. Sie sind heute nicht mehr erst bei einer täglichen Produktion von 300 Tassen rentabel, sondern schon bei 20 Tassen am Tag. So kann auch der kleinere Gastronomiebetrieb seinen Kunden ein umfangreiches Spezialitätensortiment bieten.

HB: Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssen sparen. Lohnt sich da noch der Aufbau von Chicco-di-Caffè-Kaffeebars in Unternehmen?
Christian Kohlhoff: Wir sind nicht vom Arbeitgeberzuschuss abhängig, sondern bauen eigene kleine Kaffeebars auf, die wir mit unserem Personal betreiben. Unsere Zielgruppe sind Mitarbeiter in großen Unternehmen, die viel arbeiten und immer noch viel verdienen. Sie können sich ihre Arbeitszeit in der Regel frei einteilen und treffen sich an der Kaffeebar, um in zwangloser Runde ihre Projekte zu besprechen. Davon gibt es immer noch genug, denn schließlich sind wir allein im vergangenen Jahr um 30 Prozent gewachsen. Außerdem arbeiten wir schon ab etwa 200 Kunden pro Tag rentabel.
HB: Qualitativ hochwertige Kaffeesorten tragen heute wie beim Wein den Zusatz "Grand Cru", die Lage heißt "Terroir", der Kellner "Sommelier". Übertreiben Sie die Bedeutung der Genusswelt Kaffee nicht ein wenig?
Michael Gliss: Die Nähe zum Wein ist nicht erarbeitet, sondern gegeben.Die Kunst besteht eben darin, die Genusswelt in Worte zu fassen. Bis vor wenigen Jahren haben hierzulande drei bis vier Röstereien den Markt dominiert, doch sie waren groß, satt und relativ wortkarg. Erst die kleinen Händler und Kaffeeröster kümmerten sich wieder um den Kaffeegenuss und damit um die Wortwahl. Aber auch Starbucks hat viel für das Kaffee-Bewusstsein getan. Inzwischen ist das Kaffeetrinken wieder cool, hip und trendy.
HB: Haben auch große Unternehmen wie Melitta, die als weniger bewegliche Dickschiffe der Branche gelten, den Trend aufgenommen?
Eric Martin-Vázquez: Der Umsatz von Melitta mit Kaffeevollautomaten hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre verdoppelt. Wir sind in diesem Segment der einzige Systemanbieter, das heißt, Geräte und Kaffeespezialitäten kommen aus einer Hand.
Göring: Ohne die kleinen Unternehmen mit ihrem Guerilla-Marketing wäre diese Entwicklung allerdings undenkbar gewesen. Es gibt heute ein breites Sortiment von Spezialitäten ...
HB: ... die ein Fachhändler wie Michael Gliss für 20 bis 30 Euro pro Kilo verkauft.
Gliss: Ohne diese sogenannten Guerilleros würde auch keiner der großen Röster heute annähernd solche Preise erzielen. Doch der größte Umsatz wird heute immer noch mit Kaffee gemacht, der im Laden unter zehn Euro pro Kilo kostet. Wir sind uns einig, dass da keine große Marge mehr dransitzen kann. Deshalb brauchen wir Synergien und suchen Allianzen zwischen den Branchengrößen sowie den Klein- und Kleinstbetrieben. Denn nur die großen Dampfer können richtig Bewegung in den Markt bringen.

Göring: Jura benötigt als reiner Maschinenhersteller sowieso Kooperationspartner, mit der wir das jeweilige Kundenkonzept verwirklichen wollen. Auf der kommenden Internorga-Messe in Hamburg präsentieren wir dieses "Rundum-sorglos-Paket" zum ersten Mal mit unseren Partnern Kiesel Großküchentechnik sowie der Firma Coffee Jungle mit der Marke "Schweizer Kaffeemanufaktur".
HB: Was würde ein Hersteller heute für das vom Schweizer Nahrungsmittelmulti Nestlé entwickelte erfolgreiche Kapsel-System Nespresso geben?
Göring: Grundsätzlich ist ein Kapselsystem ein Schritt zurück. Denn wir haben es gerade mit unseren ganzen Bohnen und den Vollautomaten geschafft, den Kaffee wieder sexy zu machen. Eine Ausnahme ist allerdings Nespresso. Der Marketingaufwand der Schweizer ist allerdings gewaltig.
Martin-Vázquez: Nespresso ist weder qualitativ noch preislich eine Alternative zur Zubereitung im Vollautomaten. Für die Gastronomie ist das System schlicht zu teuer.
Gliss: Nespresso hat bewiesen, dass die Konsumenten mit einem Tassenpreis von etwa 40 Cent keine Berührungsprobleme haben. Als Fachhändler kann ich den Preis locker hochrechnen und meine Kilopreise von 20 bis 30 Euro damit begründen. Außerdem haben es die Schweizer mit ihrer Werbefigur George Clooney geschafft, dass noch mehr Leute über das Thema Kaffee reden. Jede Tageszeitung - von Flensburg bis Berchtesgaden - schreibt heute fast täglich über Kaffee.

