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Sarrazin warnt Wulff vor "Schauprozess"

Nur der Bundespräsident kann Thilo Sarrazin abberufen, der in der Kritik stehende Bundesbanker ist deshalb guter Hoffnung und glaubt an einen fairen Prozess. Wulff holt sich Rat von der Regierung.

Der umstrittene Bundesbanker Thilo Sarrazin erwartet von Bundespräsident Christian Wulff eine Anhörung vor einer Entscheidung über seine Abberufung. Dem Nachrichtenmagazin "Focus" sagte Sarrazin: "Der Bundespräsident wird sich genau überlegen, ob er eine Art politischen Schauprozess vollenden will, der anschließend von den Gerichten kassiert wird."

Er gehe davon aus, dass sich Wulff nicht ohne Anhörung einem Schnellverfahren anschließe, zumal er die Stärkung der Demokratie und des offenen Diskurses als sein Zentralthema gewählt habe. "Im Übrigen ist die Meinung der Verfassungsrechtler in der Frage meiner möglichen Abberufung eher auf meiner Seite", sagte Sarrazin.

Sarrazin: CDU näher an der Basis


Der Vorstand der Bundesbank hatte am Donnerstag entschieden, sich von Sarrazin wegen dessen polemischen Äußerungen über die Integration von Zuwanderern zu trennen. Über eine Abberufung muss Wulff befinden.

Über die Kritik von Bundeskanzlerin Angela Merkel an ihm sagte er: "Na, was glauben Sie, wie viele tausend Briefe und E-Mails von CDU-Anhängern in ihre Parteizentrale geschickt worden sind. Da spürt sie: Hier bricht was auf, was schwer zu beherrschen ist. Deshalb kommt es zum Kesseltreiben. Daraus erkenne ich immerhin: Man traut meinen Gedanken einige Sprengkraft zu. Interessanterweise höre ich aus der CSU kaum negative Kommentare, die sind gewöhnlich auch näher an der Basis."

Sarrazin denkt nicht daran, eine eigene Partei zu gründen. Die SPD will Sarrazin nicht verlassen. Auch einige Größen der Sozialdemokratie signalisierten ihm, dass sie einen Partei-Ausschluss für ganz falsch hielten. Seine Aussagen bereut Sarrazin nicht.

Wulff schiebt Merkel Schwarzen Peter zu


Die Bundesbank will Thilo Sarrazin loswerden, jetzt liegt es an Bundespräsident Christian Wulff, der Bitte stattzugeben. Doch zuvor will sich der CDU-Mann der Haltung der Bundesregierung versichern.

Das hat sich Christian Wulff vermutlich ganz anders vorgestellt. Keine 100 Tage nach seiner Wahl zum Staatsoberhaupt muss er gleich mehrere heikle Entscheidungen treffen, die den Auftakt seiner Amtszeit prägen werden: die Abberufung des Bundesbankers Thilo Sarrazin und - demnächst - die Billigung des Atomgesetzes mit den längeren Laufzeiten der Atomkraftwerke.

Zumindest im Fall Sarrazin will Wulff nicht die alleinige Verantwortung tragen. Er schaltete ie Bundesregierung ein und bat offiziell um eine Stellungnahme. Der Fall hat wegen der breiten gesellschaftlichen Diskussion über die ausländerfeindlichen Thesen Sarrazins eine so große Dimension erhalten, dass Wulff die Rückendeckung der Regierung haben will. Präzedenzfälle gibt es nicht.
Präsident wagte sich früh weit vor

Bei Sarrazin und im Atomstreit ist es gut möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass die Gerichte angerufen werden. Kommen die Klagen durch, bleibt ein Makel auch an dem Bundespräsidenten hängen, der qua Amt über den verfassungsmäßig korrekten Ablauf der Gesetzgebung und die Entlassung höchster Staatsdiener wacht.

Vor allem der Fall Sarrazin liegt Wulff im Magen. In seiner politischen Bewertung hat sich der neue Bundespräsident bereits mehr als amtsüblich herausgewagt. Bereits vor dem Bundesbank-Laufpass für Sarrazin bezog er öffentlich Stellung: "Ich glaube, dass jetzt der Vorstand der Deutschen Bundesbank schon einiges tun kann, damit die Diskussion Deutschland nicht schadet - vor allem auch international", sprach er in die Mikrofone.
Prüfung "schnell, aber ganz penibel"

Die Reaktion kam prompt: "Kann er jetzt noch unabhängig urteilen?" fragen Kommentatoren. Die Fachleute im Bundespräsidialamt sagen, das sei keine Entlassungsempfehlung gewesen, sondern eine Zustandsbeschreibung. Der Präsident sei - ob mit oder ohne Entlassung Sarrazins - gegen eine zu lange Hängepartie gewesen. Nur das habe er signalisieren wollen.

