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Der Fall des Energiehändlers Enron ist Spätfolge der Nasdaq-Spekulationsblase

Von Analysten gehätschelt, von Anlegern begehrt / In besseren Zeiten 65 Milliarden Dollar wert

dri. NEW YORK, 29. November. Der Absturz des amerikanischen Energiehändlers Enron Corp., der wahrscheinlich die größte Unternehmensinsolvenz in der amerikanischen Geschichte nach sich ziehen wird, ist eine Spätfolge der Spekulationsblase an der Wall Street. Die Aktie von Enron wird zwar an der New York Stock Exchange und nicht an der Nasdaq gehandelt. Das Unternehmen galt aber in den Jahren 1999 und 2000 als einer der populärsten Vertreter der "New Economy".

Mit seiner Energiehandelsplattform Enron Online hatte sich Enron zu einem führenden B2B-Unternehmen (Business-to-Business) aufgeschwungen. Phantasie verlieh zudem der Aufbau einer Datenautobahn für die Telekommunikation. Enron lockte sogar mit der Vision, daß es einen Handel mit Breitbandkapazitäten etablieren wollte. Vor diesem Hintergrund gab es kaum ein Wall-Street-Haus, das die Aktie von Enron nicht ganz oben auf der Empfehlungsliste stehen hatte. Diese Nähe der Analysten dürfte ein Grund dafür sein, daß die Wall Street die Talfahrt des Unternehmens bis zuletzt nicht wahrhaben wollte.

Ihren Höhepunkt hatte die Aktie von Enron im August vergangenen Jahres erreicht, also fünf Monate nachdem die Nasdaq ihr Rekordhoch verbucht hatte. Der Aktienkurs von Enron war seinerzeit bis auf gut 90 Dollar gestiegen, was dem Unternehmen eine Marktkapitalisierung von 65 Milliarden Dollar gab. Zu den Großaktionären zählten vor allem Wachstumsfonds wie die Fonds der Janus-Familie. Inzwischen wird die Aktie für nicht einmal mehr 50 Cent gehandelt. Dies reflektiert die Erwartung, daß die Aktionäre bei einer Insolvenz völlig leer ausgehen werden.

Enron zeigte zuletzt zwar Vermögenswerte von 61 Milliarden Dollar. Die Werthaltigkeit dieser Aktiva wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob es Enron nach einem Antrag auf Gläubigerschutz gelingen wird, das Kerngeschäft, den Handel mit Gas und Elektrizität, fortzuführen. Und hier sind erhebliche Zweifel angebracht. Zweifel an der Liquidität und finanziellen Solidität von Enron haben schon in den zurückliegenden Wochen dazu geführt, daß die Handelspartner Enron als Gegenpartei vermieden. Der Marktanteil im Strom- und Gashandel dürfte zuletzt nur mehr bei 10 bis 15 Prozent gelegen haben, schätzen Analysten.

Widersprüchlich sind nach wie vor die Angaben über die Höhe der finanziellen Verpflichtungen des Unternehmens. In der Bilanz zeigte Enron zuletzt Finanzschulden von gut 13 Milliarden Dollar. Daneben ist von außerbilanziellen Verpflichtungen von bis zu 10 Milliarden Dollar die Rede. Die ausstehenden Anleihen von Enron werden nur mehr für 15 bis 25 Prozent ihres Nominalwertes gehandelt, seit am Mittwoch die Ratingagenturen Enron zur Junk-Bond-Adresse herabstuften und die Fusion mit Dynegy scheiterte.

Unter den Banken scheinen J.P. Morgan Chase und Citigroup die größten Summen im Feuer stehen zu haben. Bei J.P. Morgan heißt es, daß das Gesamtrisiko 900 Millionen Dollar betrage, wovon 500 Millionen Dollar nicht besichert seien. Das Engagement der Citigroup ist angeblich ähnlich hoch. Im Energiehandel liegen die Risiken der Gegenparteien bei maximal 100 Millionen Dollar, sagt Merrill-Lynch-Analyst Steven Fleishmann. Hierbei sei freilich ein Netting, also ein Aufrechnen aller Forderungen und Verbindlichkeiten, unterstellt, was vielleicht nicht in jedem Fall gelinge.

Sollte Enron in der Tat vor dem Konkursgericht landen, wäre es die größte Insolvenz, die Amerika jemals gesehen hat. Bisher hat Texaco diesen Rekord inne, das 1987 mit Aktiva in Höhe von 36 Milliarden Dollar Gläubigerschutz suchte. Der Fall Enron wirft in jedem Fall einen weiteren Schatten auf die Ratingagenturen. Sie hätten, so der vielerorts erhobene Vorwurf, die Reißleine schon viel früher ziehen müssen. Standard & Poor`s, Moody`s und Fitch IBCA hatten die Bonität von Enron alle am Mittwoch binnen zweier Stunden auf Junk-Bond-Status zurückgestuft, nachdem sich abgezeichnet hatte, daß die Übernahme von Enron durch Dynegy nicht zustande kommen würde. Vor drei Wochen hatten die Investmentbanken noch bei Moody`s darum geworben, daß die Agentur Enron weiterhin als "Investment Grade" einstuft. Als Moody`s dann Enron in der Tat mit einem neuen Investment-Grade-Rating versah, kam auch der Durchbruch in den Gesprächen von Enron und Dynegy.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2001, Nr. 279 / Seite 31
 
aus der Diskussion: Der Wahnsinn von Amerika
Autor (Datum des Eintrages): DolbyDigital5.1  (01.12.01 12:54:16)
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