HB: Ein Wachstumstrend der Ernährungsbranche heißt "Bio". Beim Kaffee wird er gerne auch mit dem Thema "fair gehandelt" verbunden. Macht sich diese Nachhaltigkeit bezahlt?
Martin-Vázquez: Es handelt sich dabei lediglich um einen Marktanteil von circa zwei Prozent. Der Markt entwickelt sich zwar gut, aber für einen international tätigen Vollsortimenter wie Melitta auf zu niedrigem Niveau. In der Gastronomie wird es noch schwieriger, da spielt das Thema fast keine Rolle.
Gliss: Wir haben uns "Bio" zertifizieren lassen, weil es unsere Kunden freut und sie es auch über den höheren Preis honorieren. Im Massenmarkt ist Nachhaltigkeit ein Widerspruch in sich. Wenn der US-Konzern Sara Lee langfristig seinen kompletten Kaffee-Bedarf auf nachhaltigen Kaffee umstellen will, dann muss man wissen, dass es diese Mengen überhaupt nicht gibt.
Kohlhoff: Es ist wie beim Wein. Wenn man den Wein von seinem Lieblingswinzer von der Mosel bezieht, kann man generell von einer höheren Qualität und Nachhaltigkeit ausgehen, als wenn man beim Discounter einen italienischen Landwein erstehen würde. Wir kennen die Plantagen, von denen unser Kaffee stammt, und wir können jeden Kunden unbedenklich zu unserem Röster schicken, der in Sachen Nachhaltigkeit vorbildlich ist.
HB: Wenn alles so vorbildlich nachhaltig ist, dann könnte man ja auch die Röstung - und damit ein weiteres Glied der Wertschöpfungskette - im Herkunftsland belassen.
Kohlhoff: Nein. Das würde nur auf Kosten der Qualität gehen, denn wir garantieren unseren Kunden, dass unser Kaffee nach der Röstung innerhalb einer Woche verbraucht wird. Zwei Monate auf einem Container-Schiff sind undenkbar.
HB: Was ist von anderen Qualitätsmerkmalen zu halten: etwa, wenn die Kaffeekirschen der Sorte "Indian Monsoones Malabar" zwecks optimaler Reifung dem Monsunregen ausgesetzt werden?
Gliss: Das ist historisch belegt, denn früher war der Kaffee auf dem Oberdeck der Segelschiffe auch dem Monsunregen ausgesetzt. Die Branche lebt von solchen Geschichten. Doch mit einem Märchen müssen wir dringend Schluss machen. Vom "Kopi Luwak", der von einer indonesischen Schleichkatzenart gefressen und wieder ausgeschieden wird, werden im Jahr vielleicht 800 Kilogramm produziert, in den Handel kommen aber zig Tonnen. Da kann etwas nicht stimmen.
HB: Mit einem Pro-Kopf-Konsum von rund 150 Litern Kaffee pro Jahr ist der heimische Kaffeemarkt ziemlich ausgereizt. Rein theoretisch gäbe es allein in China noch etwa 1,3 Milliarden potenzielle Kaffeetrinker. Wäre der Export in diese Region eine realistische Option?
Rödel: Wir sehen auch in Deutschland noch genug Potenzial für die Marke Dallmayr. Wir wollen aber nicht den Fehler von Starbucks wiederholen und zu schnell wachsen.
Göring: Auch für Jura gibt es hierzulande noch genug zu tun. Vor allem der Hotellerie wollen wir noch vermitteln, welches Potenzial die Qualität in Tassen beispielsweise bei der Kundenbindung bietet.
Martin-Vázquez: Melitta wächst eh schon weltweit. In Brasilien und USA haben wir sogar eigene Röstereien. Sollten die von uns belieferten Systemgastronomen sich in China etablieren wollen, werden wir den Weg mitgehen.
Gliss: Den Exotenstatus werden wir wohl auch in zehn Jahren noch haben. Entwicklungsmöglichkeiten sehen wir im heimischen Handel und der Gastronomie noch genug.
Kohlhoff: Im Jahr 2010 planen wir für Chicco-di-Caffè mit etwa zehn neuen Standorten in Deutschland und einem Wachstum von 25 bis 30 Prozent.
INTERNORGA-RUNDE
Round-Table
Bereits das siebte Jahr in Folge hat sich eine hochkarätig besetzte Runde aus Vertretern der Getränkewirtschaft im Hamburger Hafenklub (Foto) aus Anlass der Fachmesse Internorga zum Gedankenaustausch getroffen. Das Thema der diesjährigen Veranstaltung, zu der das Handelsblatt und die Messe Hamburg eingeladen hatten, war "Der Kaffeemarkt im Wandel".
Teilnehmer
Michael Gliss, Diplom-Kaffee-Sommelier und geschäftsführender Gesellschafter Gliss Caffee Contor, Köln;
Stefan Göring, Geschäftsführer Jura Gastro Vertriebs- GmbH, Grainau;
Christian Kohlhoff, Gründer und geschäftsführender Gesellschafter Chicco di Caffè, Oberhaching;
Eric Martin-Vázquez, Director Marketing, Melitta System-Service, Minden;
Klaus Rödel, Geschäftsführer Alois Dallmayr Gastro-Service, München;
Ingo Reich, Redakteur Handelsblatt, Düsseldorf (Moderation).
Trendbarometer
Die Fachmesse Internorga gilt als Trendbarometer der Gastronomie-Branche. Rund 1.000 Aussteller präsentieren vom 12. bis 14. März 2010 auf dem Hamburger Messegelände Neuheiten für alle Bereiche des Außer-Haus-Marktes.
 
aus der Diskussion: WMF, die vergessene Perle
Autor (Datum des Eintrages): philojoephus  (16.03.10 15:54:01)
Beitrag: 606 von 827 (ID:39150621)
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