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Die Vereinigten Staaten drohen in die Liquiditätsfalle zu tappen

Von Robert von Heusinger

Alan Greenspan ist unermüdlich. Zehnmal hat der Chef der US-Notenbank in diesem Jahr die Zinsen gesenkt, von 6,5 Prozent im Januar auf 2 Prozent - sie sind jetzt so niedrig wie seit 40 Jahren nicht mehr. Man muss schon Historiker sein, um eine Periode ähnlich drastischer Zinssenkungen zu finden. Es waren die Jahre der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1931, in denen die US-Notenbank den Zinssatz im gleichen Ausmaß nach unten gedrückt hat. Ist Greenspans Manöver reiner Aktionismus, wie die zunehmende Zahl seiner Kritiker meint? Oder steht es um die US-Wirtschaft tatsächlich so schlecht? Letzteres ist der Fall. Nicht Inflation, sondern Deflation heißt heute das Problem - die Preise fallen. Und da helfen nur Zinssenkungen. ;)

Die Terminsätze an den Finanzmärkten legen längst ein weiteres Abrutschen der Zinsen auf 1,5 Prozent nahe. Einige Volkswirte, etwa von der Investmentbank Credit Suisse First Boston, prophezeien gar einen US-Zins von einem Prozent. Gewiss ist nur, dass die Notenbank bei null Prozent aufhören muss. :laugh:

Null Prozent Zinsen, das gibt`s doch gar nicht? Doch, in Japan. Dort verlangt die Notenbank seit Frühjahr 1999 keine Zinsen mehr - ohne Erfolg. Die Wirtschaft schrumpft, und es herrscht Deflation. Die Ohnmacht der Geldpolitik ist es, die die Gilde der modernen Ökonomen schreckt. Den USA drohen "japanische Verhältnisse". Das ist Greenspans Sorge, die den Zinssenkungsmarathon erklärt.

Denn wie Japan Anfang der neunziger Jahre haben die USA heute mit den Folgen der geplatzten Blase an den Aktienmärkten und der hohen Verschuldung der privaten Haushalte und Unternehmen zu kämpfen. Zudem leiden sie unter dem drastischen Kapazitätsabbau, der Folge fehlgeleiteter Investitionen ist. Japan ist im Laufe der Krise in die Liquiditätsfalle getappt. Ihr möchte Greenspan unter allen Umständen ausweichen. Dieses einst von John Maynard Keynes thematisierte Phänomen verschwand in den siebziger Jahren nach dem Ölpreisschock und hoher Inflation aus den volkswirtschaftlichen Lehrbüchern. Seit Ende der neunziger Jahre feiert die Liquiditätsfalle dank Japans Malaise ihre Wiederauferstehung in den akademischen Zirkeln.

Als Liquiditätsfalle bezeichnet man den Zustand, in dem die Geldpolitik weder reale noch nominale Zinssätze beeinflussen kann. Selbst wenn die Notenbank immer mehr Geld in die Wirtschaft pumpt, zieht die Nachfrage nicht an. Die Unternehmen investieren nicht, die Verbraucher konsumieren nicht. Wachstumsraten und Preise sinken. Fällt die Inflationsrate unter null und verharrt dort, herrscht Deflation. Das heißt, die Konsumenten haben allen Grund, ihren Konsum in die Zukunft zu verlegen, denn die Preise der Güter werden immer günstiger. :laugh:

Für alle, die verschuldet sind, ist Deflation Gift, erhöht sie doch Jahr für Jahr die Schulden. Firmen können ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen, und schließlich gehen die Banken wegen zu vieler fauler Kredite pleite. So kann der Niedergang der japanischen Wirtschaft skizziert werden, der nach dem Platzen der Blase 1989 einsetzte. Das Problem, vor dem die japanischen Notenbanker stehen, lautet: Wie erzeuge ich Inflation? Denn erst dann lohnt es sich, heute Geld auszugeben, weil die Verbraucher höhere Preise befürchten müssen; erst dann lohnen sich Investitionen, da die Firmen auf höhere Preise hoffen. Die Notenbanker müssen die Erwartungen der Wirtschaftsteilnehmer ändern.

Genau das versucht Greenspan. Von Japan hat er gelernt, dass er nicht zögern darf und Deflation verhindern muss. Greenspan nutzt die noch positive Inflationsrate, um die Realzinsen durch nominale Zinssenkungen zu drücken. Das ist fast alles, was Notenbanken tun können. Sinkende Realzinsen haben drei Effekte: Erstens rechnen sich jetzt Investitionen, die vorher unprofitabel waren. Je kurzfristiger eine Volkswirtschaft finanziert ist, desto größer der Effekt der Zinspolitik. Dann verbilligen sich zweitens nicht nur die Raten für neue, sondern auch für bestehende Konsumkredite oder Hypotheken. Dadurch haben die Konsumenten mehr Geld in der Tasche. Drittens können über nachgebende Zinsen Aktien- und Immobilienmarkt stabilisiert oder sogar stimuliert werden, was die Vermögen der Privaten erhöht und ebenfalls ihre Kauflust steigern dürfte.

