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ftd.de, Fr, 14.12.2001, 7:00
Strategie: Abby Cohen setzt auf Tech-Aktien

Die Zeichen der Weltwirtschaft stehen auf Rezession. Dennoch legten die Aktienmärkte in Erwartung eines baldigen Konjunkturaufschwungs zuletzt eine fast atemberaubende Rally hin.

Abby Cohen, Analystin bei Goldman Sachs

Ist damit der Kursspielraum nach oben ausgereizt? Abby Joseph Cohen, Grande Dame an der Wall Street, sagt nein. Sie rechnet mit weiteren Kurssteigerungen.

FTD: Für viele Aktionäre war 2001 ein katastrophales Jahr. Wie fällt Ihr Resümee aus?

Cohen: 2001 war in der Tat ein sehr schlechtes Jahr, geprägt von enttäuschenden Nachrichten aus der Wirtschaft und den schrecklichen Ereignissen des 11. September. Diese beiden Faktoren haben ein schwieriges Umfeld geschaffen. Doch wie wir bereits Ende September sagten, als der Dow Jones Industrial auf dem Jahrestiefstand bei 8200 Punkten notierte, sind in die Kurse sowohl die negativen News aus der Ökonomie als auch die direkten und indirekten Einflüsse der Terroranschläge eingeflossen. An den Finanzmärkten haben wir den Boden möglicherweise bereits gesehen. Und was die Wirtschaft und die Unternehmensgewinne betrifft, so sind wir überzeugt davon, dass wir uns in der ENDPHASE DER BODENBILDUNG befinden.

FTD: Die Analystenzunft wurde wegen ihres übertriebenen Optimismus in den vergangenen zwei Jahren scharf kritisiert. Was lief falsch?

Cohen: ANFANG 2000 haben wir unseren Kunden geraten, den AKTIENANTEIL in ihren Portfolios zu SENKEN. Und noch vor dem Hoch des S&P 500 haben wir empfohlen, etwa Tech- und Telekom-Aktien, die wir für stark überbewertet hielten, dramatisch zu reduzieren. Daraufhin zogen wir uns den Zorn zahlreicher Kunden und auch der US-Medien zu, für die wir nicht optimistisch genug waren. Dieser überschäumende Optimismus im Markt hinderte viele daran, mit Bedacht vorzugehen. Auch wir waren in diesem Jahr zu optimistisch. Unsere 2001er-Prognosen für den S&P 500, die am unteren Ende des Marktdurchschnitts lagen, waren immer noch zu hoch. Zum einen verlor die Ökonomie stärker an Fahrt, als wir uns das ausgemalt hatten. Zum anderen kam es zu den nicht vorhersehbaren Anschlägen am 11. September, was dazu führte, dass sich ein Wiedererstarken der Wirtschaft zeitlich nach hinten verschoben hat.

FTD: Im Frühjahr sagten Sie, die US-Wirtschaft werde nicht in eine Rezession abgleiten - was sich als falsch erwies. Was bedeutet es für Sie, mal nicht Recht zu haben?

Cohen: Erst im November konstatierte das National Bureau of Economic Research, dass die USA in einer Rezession stecken. Interessanterweise wurde in dem offiziellen Bericht angemerkt, dass die Ökonomie wohl nicht von einer Rezession betroffen wäre, hätte es nicht die TERRORANSCHLÄGE gegeben.

FTD: Aber trifft es Sie, wenn Kritik an falschen Prognosen geübt wird?

Cohen: "I call them as I see them" lautet ein Spruch in Amerika, der von den Schiedsrichtern im Sport entlehnt ist. Damit ist gemeint, dass man die Dinge beim Namen nennt, sobald man sie sieht. Genau so versuche ich vorzugehen. Auch wenn wir dieses Jahr zu optimistisch waren, so waren wir in den vielen Jahren davor mit unseren Vorhersagen doch sehr treffsicher. Wir geben stets unser Bestes, können aber nicht ausschließen, auch mal danebenzuliegen. Die Art, wie ich die Kapitalmärkte analysiere, ändere ich nicht.

FTD: Nach wie vor raten Analysten nur sehr selten dazu, Aktien zu verkaufen. Hat die Expertenschaft aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre nicht gelernt?

