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Hallo Algol,
und andere Mitleser,

mir ist klar, dass ich die hier vorherrschende Überzeugung nicht erschüttern kann. Das will ich auch gar nicht. Ich bin ja kein Missionar. Ich werde mich darum kurz fassen und nicht sehr konkret werden, will aber trotzdem den Grundgedanken meiner Sichtweise darstellen.

Zunächst und sehr wichtig: Ich bin weit weg von einem „alles ist gut, alles wird noch besser“-Denken.
Ich nehme die Probleme unserer Zivilisation sehr ernst. Die „Grenzen des Wachstums“ habe ich schon vor Jahren intensiv gelesen und ich bin davon überzeugt, dass die nächsten 10, 20, 30 Jahre eine extreme Zeitspanne werden, in der es fundamentale Veränderungen in unserer Art zu leben und in unserem Denken geben wird. „Uns“ oder „wir“ bezieht sich dabei übrigens vor allem auf den Westen inkl. Japan.
Das größte, aber bei weitem nicht einzige, fundamentale Problem ist dabei das Energieproblem, insbesondere die Ölfrage.

Bis hierher sind wir uns hier im Thread wahrscheinlich alle einig.

Wenn man dann die möglichen Probleme der nächsten Jahre (Jahrzehnte) konkret diskutiert, kommen wieder verschiedene Sichtweisen und Schwerpunktsetzungen zu Tage, was interessant und anregend sein kann (wann, wo, wer, was, wie schnell...). Auch dort herrscht dann aber wohl kein grundsätzlicher Dissenz.

Der Dissenz besteht in der ganz langen Sicht. Denn, was ich nicht einsehe, ist, dass man sich anmaßt, den Untergang der technischen Zivilisation in 25, 30 oder 50 Jahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorherzusagen.

Vor kurzem hat bspw. Aurisa hier geschrieben, es hätte ihr noch niemand schlüssig bewiesen, dass es dazu nicht kommen würde. Merkt ihr was? Da hat schon das Sektendenken eingesetzt. Hier ist die prophetisch geschaute Wahrheit für die nächsten 100 Jahre das Geheimwissen eines Zirkels der Weisen und die Anderen müssten nun beweisen, dass die Prophezeiung unrichtig ist?

Nein, das müssen sie nicht beweisen!

Diese ganzen Vorhersagen sind nämlich schon methodisch unzulässig. Bei komplexen Prozessen, die multikausal gesteuert sind, vielleicht auch noch eine soziologische Komponente haben, ist jede „ex ante-Beweisführung“ in die Zukunft hinein fragwürdig. Bei einem so hochkomplexen System, wie der menschlichen Zivilisation, das von so vielen Variablen und Rückkopplungen abhängt, ist eine solche „Beweisführung“ schlicht wertlos.

Um es volkstümlich zu sagen: Das einzige, was man über die Zukunft mit Sicherheit sagen kann, ist, dass sie 1.) anders sein wird, als die Gegenwart und dass sie 2.) auch anders sein wird, als jede Vorstellung, die sich die Gegenwart über die Zukunft macht.

Jetzt kommt „ihr“, also Du, smith, Triakel, Aurisa usw. mit diesen Papieren wie von feasta oder Chris Martenson (in der Tat sehenswert!) und sagt: „Sieh doch hin, Du Ignorant, da ist er doch, der Beweis! Wo soll denn der konkrete Fehler in der Argumentationskette sein, die in den Untergang führt?“

Meine Antwort ist: Der Fehler ist, solche Ketten überhaupt aufzubauen, wo A hübsch sauber zu B führt, zu C führt und dann: Untergang. Alle Rückkopplungen sind in diesen Modellen positiv – solange das der negativen Aussage dient. Diese Beweisführungen sind wertlos, weil sie nur Teile von Teilaspekten berücksichtigen - und nicht mal dort fehlerfrei sind.
So, wie in diesen Szenarien, wird es nicht laufen. Es wird bis dahin ganze Herden schwarzer Schwäne geben...

Das nächste ist dann, dass das Endergebnis immer die ultimative Katastrophe sein soll.
Hier wäre viel mehr Differenzierung wünschenswert. Was bedeutet denn Zusammenbruch der Industriegesellschaft eigentlich? Auch heute lebt der größte Teil der Menschheit in ärmlichen Verhältnissen und nicht in der Industriegesellschaft. Die gibt es aber trotzdem. Die Ressourcenbasis trägt gegenwärtig eine Bevölkerung von vielleicht 2,5 Milliarden Menschen die mehr oder weniger auf dem Niveau eine Industriegesellschaft lebt. 4,5 Milliarden leben auf einem viel niedrigeren Niveau.
Wenn sich die Energieressourcen nun binnen 50 Jahren halbieren würden (was ich für abwegig halte!), würde sich das Verhältnis zwischen Armen und Reichen so verschieben, dass rein rechnerisch vielleicht nur noch eine Milliarde auf dem heutigen Niveau leben würde. Ist das das Ende der industriellen Zivilisation? Nein, es ist nur der Ausschluss (noch) größerer Teile der Weltbevölkerung von seinen Segnungen als heute. Diese Differenzierung wird dann vielleicht nicht nur zwischen Ländern stattfinden, sondern stärker als heute auch innerhalb von Ländern (Verelendung der unteren 30%). Fakt bleibt aber, dass es auch in 50 Jahren Inseln des Wohlstandes (in meinem Beispiel mit einer Milliarde Einwohnern!) geben wird, die weiteren technologischen Fortschritt generieren. Denn selbst in 50 Jahren werden die fossilen Energieträger nicht einfach verschwunden sein. Ich bezweifle sogar, dass sie dann signifikant weniger Energie liefern werden, als sie es heute tun.

