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Hans A. Bernecker


Steht uns ein weiterer Abschwung bevor?
Verehrter Leser,

Tendenzen an den Börsen segmentieren sich nicht in Jahresabschnitten. Vielmehr ziehen sie sich wie ein roter Faden über die Jahre dahin und sorgen dafür, dass es einen nahtlosen Übergang von einem Jahr zum anderen gibt. Deshalb fängt man am 1. Januar jeden Jahres auch nicht mit einem leeren Blatt an, sondern baut auf dem auf, was zuvor lief. Nie in den letzten 10 Jahren war diese Erkenntnis so wichtig wie heute. Denn Sie werden in 2002 nachhaltig kein Geld verdienen können, wenn Sie das, was in den letzten 1 1/2 Jahren passiert ist, nicht verstehen. Vor allem das Jahr 2001 hat zu einer völligen Adjustierung der Sichtweise von Anlegern an der Börse geführt. Dabei wurde eindrucksvoll demonstriert, wie sehr Erwartung und Realität auseinander klafften und welche Wissenslücken sowohl bei Profis als auch bei Privatanlegern zu erheblichen Fehlentscheidungen führten. Es gilt also nochmals, die Mechanik der Börsen zu untersuchen, um in Zukunft dieselben Fehler nicht zu wiederholen.

Über die grösste Kapitalvernichtung der modernen Wirtschaftsgeschichte kann man nicht (Gott sei Dank) alle Jahre schreiben. Wenn sie denn dann stattfindet, muss man sie untersuchen, nicht nur um die Geschehnisse zu verstehen, sondern auch, um die künftigen Tendenzen richtig einzuschätzen. Denn die Baisse an den internationalen Märkten wird die kommenden Jahre nachhaltig prägen, so wie auch der Crash von 1929 oder der von 1987 ebenfalls zu entscheidenden Veränderungen geführt haben. Damit ist nicht gesagt, dass sich nun die Baisse fortsetzen wird oder dass es zu den Schreckensszenarien in der Wirtschaft kommt, die in der Presse dargestellt werden. Im Gegenteil: Bei allen Kursverlusten muss man folgendes hervorheben:

Sämtliche Marktteilnehmer haben aus den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt, seien es die Notenbanken in ihrer Reaktion auf Krisen oder die Privatanleger in ihrer Betrachtung der Aktienmärkte. Es ist beeindruckend, wie „gesittet“ die grösste Kapitalvernichtung vollzogen wurde und wie wenig spektakulär trotz des Terroranschlags vom 11. September die Tendenz an den Märkten verlief. Darin spiegelt sich erstens die deutlich verbesserte Struktur aller Märkte wider und zweitens auch die Erkenntnis, dass die Kapitalmärkte heute nicht mehr ein Spielplatz der Reichen und Spekulanten sind, sondern ein voll integrierter Bestandteil jeder modernen Volkswirtschaft.

Ein mehrjähriger Bärenmarkt wäre in der derzeitigen Konstellation nichts Ungewöhnliches. Wie Sie wissen, wechseln Bullen- und Bärenmärkte stetig einander ab. Die Einbrüche von 1987 und 1997 werden lediglich als technische Reaktionen in einem intakten Aufwärtstrend gewertet. Insofern wäre der Start eines Bärenmarktes allein aus technischen Erwägungen in diesen Jahren zu erwarten gewesen. Die Geschichte zeigt, dass von 1982 bis 1999 die Tiefststände des Dow Jones in jedem Jahr über denen des Vorjahres lagen. Auch im kurzfristigen Trading-Bereich ein sicheres Indiz für einen intakten Aufwärtstrend. Wenn wir das markttechnische Signal niedrigerer Tiefststände in den Jahren 2000 und 2001 auf die längerfristige Sicht übertragen, könnte sich hier eine Trendwende andeuten. Steht uns also ein weiterer Abschwung, hervorgerufen durch einen Kapitalabzug der Retailkunden, bevor?