Cohen: Der Enthusiasmus für unreife Firmen ist drastisch zurückgegangen. Man muss in diesem Zusammenhang sehen, dass der S&P 500 auf ungewöhnliche Weise sein Hoch erklomm. Denn die Gipfelstürmung war getragen von wenigen Unternehmen. 60 Prozent der Aktien im S&P 500 wurden bei Erreichen des Gipfels im März 2000 nur mit dem Zwölffachen ihres Gewinns oder günstiger gehandelt. Das heißt: Die meisten Papiere waren recht fair bewertet, wohingegen nur wenige Titel extrem überteuert waren. Analysten wie Investoren haben meines Erachtens gelernt, dass derartige Verzerrungen unhaltbar sind.

FTD: Es heißt, Kapitalmarktstrategen seien nicht mehr so gefragt, weil die großen Trends wie etwa die New Economy fehlten. Vielmehr käme es jetzt auf die Stockpicker an, die auf der Suche nach aussichtsreichen Einzeltiteln sind. Sitzt Ihnen die Angst vor Bedeutungsverlust im Nacken?

Cohen: Jede Zeit der Konfusion oder starker Veränderungen ist ideal für Strategen. Ich bin ausgebucht, denn unsere Kunden suchen nach Orientierung etwa in Bezug auf die Trends in der Wirtschaft und an den Kapitalmärkten. Daher dürfte die Bedeutung von Strategen nicht ab-, sondern zunehmen. Allerdings gehe ich damit konform, dass die sorgfältige Auswahl von Einzelwerten am Ende des Analyseprozesses stehen muss.

FTD: Was können die Anleger tun, um zwischen nützlichen und wertlosen Infos zu unterscheiden?

Cohen: Das ist eine wichtige Frage. Die vergangenen drei bis fünf Jahre haben gezeigt, dass es immer einfacher wird, Informationen bereitzustellen, es aber nicht so leicht ist, Investoren wirklich relevante Einblicke zu eröffnen. Am Kapitalmarkt wimmelt es von Infos, von denen aber viele unbrauchbar sind. Die Anleger müssen unterscheiden lernen und akzeptieren, dass viele Nachrichten möglicherweise oberflächlich sind.

FTD: Der Crash am Aktienmarkt und besonders die Anschläge am 11. September haben dem Vertrauen der Konsumenten arg zugesetzt. Wird es hier in absehbarer Zeit zu einer Erholung kommen?

Cohen: Die Arbeitslosigkeit steigt. Die Gewinne im dritten Quartal waren schlecht, die im Vierten werden noch schlechter ausfallen. Entsprechend getrübt ist das Verbrauchervertrauen. Doch zugleich rechnen die privaten Verbraucher damit, dass das Schlimmste in Kürze überstanden ist, und richten den Fokus auf eine Trendumkehr im Jahr 2002. Die durch niedrige Zinsen gestiegenen Haus- und Autokäufe stimmen zuversichtlich. Es ist weniger das Verbrauchervertrauen, das mir Sorge bereitet, als vielmehr das "CEO-Vertrauen", also das der Manager. Denn die stehen zweifach unter Druck. Zum einen verlangen die Aktionäre nach Abbau von Personal und Lagerbeständen. Zum anderen besitzen zehn Prozent der Haushalte in den USA 90 Prozent der Aktien, die von Haushalten gehalten werden. Das heißt, dass die Manager - sie dürften in diese Gruppe fallen - besonders hart vom Crash betroffen sind. Beides zusammen verringert die Risikobereitschaft der Führungskräfte.

FTD: Sehen Sie nach der jüngsten Rally an den Aktienmärkten weiteres Aufwärtspotenzial?

Cohen: Es ist davon auszugehen, dass sich die GEWINNSITUATION der S&P-500-Firmen ab dem ersten Quartal 2002 stabilisieren wird. Gewinnsteigerungen - vielleicht über zehn Prozent - wird es dann ab Beginn des zweiten Quartals 2002 geben. Hinzu kommt, dass Aktien nach wie vor unter ihren fairen Bewertungsniveaus gehandelt werden. Wir erwarten, dass der S&P 500 bis Ende 2002 auf 1300 bis 1425 Zähler zulegen wird.

FTD: Was ist von der US-Notenbank Federal Reserve noch zu erwarten?

Cohen: Die Fed verfügt über die Flexibilität, die Zinsen zu senken. Vor allem weil die Inflation gering ist. Da sich aber in vielen Branchen eine Stabilisierung abzeichnet, denken wir, dass die Fed die Zinsen vom aktuellen Niveau moderat senken wird.

FTD: Wann ist wieder mit steigenden Zinsen zu rechnen?