Von diesen Wohlstandsinseln könnte durchaus langsam und Stück für Stück eine neue Kolonisation der Welt ausgehen, wenn die Energieressourcen wieder wachsen.

Und sie können wieder wachsen, denn die uns Menschen zur Verfügung stehende potentielle Primärenergie ist nicht begrenzt, sie ist faktisch unbegrenzt groß.
Die von der Sonne eingestrahlte Primärenergie übertrifft den Energiebedarf der heutigen Menschheit um den Faktor 10.000.
Es gibt hinsichtlich der Energieversorgung der menschlichen Zivilisation keinen prinzipiell begrenzenden Faktor.

Aus dieser Tatsache folgen Möglichkeiten einer alternativen Zukunftsvision. Das eröffnet einen Möglichkeitsraum, den die Doomer einfach ignorieren.

Um diesen alternativen Möglichkeitsraum ignorieren zu können, müssen die Doomer die Tatsache, dass uns potentiell unbegrenzte Energieressourcen zur Verfügung stehen, als unwahr oder als praktisch irrelevant abtun, weil sonst die Logik ihrer eindimensionalen Szenarien zusammenbrechen würde. Hier ist aber auch ihr größter Schwachpunkt. Denn hier ist die Verneinung der Möglichkeit nicht mehr a priori einsichtig, sondern ein ideologisches Konstrukt. Letztlich wird hier einfach behauptet: „Das geht nicht, das gibt’s nicht, wird’s auch nie geben!“ Dabei reden wir doch nur über Solarstrom, Wasserstoff und Methansynthese und nicht über den Warp-Antrieb...

Ich werde bestimmt kein Szenario für den Übergang in ein Zeitalter einer Zivilisation auf der Basis Erneuerbarer Energien entwickeln und behaupten, dass das die Zukunft ist, weil A zu B führen würde usw.

Aber ich erkenne an, dass es 1.) die Möglichkeit dazu gibt und 2.) dass die Menschheit bisher immer einfallsreicher, leistungsfähiger und anpassungsfähiger war, als man es sich vorstellen konnte. Aus dem Grund halte ich es für wahrscheinlicher, dass es nach einem langen Zeitalter der Stagnation, vielleicht der Depression, und der Transformation, einen neuen Morgen geben.

Also, mein kleines Fazit wäre: In den nächsten Jahrzehnten wird es sehr wahrscheinlich sehr schwerwiegende Verwerfungen geben. Es wird sich sehr wahrscheinlich um eine Phase des gleichzeitigen Niedergangs wie der Transformation handeln. Es wird wohl auch eine Phase radikaler Umverteilung von Wohlstand und brutalster Konkurrenz sein. Es wird viele Verlierer und einige Gewinner geben. Eine krisengeprägte Zeit!

Diese Prozesse intellektuell mitzuvollziehen ist hoch spannend, unter Umständen sogar profitabel. Profitabilität sollte in diesem Zusammenhang übrigens nicht aus moralischer Sicht abgewertet werden. Ich vermute, dass die Verteilungskonflikte in Zukunft sehr hart werden. Der Versuch, sich anzupassen und da einigermaßen durchzukommen ist eine Frage der Verantwortung vor sich und seinen Angehörigen.

Dass aus all dem der große und finale Zusammenbruch folgen soll, ist mir trotzdem nicht eingängig. Dass es ab jetzt nur noch bergab gehen soll und dass das Zivilisationsniveau im Jahre 2111 auf jeden Fall unter dem von 2011 liegen muss, halte ich für unbeweisbar und im übrigen sogar für unwahrscheinlich. Die Krise ist der Wendepunkt der Krankheit. Von dort geht es zum Tode oder zur Genesung. Ich halte die Menschheit für erneuerbar, solange die Sonne scheint.

Also werde ich gegen zu viel Untergangsprophetie der ganz langfristigen Sorte immer mal anstänkern, mich ansonsten mit den eher kurz- und mittelfristigen sehr schwerwiegenden Problemen gerne auseinandersetzen.

Viele Grüße an alle hier im Thread!
 
aus der Diskussion: Peak Oil und die Folgen
Autor (Datum des Eintrages): SLGramann  (30.10.11 11:17:01)
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