Fenster schließen  |  Fenster drucken

14.12.1992

Altlasten
Hohe Schwelle

Noch eine schlechte Nachricht für den Finanzminister: Bonn muß für die gesundheitlichen Schäden einstehen, die der Uranbergbau in der DDR verursachte.

Herbert Kleinherne hat keinen Job, der in Bonn besonderes Aufsehen erregt. Den Vorsitzenden des Hauptverbands der Gewerblichen Berufsgenossenschaften kennt ein Finanzminister normalerweise nicht.

Das hat sich geändert. Am 11. November schrieb Kleinherne an Theo Waigel einen Brief, und seither gilt der unbekannte Verbandschef im Finanzministerium als 500-Millionen-Mark-Risiko.

Das Schreiben war höflich, der Inhalt brisant. Der Bund müsse, so Kleinherne, die "gesundheitlichen Folgekosten aus dem Uranerzbergbau" der Ex-DDR "zumindest mitfinanzieren".

Wie das Problem zu lösen sei, schrieb Kleinherne auch: Der Minister möge "die Gesamtproblematik" doch einfach durch eine "einmalige pauschale Zahlung" an die für Berufskrankheiten zuständigen Berufsgenossenschaften "abschließend erledigen".

Der Finanzminister weiß: Kleinherne hat recht. 500 Millionen Mark wird Waigel der Brief des Funktionärs wohl kosten. Es geht um Tausende an Lungenkrebs erkrankte Arbeiter, um Gesundheitsvorsorge, Unfall- und Hinterbliebenenrenten.

Die neue Groß-Forderung ist nur ein kleiner Brocken aus dem sozialistischen Erbe der "Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut" (SDAG). Seit 1946 verwüstete die von den Sowjets vollständig beherrschte Firma auf der Suche nach dem Bombenstoff Uran weite Teile Thüringens und Sachsens, sie richtete riesige Umweltschäden an.

Die ökologische Sanierung der ausgebeuteten Regionen kostet in den nächsten Jahren über 13 Milliarden Mark, und zahlen muß sie der unglückliche Erbe dieser strahlenden Hinterlassenschaft, der Bund.

Das Umweltproblem beschäftigt die Politiker seit Auflösung der einzigartigen deutsch-sowjetischen Uran-Partnerschaft zum 1. Januar 1991. Von den etwa 600 000 Menschen, die zwischen 1946 und 1989 unter extrem gesundheitsgefährdenden Bedingungen im Uranbergbau gearbeitet haben, war dagegen kaum die Rede.
...
Mit der Geheimniskrämerei war es spätestens nach dem 1. April 1991 vorbei. Zu diesem Zeitpunkt übernahmen die westlichen Unfallversicherungen nach dem "Prinzip der Zufallsverteilung" die Altrentner der Wismut. .Träger dieser Unfallversicherung sind die Berufsgenossenschaften. Sie werden durch Arbeitgeberbeiträge finanziert

Verbandsmanager Joachim Breuer ließ über 1000 Meter Akten auf Datenträger übertragen, er erforschte die Geschichte der Wismut, förderte Unterlagen und Dokumente zutage.

Selbst nach DDR-Maßstäben war das Ergebnis erschreckend. Noch 1989 betrug der Anteil der Wismut-Arbeiter an neugemeldeten Berufskrankheitsfällen 11 Prozent, ihr Anteil an der Gesamtzahl der DDR-Beschäftigten dagegen nur 0,5 Prozent. Bei neuen Silikose-Fällen stellte die Wismut-Belegschaft fast 40 Prozent, bei Lungenkarzinomen gar 97 Prozent (siehe Grafik).
...
Die erst jetzt zugänglichen DDR-Statistiken schönen die Wirklichkeit im real existierenden Sozialismus noch. Zum Beispiel erkannten die Wismut-Ärzte Lungenkrebs nur dann als Berufskrankheit an, wenn die Strahlenbelastung einen bestimmten, nach grobem Raster ermittelten Schwellenwert überschritten hatte.

Im Laufe der Zeit senkten die DDR-Strahlenmediziner diesen Wert zwar. Die Zahl der anerkannten Fälle aber lag unabhängig vom Grenzwert Jahr für Jahr jeweils zwischen 200 und 270.