Nun steht Wulff selbst unter Zeitdruck. Er werde die Gründe der Bundesbankspitze für die Trennung von Sarrazin "schnell, aber ganz penibel" prüfen, sagen Kenner des Verfahrens. Die Gefahr eines politischen Bumerangs ist nicht gebannt. Sollten Gerichte den Rauswurf Sarrazins kippen, wäre der politische Schaden groß. Manche erinnern in diesem Zusammenhang bereits warnend an das 2003 in Karlsruhe gescheiterte Verbotsverfahren gegen die NPD.
Wulff will sich auf Position des "Staatsnotars" zurückziehen

Wulff ist im Amt des Bundespräsidenten als Brückenbauer angetreten. Nun könne er das beweisen und den Dialog über Sarrazins Ansichten zu den fehlenden Integrationschancen muslimischer Bürger befördern, wird ihm jetzt empfohlen. Experten im Präsidialamt sehen das ganz anders: "Es geht hier um Recht und Gesetz." Sie plädieren damit für eine strikte Trennung der Sarrazin-Entlassung von der Diskussion über eine bessere Integration von Migranten. Wulff werde das Thema intensiv ansprechen, aber erst wenn die Akte Sarrazin geschlossen sei.

Jetzt liegt der Schwarze Peter bei der Bundesregierung. Wenn sie ihre Meinung geäußert hat, kann sich Wulff auf seine Rolle als "Staatsnotar" berufen und die Position der Regierung einfach absegnen. Dass er dieses Thema für eine abweichende Meinung wählen wird, ist eher unwahrscheinlich.
Klagen gegen Atomgesetz so gut wie sicher

Das könnte schon beim nächsten Konfliktfall ganz anders aussehen. An diesem Wochenende will sich die Koalition auf die Eckpunkte eines neuen Atomgesetzes mit längeren Laufzeiten für die Kernkraftwerke verständigen. Die Zustimmung des Bundesrats mit der dortigen Blockademehrheit der Opposition will Merkel unbedingt vermeiden.

Der frühere niedersächsische Ministerpräsident im Bellevue wird auch unter dieses Gesetz seine Unterschrift setzen müssen. Vermutungen, im Präsidentenamt kursierten bereits Gutachten, die für eine Laufzeitverlängerung von maximal neun Jahren sind, wurden am Freitag strikt dementiert. Letzte Instanz wird in diesem Fall sicherlich das Bundesverfassungsgericht sein. Klagen gegen das neue Atomgesetz sind so gut wie sicher.

Sarrazin übt sich in Selbstkritik

Die Bundesbank berät über die berufliche Zukunft von Thilo Sarrazin. Das wegen seiner Migrationsthesen umstrittene Vorstandsmitglied distanzierte sich derweil selbst von einigen seiner Behauptungen.

Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin hat nach seinen umstrittenen Äußerungen über genetische Gemeinsamkeiten von Juden erstmals Selbstkritik geübt. In der ARD distanzierte sich der SPD-Politiker am Mittwochabend von seiner Behauptung, alle Juden teilten ein "bestimmtes Gen". "Das war ein Riesenunfug, was ich auch extrem bedauere", sagte Sarrazin. "Ich bin definitiv nicht der Ansicht, dass es eine genetische Identität gibt." Eigentlich habe er in dem Interview der "Welt am Sonntag" nur auf allgemeine genetische Ähnlichkeiten hinweisen wollen. Die Juden seien ihm als erstes eingefallen, weil er dazu gerade etwas gelesen habe. "Ich hätte sagen sollen, Ostfriesen oder Isländer, dann wäre es kein Thema gewesen", sagte er.

Sarrazin bezeichnete es als "Dummheit", dass er diese Äußerung im Interviewtext nicht nachträglich gestrichen habe. "Das war mein Blackout", sagte er. Er habe sich von der Zeitung "aufs Glatteis" führen lassen. Sarrazin machte deutlich, dass ihn die Kritik an seiner Person nicht unbeeindruckt lässt: "Was an psychischem Druck auf mir lastet, ist beachtlich. Das halten viele Menschen nicht aus." Zu seiner beruflichen Zukunft äußerte er sich nicht. "Ich bin Bundesbanker. Jedes Amt ist zeitlich begrenzt. Wann die Begrenzung ist, wird die Zukunft zeigen."
Kündigung beschlossene Sache?