Cohen: Gegen Mitte des Jahres 2002, falls sich der Arbeitsmarkt stabilisiert und Zeichen von Erholung zeigt.

FTD: Belastet dies die langfristigen Aussichten für die Aktienmärkte?

Cohen: Seit drei Jahren - und auch jetzt - gehen wir von einem durchschnittlichen Kurszuwachs beim S&P 500, der wesentlichen Benchmark für US-Aktien, in Höhe von acht bis zehn Prozent pro Jahr aus. Wir denken weiterhin, dass das eine gute Schätzung ist.

FTD: Der Aktienanteil in Ihrem Portfolio beträgt 75 Prozent und ist damit so hoch wie noch nie.

Cohen: Tatsächlich haben wir den Bond-Anteil in unserem US-Portfolio von 27 auf 22 Prozent zurückgefahren, womit wir uns aber noch im Mittelfeld unserer normalen Bandbreite zwischen zehn und 45 Prozent bewegen. Die Reduzierung ist vorwiegend darauf zurückzuführen, dass wir überzeugt sind, dass der größte Teil des Renditerückgangs beziehungsweise der Kursgewinne bereits erfolgt ist. Ansonsten halten wir Papiere wie Corporate und Agency Bonds für attraktiv bewertet.

FTD: Welche US-Sektoren werden im Falle einer Fortsetzung der Erholung zu den Gewinnern gehören?

Cohen: Die Auswahl der Titel richtet sich zunehmend nach dem Ausmaß der Gewinnerholung in der zweiten Hälfte 2002. TECH- und Finanzwerte haben wir daher hoch gewichtet.

FTD: Was macht diese Branchen so interessant?

Cohen: ENDE 1999 rieten wir dazu, Tech- und Telekomwerte stark UNTERZUGEWICHTEN. Denn wir waren der Auffassung, dass sich die damaligen Gewinnprognosen als unhaltbar herausstellen werden und dass sich die Aktien auf einem Niveau bewegten, das ein perfektes Umfeld vorausgesetzt hätte. JETZT meinen wir, dass die NACHFRAGE NACH TECHNOLOGIEPRODUKTEN STEIGEN WIRD und Tech-Aktien moderat bewertet sind. Für Telekom-Werte sind wir allerdings weniger enthusiastisch gestimmt. Finanzunternehmen wiederum profitieren von niedrigen Zinsen und einem guten Management. Trotz abnehmenden Wirtschaftswachstums in den vergangenen zwei Jahren erwirtschaften die Banken Gewinne.

FTD: Wie schätzen Sie die Aussichten für europäische Aktien ein?

Cohen: Das größte Risiko für unsere Prognose, dass sich die US-Märkte im zweiten Halbjahr 2002 substanziell erholen werden, stellen die Unwägbarkeiten in den Ländern außerhalb der USA dar. In den USA sind die Wachstumsprognosen bereits merklich und ausreichend nach unten korrigiert worden. Demgegenüber wird es im Rest der Welt in den kommenden Wochen noch zu deutlichen Anpassungen nach unten kommen.

Für US-Aktien sehen meine Kollegen daher WEITAUS GRÖSSERES POTENZIAL als für europäische Papiere.

FTD: Mit dem Ende des Taliban-Regimes ist der Kampf gegen den Terrorismus nicht beendet. Wie wird sich der Anti-Terror-Kampf auf die Entwicklung der Märkte auswirken?

Cohen: Den größten Effekt auf die Finanzmärkte dürften wir gesehen haben. Nach den Terrorakten im September ist die westliche Welt sehr viel aufmerksamer geworden, es wurden zahlreiche Anti-Terror-Maßnahmen eingeleitet. Dies macht weitere Attacken, besonders solche größeren Ausmaßes, unwahrscheinlicher, aber sie sind weiterhin möglich

FTD: Was wünschen Sie sich für 2002?

Cohen: Zunächst einmal Frieden. Außerdem wäre es wünschenswert, wenn man sich wieder seiner Arbeit widmen könnte, ohne befürchten zu müssen, mit Ereignissen, wie wir sie zuletzt erlebt haben, konfrontiert zu werden. New York verlor am 11. September über 4000 Menschen - mehr als bei den Angriffen der Japaner auf Pearl Harbor im Jahr 1941 ums Leben kamen.

Das Interview führte Torsten Engelbrecht, Redakteur der FTD



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aus der Diskussion: Der Wahnsinn von Amerika
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