Die Bewertung ist derzeit jedenfalls noch keinesfalls attraktiv. In den vorangegangenen Krisen an den Aktienmärkten fielen die Notierungen auf weit tiefere Bewertungsiveaus, als wir sie aktuell sehen. Im Gegenteil hat sich die Bewertung in Form des Kurs-/Gewinn-Verhältnisses bei den allermeisten Unternehmen kaum ermässigt. Zwar stürzten die Notierungen in die Tiefe, die Gewinne eilten allerdings flugs hinterher. Mathematisch leicht nachvollziehbar: Wenn Zähler und Nenner eines Wertes gleichzeitig abnehmen, bleibt der Wert insgesamt gleich. Die Crux liegt in der Definition von "billig" und "teuer". In der Vergangenheit war die Halbierung des Markt-KGVs auf Werte unter 20 meist noch kein Grund, in den Markt einzusteigen. Umgekehrt war den allermeisten Börsianern Ende der 90er Jahre klar, dass der IT- und Internet-Boom mit Kursgewinnverhältnissen in der Regel im dreistelligen Bereich und Umsatzbewertungen im zweistelligen Bereich eine Übertreibung darstellt, die über kurz oder lang zum Einbruch führen muss. Letztendlich kommt es aber nicht auf das Erkennen einer Übertreibungsphase an, sondern auf die Definition des Zeitpunktes, wann die Übertreibung kippt. Seit 1996 warnte ein Grossteil der Marktbeobachter vor der "irrealen Überspekulation" und riet zum Ausstieg. Wer dieser im Grundsatz richtigen Analyse folgte, verpasste die grössten Gewinne seit 20 Jahren. Das gleiche gilt im umgekehrten Fall der Übertreibung nach unten, wie sie im Sommer 2001 zu beobachten war. Auch hier rieten viele Kommentatoren Woche für Woche wegen der "sehr billigen" Notierungen zum sofortigen Einstieg, was bei den Anlegern herbe Verluste nach sich zog. Das gleiche Missverhältnis war auch schon Ende der 80er Jahre in Japan zu beobachten, als ebenfalls seit 1987 zum stetigen Ausstieg geblasen wurde, während sich die Spitze erst zur Jahreswende 1989/90 ausbildete. In diesem Sinne zeigt sich, dass es für die Investmententscheidung zweitrangig ist (nicht unwichtig, sondern eben nur an zweiter Stelle rangierend), ob Aktien oder ein ganzer Markt teuer oder billig ist. Wichtig ist zu wissen, wann ein Markt auf Grund der hier behandelten massenpsychologischen Phänomene tatsächlich kippt und nicht, wann er (wegen Überbewertung oder sonstigem) kippen müsste. Kapitalmärkte folgen leider selten rationalen Erwägungen. Insofern ist die Charttechnik mit den oft verspotteten Trendlinien und -kanälen das einzig wirklich tragfähige Instrument, um Trendwenden zu erkennen und rechtzeitig, wenn auch nicht an der Spitze, die richtigen Dispositionen treffen zu können. Das Wissen um die Übertreibung allein reicht nicht, um das Vermögen zu optimieren. Das zeigt auch ein Blick zurück zum Ende der 20er Jahre:

Die Stimulierungsmassnahmen der amerikanischen Regierung, um die Volkswirtschaft aus der Depression zu führen, haben bisher wenig gefruchtet. Im Gespräch sind aktuell Konjunkturprogramme im Umfang von 200 Mrd. Dollar. Für das amerikanische Brutto-Inlands-Produkt, das nur zu 7 % von der öffentlichen Hand bestimmt wird (zum Vergleich: In Deutschland sind es noch immer 52 %), Peanuts. Wie das Wall Street Journal in diesem Jahr publizierte, sind aber gleichermassen die Kosten für kriegerische Auseinandersetzungen auf seiten der USA nicht zu vernachlässigen. Der 2. Weltkrieg kostete die amerikanische Bevölkerung - neben unsäglichem Leid der vielen Toten und Verwundeten - 4,71 Bio. Dollar, der 1. Weltkrieg 577 Mrd. Dollar, der Vietnamkrieg 572 Mrd. Dollar, der Koreakrieg 400 Mrd. Dollar und der Golfkrieg 80 Mrd. Dollar, wovon allerdings 90 % von den Alliierten bezahlt wurden. Weit wichtiger sind die psychologischen Komponenten, wie der Nachfragerückgang verängstigter Konsumenten und die strukturellen Änderungen der Industrieproduktion z.B. hin zu Rüstungsgütern. Fazit:

Im mittelfristigen Bereich muss schon auf Grund der Liquiditätszufuhr mit einer Erholung gerechnet werden. Diese Erholungsphasen, die 30 bis 50 % Steigerung in den Indizes bedeuten können, gilt es zu nutzen, ohne die Gefahr eines möglicherweise einige Jahre währenden Bärenmarktes aus dem Hinterkopf zu verlieren. So zumindest die Lehre aus einem Vergleich ähnlicher Muster in der Vergangenheit der Börsen.

Herzlichst Ihr

Hans A. Bernecker

26.11.2001
 
aus der Diskussion: 26.11.01: Tage der Entscheidung: Weihnachtsrallye oder Nikolauscrash?
Autor (Datum des Eintrages): 1121  (26.11.01 13:59:30)
Beitrag: 137 von 468 (ID:4973597)
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