Der Vorstand der Bundesbank will am Donnerstag über die Zukunft seines umstrittenen Mitglieds Sarrazin entscheiden. Nach einem Medienbericht soll bereits feststehen, dass Sarrazin gehen muss. Die Führung der Notenbank ließ nach einer Krisensitzung am Mittwoch zwar die Zukunft ihres umstrittenen Vorstandsmitglieds offen. Nach Informationen der "Berliner Zeitung" sprach sich der Vorstand aber bereits intern für die Trennung von Sarrazin aus, der wegen seiner Thesen zur Integration von Zuwanderern in der Kritik steht. Es gehe nur noch um das Wie des Rauswurfs, nicht mehr um das Ob.

"Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende", zitierte die Zeitung ihre nicht näher bezeichnete Quelle. Weil Sarrazin auf jeden Fall gegen eine Entlassung klagen würde, sucht die Bundesbank dem Bericht zufolge nach einem Weg, der ihm möglichst wenige juristische Erfolgschancen lässt. Sarrazin selbst schloss am Mittwoch abend jedoch ein vorzeitiges Ausscheiden nicht aus.
Wulff fordert zum Handeln auf

Ein Bundesbanksprecher hatte am Mittwoch erklärt, mit einer Entscheidung sei frühestens an diesem Donnerstag zu rechnen. Sarrazin könnte auf Antrag des Bundesbank-Vorstands vom Bundespräsidenten abberufen werden. Bundespräsident Christian Wulff sagte dem Nachrichtensender N24: "Ich glaube, dass jetzt der Vorstand der Deutschen Bundesbank schon einiges tun kann, damit die Diskussion Deutschland nicht schadet - vor allem auch international."

Vor einem Jahr hatte Bundesbankpräsident Axel Weber noch vergeblich versucht, den Vorstand davon zu überzeugen, dass man sich von Sarrazin trennen müsse. Jetzt stünden alle vier Mitglieder hinter dem Präsidenten, heißt es. Sonst müsse man damit rechnen, bis zum Ende der Laufzeit von Sarrazins Vertrag 2014 immer wieder in die Schlagzeilen zu gelangen. Sarrazin wird vorgeworfen, in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" und in Interviews muslimische Einwanderer pauschal negativ zu beurteilen. So vertritt Sarrazin die These, die Migranten würden wegen höherer Geburtenraten auf Dauer Staat und Gesellschaft in Deutschland übernehmen. Zudem behauptet er, Menschen verschiedener Herkunft - etwa Juden oder Basken - hätten unterschiedliche Gene.
Privilegien als Bundesbankvorstand "missbraucht"

Druck auf die Bundesbank kommt aus Regierung wie Opposition. "Die Bundesbank ist jetzt am Zuge", erklärte die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU) der "Rheinischen Post". "Nach dem, was Herr Sarrazin über das Thema Integration und Migranten geäußert hat, ist er nicht mehr tragbar." Die Linke-Chefin Gesine Lötzsch warnt dabei vor einem "goldenen Handschlag" für Sarrazin. "Wer antisemitische und rassistische Thesen vertritt, darf dafür nicht noch mit einem Bonus belohnt werden", sagte sie. "Außerdem muss untersucht werden, ob Sarrazin seine Privilegien als Bundesbankvorstand dafür missbraucht hat, sein Buch zu verzapfen."

Auch in der SPD wird über einen schnellen Ausschluss Sarrazins nachgedacht. Allerdings ist die Haltung der Parteimitglieder dazu geteilt. Auch aus Reihen der politischen Gegner bekommt Sarrazin Rückendeckung. So plädierte der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach (58) in den "Stuttgarter Nachrichten" gegen einen Ausschluss Sarrazins aus SPD und Bundesbank. "Eine große Volkspartei muss auch kontroverse Debatten führen", sagte der Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestags. Sarrazin nutze nur sein Recht auf freie Meinungsäußerung, auch wo er sich vergaloppiere. Bundestagspräsident Norbert Lammert mahnte in der "Rheinischen Post", die Empörung über Sarrazins Worte ersetze nicht die "ehrliche Auseinandersetzung" mit "Fehlentwicklungen bei Migration und Integration".
 
aus der Diskussion: Sarrazin Rauswurf bei der Bundesbank
Autor (Datum des Eintrages): Baam  (04.09.10 11:31:21)
Beitrag: 57 von 132 (ID:40100270)
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