Mit dem jüngsten Zinsschritt hat die US-Notenbank sogar negative Realzinsen in Höhe von 0,6 Prozent am kurzen Ende erzeugt. Die Inflationsrate liegt bei 2,6 Prozent, der Notenbankzins bei 2 Prozent. Das ist sehr aggressiv, denn es bestraft das Halten von Geld. Alle, die ihr Geld nicht ausgeben oder investieren, sondern auf dem Konto parken, verlieren totsicher. Selbst diese Strafe könnte für die Konsumverweigerer aber noch zu gering sein. Denn die amerikanischen Haushalte haben gerade erst wieder begonnen, etwas auf die hohe Kante zu legen. Zudem hat sich ihr Aktien- und Immobilienvermögen seit März vergangenen Jahres um rund 30 Prozent verringert. Das ist nicht der Stoff für einen neuen Kaufrausch. Die Unternehmen wissen um die Gemütslage der Verbraucher und verzichten deshalb auf Investitionen, negativer Realzins hin oder her. Alles hängt von den Erwartungen über die künftige Inflationsrate ab. Diese aber tendieren weiter nach unten.

Greenspan wird die Zinsen also weiter senken müssen. Doch sein Spielraum ist fast ausgeschöpft. Springt die Konjunktur nicht bald an, sitzt auch er in der Liquiditätsfalle. Hat die Notenbank erst einmal die Kontrolle über die Inflationserwartungen verloren, ist guter Rat teuer. In Japan haben die klassischen Keynesianischen Konjunkturprogramme, die jetzt auch die Regierung Bush plant, kläglich versagt. Der letzte, radikale Ausweg lautet dann Reflationierung der Wirtschaft: Die Notenbank würde unbegrenzt Aktien, Anleihen und Immobilien von den Privaten kaufen, bis auch der Letzte einsieht, dass Geld im Überfluss in der Wirtschaft ist und es zur Inflation kommen muss. Gleichzeitig sollte sie sich verpflichten, nichts gegen die erwünschte Inflation zu unternehmen, damit die Erwartungen sich tatsächlich ändern.

Noch ist die US-Wirtschaft nicht in einer solch miserablen Lage. Vielleicht wirkt Greenspans Arznei ja doch. Zinssenkungen stimulieren die Konjunktur immer zeitverzögert, lediglich der Zeitraum ist strittig. Sind es mehr als vier Quartale, liefe die expansive Geldpolitik der US-Notenbank Gefahr, im kommenden Jahr hohe Inflation zu provozieren.

Dieses Risiko nimmt Greenspan in Kauf, ahnt er doch, dass der längste und exzessivste Wirtschaftsboom in der Geschichte der USA nicht von der kürzesten und mildesten Rezession abgelöst werden dürfte. Zu hohe Inflation ist allemal besser als Deflation. Inflation können Notenbanken mit restriktiver Geldpolitik bekämpfen, das haben sie oft genug bewiesen.

Da es sehr schwierig ist, sich aus der Liquiditätsfalle zu befreien, müssen die Notenbanken alles tun, um gar nicht erst hineinzugeraten. Das verlangt aber genügend Spielraum für kräftige Zinssenkungen. Wird eine zu niedrige Inflationsrate angestrebt - wie im Fall der Europäischen Zentralbank (EZB), die die Inflation unter zwei Prozent halten will -, sind die Zinssätze der Notenbank in guten Zeiten oft zu niedrig, um einen ausreichenden Puffer für einen Nachfrageschock á la US-Wirtschaft zu bieten. Das ist die Lehre, die die EZB aus der Debatte um die Liquiditätsfalle ziehen sollte.

Ein symmetrisches Inflationsziel, wie es die Bank of England verfolgt, ist die richtige Antwort. Das heißt, die EZB dürfte nicht mehr, aber auch nicht weniger Inflation als 2,5 oder 3 Prozent anstreben. Sonst könnte auch sie eines Tages in der Liquiditätsfalle zappeln.

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einige punkte habe ich in meinem eingangsposting schon angesprochen! schön das jetzt auch profis das einsehen! :laugh:
 
aus der Diskussion: Der Wahnsinn von Amerika
Autor (Datum des Eintrages): DolbyDigital5.1  (17.11.01 17:18:35)
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