In der alten Bundesrepublik gibt es bei Lungenkrebs überhaupt keine Schwellenwerte. Entscheidend ist allein die ursächliche Verknüpfung zwischen dem schädlichen Stoff und der Erkrankung.

Trotz der extrem hohen Schwelle blieb den DDR-Gesundheitsbürokraten keine Wahl: 5600 Krebsfälle mußten sie als berufsbedingt anerkennen; rund 2000 Anträge lehnten sie ab, etwa 700 entschieden sie einfach nicht. "Eine Vielzahl der abgelehnten Fälle", meint Genossenschaftsmanager Breuer, "muß sicherlich sowohl nach altem DDR-Recht als auch nach seit dem 1. Januar 1992 geltendem bundesrepublikanischen Recht anerkannt werden."

Die krebskranken Wismut-Arbeiter sind nicht nur ein Problem aus der DDR-Vergangenheit. Die rücksichtslose Ausbeutung der Arbeitskraft im Arbeiter-und-Bauern-Staat wirkt in die Zukunft fort.

Bronchialkarzinom hat eine Latenzzeit von 30 bis 60 Jahren. Das heißt: Wer vor 30 Jahren der Strahlenbelastung über oder unter Tage ausgesetzt war, der kann jetzt krank werden.

Das Kapitel ist deshalb noch längst nicht abgeschlossen. Das Krebs-Potential aus den frühen Jahren ist noch weitgehend unbekannt. Auch die Arbeitsbedingungen der späteren Jahre werden wahrscheinlich noch zu vielen Bronchialkarzinomen führen.

Mit großem Aufwand machten die Berufsgenossenschaften sich inzwischen daran, die abgelehnten Altfälle zu überprüfen. Gleichzeitig starteten sie eine Aktion, um möglichst viele der rund 600 000 Wismut-Werker ausfindig zu machen und zu kostenloser medizinischer Untersuchung und Betreuung einzuladen.

So sollen Krebsfälle früh erkannt und behandelt werden. Über 100 000 Personen, das ist schon jetzt sicher, werden sich beteiligen.

Zu den 5600 anerkannten DDR-Fällen kommen also etwa 1000 nachträgliche Anerkennungen früher abgelehnter Antragsteller und jährliche Neuzugänge in unbekannter Höhe. Jeder Fall kostet inklusive medizinischer Versorgung, Rente und Hinterbliebenenrente trotz der begrenzten Überlebenszeit der Kranken bis zu 750 000 Mark.

Insgesamt geht es, so schätzen Experten in ersten Hochrechnungen, um eine Milliarde Mark. Die wollen die Berufsgenossenschaften, sonst stets stolz darauf, ohne Staatsgeld auszukommen, in diesem Falle nicht allein zahlen. Sie fordern eine Bundesbeteiligung von 500 Millionen.

Genossenschaftsfunktionär Breuer hat gute Gründe für den Ruf nach dem Staat. Die Wismut-Hinterlassenschaft ist nur durch Zufall über die Berufsgenossenschaften gekommen; sie ist eigentlich eine Kriegsfolgelast.
...

Doch Waigel muß auch für die Wismut-Arbeiter einstehen, die später freiwillig bei der AG anheuerten, gelockt durch guten Lohn sowie reichliche Schnaps- und Nahrungsmitteldeputate. Den Berufsgenossenschaften jedenfalls kann der Finanzminister die Last nicht zuschieben.

Theoretisch könnte der Bund zwar die früheren Eigner der sowjetischdeutschen AG, also die DDR und die UdSSR, verantwortlich machen. Im Abkommen über die Übernahme von Wismut hat Bonn aber ausdrücklich alle Ansprüche aufgegeben.

Trotz eindeutiger Rechtslage verharrt der Finanzminister seit Wochen in Schweigen. Der Hauptgeschäftsführer der Berufsgenossenschaften, Günther Sokoll, hat dafür sogar ein gewisses Verständnis: "Auf Zuruf reagiert der Bund bei dieser Größenordnung nicht."

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13691841.html
 
aus der Diskussion: Atomnation ohne Strom
Autor (Datum des Eintrages): StellaLuna  (03.04.10 13:04:30)
Beitrag: 31 von 35 (ID:39271000)
Alle Angaben ohne Gewähr © wallstreetONLINE